Meisterhaft führen. Führungsenergie entwickeln – Gemeinsamkeit gestalten


Fachbuch, 2012

330 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Der Autor

Die Feuer der Begeisterung

Kapitel 1 Wenn sich die Welt verändert
Mit einem Mal ist alles anders
Beispiel 1: Ein börsennotiertes Unternehmen
Beispiel 2: Ein liberalisiertes Unternehmen der öffentlichen Hand
Beispiel 3: Ein Unternehmen im Sozialbereich
Was wäre Ihnen eingefallen?
Der geistige Film im Hintergrund
Der langfristige historische Bogen
Der mittelfristige historische Bogen
Die Führungstheorien ändern sich
Wie man tote Pferde reitet

Kapitel 2 Warum nicht einmal anders
Wie könnte man es denn anders machen?
Grundfragen einmal anders stellen
Worum geht es in der Wirtschaft?
Was ist der benötigte Nutzen?
Um wen geht es denn in Wirklichkeit?
Das Leben in die Arbeit bringen
Was eigentlich brauchen Menschen?
Was brauchen Unternehmen als Organismen?
Die positive Sinn-Bilanz
Die Kunst und der Geist
Duck-Hockey spielen
Raus aus der Opferhaltung: Wir werden weltberühmt
Der radikale Kulturbruch: Wo wir sind ist vorne
Stolze Ehefrauen: Wir werden die Nummer 2

Kapitel 3 Über die Veränderung von Organisationskulturen
Warum Kulturen verändern?
Welche Regeln gelten in einer Kultur?
Dynamische Wechselwirkung
Nicht-Linearität
Randbedingungen
Selbstähnlichkeit
Prozessverlauf 1: Die soziale Organisation
Wie sich Kulturen verändern
Das Scheitern üblicher Ansätze
Prozessverlauf 2: Die Gruppe in Bewegung
Phase 1: Die Kugel
Phase 2: Das Ei
Phase 3: Die Reise
Die Nachhut
Die Vorhut
Prozessverlauf 3: Der Pionier und die Gruppe
Den Prozess aufsetzen
Das Werkzeug: Kognitive Dissonanz
Die Zwischenkultur
Auf dem Weg nach Utopia
Merlin und Mim

Kapitel 4 Die tragende Säule in der Mitte
Gute Führungskräfte begeistern
Die Beurteilungsmacht
Der Mittelpfeiler des Hauses
Anerkennung ist eine „Verlustwährung“
Der Grad des Lächelns
Die Verkörperung der kollektiven Kraft
Das eigentliche Produkt von Führung

Kapitel 5 Die Alchemie der Führung
Des Kaisers neue Kleider
Ziel und Ergebnis
Wertsteigerung: die Veredelung von Materie
Problemzone
Der direkte Weg führt nicht zum Erfolg
Problemzone
Die gesuchte Energieform: Begeisterung
Problemzone
Transmutation und Transformation
Problemzone
Der Chef: Dreh- und Angelpunkt des Erfolges
Die strategische Anwendung der Beurteilungsmacht
Problemzone
Wie man das Zielfeld findet
Mentale Voraussetzungen
Problemzone
Elemente des Zielfeldes
Problemzone
Die Kunst heißer Bilder

Kapitel 6 Die Macht der Geschichten
Wer hat das Sagen?
Der Satan im Chefsessel
Führungsbilder müssen kongruent sein
Die Mütter destruktiver Geschichten
Narrative auf Organisationsebene
„Merlinmäßiges Verhalten“
Unerwünschte Nebeneffekte
„Nur ein toter Feind“
„Streit ist leistungsfördernd“
„Professionalität“
„Loyalität und Commitment“
Warum Geschichten entstehen
Die Liturgie des Neuen
Ein Zeichen von Lebenskraft
Das Rudel entscheidet
Überlebenskampf als Großnarrativ

Kapitel 7: Hexisch denken – bewusst gestalten
Einfach hexisch denken!
Kommunikation – Datenübertragung oder Verständigung?
Zwei unvereinbare Weltsichten
Die kausale Weltsicht: Wissen oder warum die Dinge so sind, wie sie sind
Die finale Weltsicht: Weisheit oder wie man Zukunft schafft
Die Anwendung: Zerstrittene Vorstände
Die Kunst kontrolliert zu verändern

Kapitel 8 Die Weltformel und ihr Gebrauch
„Geschichte ist die Lüge, auf die wir uns geeinigt haben!“
Die Welt und das Wiener Schnitzel
Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott
Die Religion der Backstube
Wollen wir sinnstiftende Geschichten?
James Cook und die Königsmacht
Wie man Geschichten verändert
Das Ende der Pusteln
Meister mit Erfolgsintelligenz
Warum wirken solche Geschichten eigentlich?
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
Die große Sehnsucht
Alle warten auf Worte
Von rechtem Handeln, Verantwortung und Ethik
Die dunkle Seite der Macht
Der Wächter von Athen
Den guten Wolf füttern

Kapitel 9 Die Entdeckung des Mitarbeiters
Individualität ist teuer
Veränderte Blickwinkel
Produktivität und Qualität
Motivation, Engagement und Bindung
Einstellung und Sozialverhalten
Das demographische Sturmtief
Neues Leben im Auge des Taifuns
Nichts wie weg
Fehlende Antworten allenthalben
Eine einmalige Chance für Unternehmen

Kapitel 10: Was Mitarbeiter brauchen
Die Suche nach der besseren Welt
Unsere stammesgeschichtliche Ausstattung
Der Kitt der Gesellschaft
Kumpel und Piraten
Die Weisheit des Teams
Das soziale Kapital
Spielen
Unser Gehirn hat andere Währungen
Ein neurologischer Paradigmenbruch
Die Säfte der Furcht
Die Säfte der Motivation
Motivationsstörungen und ihre Wirkung
Für Kooperation geschaffen
Die Apotheke der Motivation
Das Problem der Freiheit

Kapitel 11 Das Geheimnis der Dualen Führung
Die ideale Leistungskultur
Der Weg dorthin
Die Reduktion der Komplexität
Duale Führung und Aufgabenteilung
Der Aufforderungsgradient
Die Erhaltung des Stammeszaunes
Die Wahrheit über den Büffeltanz
Aus Notwendigkeit geboren
Das Tableau der dualen Führung
Weiterführende Fragen
Reicht nicht der Chef?
Brauchen mündige Menschen überhaupt Führung?
Kann der Chef denn nicht trotzdem beides erfüllen?
Gibt es Gruppen ohne arbeitsteilige Führung?
Wie ist die Rangordnung in der Dualen Führung?
Der Vorteil der Dualen Führung
Der Beweger und der Stabilisierer

Kapitel 12: Die Praxis der Dualen Führung und die Choreographie der Prozesse
Drei Fallbeispiele
Fritz: „Hier kann man nichts mehr bewegen!“
Angelika: „Wie kann ich sie integrieren?“
Siegfried: „Der traurige Rest“
Klare Entscheidung: Alle Energie auf den Unternehmenserfolg
Das Denken der Führungskraft
Wenn dir das Leben eine Zitrone bietet, mach Limonade daraus!
Der Weg der Spurbienen
Wahrnehmung und Konformität
Die Suche nach dem Glück
Wie bekommen wir das verdammte Heck vom Boden?
Machtverluste
Das Produkt von Führung
Die Medizinmänner – Strategen des Arbeitsklimas
Wie man Medizinmänner findet
Medizinmänner richtig positionieren
Die Mittel der Medizinmänner
Die Positionierung des Chefs
Lösungen der drei Fallbeispiele
Fritz und der beste Haufen
Angelika und die erlebte Gemeinschaft
Siegfried und die Suche nach dem Sinn im Alter
Nachsatz

Der Autor

Michael Vogler, Jahrgang 1954, arbeitet seit über zwanzig Jahren als Organisations-entwickler und Coach. Bereits als Student lernte der promovierte Historiker und Philosoph verschiedene Kulturen intensiv kennen. In seiner frühen Zeit widmete er sich Forschungsaufgaben und publizierte mehrere bahnbrechende Arbeiten, darunter „Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen – Das Drehbuch des abend-ländischen Denkens“ (unlängst bei GRIN erschienen) und „Der Kommunikative Imperativ - wie Zukunft entsteht“, das demnächst eine Neuauflage erfahren wird.

Sein konsequenter Fokus auf die umfassende Bedeutung von Kulturen, Narrativen und gelebter Kommunikation führte ihn über die Analyse hinaus in die Praxis der Beratung und in Design und Umsetzung von Organisationskulturen.

Erfolgreiche Führung, so seine professionelle Erfahrung, geht immer vom Bedürfnis des Geführten aus. Dieser Blickwinkel eröffnet hochwirksame und bisher kaum beachtete Steuerungsmaßnahmen. Hier stellt er sie vor

Die Feuer der Begeisterung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nicht weil es schwer ist,

wagen wir es nicht,

sondern weil wir es nicht wagen,

ist es schwer

(Seneca)

Dieses Buch wendet sich an Führungskräfte und an alle, denen Begeisterung am Arbeitsplatz wichtig ist, die Gemeinsamkeit und ein inspirierendes Betriebsklima fördern, oder die einfach besser verstehen wollen, warum Menschen sich führen lassen, was gute Führung ausmacht und wie sie umgesetzt werden kann.

In Gesprächen mit Führungskräften und ihren Mitarbeitern aus den unterschiedlichsten Unternehmen und Branchen erfuhr ich viel über deren Probleme und Sorgen, Nöte und Schwierigkeiten, aber auch über ihre Erfolge. Es offenbart sich zunehmend das Bild rasenden Stillstandes: Druck, Frustration, Sinnverlust und steigendes gegenseitiges Misstrauen bestimmen nicht nur die Arbeitswelt, sondern mittlerweile auch weite Teile von Politik, Religion, Bildung, ja sogar Freizeit und Sport!

Hinzu kommt die Erosion des Vertrauens gegenüber Experten und Führungskräften, die genährt wird durch die öffentliche Diskussion über Finanzdebakel, Korruptionsskandale, Verantwortungslosigkeit und Fehlentscheidungen von Leitfiguren.

Das ist jedoch kein Grund zu resignieren!

Ganz im Gegenteil!

Denn wo herkömmliche Methoden ihre Wirksamkeit verlieren, entsteht Raum für Neues, Anderes und bisher nicht Versuchtes. Man muss es nur wagen.

Die steigende Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit in Unternehmen und Gesellschaft - und den überall spürbaren Energieverlust - könnte man auch als Auftrag für Führung verstehen! Man könnte den Fokus der Führungsverantwortung korrigieren und Führungsenergie positiv einsetzen. Beispielsweise für Werte, nach denen Mitarbeiter ohnehin rufen, wie Gemeinsamkeit, Würde, Freude und Stolz! Die entstehende positive Energie stünde dem wirtschaftlichen Unternehmenserfolg zur Verfügung!

Wäre es nicht eine gute Idee, all die Kräfte im Sinne des Unternehmenserfolges nutzen zu können, die sich ebenso fruchtlos - wie auch für alle frustrierend - verlieren in der Abwehr von Misstrauen und Ängsten, in versteckte Widerstände und Opferhaltungen?

In Unternehmen, die bewusst den Weg der Gemeinsamkeit und der Begeisterung eingeschlagen haben, bleibt der Erfolg nicht aus. Davon wird hier die Rede sein.

Die vorwiegend erlebbare Wirklichkeit in Unternehmen stellt sich allerdings anders dar.

Eine große Zahl von Führungskräften versucht unter steigendem Krafteinsatz ihr Schiff gegen einen Strom betriebsamer Unbeweglichkeit irgendwie auf Kurs zu halten. Andere „lösen“ das Problem, indem sie einfach die Mitarbeiter aus ihrem Fokus ausblenden und sich auf reine Geschäftszahlen konzentrieren. Wieder andere gehen in die innere Kündigung und betrachten ihren Posten fortan nur noch als ungeliebten Ort, von dem das Geld kommt.

Der Mehrzahl aller Führungskräfte ist jedoch sehr bewusst, dass alle ihre Mitarbeiter im Kern dasselbe wünschen, wie sie selbst auch, nämlich einen Arbeitsplatz, an dem Vertrauen und Anerkennung herrschen und Engagement und Loyalität belohnt werden !

- Ihnen ist bewusst, dass nur motivierte Mitarbeiter in der Lage sind, echte Leistung zu erbringen
- Sie wissen, dass Verluste an Begeisterung und Vertrauen versteckte Kosten in enormer Höhe verursachen
- Sie wollen für sich selbst und für ihre Mitarbeiter Sinn in der Arbeit sehen
- Ihnen ist klar, dass abnehmende Bevölkerungszahlen das Recruiting massiv beeinflussen und gravierende Veränderungen im Umgang mit Mitarbeitern und Kunden erzwingen
- Sie reflektieren darüber, dass Wirtschaft von Menschen für Menschen gemacht wird – nicht für Finanzakrobaten.

Stammesgeschichtlich gesehen sind wir Menschen Rudeltiere. Der Homo Sapiens konnte sich nur deshalb über die Welt verbreiten, weil er kooperierte. Evolutionär haben wir uns seit der Frühzeit kaum verändert. Die gleichen Regeln der Kooperation gelten damals wie heute.

Das wird im Führungsalltag aber kaum ernst genommen!

Geht man davon aus, dass Kooperation einem uns eingepflanzten Bedürfnis nach Gemeinsamkeit entspringt, dann ergeben sich für die Führung von Unternehmen neue Einsichten und Handlungsmöglichkeiten.

Die Bedürfnisse von Menschen haben sich nicht geändert. Weiterhin brauchen sie das Brot von Gemeinsamkeit, Anerkennung und Vertrauen und erwarten das von ihren Vorgesetzten als Führungsleistung. Werden sie darin enttäuscht, folgen als natürliche Reaktion der Entzug von Vertrauen und die Demontage der Autorität!

Tatsache ist, dass wir gerade einen schmerzlichen Mangel an positiven Werten und Leitbildern erleben und dass uns Menschen fehlen, die positive Werte verkörpern.

Wer diese Zeichen der Zeit versteht, für den öffnet sich ein ungeahntes Handlungsfeld. Es ist eine riesige Einflugsschneise für Führungskräfte, die wirklich etwas verändern wollen – und die wenig genutzt wird!

Wer sich auf eine Mannschaft verlassen will, die mit ihm durch Dick und Dünn geht, die für den gemeinsamen Erfolg brennt, der muss sich den Herausforderungen stellen. Es gilt zu verstehen, dass es sich bei der Führungsarbeit um einen Deal handelt, bei dem Akzeptanz, Engagement und Loyalität verhandelt werden. Die geforderten Gegenleistungen sind nicht nur klare Perspektiven und Handlungssicherheit, sondern auch die Bereitstellung und Pflege eines Umfeldes, das Gemeinschaft erleben, Freude erfahren und das Gefühl, selbst etwas bewirken zu können, spüren und wachsen lässt.

Führung, die diesen Namen auch verdient und Begeisterung bewirkt, definiert sich immer vom Mitarbeiter her. Es geht darum, was konkrete Menschen brauchen, um engagiert und eigenständig arbeiten zu können. Führung wird dadurch zur Grundlage von Interaktion, die Resonanz erzeugt und choreographiert werden kann. Das ist kein neues, sondern sehr altes – wenn auch fast in Vergessenheit geratenes - Wissen.

Verändert hat sich heute die Intensität des Rufes nach Gemeinsamkeit. Schlagworte, wie „vom-ich-zum-wir“, von der Wiederentdeckung der Kooperation oder von neuer Gemeinsamkeit machen die Runde und weisen die Richtung.

Wer zuhört, und auch hört, wird diesen Ruf ernst nehmen. Er wird ein für alle förderliches Organisationsklima als Produkt seiner Führungsarbeit verstehen.

MEISTERHAFT FÜHREN heißt zu erreichen,

dass Mitarbeiter sich auf den nächsten Montag freuen.

Jede Woche wieder.

Diese Arbeit sieht in der Entwicklung eines konstruktiven und fruchtbringenden Organisationsklimas das Produkt guter Führungsarbeit. Anhand vieler Beispiele aus der Praxis wird gezeigt, wie Führung auf der Basis unserer neurophysiologischen Ausstattung aussehen kann, wie sie funktioniert und was notwendig ist, um eine für alle förderliche Organisationskultur zu schaffen. Verdeutlicht wird auch, wie der Wirkungsgrad von Führung erhöht und gleichzeitig mit der vorhandenen Kraft ökonomischer umgegangen werden kann.

Mein tiefer Dank gebührt allen Kunden und Mitarbeitern, Freunden und Kollegen, die über all die Jahre mit ihren Erfahrungen und Wünschen wesentlich zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben.

Anmerkung: Der Inhalt dieser Arbeit gilt selbstverständlich unabhängig vom Genus. Aus Gründen besserer Lesbarkeit wurde die Standardsprache verwendet.

Kapitel 1 Wenn sich die Welt verändert

,Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

„Erfolgreiches Veränderungsmanagement“, „Mit Change Management den Wandel beherrschen“, so ähnlich lauten viele Angebote auf dem Buch- und Seminar- und Beratungsmarkt. In anderen Veranstaltungen werden Führungskräfte zum Klettern geschickt, um ihre lustlose Mannschaft auf imaginäre Gipfel zu treiben und in Selbstfindungsprogrammen soll man nach all dieser Hetze wieder zur Ruhe kommen, um danach umso besser voranstürmen zu können.

Hinter vorgehaltener Hand gestehen Personalentwickler, dass mittelfristig die Erfolge solcher Programme durchaus viele Fragen offen lassen.

Was aber ist denn überhaupt das Ziel solcher Aktivitäten? Auf diese Frage hört man stets Erklärungen von der Art, dass die Zeiten nun mal schneller geworden seien, dass sich die Halbwertszeiten von Produkten extrem verkürzen würden und dass man im globalen Markt einfach schneller und billiger sein müsse, als die Konkurrenz.

Die Frage nach dem Ziel dieser Aktivitäten bleibt meist unbeantwortet. Auch was diese Veränderung sei, woraus genau dieser Wandel besteht, hört man sehr selten. „Ich weiß zwar nicht wohin, aber dafür bin ich schneller dort!“ Dieser Satz des österreichischen Kabarettisten Helmut Qualtinger, aus seinem Lied „Der Wilde auf seiner Maschin“ (gemeint ist sein Motorrad) scheint zu einer kulturellen Grundhaltung geworden zu sein.

Stattdessen verbreitet sich in den Industriegesellschaften ein pervertierter olympischer Gedanke, dass nämlich der zweite auch nicht mehr sei, als der erste der verliert. So wird durch den Tag gehetzt, stets am Rande des Menschenmöglichen, um sich am Ende nicht als Zweiten sehen zu müssen – obwohl niemand wirklich weiß, auf welcher Olympiade oder in welcher Disziplin wir uns gerade befinden und was denn genau die Spielregeln sind. Fragen nach Sinn und Zweck werden nur sehr selten gestellt. Die Macht des Faktischen regiert.

Das Tour-de-France-Syndrom mit seinen Dopingskandalen, die den gesamten Spitzensport durchziehen, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Spiegelbild dessen, was wir uns allgemein antun: rasen um zu siegen, unter skrupellosem Einsatz jeden Mittels, ohne zu wissen, warum oder wohin, worin der Sieg genau bestehen würde oder was man tun wird, wenn man denn gewonnen hat!

Hinter Orientierungsdefiziten dieser Art steht immer die Veränderung einer geistigen Welt. Alte Werte gelten nicht mehr und neue sind noch nicht deutlich erkennbar. Aus Unsicherheit wird dann einfach die Schlagzahl erhöht. Das erleben wir nicht nur im Sport wo hemmungslos getunt und gedopt wird, sondern analog auch in der Wirtschaft, der Politik, in der Diskussion über das Bildungssystem, ja teilweise auch in der Wissenschaft. Überall ersetzt Frequenz die dauerhafte Strategie und die heraushängende Zunge die Reflexion.

Dabei mag es so erscheinen, als ob keine anderen Wege existieren würden. Das ist aber ein Irrtum. Denn wo gewohnte Handlungsmöglichkeiten untergehen, entstehen im gleichen Ausmaß neue. Man muss nur genau hinsehen und sie suchen oder entwickeln.

Was bedeutet das für Unternehmen? Was tun Unternehmen, wenn sie in die Turbulenzen einer Werteveränderung gelangen, vor allem, wenn diese sich wirtschaftlich äußert? Betrachten wir einige Fälle aus dem deutschsprachigen Raum. Sie zeigen tatsächliche Situationen und die Reaktionen der Führungskräfte. Es wäre erstaunlich, wenn der geneigte Leser derartige Muster nicht in der einen oder der anderen Form kennen würde.

Mit einem Mal ist alles anders

Beispiel 1: Ein börsennotiertes Unternehmen

Ein Unternehmen der Telekommunikationsbranche, dessen Gründung am Beginn des 20 Jahrhunderts liegt, stellt plötzlich fest, dass es seinen bis dato bedeutendsten und nahezu einzigen Kunden verliert. Bisher galt eine patriarchale Kultur. Die Chefs fühlten sich in erster Linie verantwortlich für das Wohl ihrer Mitarbeiter. Die neue Situation verlangt einen rigorosen Sparkurs. Denn es geht um das Überleben des Unternehmens. Hunderte Menschen werden gekündigt. Für den Rest ändert sich alles. Es geht nicht mehr um Beziehungen zu Kollegen und Kunden, nicht mehr um Qualität und Langlebigkeit der Produkte, sondern nur noch um Zahlen und um das Gefühl des nackten Überlebens.

Unter den Mitarbeitern grassiert die Angst vor der Kündigung, denn niemand weiß, wen es wann treffen wird. Die Verbleibenden haben Angst, nehmen eine Verteidigungshaltung ein und gehen in die innere Kündigung. Sie verlieren die Identifikation mit einem Unternehmen, das sie bisher als ihre Familie betrachtet haben. Eine neue Kultur entsteht: Man versucht nicht mehr gemeinsam mit der Führung gute Arbeit zu machen, sondern man liefert nur noch einen Job ab. Das Engagement sinkt.

Die oberen Führungskräfte ihrerseits distanzieren sich immer mehr von ihren Mitarbeitern. Bald geht es um einen Börsegang, der auch gelingt. Danach richtet das Management des Unternehmens alles auf börsenwirksame Zahlen aus. Alles andere gerät in Vergessenheit. Die alte Kultur geht vollends verloren, man erinnert sich nicht mehr an sie. Der Vorstand – die Mitglieder sind ausgetauscht – hat die Steigerung der Börsenkurse im Vierteljahresrhythmus im Visier. Alles andere gerät aus der Aufmerksamkeit. An Langfristplanung wird kaum noch ein Gedanke verschwendet. Mitarbeiter, Kunden und Produkte interessieren nur, insofern sie den Börsekursen nutzen.

Es hat perfide Logik, dass eines Tages den Mitarbeitern eines Teilunternehmens verkündet wird, dass jeder Dritte von ihnen gekündigt werden wird, um den Börsenkurs zu erhöhen, immerhin 200 Menschen. Weitere Erklärungen dafür gibt es nicht, Fragen der Mitarbeiter werden nicht beantwortet. Einige Wochen später ist es mit einem Federstrich so weit.

Obwohl das Unternehmen sich in einem schwierigen Markt bewegt, werden von den Mitarbeitern ständig steigende Umsätze verlangt, um Großprojekte in der Zukunft finanzieren zu können. In den Vertriebsabteilungen macht sich die Ansicht breit, dass der Markt das nun nicht mehr hergibt. Die mittleren Führungskräfte geben entweder den Druck einfach an die Mitarbeiter weiter oder sie versuchen gemeinsam mit ihren Leuten stillen Widerstand zu organisieren. Obwohl objektiv die Produktivität sinkt, wird die Rhetorik einer Hochleistungsorganisation zum offiziellen „Unternehmenssprech“.

Kraftsprache ersetzt Kraft!

Weder die Belegschaft, noch ein großer Teil der mittleren Führungskräfte kann die Frage beantworten, wofür sie arbeiten. Wer hier arbeitet verdient nicht schlecht, solange er da ist. Er gewöhnt sich an einen gehobenen Lebensstil und arbeitet jetzt nur noch, um diesen nicht zu verlieren. Es mehren sich aber die Anzeichen von verbreiteten Burnouts. Beispielsweise beginnen Mitarbeiter unvermittelt in Seminaren und Coachings zu weinen. Angst macht sich breit, reine Existenzangst.

Auf der anderen Seite entsteht unter den Angestellten ein stillschweigender Verhaltenskodex, der besagt, dass man unter Beobachtung immer aussehen muss, als ob man extrem unter Druck stehe. Man hat keine Zeit mehr. Weder füreinander noch in der Führungsarbeit, noch für den Kunden. In den Gängen wird viel gerannt, man bekommt nur schwer Termine und den Kollegen einen Gang weiter kennt man nicht mehr. Kommunikation, ehedem eine der Stärken des alten Unternehmens, findet kaum noch statt – aus Zeitnot, wie es heißt. Sie wird durch dürre Information per Email ersetzt.

Das Unternehmen vermittelt nach außen zunehmend das Bild eines hektischen Taubenschlages.

Die Vorstände pflegen in erster Linie ihre eigene Karriere. Sie betrachten ihre Aufgabe als Job, der nur einen Zwischenschritt darstellt auf dem Weg nach irgendwohin „weiter oben“.

Es besteht die Gefahr, dass das Unternehmen von innen auseinander bricht. Wenn jeder nur dem Geld nachläuft, dann wird der Kitt brüchig, der das Unternehmen zusammenhält. Aber der Verlust von Stolz auf das eigene Werk führt auch dazu, dass man dem Kunden gegenüber an Terrain verliert, denn wer keinen Stolz hat, wird schnell zu einem katzbuckelnden Diener. Und wer sich recht tief bückt, entblößt seinen Hintern!

Als der Vorstandsvorsitzende die Bedrohungen bemerkt, versucht er gegenzusteuern, indem er ein Programm zu entwickelt, das den Namen „Stabilitätsmanagement“ trägt. Nach der Phase der Konsolidierung soll nun wieder Ruhe ins Unternehmen kommen. Aber es ist zu spät. Das Programm kommt über die Anfangsstadien nicht hinaus. Zu groß sind die Veränderungen, zu groß die allgemeine Beschleunigung. Vor allem aber: die Leute haben kein Vertrauen mehr in seine Fähigkeit! Die meisten sind sicher, dass er nicht die Kraft haben wird, das Programm gegen seine Vorstände durchzusetzen.

Wäre das Ihr Unternehmen und wären Sie der Vorstandsvorsitzende: was würden Sie tun, um den Geschäftserfolg nachhaltig zu sichern?

Beispiel 2: Ein liberalisiertes Unternehmen der öffentlichen Hand

Ein ehemaliger Gemeindebetrieb einer Millionenstadt wurde aus der öffentlichen Hand entlassen und liberalisiert. Es gilt das EU-Ziel, Kosten zu senken und Kostenwahrheit herzustellen. Der neue Direktor hat die Aufgabe, betriebswirtschaftliches Denken einzuführen. Dabei stößt er an eine Wand von Widerstand und der Weigerung, die neuen Gegebenheiten zu akzeptieren.

Das Unternehmen ist ein knappes Jahrhundert alt. Die Mitarbeiter verweilen sehr lange im Unternehmen und sind häufig bereits in der dritten oder gar vierten Generation hier beschäftigt.

Das Unternehmen in seiner Gesamtheit versteht die neuen Anforderungen nicht, schon allein deshalb, weil es die nötigen Kategorien nicht kennt. Sie waren bisher auch nie gefordert. Deshalb bleibt jede Initiative im Ansatz stecken. Die Führung sucht Schuldige als Erklärung: die Ebene der Abteilungsleiter behindere die Entwicklung und bilde eine „impermeable Schicht“. Von oben schimpft man auf die „unbeweglichen Beamten“, von unten auf die Direktion.

Der Direktor versucht das Unternehmen auf den neuen Weg zu zwingen. In Kraftakten ergießt sich eine Flut von Regeln über das Unternehmen. Die mittleren Führungskräfte spielen jedoch nicht mit. Die meisten gehen in Deckung und versuchen das Gewitter an sich vorbeiziehen zu lassen.

Die Direktion zieht nun mit Hilfe externer Berater die Zügel an. Diese versprechen ihm Erfolge auf allen Ebenen, können diese Versprechen aber nicht einlösen. In ihrer Not beginnen die Berater ebenfalls von den Problemen zu sprechen und der mittleren Führungsebene Schuld zuzuweisen. Sie vertiefen damit das allgemeine Misstrauen.

Nach einer Weile verlieren sie ihren Auftrag. Wegen unzureichendem Erfolg. Bald stellt sich die nächste Beraterfirma ein und beginnt mit dem nächsten Projekt. Die gekränkte mittlere Führungsebene und die Mitarbeiter tun ohne innere Beteiligung was von ihnen verlangt wird. Es herrscht die Tendenz vor, Wünsche der Direktion nur oberflächlich zu erfüllen und sie dann mit den Ergebnissen allein zu lassen. Jeder Versuch Bewegung in das Unternehmen zu bringen, wird fortan als Angriff verstanden und mit Widerstand und Korpsgeist bekämpft. Die Direktion wird zum kollektiven Feindbild der Belegschaft, die in den Beratern die Büchsenspanner des Leibhaftigen sieht.

So geben sich die Beraterfirmen die Klinke in die Hand und ein Veränderungs-Projekt folgt dem anderen. Die Belegschaft tut immer nur soweit mit, dass sie selbst nicht ins Feuer gerät. Was Direktion und Berater wirklich wollen, interessiert niemanden mehr. Man ärgert sich nur, wenn wieder ein neuer Fragebogen auszufüllen ist. Weil jeder Berater mit neuen Ansätzen und Begriffen arbeitet, steigt die Konfusion exponentiell. Die induzierte Orientierungslosigkeit wird mit Ignorieren beantwortet. Die Paralyse ist nahezu vollkommen.

Gelernt wird, wie man Wünsche der Direktion und der Berater erfolgreich aussitzt! Das Unternehmen ist antherapiert! Man weiß mittlerweile, was Berater hören wollen, also liefert man es so ab, dass sie einen möglichst in Ruhe lassen. Direktion und Berater werden damit regelmäßig in die Irre geführt. In seiner Verzweiflung versucht es der Direktor dann wieder mit neuen Beratern. Manche wittern ein Geschäft in der Not des Direktors und vermitteln ihm scheinbare Sicherheit. Unter den gegebenen Bedingungen haben sie aber keine Chance irgendwelche Probleme zu lösen, denn sie sind in ihrer Gesamtheit längst zu einem der wirkmächtigsten Teile des Problems geworden!

Den Hauptschaden hat das Unternehmen, denn der Graben zwischen Direktion und Mitarbeitern wächst. Die allgemeine Unruhe steigt. Ängste breiten sich aus. Es entsteht eine Kultur des Misstrauens, die in der perfiden Spielregel mündet, dass der jeweils andere zuerst zu beweisen hätte, dass man ihm vertrauen könne. Diese Regel bestimmt das Verhalten vertikal in beide Richtungen der Hierarchie, aber zunehmend auch horizontal auf der gleichen Ebene.

Vereinsamung breitet sich im Haus aus, was die Ängste weiter fördert. Um Problemen zu entgehen, entsteht vorauseilender Gehorsam: man interpretiert im Vorfeld, was gewünscht werden könnte und handelt im vorauseilenden Gehorsam danach. Das hat in der Praxis zur Folge, dass Führungskräfte sich häufig mit Handlungen konfrontiert sehen, die sie nie gewünscht haben. Andernorts werden Probleme mit zunehmender Raffinesse kaschiert. Strategische Abteilungen, wie etwa die Personalentwicklung, ziehen sich auf eine reine Anbieterfunktion zurück und stecken sehr viel Energie in die Vermeidung jeglicher Verantwortung für ihre Arbeit.

Die Führbarkeit dieses Organismus mit mehreren tausend Mitarbeitern schwindet in bedenklicher Weise.

Nehmen wir an, Sie sind in diesem Unternehmen ein Abteilungsleiter mit mehreren hundert Mitarbeitern. Sie haben die Zeichen der Zeit erkannt und wollen, dass Ihre Abteilung die Herausforderungen annimmt und Erfolge hervorbringt. Was würden Sie tun?

Oder nehmen wir an, Sie sind ein Berater. Welchen Rat würden Sie geben? Wie würden Sie vorgehen? Wo würden Sie ansetzen und wozu würden Sie sich verpflichten?

Beispiel 3: Ein Unternehmen im Sozialbereich

Eine mittelgroße internationale Organisation arbeitet im Sozialbereich. Sie besteht seit etwa einem halben Jahrhundert und ist auf ihrem Gebiet sehr erfolgreich. Allerdings klafft ein zunehmender Riss zwischen der medial vermittelten Wirklichkeit und der Realität, die das Unternehmen mittelfristig gefährden würde. Nach außen stellt sich die Organisation als eine Familie dar, in der das Leben schön ist und alle lächelnd und zufrieden miteinander umgehen. Im Inneren ist sie zerrissen.

Tatsächlich vergeht der Organisation das Lachen. Die familiäre Struktur, einstmals die Garantie für Sicherheit des betreuten Personenkreises und der Mitarbeiter, wird zunehmend zur Belastung. Konflikte werden nicht angesprochen, sondern in Bockigkeit ausgelebt. Das vertieft die Distanz zwischen Abteilungen und Bereichen ebenso, wie unter den verschiedenen hierarchischen Ebenen. Man versteht sich nicht mehr, sondern überschüttet sich mit Vorwürfen und unerfüllbaren Wünschen.

Es herrschen Regeln, die sich als äußerst resistent erweisen. Sie stammen aus der familiären Ursprungs-Ideologie des Unternehmens. Dazu gehört die Ansicht, dass man als Mitarbeiter für das Wohlergehen der Betreuten sorge, die Verantwortung für das eigene Wohlergehen als Mitarbeiter jedoch die Verantwortung der Führung sei. Werden Wünsche nicht erfüllt, wird die Hierarchie umgangen und die eigene Führungskraft bei der Direktion in Misskredit gebracht.

Es gehört auch die stillschweigend akzeptierte Regel dazu, dass man als Mitarbeiter erst dann gut gearbeitet habe, wenn man sich selbst nahe am Zusammenbrechen befindet: nur wer ständig am Rande der körperlichen und seelischen Erschöpfung arbeitet, tut genug – so verlangt es die herrschende heimliche Spielregel! Andersherum: wem es gut geht und wer Freude hat, strengt sich offenbar nicht genug an! In der Folge versucht jeder – unabhängig von der hierarchischen Ebene – allen anderen zu beweisen, dass er am Ende ist. Das hat sehr reale Folgen: die Rate der Burnouts und psychosomatischen Beschwerden ist überdurchschnittlich hoch. Bemühungen von verantwortungsbewussten Führungskräften, daran etwas zu ändern, verpuffen wirkungslos.

Der Sozialbereich liebt Elemente der Basisdemokratie. Langfristige Strategien zu entwickeln ist kaum möglich, weil sie im Dickicht der Partikularinteressen untergehen. Dabei werden durchaus Aktivitäten in die richtige Richtung gesetzt. Es finden sich auch immer wieder Mitarbeiter, die sich mit Elan und Engagement für spezifische Verbesserungen einsetzen. Nur bleibt jede Initiative stecken, weil die Partikularinteressen jede Umsetzung so weit verzögern, dass den jeweiligen Aktivisten die Luft ausgeht.

So lösen sich die Projekte mit Regelmäßigkeit ab, ohne auch nur in die Nähe der Umsetzung zu kommen oder gar Wirkung zu entfalten.

Da das Unternehmen nicht nur sozial eingestellt ist, sondern auf der Ebene der Mitarbeiter einen großen Frauenüberhang hat, auf der Ebene der Führung aber traditionell hauptsächlich mit Männern besetzt ist, schleicht sich zudem ein stillschweigender Geschlechterkampf ein, der jede Entwicklung behindert. So gilt unausgesprochen das Böse als männlich, das Gute aber als weiblich! Es herrscht eine Art versteckter Patt-Stellung zwischen den Geschlechtern.

Nehmen wir an, Sie sind in diesem Unternehmen an strategischer Position. Ihnen ist klar, dass sich etwas ändern muss, wenn der Betrieb nicht untergehen soll. Bisher sind keine geschäftlichen Katastrophen passiert, aber Sponsoren und andere Geldgeber beginnen unangenehme Fragen zu stellen. Noch ist der hervorragende Ruf Ihres Unternehmens intakt und das Betriebsergebnis in Ordnung. Das soll so bleiben. Was werden Sie tun?

Was wäre Ihnen eingefallen?

Diese drei Beispiele mögen dem unvorbereiteten Leser erschreckend erscheinen. Aber sie beschreiben reale Fälle und sind weit davon entfernt, extrem zu sein! Aus der Nähe besehen sind sie ziemlich normal.

Erfahrene Führungskräfte hatten beim Lesen dieser Fallbeispiele möglicherweise wunderbare Ideen. Im privaten Gespräch zeigt sich immer wieder, dass engagierte Führungskräfte eine hohe Kreativität entwickeln, wenn es darum geht, das Unternehmensklima zu verbessern. Sie kennen den Zusammenhang zwischen Zufriedenheit und Leistung und bemühen sich, die Dinge zu verbessern. Nicht allein wegen des Betriebsklimas, sondern durchaus ganz pragmatisch wegen des Geschäftserfolges, den eine zufriedene Belegschaft zu erzeugen imstande ist.

Geht man aber durch Unternehmen, so muss man feststellen, dass es in der Realität wenig Vertrauen und Zufriedenheit gibt. Der Grad des Lächelns ist erschreckend gering. Leben und Arbeit werden in den meisten Unternehmen als getrennte Wirklichkeiten gesehen. Die positive Kraft geht woanders hin, nämlich in die Freizeit.

Die Identifikation mit dem eigenen Produkt, mit dem eigenen Betrieb nimmt allgemein ab und wird – zumal bei höher Gebildeten – durch Job-Zentrierung ersetzt. Das bedeutet, dass man das Geld und das Ansehen liebt, welches einem der Job ermöglicht, ohne jedoch irgendwelche innere Bindungen an das Unternehmen oder gar die eigene Leistung aufzubauen.

Dafür ist der Grad an psychosomatischen Beschwerden bei Führungskräften, die daran etwas ändern wollen, hoch. Dem anfänglichen Engagement, wenn man Führungskraft geworden ist, folgt nur allzu häufig die Ernüchterung über die Trägheit des eigenen Unternehmens. Manche Führungskräfte schotten sich dann innerlich ab, um sich selbst zu schützen. Viele werden zynisch. Andere wiederum versuchen es immer wieder neu, brennen nach und nach aus.

Dass solche Zustände sich nicht dazu eignen, Menschen zu führen, sie mitzureißen und zu motivieren, liegt auf der Hand.

Betritt ein erfahrener Organisationsentwickler ein Unternehmen, so stellt er in über neun von zehn Fällen bereits im Eingangsbereich fest, dass der Grad des Lächelns niedrig ist, man grüßt sich nicht und als Besucher wird man einfach übersehen. Kommt man mit den Mitarbeitern ins Gespräch, so heben Klagen an, aus denen erkennbar wird, dass die Mitarbeiter sich als Opposition zur Führung verstehen. Sehr viel wird von Leiden gesprochen. Begriffe wie „Professionalität“ füllen den Raum, in dem der Zeitdruck geradezu greifbar wird. Identifikation mit dem Unternehmen wird wenig erkennbar.

Entgegen alle anderslautenden Behauptungen, sind unsere Unternehmen in ihrer Tiefenstruktur stark dominiert von Orientierungslosigkeit, Unklarheit und Handlungsunsicherheit.

Sucht man nach Gründen dafür und sieht genauer hin, so stellt man fest, dass die Führungsebene in solchen Unternehmen typische Verhaltensmuster aufweist. Ihre Sprache ist stark von Zahlen geprägt, seien es Stück-, Umsatz- oder Budgetzahlen. Sogenannte Sachzwänge bestimmen die Logik der Erläuterungen. Darin wird häufig ein Rückzug aus der Verantwortung erkennbar, der sich wiederum aus Unsicherheit speist.

Wird von Externen gesprochen, so zeigt sich, dass diese Aufgaben übernehmen sollen, zu denen sich das Management nicht imstande sieht, oder dass sie Schmutzarbeit erledigen sollen, wie beispielsweise Personalkürzungen. Was übersehen wird ist, dass Mitarbeiter in der Regel sehr genau wissen, welchen Auftrag diese Berater haben und die Schuld daran dem eigenen Management geben. So geraten beide in Misskredit, der Berater und die Führungsebene.

Menschen werden in solchen Unternehmen als Produktionsfaktor gesehen. Funktioniert etwas nicht, oder organisiert man um – aus welchen Gründen immer – wird gekündigt. „In Wahrheit kaufen und verkaufen wir Menschen, wenn wir Unternehmen kaufen oder verkaufen, oder wenn wir Abteilungen schließen“, sagte vor kurzem die Personalentwicklerin eines großen Baustoffhändlers und kündigte, weil sie diese Arbeit nicht mehr machen konnte.

Vor allem aber wird mit Druck gearbeitet. Der Druck, der vom Markt her wahrgenommen wird, wird einfach an die Belegschaft weitergegeben. Das fängt ganz oben an und pflanzt sich dann bis unten fort. So leiden alle unter erheblichem Druck. Nicht selten ersetzt der Erfüllungsdruck dann die Reflexion und die Kreativität.

Einmal ehrlich: wenn Sie unter Druck stehen,

- geben Sie dann den Druck weiter?
- Würden Sie ihren Mitarbeitern Seminare anbieten, damit sie endlich verstehen woher der Wind weht und wie sie sich verhalten sollen?
- Würden Sie externe Berater anstellen, die Ihnen die Büchse spannen?
- Würden Sie sich dem Sachzwang hingeben, anstatt Ziele so zu formulieren, dass Ihre Mitarbeiter überhaupt ein Ziel erkennen können?
- Verlieren Sie selbst die Identifikation mit Ihrem Unternehmen?
- Haben Sie gesundheitliche Beschwerden, die mit der Arbeit zusammenhängen?
- Verstehen Sie noch, warum Sie selbst diese Arbeit noch machen?
- Fragen Sie sich, wie es Ihnen passieren konnte, dass Sie in diese Situation kommen konnten?

Wenn Sie auf alle diese Fragen guten Gewissens mit NEIN antworten können, so dürfen Sie sich glücklich schätzen, sich zu jener handverlesenen Schar exquisiter Führungskräfte zu zählen, deren Mitarbeiter sich für ihren Chef in Stücke hauen lassen und die von einem geschäftlichen Erfolg zum anderen wandern.

Wahrscheinlicher ist, dass Ihnen das eine oder andere zumindest gelegentlich unterläuft, mit verheerenden Wirkungen auf Ihre Mitarbeiter und deren Leistung. Führungskräfte, die jederzeit und bedenkenlos über Leichen gehen sind selten. Meiner Erfahrung nach kommen Seelenverwandte von J.R. Ewing, dem Ekel der 70er Jahre Serie „Denver Clan“ so gut wie nie vor. Wohl aber gibt es Handlungen, die dem allgegenwärtig empfundenen Druck entspringen. Sie passieren Führungskräften einfach. Nicht selten machen sie sich hinterher selbst die größten Vorwürfe. Das ändert dann aber nichts mehr.

Dabei ist es nicht so, dass das quasi naturgesetzmäßigen Zwängen unterliegen würde. „In Wahrheit produzieren Unternehmen heute keine Produkte, sondern Zahlen“, sagt, Peter Kreuz, Mitautor des bemerkenswerten Buches „Different Thinking“, der sich für clevere Innovationen und Business-Querdenken stark macht. Es erscheint heute vollkommen selbstverständlich, dass Wirtschaft nur in Zahlen stattfindet. Etwas anderes können wir uns kaum noch vorstellen. Aber es geht auch um Produkte, es geht um Kunden, die diese kaufen sollen und es geht um Mitarbeiter, die sie erzeugen und verkaufen.

Auch wirtschaftliches Denken unterliegt Moden. Das lässt sich durch die gesamten fünf Jahrtausende betriebswirtschaftlichen Handelns beobachten. Die letzten sind noch nicht so lange her. Sie hießen „New Economy“ und „Share-holder-value“. Man glaubte an eine neues wirtschaftliches Paradigma: Unternehmen bräuchten keine Gewinne mehr erzielen, solange nur die Börsenkurse stiegen. Das wirkte sich katastrophal aus.

Aber es war auch faszinierend, wie einfache Glaubenssätze ein so mächtiges und fünftausend Jahre altes Konstrukt, wie das Wirtschaftssystem, ins Wanken bringen können. Und wie sie in der Lage sind, alles, was vorher gelernt wurde, scheinbar außer Kraft zu setzen, so als hätte es all das nie gegeben.

Die bis zum Platzen der Spekulationblase am 15. September 2008 gültige Mode wurde allein von Zahlen dominiert. Was sich mit Ihnen nicht darstellen ließ, das geriet aus der Aufmerksamkeit. Und das sind vor allem Menschen und die Produkte selbst. „Was im SAP nicht vorkommt, das hat bei uns aufgehört zu existieren“, bestätigte der Chefcontroller einer großen Fernsehanstalt.

Moden gewöhnen uns an etwas. Wenn man diesen Moden folgt, dann bekommt man, was man verdient. Das heißt in diesem Fall, dass die Fixierung auf Zahlen dazu führt, dass die Unternehmen Führungskräfte bekommen, die genau das können: Zahlen jonglieren! Manchmal auch nur das! Verantwortung für Menschen oder auch für das Unternehmen an sich, geraten außer acht. Mitarbeiter ihrerseits fühlen sich zu Nummern degradiert und arbeiten entsprechend unengagiert und demotiviert.

Man muss sich schon fragen, wie die Menschheit bis hierher gekommen ist, wenn das immer gewesen sein sollte. Die atemlose Jagd nach Zahlen kann nicht der Motor der menschlichen Evolution gewesen sein. Allein schon deshalb nicht, weil sich der Dauerstress nachweislich negativ auf Fertilität und Potenz auswirkt – worüber jeder Hausarzt Auskunft geben kann. Mit anderen Worten: wir wären ausgestorben!

Das ist offenbar nicht geschehen.

Ist unsere Zeit einfach komplizierter geworden, sodass wir mit ihr nicht fertig werden können? Oder sind wir unfähig geworden? Oder haben wir einfach vergessen, wie man in Zeiten der Knappheit mit sozialen Organismen umgeht?

Vieles spricht für die letzte Möglichkeit: wir waren in enorm vielen Bereichen so erfolgreich mit unseren Methoden, dass wir alles andere für überflüssig gehalten und über Bord geworfen haben. Jetzt fehlt es uns.

Bevor wir uns dem Thema zuwenden, was man denn anders machen könnte, untersuchen wir kurz die Frage, wie wir in diese Situation kommen konnten.

Der geistige Film im Hintergrund

Um unsere heutige Situation verstehen zu können, ist es notwendig, sich einmal kurz unseren historischen Standort zu vergegenwärtigen. Es gibt einen langfristigen und einen kurzfristigen Bogen, der unsere heutige Wirklichkeit beeinflusst.

Der langfristige historische Bogen

Für den langfristigen Bogen muss man weit in die Geschichte zurückblicken. Es gibt in der Geschichte Bögen, die wir Epochen nennen. Unsere Epoche nennen wir die Moderne. Man spricht auch seit einigen Jahrzehnten schon von der Postmoderne. Nur was steckt dahinter?

Gehen wir etwa acht Jahrhunderte zurück, so erblicken wir eine historische Situation, in der alles geordnet war. Nicht, dass es keine Unruhen und keine Kriege gegeben hätte. Aber es war eine Zeit in der das geistige Gebäude stabil war. Wir nennen diese Zeit das Hochmittelalter. In dieser Zeit war der höchste Wert im Abendland die Ordnung. Alles hatte seinen Platz. Die Dinge waren geordnet und machten Sinn. Jeder Mensch konnte mit allem, was er tat, seinen Ort finden in diesem Gefüge.

Wir erkennen diese Geisteshaltung beispielsweise an den hochgotischen Kathedralen. Sie sind die Darstellung dieser Ordnung. Ihre Botschaft besagt, dass das Äußere zwar zerklüftet sein mag, so wie unser Alltagsleben, im Inneren aber stets die Ruhe der Ordnung und der Stabilität zu finden ist. Das Ziel war, diese Ruhe zu erkennen und danach zu leben.

Dann aber setzten Veränderungen ein, die diese Stabilität zerstörten. Anfang des 14. Jahrhunderts begannen gewaltige Hungersnöte. Kaum waren die vorbei, überzog die Pest das Abendland. Nach einem halben Jahrhundert, so schätzen Historiker, war die Hälfte der europäischen Bevölkerung verschwunden. Hunger und Krankheit hatten das Sozialsystem aufgelöst, das menschliche Leben war kaum mehr etwas wert und sogar Kannibalismus in vielen Gegenden normal geworden. Es waren unvorstellbare Zustände, die damals getreulich von Mönchen aufgezeichnet wurden. Allein das Lesen dieser Unterlagen jagt einem Schauer über den Rücken!

Nach diesen Katastrophen begannen sich neue Ordnungen zu etablieren. Das bedeutete häufigen Krieg, deren bekanntester der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England gewesen ist. Aber auch sonst war das Leben überall gefährdet. Es ist sogar bezeugt, dass das Vieh in den Dörfern beim Erklingen von Waffengeklirr oder Hornsignalen, selbständig im Wald Schutz suchte.

Die alte mittelalterliche Ordnung war zerfallen. Gott, der Name und Sinnbild dieser Ordnung gewesen war, hatte seine Schwäche bewiesen und der Tod hingegen seine Stärke. Unsere Vorfahren gingen nun dazu über, angesichts der offensichtlichen Schwäche Gottes, sich auf sich selbst zu verlassen und ihre Ordnung selbst zu bauen.

Man muss klar sehen, dass es sich dabei um eine neue Idee als Antwort auf eine spezifische Situation handelte, nicht um die Entdeckung einer Wahrheit! Es ist wichtig, das zu erwähnen, denn dies ist die Grundlage für jenes Weltbild, das wir für wahr halten! Die historische Betrachtung zeigt, dass es sich nur um eine Idee handelt – die man auch wieder ändern kann, sogar muss, wenn sich die Zeiten wieder ändern.

Ein Teil der damaligen Antwort war die Entwicklung des Absolutismus als Schutz gegen die politischen Unsicherheiten und damit verbunden, die Entstehung der Nationalstaaten. Ein anderer Teil der Antwort war die Entwicklung der Naturwissenschaft, so wie wir sie heute verstehen. Es entstand das Bild des Wissenschaftlers, der die Welt erforscht, in Zahlen packt und ihr Wesen entschlüsselt. Über die Jahrhunderte verlor Gott, als Hüter der Ordnung immer mehr an Bedeutung gegenüber den Zahlenwerken, die durch Menschen beherrschbar sind. Dieses Bild gerann zu einer neuen, ebenso absoluten Wahrheit, wie sie vordem von den Predigern der Kirche in dieser Weise verbreitet worden war. Nur bezieht sich die neue Wahrheit nicht mehr auf eine transzendente Kraft, sondern auf uns selbst.

Dabei ist es uns passiert, dass wir die Zahlen und das, was aus ihnen hervorgeht, nur allzu leicht mit der Welt verwechseln. Aber unsere Zahlenwerke sind auch nur Bilder über die Welt, nicht die Welt selbst. Ebenso wenig, wie der Finger, mit dem man auf den Mond zeigt, der Mond ist.

Wichtige Meilensteine auf diesem Weg waren Johannes Kepler (1571 - 1630), der die Sonne in das Zentrum unseres Planetensystems stellte, weil es sich so leichter berechnen lässt. Ferner Galileo Galilei (1564 - 1642), der diese Sichtweise in die Volkssprache übersetzte und so allgemein zugänglich machte. Damit entstand das Problem, dass nicht ausreichend Gebildete, dieses Erklärungsmodell mit der Wahrheit geradezu verwechseln mussten. Indirekt schuf Galilei – in dem er der alten Wahrheit die Türe wies - eine neue Wahrheit und wurde eben dafür verurteilt. Ein weiterer Meilenstein war auch Isaak Newton (1643 - 1727), der Begriffe wie Naturgesetz, Naturwissenschaft und exakte Wissenschaft einführte und damit den Anschein von Objektivität weiter verstärkte. Weniger bekannt ist, dass Newton sehr wohl wusste was er tat und dass er in Wirklichkeit jeder anderen Möglichkeit, Natur zu denken, oder Mathematik zu betreiben, die Lebensgrundlage bewusst entziehen wollte. Man muss zugeben, dass er damit außerordentlich erfolgreich gewesen ist, bis heute!

So wuchs langsam die Vorstellung heran, dass wir die Natur in den Griff bekommen und zähmen können – auch unsere eigene menschliche Natur. In der französischen Revolution entstand folgerichtig die Idee, dass der Mensch sich selbst neu erfinden könne, denn die Revolution wollte einen Neuen Menschen schaffen! Unsere Natur schien in diesem Lichte gesehen nicht mehr zu sein, als eine Art Plastilin, das man beliebig in Form kneten und mit Hilfe von Sozialtechniken anpassen kann.

Es ist nur konsequent, dass wenige Jahre später Pierre Simon de Laplace (1749 - 1827) Napoleon gegenüber erklärte: Gott? Ich benötige diese Hypothese nicht! Und am Ende des 19. Jahrhunderts beklagte Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) den Tod Gottes. Er meinte damit, dass der europäische Mensch der beginnenden Industrialisierung die Fähigkeit verloren habe, etwas Größeres als sich selbst anzuerkennen.

Zu allen Zeiten gab es jedoch auch Warner, wie Gilbert Keith Chesterton (1874-1936), der sagte, dass Geister, man die Türe weist, dann eben durch Fenster und Kamin kommen würden.

Genau das scheint heute der Fall zu sein! Denn wir Menschen brauchen nicht nur Brot zum Leben, sondern auch das Gefühl, sinnvoll zu leben und zu arbeiten. Der Sinn scheint uns zunehmend verloren gegangen zu sein.

Das ist kein Wunder. Denn unsere Leittheorien sind völlig sinnentleert. Das gilt sowohl für die newtonsche Mechanik, die uns zu Zahnrädchen macht, die funktionieren oder repariert und weggeworfen werden. Es gilt für die Thermodynamik, die das Leben als kurze Phase in einem sich energetisch unwiederbringlich entleerenden Kosmos sieht. Und es gilt schließlich auch für die Hydraulik, die das Grundmuster zu unseren Vorstellungen von Information liefert. Weswegen es dort auch von hydraulischen Begriffen, wie Kommunikationskanälen, -flüssen und –staus nur so wimmelt.

Es war Viktor Frankl (1905 - 1997), der gefordert hat, dass wer Leistung fordern wolle, Sinn bieten müsse. Diesem Auftrag werden wir im Weiteren folgen.

Der mittelfristige historische Bogen

Bleiben wir aber noch bei den historischen Hintergründen und rücken wir unserem aktuellen geistesgeschichtlichen Ort etwas näher:

Aus dem langsam wachsenden Gefühl der Gewissheit, die Welt selber erschaffen zu können, entstand zunächst die Industrielle Revolution und dann die Idee der Technik. Technik wird gerne als Lösungsmethode gesehen, um der Natur beizukommen. In Wahrheit handelt es sich jedoch vielmehr zuerst um die Idee, dass der Mensch in der Lage sei, die Natur zu beherrschen, wie der große österreichisch-englische Kulturwissenschaftler Ernst Gombrich (1909 - 2001) ausführte. Auch wenn man es kaum glauben kann: es gibt durchaus auch sinnvolle und erfolgreiche Formen mit der Welt anders umzugehen, und sie anders zu denken!

Kaum etwas ist so gefährlich, wie zu viel Erfolg! Der Siegeszug des wissenschaftlich-kausalen und technischen Denkens schien jede Beschäftigung mit anderen Fragen überflüssig zu machen. Nahezu sämtliche Wissenschaften kamen in den Sog mathematischer Berechenbarkeit, auch die Philosophie und die Geisteswissenschaften. Man nahm an, dass man beispielsweise psychologische und soziologische Fragen bloß „noch nicht“ berechnen könne. Kaum jemand zweifelte aber daran, dass solches prinzipiell möglich und nur eine Frage der Zeit sei.

Die allgegenwärtige Technikgläubigkeit erhielt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Schläge, die eine Identitätskrise des vor sieben Jahrhunderten eingeschlagenen Weges der Moderne auslösten.

Es begann 1973 mit dem Ölschock. Plötzlich wurde erkennbar, dass der Reichtum der Industriegesellschaft allein auf der Ausbeutung fossiler Energie beruhte und dass diese zu Ende gehen würde. Das Unglück von Tschernobyl (Mai 1986) vernichtete die Gewissheit, dass diese Rohstoffe bedenkenlos durch Atomenergie ersetzt werden könnten, aber auch die Vorstellung, dass die Natur jederzeit technisch beherrschbar sein könne. Kurz vorher hatte das Challenger-Unglück vom Februar 1986 ebenfalls gezeigt, dass kleinste Ursachen ebenso katastrophale wie unbeherrschbare Folgen generieren können.

Dieses Jahr 1986 kann mit Fug und Recht als das Ende der Epoche des bedingungslosen Glaubens an die technische Beherrschbarkeit der Natur angesehen werden. Es begann eine neue Blickrichtung zu keimen. Zwar gab es auch weiterhin die Versuche, all das beherrschbar zu machen, aber die Masse der Kritiker stieg an. Die Grundlagen waren vom Club of Rome gelegt worden, der das Ende des Wachstums publikumswirksam vertreten hatte. Die Vorkommnisse von 1986 förderten einen neuen Typus wissenschaftlicher Theoriegebäude, von denen man ohne Übertreibung sagen kann, dass sie einen Paradigmenwechsel darstellen. Dazu gehört das epochemachende Werk der Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela, die in ihrem Buch „Der Baum der Erkenntnis“ (1087) die Ansicht vertraten, dass wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen und nicht einfach vorfinden. Es gehört der englische Biologe und Chemiker James Lovelock (* 1919) dazu, der den Begriff des „lebenden Systems“ ausweitete und nicht von menschlichen Individuen ausging, sondern in holistischer Weise die Erde als Ganzes als lebendes System ansah. Schließlich gehört auch die Chaostheorie dazu, mit deren Hilfe nachgewiesen werden kann, dass unsere Vorhersagen immer nur über sehr kurze Strecken Gültigkeit haben. Denn jeder Prozess, sei er physikalisch oder sozial, entwickelt in der Realität Nebenwirkungen, die den weiteren Weg eines Systems beeinflussen und es über weitere Strecken völlig unvorhersagbar machen.

Die Scientific Society reagierte damals heftig, denn das bedeutete eine völlige Veränderung des Objektivitätsglaubens der Wissenschaft. Heute ist es ruhiger geworden und wir gewöhnen uns nach und nach daran, Prozesse als etwas zu sehen, das nicht determinierbar ist, als Phänomene, die grundsätzlich ein offenes Ende haben. Diese Erkenntnisse sind grundlegend für unsere Betrachtungen über die Führbarkeit von Unternehmen.

Nur ändern sich Paradigmen der Wirtschaft nicht sofort, nur weil irgendwo in der Wissenschaft anders gedacht wird. Im Gegenteil! Zwar gibt es heute eine wachsende Gruppe von Unternehmen, die nach und nach verstehen, dass man auch mit offenen Prozessen umgehen kann und deren Führungskräfte auch den Mut aufbringen sich darauf einzulassen. Durchaus mit Erfolg, wie noch zu sehen sein wird!

Aber das alte kausal-deterministische Weltbild wehrte sich heftig und erhöhte seine Schlagzahl. Seine Stunde schien gekommen, als der Ostblock Ende der 80er Jahre zusammenbrach. Es schien wie ein endgültiger Sieg des Kapitalismus über die Planwirtschaft. Nur wurde nicht deutlich genug gesehen, dass dies ein Implodieren war, nicht der Sieg des Besseren über das Schlechtere.

Am Schlimmsten wirkte sich aus, dass die sogenannte „westliche Welt“ ihr einigendes und sinnstiftendes Feindbild verloren hatte. Die Globalisierung wird gemeinhin als ein Erfolg dargestellt. In Wirklichkeit war sie nichts anderes als ein verzweifeltes Tasten nach neuem Sinn. Schiere Größe ersetzte das klare Feindbild des Ostblocks. Eine diffuse Vorstellung von „big is better“ beanspruchte immer mehr Raum.

1986 hatte der US-Ökonom Alfred Rapperport die Idee des Shareholder Value geboren. Er wollte damit ursprünglich lediglich darauf hinweisen, dass Unternehmen auch die Interessen der Kapitalgeber berücksichtigen sollten. Dazu empfahl er unter anderem die Vinkulierung der Managergehälter an den Börsenkurs.

Das neuen Sinn suchende Wirtschaftssystem stieß nun auf diese Arbeit und machte daraus eine neue Wahrheit. War es früher darum gegangen, die Sowjetunion zugrunde zu wirtschaften, so sollte es nun darum gehen, die Börsenkurse hochzujagen – koste es, was es wolle. Der Treibstoff dazu waren die an den Börsenkurs vinkulierten Einkünfte der Top-Manager. Wirtschaftliches Denken bekam die Form eines einzigen Punktes. In diesem Punkt war alles konkret messbar und in Zahlen auszudrücken. Damit entzog es sich jeder weiteren Diskussion und Überlegung.

Bald galt es als einziges Ziel, die höchsten Börsenkurse zu erzielen. Aus alten Traditionsbetrieben mit klarem Produktprofil wurden Großbanken mit einer kleinen operativen Einheit, in der man die Verluste unterbrachte. Man hörte häufig den - ohne Kenntnis dieser Zusammenhänge vollkommen sinnlosen - Satz „Wir machen Verluste im operativen Geschäft“, während gleichzeitig Gewinne ausgewiesen wurden. Diesen Weg beschritten beispielsweise viele Unternehmen der Automobilindustrie.

Dieser entfesselte Kapitalismus vergaß alles, außer den Börsekursen. Produkte, Mitarbeiter, Kunden waren Themen zweiter Ordnung. Weil Einsparungen, Rationalisierungen und Kündigungen die Börsekurse für gewöhnlich steigen lassen, wurden Menschen zu reinen Spekulationsobjekten. Hinzu kam, dass die Märkte nach der Produktknappheit des Zweiten Weltkrieges gesättigt waren und der Kampf um den Raum daher härter wurde.

Viele der größten Unternehmen entkoppelten sich völlig vom ursprünglichen Sinn jeder Wirtschaft, nämlich arbeitsteilig anderen Menschen etwas zu bieten, was diese zum Leben brauchen. Das System kippte und das erste Erwachen kam, als die sogenannte New Economy Blase im Jahr 2000 platzte.

Inzwischen sind etliche der im Steigern ihrer Börsenkurse erfolgreichsten Unternehmen untergegangen, viele Führungskräfte dieses Hype sitzen hinter Gittern oder auf der Anklagebank. Aber noch geht das taktische Einsparen und Kündigen munter weiter. Interessanterweise greift es auch in Bereiche, in denen sein Sinn zumindest fragwürdig ist, beispielsweise in das Sozial- und Bildungssystem. „Einsparen“ scheint ein geradezu protoreligiöser Wert geworden zu sein, den man nicht lange hinterfragen muss.

Als Gesellschaft und Wirtschaftssystem haben wir uns in eine Sackgasse gedacht und gehandelt. Wir zappeln wie der Fisch in einer Reuse. Wenn wir anfangs von der nahezu allgegenwärtigen Hektik gesprochen haben, dann haben wir hier dafür die Erklärung: wir wissen nicht mehr recht, was wir tun sollen. Deshalb erhöhen wir einfach die Schlagzahl – sowohl als Unternehmen, wie auch als Individuen. In Wirklichkeit quillt das uns alle belastende Gefühl von Hektik und Überforderung aus dieser Mitte.

Aber hat sich die Welt verändert?

Nein, natürlich nicht! Wir sind es, die mit den von uns selbst geschaffenen geistigen Modellen nicht mehr umzugehen wissen. Unsere Probleme machen wir uns selbst, weil wir mit Methoden einer untergehenden geistigen Welt der Beherrschung und Kontrolle in eine Zukunft wollen, die genau das nicht mehr zulassen wird! Das muss schiefgehen!

Die Führungstheorien ändern sich

Viele Unternehmen bemerken, dass sie sich um Kunden, Produkte und Mitarbeiter kümmern müssen, wenn sie nachhaltig Bestand haben wollen. Ihre Zahl wird glücklicherweise größer.

Nur wie soll man das tun? Rat ist teuer, aber nicht immer so gut, wie er tut! Denn warum sollte eine Beraterindustrie, die sich dem gleichen Goldgräber-Kapitalismus unterwirft, wie die Unternehmen, die sie beschäftigen, bessere Antworten finden? Originellere vielleicht, aber wirklich bessere wohl kaum.

Sie haben an den gleichen Universitäten studiert wie der Typus des rast- und bindungslosen Managers, leben wie sie mehr im Flugzeug, als am Schreibtisch, benutzen das gleiche Vokabular und haben die gleichen Werthaltungen, beispielsweise, dass mehr besser ist als wenig, schnell besser als langsam und linear berechenbare Effizienz besser ist als fließende Effektivität. Sie sprechen nur miteinander und sehen auf alle anderen herab. Dabei tauschen sie ihre Werthaltungen aus und bestätigen sich diese gegenseitig immer wieder aufs Neue. Sie lizitieren sich gegenseitig hoch, bis sie high sind. „Ein typisch männliches Verhalten, mit abstrakten Ideen abzuheben“, sagte eine Kollegin – im vollen Bewusstsein, dass es auch genügend Frauen gibt, die sich an diesem Spiel beteiligen.

Dabei entsteht garantiert noch mehr Hektik.

Kann aber auch mehr Qualität entstehen?

Schon Albert Einstein war der Meinung, dass die Methode, die einen in Probleme gebracht hat, nicht dieselbe sein kann, die einen wieder herausführt!

Machen wir es auf unserer Suche nach realen Möglichkeiten also anders und gönnen wir uns eine langsamere Gangart. Machen wir auch einen Blick zurück in die Entwicklung der Führungstheorien. Auch sie haben einen beachtlichen Weg durch das vergangene Jahrhundert gemacht und zunächst immer dieselbe Frage gestellt. Diese Frage lautet: was musst du als Führungskraft tun, damit du richtig führst?

Bereits an dieser Formulierung erkennt man den Grund, wie es zu diesem Zusammenspiel von Beratern und Vorständen kommt. Denn im Hauptfokus liegt die Annahme, dass nur die Besten von oben zum Besten derer unten entscheiden können.

Die Entwicklung der Führungstheorien startete am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Industriebetriebe wuchsen und verloren ihren Charakter als Großwerkstätten. Henry Ford und Frederic Taylor fraktionierten die Arbeitsprozesse. Ford forderte, dass Arbeitsplätze so gestaltet zu sein hätten, dass ein ungelernter Bauernbursch binnen einen einzigen Tages vollwertige Arbeit verrichten könne. Das führte nicht nur zum Fließband, sondern auch zu einem exponentiell steigenden Bedarf an Führungskräften. Ihnen wurde richtigerweise das Wort „Führung“ aus der Berufsbezeichnung gestrichen und so entstand der Manager, der die Arbeit so vordachte, dass sie am Fließband durchgeführt werden konnte. Die Idee des universellen Managers war geboren. Wer am Band stand, konnte nun zwar schnell sein, hatte aber keine Ahnung mehr, was er da tat.

Erste Theorien entstanden, wie solche Manager sein müssten. Als erstes gab es die sogenannte „big-man-theory“. Es wurde tatsächlich nach körperlichen Merkmalen gesucht, etwa Körpergröße, eine tiefe Stimme, eine gerade Nase, etc.

Bald stellte sich heraus, dass zwar etwas dran war, aber auch, dass derartige Merkmale noch keinen Chef ausmachen. So kam es zu den eindimensionalen Führungstheorien. Sie sind heute besser bekannt als „Management-by-Konzepte“. Es gibt sie heute noch in großer Zahl: Management by delegation, Management by walking around, Management by Zielvereinbarung, bis hin zu Management by Attila und Management by Schach.

Sie alle liefern Einsichten, versagen aber in dem, was eigentlich gesucht wurde, nämlich ein sicheres und funktionierendes Führungskonzept, mit der man alles unter Kontrolle hat. Mit Menschen zu sprechen oder zu delegieren, ist zwar gut und hilfreich. Aber es sichert den Erfolg nicht. Also ging die Suche weiter.

Etwa in den siebziger Jahren kamen dann die zweidimensionalen Konzepte auf: Fortan sollte ein Manager immer sowohl die Sachorientierung als auch die Personenorientierung in vollkommener Weise beherrschen, das heißt Geschäftszielen und emotionalen Bedürfnissen der Mitarbeiter in gleicher Weise gerecht werden. Dazu gehört beispielsweise das bekannte GRID-Konzept. Tatsächlich wurde der Spagat für die Manager damit aber größer. Denn was tut man, wenn Sach- und Beziehungsthemen auseinanderlaufen? Im Ernstfall waren diese Konzepte nicht wirklich hilfreich.

Also wurde noch eins draufgesetzt: Zusätzlich zur Sachebene des Unternehmens und der Beziehungsebene, wurde nun noch die Beurteilung der Reife jedes Mitarbeiters in die Hand der Manager gelegt. Das waren die dreidimensionalen Modelle, zu denen Beispielsweise das „Situative Management“ gehörte.

Die Entwicklung führte nicht nur zu einer kaum noch handhabbaren Komplexität der Management-Aufgabe, sondern zeigte auch noch eine beunruhigende Tendenz zur vierten Dimension.

Da, es war Mitte der 90er Jahre, entstanden neue Ideen. Daniel Goleman veröffentlichte seine Idee zur Emotionalen Intelligenz und Howard Gardner veröffentlichte sein Buch „Leading Minds“ in dem er Unternehmer, Politiker, Wissenschaftler, usw. beschreibt, die Leitfunktionen in der Gesellschaft hatten und haben. Die Geführten traten damit immer mehr an das Zentrum der Überlegungen heran.

Eine andere Sichtweise gewann an Boden.

Ein bekanntes Fortbildungszentrum für Manager führte eine großangelegte Untersuchung unter Vorgesetzten im deutschsprachigen Raum durch und fand heraus, dass nur fünf Prozent aller Menschen in Führungspositionen irgendwann einmal den Satz gedacht hatten: Ich will Menschen führen! Der Rest war in der Karriere nach oben gestolpert, hatte die Nähe zur Macht gesucht, das Geld oder das soziale Prestige.

Seit damals hat sich dieser Prozentsatz bestimmt nicht verbessert, eher im Gegenteil. Unter Organisationsentwicklern ist es ein offenes Geheimnis, dass ein Jahrzehnt später die persönliche Karriere und das Ranking nach Gehalt in der Managementwelt die wichtigsten Ziele der Managementklasse wurden. Spätestens im Jahr 2008 wurde dieser Umstand für jeden erkennbar, als die Bank Lehman Brothers in Insolvenz ging.

Wie soll jemand, der sich selbst im Zentrum der Welt sieht, sich auf andere Menschen und ihre Bedürfnisse einlassen können? Wie soll er fähig sein, Menschen zu führen?

Im Jahr 1996 veröffentlichten Winfried Panse und Wolfgang Stegmann das Buch „Kostenfaktor Angst“, in dem sie sehr vorsichtig erhoben, dass sich die jährlichen Kosten der sichtbarsten körperlichen und geistigen Auswirkungen von Mikro- und Makroängsten in Unternehmen auf 50 Milliarden Euro beziffern lassen.

Im Jahr 2000 veröffentlichte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), dass sich die Depressionen am Arbeitsplatz seit den fünfziger Jahren verzehnfacht haben und sieben Prozent der Frühpensionierungen auf psychische Erkrankungen zurückgehen. Im selben Jahr wurde festgestellt, dass 42 % der Arbeitszeit in Österreich unproduktiv verschwendet wird. Ursache: mangelnde Führung und mangelnde Arbeitsmoral. Deutschland lag damals mit 36 % etwas besser. Die Shell-Studie des Jahres 2000 stellte eindeutig fest, dass die Ausländerfeindlichkeit zunahm. Der Grund sei in der abnehmenden Zukunftsperspektive und dem Gefühl der eigenen Ohnmacht zu sehen.

Anfang August 2007 schließlich berichteten die Medien von einer deutschen Studie, nach der Mitarbeiter am meisten unter fehlender Anerkennung und Wertschätzung in ihren Unternehmen leiden. Sie fühlten sich nicht wahrgenommen.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus den vielen Untersuchungen, die seit der Mitte der 90er Jahre erschienen. Alle diese neuen Zugänge und neuen Fragen legen den Schluss nahe, dass wir am Ende einer Epoche stehen. Wir sind dabei zu bemerken, dass wir unsere Sicherheit nicht einfach mit immer mehr Technik und Sozialtechnik erzeugen können. Wir erkennen langsam, dass wir anders denken müssen, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Sonst ergeht es uns wie jenem Faxgerät, das in den 80er Jahren zu einem Fernschreiber sagte „Ich bin ein intelligentes Produkt!“, während im Hintergrund schon das Email heranreifte.

Wie man tote Pferde reitet

Wer sich der Geschichte nicht stellt, der wird Geschichte. Diese Weisheit ist der Inhalt eines Mails, das durch im Intranet eines Ministeriums kursierte:

Eine Weisheit der Lakota Sioux sagt:

„Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab!“

Im Berufsleben versuchen wir oft andere Strategien, nach denen wir in dieser Situation handeln:

1. Wir besorgen eine stärkere Peitsche
2. Wir wechseln den Reiter
3. Wir sagen: „So habe ich das Pferd doch immer geritten!“
4. Wir gründen einen Arbeitskreis, um das Pferd zu analysieren
5. Wir besuchen andere Orte, um zu sehen, wie man dort tote Pferde reitet
6. Wir erhöhen die Qualitätsstandards für den Beritt toter Pferde
7. Wir bilden eine Task-Force, um das tote Pferd wiederzubeleben
8. Wir schieben eine Trainingseinheit ein, um besser reiten zu lernen
9. Wir stellen Vergleiche unterschiedlicher toter Pferde an
10. Wir ändern die Kriterien, die besagen, ob ein Pferd tot ist
11. Wir kaufen Leute von außen ein, um das tote Pferd zu reiten
12. Wir schirren mehrere tote Pferde zusammen, damit sie schneller werden
13. Wir erklären: „Kein Pferd ist so tot, dass man es nicht noch schlagen könnte!“
14. Wir machen zusätzliche Mittel locker, um die Leistung des Pferdes zu erhöhen
15. Wir machen eine Studie, um zu sehen, ob es billigere Berater gibt
16. Wir kaufen etwas zu, das tote Pferde schneller laufen lässt
17. Wir erklären, dass unser Pferd „besser, schneller und billiger“ tot ist
18. Wir bilden einen Qualitätszirkel, um eine Verwendung für tote Pferde zu finden
19. Wir überarbeiten die Leistungskriterien für tote Pferde
20. Wir richten eine unabhängige Kostenstelle für tote Pferde ein.

Kapitel 2 Warum nicht einmal anders

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie könnte man es denn anders machen?

Die Schwierigkeit, wenn man etwas anders machen will, besteht schon darin, dass wir nie so genau wissen, was eigentlich das ist, was wir gerade machen.

Das hört sich paradox an. In Wahrheit aber stecken hinter allem, was wir denken und sprechen können Wertvorstellungen und Denkvoraussetzungen, die wir einfach annehmen. Warum wir das tun, ist oft in Vergessenheit geraten. Nur einige Beispiele:

- Warum ist beispielsweise Mobilität wichtig?
- Was eigentlich ist Gesundheit ?
- Warum müssen Unternehmen und die Wirtschaft als Ganzes wachsen ?
- Warum sind uns Individualität so wichtig?
- Warum ist es uns wichtig Zeit zu sparen?

Das sind Fragen, deren Sinn nur mit genauer Kenntnis der historischen und kulturellen Zusammenhänge greifbar wird. Man stellt erstaunt fest, dass andere Kulturen zu anderen Lösungen gekommen sind und dass es ihnen damit auch nicht schlecht geht. Hier der Versuch von Antworten auf diese Fragen:

- Mobilität ist einer der Grundwerte der Industriellen Revolution. In nahezu sämtlichen anderen bestehenden und vergangenen Kulturen stellt eher Sesshaftigkeit einen Wert dar. Sogar die Tuareg, jene Nomaden, welche die längsten Wanderbewegungen durchführen, verwenden nur 8 % ihrer Zeit für Mobilität. Bereits in den siebziger Jahren berichtete Ivan Illich, dass der durchschnittliche amerikanische Städter nahezu die Hälfte seiner Zeit für Mobilität verwendete! Illich rechnete sowohl die Reisezeit, als auch jene Zeit, die für die Ermöglichung der Mobilität notwendig ist, mit hinein. Dazu zählt er unter anderem die Zeit, die man braucht, um den Preis für ein Auto oder ein Kamel mit all seinen Nebenkosten zu beschaffen
- Gesund zu sein hieß im Mittelalter, sich am sozialen Prozess beteiligen zu können. Eine bettlägerige Großmutter, die ihren Kindern etwas erzählen konnte, galt nicht wirklich als krank. Gesund war, wer etwas für andere leisten konnte. Das hat sich mehrfach in den letzten Jahrzehnten geändert. War „gesund“ in den 70er Jahren noch mit „arbeitsfähig“ gleichgesetzt, so änderte sich der Begriffsinhalt in den Achtzigern zu „fit“. Damals hechelten überall Menschen durch das Gehölz und sprangen über Baumstämme, weil sie gesund sein wollten. Das entwickelte sich weiter zur „Belastungsfähigkeit“ die man nachweisen musste, indem man nach der Arbeit noch in der Lage war, Squash oder mindestens Tennis zu spielen. Herzinfarkte bei Managern während des Laufens nahmen zu und auch Bill Clinton brach beim öffentlichen Morgenjogging zusammen. Später lockerten sich die Zügel und es wurde unter dem Begriff „gesund“ so etwas wie „freizeitfähig“ verstanden, bis schließlich das „spaßfähig“ der Eventkultur daraus wurde
- Die universelle Bedeutung des Wachstums ist ebenfalls ein Kind der Industriellen Revolution. Es gibt keine andere Kultur, die Wachstum ohne Rücksicht auf Verluste als einen ihrer höchsten Werte angesetzt hätte. Wirtschaftliche Gegenwerte anderer Kulturen sind beispielsweise „allgemeiner Wohlstand“ oder „Gemeinschaft“. Wir kennen diese Werte natürlich auch, aber sie haben real einen geringeren Stellenwert
- Der Individualismus ist eine genuin abendländische Denkform. Sie entstand nach der Eiszeit, als sich in Europa dichte Wälder ausbreiteten, die das Jagen in Gruppen weniger erfolgreich machten, als in der Tundra. Der Wald konnte nur wenige Menschen ernähren. Individuelle große Jäger und Krieger waren nun gefragt. Dieser hohe Wert des Individualismus ist anderen Kulturen unbekannt. Beispielsweise auch dem Islam, was derzeit zu einem großen Teil der aktuellen interkulturellen Probleme beiträgt. Nur: von innen heraus gesehen ist Individualismus für uns so selbstverständlich, dass wir uns anderes weder vorstellen können, noch es anderen erlauben wollen
- Die lineare Vorstellung der Zeit ist uns ebenso selbstverständlich, aber wesentlich jünger. Erst mit dem Aufkommen der Eisenbahn wurde die Zeitvorstellung homogenisiert und linear gedacht, wegen der Fahrpläne! Die Idee, dass Zeit etwas sei, was man sparen könne, war dann die Konsequenz des folgenden Geschwindigkeitsrausches. In anderen Kulturen denkt man Zeit als Eigenschaft von Dingen, wie wir es auch noch rudimentär in Sprüchen wie „gut Ding braucht Weile“, oder „alles hat seine Zeit“ vorfinden. Die Griechen sprachen noch von KAIROS, womit sie die Qualität der Zeit meinten. Wir haben nicht einmal mehr ein solches Wort.

Werte sind also nicht nur die Voraussetzung für jedes Denken und Handeln, sondern auch abhängig von der Kultur, in der sie gelten und sie sind über die Zeit veränderbar. Sie stellen keine absoluten und unveränderlichen Größen dar. Das gilt selbstverständlich genauso für jene Werte, die unser Wirtschaftssystem beherrschen. Dazu gehören neben dem Wachstum Begriffe wie Gewinnoptimierung, Marktpositionierung, Kosten und Größe, sowie jeder beliebige andere Wert, der wirtschaftliches Handeln bestimmt. Dasselbe gilt analog für unsere Leitbegriffe in Politik, Bildung, Religion, usw.

Wenn solche Werte historisch entstanden sind und nicht in Erz gegossen sind, dann ist es auch möglich, sie in Frage zu stellen und sie zu verändern. Mut ist dabei unbedingt nötig. Denn einerseits wandelt derjenige, der mit dem Mainstream schwimmt, immer in der Sicherheit der Gemeinschaft. Andererseits wird jeder Abweichler zunächst immer negativ beurteilt.

Wenn alle der Überzeugung sind, dass die einzige Art Nahrung zu beschaffen die Jagd sei, dann rennen alle dem Wild nach. Was natürlich zur Folge hat, dass das Gedränge groß, das Wild weniger und die Erfolge kleiner werden. Baut sich nun ein einziger eine Angel und hört auf zu rennen, und stellt sich ruhig an den Fluss, dann spart er Energie und wird mehr Erfolg in der Nahrungsbeschaffung haben. Die anderen werden ihn aber möglicherweise für verrückt erklären, ja vielleicht sogar töten.

Dahinter steckt ein eigenartiges psychologisches Phänomen, das der Entscheidungstheoretiker Anton Kühberger „Kognitive Illusion“ genannt hat. Dieses Phänomen besagt, dass Verluste – wie auch vorangehende Verlustängste – für Menschen mehr Bedeutung haben, als zu erwartende Gewinne. Psychologisch wirken sich Verluste bis zu dreimal so stark aus. So kommt es, dass Verlust bringende Aktien länger behalten werden, als Gewinn bringende. Dabei ist es gleich, ob es sich um Aktien der Börse, um eine Ehe, um strategische Entscheidungen in Kriegen oder um „mentale Aktien“ handelt. Wir halten eher an der Hölle fest, die wir kennen, als uns einem Paradies zuzuwenden, das möglich wäre.

Es ist das Schicksal aller Ketzer: sie verlassen die bequemen üblichen Denkfurchen und werden bekämpft. Aber wenn sie durchhalten und mental oder physisch überleben, verändern sie die Welt, weil sie das Denken neu ordnen. Sie treten immer an, um zu gestalten. Ihr Gewinn besteht darin, ihrem Leben Sinn zu verleihen, weil sie etwas schaffen, was ohne sie nicht existieren würde. Und sie bekommen Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Wer dagegen weitermacht wie alle es immer schon gemacht haben, der gestaltet nicht, sondern ist nur eine Marionette n den Händen von Puppenspielern, die er nicht kennt. Er verzichtet darauf, etwas eigenständig zu gestalten und rennt am Lebenssinn vorbei. Seine Arbeit könnte auch durch jeden anderen erledigt werden. So wird das Arbeitsleben hohl und leer. Die massiv zunehmenden Sinnerkrankungen, wie Burnouts, Depressionen und Psychosomatosen sind die Folgen dieser inneren Leere.

Wir leben in einem Epochenbruch. Zu erkennen ist das einerseits am Verlust überkommener Wertestrukturen und am zaghaften und tastenden gleichzeitigen Entstehen neuer Paradigmen. Wollen wir nicht Antworten von gestern in eine veränderte Zukunft fortschreiben, in die sie nicht mehr passen, dann müssen wir die wesentlichen Fragen von vorne stellen, um das Finden von passgenauen Antworten für die neue Situation zu ermöglichen.

Bleiben wir dagegen bei unseren herkömmlichen Reparaturmechnismen, dann wird uns die Zeit überholen. Unseren Versuchen werden die Rahmenbedingungen wegbrechen, unter denen sie Geltung hatten, was zur Folge hat, dass wir nur Pflaster auf Löcher kleben aber keine Risse mehr heilen können.

Grundfragen einmal anders stellen

Warum es also nicht wagen, noch einmal von vorne darüber nachdenken, worum es geht und das Abenteuer einzugehen, auf Antworten zu gelangen, die erfolgversprechender sind, als jene, die man bereits hat?

Es nützt jedoch nichts, wenn nur rhetorische Architekturen gebaut werden, denen keine erlebbare Dimension folgt. Dies ist der Fall, wenn wir den Wert der Freiheit hochhalten und propagieren, gleichzeitig aber in Alltag und Beruf erlebt wird, dass die Methoden der Unterwerfung und Kontrolle immer raffinierter werden; wenn von Autonomie und Mündigkeit gesprochen wird, aber gleichzeitig der Grad der Angst steigt; wenn Kreativität gefordert aber Gehorsam verlangt wird; wenn Wohlstand mit Zahlen belegt, aber nicht nachvollziehbar erlebt wird; wenn vom familiären Zusammenhalt in der Firma gesprochen wird aber gleichzeitig Kündigungen ganzer Gruppen ohne Wimperzucken unterschrieben werden; wenn von Vertrauen und Loyalität gesprochen, von der Führung aber nicht gegenüber den Mitarbeitern geleistet wird; wenn massiv Personal eingespart wird, gleichzeitig aber Jahrhundertgewinne eingestrichen werden und sich das Management saftige Gehaltserhöhungen genehmigt.

Diese Liste ließe sich endlos fortführen.

Lassen wir uns auf ein Gedankenexperiment ein. Stellen wir uns einige andere Zentralwerte vor und untersuchen wir dann, wie sich diese auswirken. Dafür ist es einleitend nötig, einige Grundfragen neu zu stellen und Selbstverständlichkeiten noch einmal von vorne zu überlegen.

Worum geht es in der Wirtschaft?

Spontan werden auf diese Frage Begriffe wie Gewinn, Umsatz, Marktpositionierung genannt. Interessanterweise kommen Kunden, Mitarbeiter oder Produkte so gut wie nie vor.

Ursprünglich entstand unser Wirtschaftssystem, weil einzelne Menschen bestimmte Dinge besser konnten, als andere. Stellen wir uns einen Spezialisten für Faustkeile vor. Die anderen ließen sich diese guten Faustkeile herstellen und boten im Gegenzug ihrerseits besondere Leistungen an. Das verteilte die Arbeit, machte die Gruppe stärker und schuf Bindungen. Wirtschaft war für den Menschen da.

Im Grunde blieb dieses Ideal bis vor etwa zwei Jahrhunderten bestehen. Natürlich gab es immer Abweichungen, aber das Prinzip galt. Dann aber verselbständigte sich das Wirtschaftssystem. Es diente nun nicht mehr dem individuellen und sozialen Leben, sondern ordnete es unter.

Erkennbar ist diese Entwicklung heute am immer höheren Einsatz von Marketing-Maßnahmen. Die meisten Produkte werden nicht mehr gekauft, weil man sie braucht, sondern weil man gehört hat, dass sie wichtig seien. Noch vor kurzem waren mobile Telefone keine Notwendigkeit. Heute sind sie ein Muss. Oder denken wir an Convenience-Nahrungsmittel.

Wer brauchte die wirklich?

Dennoch haben sie Wirkung! Sie verändern beispielsweise den Zuschnitt unserer Küchen. Diese werden kleiner und ähneln immer mehr schicken Teeküchen. Zum Kochen eignen sie sich immer weniger.

Wie wäre es denn, wenn man Wege suchen würde, um nicht mehr Umsatz, Gewinn oder das Stakkato des immer kürzer werdenden Return of Investment in das Zentrum zu stellen, sondern Bedürfnisse?

Ist das Sozialromantik?

Nein! Denn es ginge ja gar nicht darum, auf Gewinn zu verzichten, sondern nur darum, etwas anderes in das Zentrum des eigenen Denkens zu stellen. Es geht einfach darum, die Aufmerksamkeit zu lenken. Denn wo die Aufmerksamkeit ist, da ist auch die Kraft. Wer seine Kraft auf eigenen Gewinn lenkt, produziert damit beispielsweise die Nebenwirkung, dass sowohl Mitarbeiter, als auch Kunden, sofort bemerken, dass es nicht um sie geht und mit Misstrauen reagieren. Natürlich werden sie dennoch kaufen, wenn das Produkt hier am billigsten ist. Aber keine Anstrengung wird mehr in der Lage das erzeugte Misstrauen zu beseitigen! Und der Anbieter selbst verurteilt sich dazu, seine Produkte über niedrigste Preise zu verkaufen, oder dazu, Monopolist zu werden. Beides ist hartes Brot.

Wie anders wäre es, wenn Kunden und Mitarbeiter das lieben würden, was sie tun und kaufen!

Was also verlangt der Markt?

Die schnelle und übliche Antwort lautet: schnelle Produktzyklen, die günstig erzeugt und mit möglichst viel Gewinn verkauft werden können.

Natürlich ist das nicht verboten. Aber verlangt das der Markt wirklich oder redet man sich das nur ein, weil man es immer schon so gemacht hat und alle es so machen?

Wir beobachten, dass sich da etwas ändert. Die Idee der Industriellen Revolution ist es, Dinge massenweise herzustellen, damit die Produktionskosten niedrig zu halten und im Ergebnis zu erschwinglichen Preisen anbieten zu können. Das berühmteste Beispiel dafür ist Henry Ford, der seine „Tin Lissy“ mit den Worten anbot: „Sie können bei mir jede Farbe haben, solange es schwarz ist!“ Damals funktionierte das.

Wir erleben aber eine Situation in der diese Strategie nicht mehr aufgeht. Zwar werden Produkte nach wie vor billig in Massen erzeugt, aber die Kunden wollen möglichst viel Individualität haben. Für die Autoindustrie heißt das, dass sie immer mehr Kombinationen von Farben und Ausstattung in beliebigen Kombinationen anbieten muss. Für IT-Anbieter bedeutet das, dass sie zunehmend auf Kundenwünsche eingehen müssen und kaum eine Lösung einer anderen gleicht. All das hebelt die Ideologie des Industriezeitalters aus, weil diese Elemente sehr teuer sind. Kaum etwas ist so teuer, wie das Eingehen auf den Kunden. Damit verliert der Grundwert der Industriellen Revolution rasant an Bedeutung und man kann ohne weiteres davon ausgehen, dass das Industriezeitalter zu Ende geht.

Natürlich wird es weiter Industriebetriebe geben, aber sie verändern ihre mentale Ausrichtung. Das ist beobachtbar.

Was also verlangt der Markt?

Individualität und individuelle Kundenpflege!

Wie wäre es, wenn dieser Gedanke in das Zentrum gestellt würde?

Was ist der benötigte Nutzen?

Selbstverständlich sind Umsatz und Gewinn unverzichtbar. Wie wäre es jedoch, wenn jene Werte und Haltungen konsequent in das Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt würden, die erst Umsatz und Gewinn ermöglichen?

Es gab vor einiger Zeit Seminarangebote mit dem Titel „Begeisterte Kunden durch begeisterte Mitarbeiter“. Es fand damals große Zustimmung, den als Schlagwort ist dieses Sprüchlein unmittelbar einleuchtend. Nur kommt es seltsamerweise nur in Randbereichen wirklich zur Anwendung. Dann die Realität, welche Berater, Trainer und Coaches in Betrieben vorfinden, ist eine von Belastung, Angst und Überforderung.

Das muss nicht so sein! Notwendig ist dazu, die Aufmerksamkeit auf Dinge zu legen, die wir Menschen wirklich brauchen, die wir herbeisehnen, die wir erträumen. Und das auch zu tun.

Unter Studenten der Betriebswirtschaft war während meine Studiums ein klares Karriereziel sehr verbreitet: man wollte Geld haben, um sich später auf einer Jacht am Mittelmeer ausruhen zu können. Dazu aber sei es notwendig, so die Überzeugung damals, Betriebswirtschaft zu studieren, dann in ein großes Unternehmen einzutreten, dort ins Spitzenmanagement vorzustoßen und damit genug Geld zu verdienen, um sich die ersehnte Jacht kaufen zu können.

Ich sprach als junger Student mit James Goodson darüber, der damals Vizepräsident von ITT war. In seinem früheren Leben im 2. Weltkrieg, war er eines der Fliegerasse der Royal Air Force gewesen und hatte auch sonst einen turbulenten Lebenslauf vorzuweisen. Er vertrat die Ansicht, dass wer segeln gehen wollte, das einfach tun sollte, ohne Umwege. Und er gab mir einen Rat, den ich nie vergessen habe. „Tun Sie immer das, was Sie wirklich wollen!“

Es dauerte einige Zeit, bis ich diesen Satz in seiner vollen Bedeutungsbreite erfassen konnte. Denn was heißt „wirklich wollen“?

Wie wäre es, wenn wir den Fokus in der Führungsarbeit auf das legen würden, was Menschen, in unserem Fall Kunden und Mitarbeiter wirklich wollen?

Um wen geht es denn in Wirklichkeit?

Als ich unlängst dem Personalchef eines großen Unternehmens erklärte, dass wir unsere Führungstheorien auf diejenigen ausrichten müssten, um die es geht, sah er mich lange nachdenklich an und sagte dann, dass er diesen Gedanken noch nie gehört habe. Wie ist so etwas möglich? Geht es nicht immer um Menschen? Sagen nicht alle, dass entweder der Kunde, oder der Mitarbeiter oder beide im Zentrum ihrer Überlegungen stünden?

Ja. Nur wie sieht die Realität aus? Woran orientieren wir uns? An allem Möglichen, nur nicht an Mitarbeitern und Kunden! Da nehmen Umsätze, Marktpositionierungen, Kurse und Budgets doch den weitaus größeren Raum ein.

Wer produziert denn den Wohlstand? Sind das die Führungskräfte? Natürlich nicht. Es sind die Mitarbeiter, die Produkte erzeugen und dann verkaufen und es sind Kunden, die diese Kunden kaufen.

Auf irgendeine geheimnisvolle Weise ist das vergessen worden. Im wirtschaftlichen Denken ging das Wissen unter, dass es andere Ziele geben kann, als die Maximierung von Umsätzen, Gewinnen und Kursen. Dass Beziehungsarbeit die Voraussetzung für jeden Wohlstand ist, wurde von der bewussten Wahrnehmung gelöscht.

Eigentliche Führungsarbeit wurde insgesamt vergessen, weil sich in das Management die krause Vorstellung eingenistet hat, dass es genüge, mit Zahlen zu jonglieren, jedenfalls dann, wenn man es virtuos genug tue. Das wird selten in dieser Deutlichkeit gesagt. Aber es wird erlitten. Die gesamte Idee der New Economy basierte im Grunde auf dem Wahn, Menschen mit ihren Bedürfnissen aus dem Geschäftserfolg wegdenken zu können. In der darauf folgenden Finanzblase wiederholte sich dieses Spiel.

Wie konnte es passieren, dass die Binsenweisheit vergessen werden konnte, dass es immer um Menschen geht?

Die einfachste Erklärung ist wohl, dass wir genetisch Rudeltiere sind und uns deshalb vorzugsweise an dem orientieren, was gerade „angesagt“ ist. So konnte sich langsam die Ansicht einschleichen, dass Wertschöpfung etwas Eindimensionales sei, das man in Zahlen darstellen könne. Mit der bestechenden Logik eleganter Zahlenwerke haben wir uns selbst hypnotisiert und es schließlich geschafft, auf uns selbst zu vergessen.

Nun gut!

Wie wäre es aber, wenn wir uns wieder ernst nehmen würden? Wie wäre es, wenn wir unsere wirtschaftlichen Paradigmen einmal anders definieren würden. Wenn wir nicht den kruden Gewinn ins Zentrum stellen würden, sondern das Leben selbst? Nur so zum Spaß, als Gedankenexperiment?

Das Leben in die Arbeit bringen

Wie wäre es beispielsweise, wenn wir das Leben in die Arbeit brächten, anstatt „Leben“ als etwas zu begreifen, was außerhalb, in der Freizeit und im Urlaub liegt? Wäre es den nicht erstrebenswert, wenn der Ort, an dem wir die meiste Zeit verbringen, nämlich der Arbeitsplatz, angenehm wäre?

Wenn man solche Gedanken äußert, dann wird häufig mit den Sachzwängen geantwortet. Aber Sachzwänge sind nur das, woran zu glauben wir uns kollektiv geeinigt haben.

Es ist noch nicht lange her, da kamen Archäologen darauf, dass die Pyramiden niemals in Sklavenarbeit entstanden sein können. Sklaven tun nur das, was von ihnen verlangt wird. Die Pyramiden wurden aber von kräftigen Menschen erbaut, die mitdachten, sich engagierten und alle Anstrengungen auf das gemeinsame Ziel ausrichteten. Jeder auf seine Weise. Mit Peitschen, Unterdrückung und Angst wäre das nicht zu bewerkstelligen gewesen. Im Gegenteil: die Arbeiter der Pyramiden kamen freiwillig und betrachteten es als Ehre, mitarbeiten zu dürfen. Sozial waren sie hoch angesehen und sie wurden hervorragend versorgt.

Die großartigsten Bauten der Welt konnten nur mit solchen engagierten Menschen entstehen. Egal ob es sich um die Pyramiden handelt, barocke Prunkbauten oder gotische Kathedralen. Für sie alle war es eine Ehre – und dann auch ein Broterwerb. Nicht anders herum. Es kam sogar vor, dass der König mit seinen Brüdern beim Bau hochgotischer Kathedralen selbst Steine schleppte und die adligen Damen den Mörtel rührten. So geschehen unter Ludwig IX (1226 – 1270).

Hans Haumer, ehedem Präsident der LGT-Bank in Liechtenstein, forderte schon vor Jahren die Hinwendung zum „Emotionalen Kapital“ von Unternehmen. Er meinte, dass das Unternehmen für Gehalt von den Mitarbeitern nur Zeit, nämlich die tägliche Arbeitszeit und bereits vorher erworbenes Fachwissen bekommen könne. Kein Unternehmen lebe aber davon, dass es Experten dafür bezahle, dass sie den Tag im Büro verbrächten. Vielmehr brauche es Motivation, Engagement, Identität, Freude, Leistungsbereitschaft, Kooperation und Kommunikation. Alle diese Dinge, so Haumer, blieben immer im Besitz der Mitarbeiter und sind für Geld nicht erwerbbar. Ein Unternehmen, das Leistung von seinen Mitarbeitern verlangt, muss diese Dinge jeden Tag aufs Neue von ihnen erwerben, indem es seine Mitarbeiter entsprechend behandelt.

Wie wäre es also, wenn man versuchen würde, die Arbeit so zu gestalten, dass das geschehen kann?

Wie wäre es, wenn man sich zum Ziel setzen würde, dass die Arbeit im eigenen Betrieb ihr negatives Vorzeichen verliert und durch ein positives ersetzt würde? Was geschähe also, wenn in Ihrem Unternehmen, in Ihrer Abteilung, ein Klima entstehen würde, welches Arbeit als etwas Gutes begreifbar macht? Wenn all das Gejammer über die Krankmacher, all das Leid, die Belastung und die Traurigkeit enden würde und Ihre Leute am Morgen mit Lust und Freude zur Arbeit kämen?

Immerhin wäre es logischer als die übliche stillschweigende Annahme, dass Arbeit prinzipiell eine Last sei und es einem besser gehen würde, wenn man genug Geld hätte, um nicht arbeiten zu müssen. Nach dieser Logik müssten Milliardäre und Hartz- 4-Empfänger die glücklichsten Menschen der Welt sein, denn sie müssen nicht arbeiten!

Es gibt ein populäres Diktum, nach dem uns die Reichen die Arbeit kaum überlassen hätten, wenn sie schön wäre. Warum aber nicht einmal versuchen, sie so zu gestalten, dass man sie als etwas beglückendes, als Segen begreifen kann? Ist es wirklich so unabwendbar, dass Arbeit in der Liste der unbeliebtesten Dinge in der Nähe von Straflagern angesiedelt wird?

Wie wäre es, wenn wir einmal testweise versuchen würden, Begriffe, wie Arbeitnehmer und Arbeitgeber nochmals zu überdenken? Wäre es nicht viel besser, davon auszugehen, dass derjenige welcher im Besitz der Arbeitskraft ist, diese hergibt, also Arbeitgeber ist? Unternehmen wären dann die Arbeitnehmer, denn sie sind im Besitz von Kapital, aber nicht von Arbeit! Vielmehr benötigen sie Arbeitskraft, um zu ihren Zielen zu gelangen. Würde solches das Verhältnis nicht entspannen und die Arbeitsbeziehung freudvoller machen?

Wäre es nicht lohnend, wenn die Gleichung „Lohn gegen Frust“ ersetzt würde durch das Angebot eines Arbeitsplatzes auf der einen Seite und das Angebot von Arbeitskraft und Fertigkeiten auf der anderen? Man könnte sich immerhin auf einer Augenhöhe begegnen. Damit wäre der erste Schritt auf dem Weg zu engagierten Mitarbeitern jedenfalls schon geschafft.

Wie wäre es, wenn wir den Begriff „Erfolg“ öffnen würden und unter ihm mehr zulassen würden, als Gewinn und Umsatz? Man kann auch Branchenführer sein wollen, oder Platzhirsch, Nischenanbieter, technischer Innovator sein oder den höchsten Bekanntheitsgrad haben wollen und vieles mehr. Der strategische Fokus erst bestimmt das Zahlengebäude, durch das er abgebildet wird. Die Zahlengebäude allein sind ohne diesen Fokus wertlos, weil sie aus sich heraus niemals sagen können, was sie eigentlich abbilden.

Wir könnten unter dem Begriff Erfolg aber auch ganz andere Dinge sehen, wie beispielsweise die Beziehungsqualität zwischen Mitarbeitern, Führungskräften und Kunden. Wir könnten auch die Einsatzfreude der Mitarbeiter in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit stellen und diese strategisch als Aufgabe begreifen. Vielleicht deshalb, weil wir wissen, dass nur begeisterte Mitarbeiter Kunden begeistern und an unsere Marke binden können.

Immerhin wäre es auch einen Gedanken wert, auf das Misstrauen zu blicken, das unsere gesamte Gesellschaft zunehmend verseucht. „Entsolidarisierung“ und ihre Zwillingsschwester „Kontrolle“ sind die dazugehörigen Schlagworte. Davon bleiben die Beziehungen in Unternehmen und zu deren Kunden natürlich nicht verschont. Das Misstrauen ist in einer sehr großen Anzahl von Unternehmen unreflektierter Bestandteil der Unternehmenskultur. Die Folge davon ist, dass man sich gegenseitig belauert und in Schützenlöchern eingräbt. Das wird nicht nur hingenommen, sondern auch noch verstärkt, indem man gegenseitige Kontrollmechanismen ständig verfeinert. Das Ergebnis dieser Hochrüstung ist das Zerbrechen der letzten Brücken zwischenmenschlicher Beziehung.

All das ist verbunden mit immensen, teilweise versteckten Kosten. Grund genug, sich einmal geistig darauf einzulassen, wie es denn wäre, wenn diesem Zustand offensiv Vertrauen entgegengesetzt würde? Welche Kosten könnten da gespart werden! Vor allem aber, wie würde es sich auf Motivation und Engagement der Mitarbeiter auswirken, wenn ein Unternehmen im Ruf stünde, dass man hier allen vertrauen könne!

Wenn vielleicht gar Vertrauen als Produkt begriffen werden könnte, welche Möglichkeiten für Innovation, Kundenbindung oder Recruiting stünden da offen!

Es ist noch nicht so lange her, da galt Vertrauen als die Grundlage eines jeden Geschäftes. Wäre es nicht einen Gedanken wert, diese Haltung wiederzubeleben? Schließlich sind auch die Vorgänge zwischen Unternehmen und Mitarbeitern Geschäfte im weiteren Sinne.

Freilich müssten Vorgesetzte dann ihre Aufgabe anders verstehen. Nämlich als Führungskräfte. Das bedeutet, dass sie es sich zur Hauptaufgabe machen, Dinge zu ermöglichen, anstatt Leute zu kontrollieren oder anzutreiben. Das verlangt Mut. Nicht zuletzt deshalb, weil das auch hieße, Vielfalt und Komplexität zuzulassen. Der Fokus läge dann darauf Stärken zu stärken, nicht darauf, Schwächen zu eliminieren. Rupert Lay, einer der erfolgreichsten deutschen Trainer, spricht in diesem Zusammenhang von „Biophilie“, von der Liebe zum Leben. Er verlangt, sein eigenes Handeln und Entscheiden stets daran auszurichten, dass das eigene Leben und das anderer Menschen gefördert werden. Hier handelt es sich nicht um ein schlichtes Verhaltensmuster, sondern um eine Lebenshaltung. Diese nennt er „redlich“.

Wer so denkt und handelt, wird Menschen, die ihn umgeben, begeistern und für andere eine Quelle der Kraft sein.

Wie wäre es also, wenn Führungskräfte es sich zur Aufgabe machen würden, Hoffnung zu geben und Bestätigung und Anerkennung zu verteilen? Was würde geschehen, wenn Mitarbeiter voller Stolz im Gefühl baden könnten, dass es eine Zukunft gibt, anstatt ihnen immer wieder einzubläuen, dass es vor lauter Gefahren und Sachzwängen keine geben wird und ihnen gleichzeitig Schuldgefühle einzutrichtern? Was wäre, wenn ihnen ganz bewusst Wert gegeben würde, Achtung, Vertrauen in sich selbst, und es mit Zufriedenheit, gar Lust probieren würde? Wenn sich Führungskräfte vornehmen würden, in ihrem Verantwortungsbereich zu einer sprudelnden Quelle von Kraft und Energie zu werden?

Wäre da nicht die Moral um vieles besser? Würden die Mitarbeiter nicht persönlich viel engerem Kontakt zu ihrer Aufgabe haben, anstatt sie nur als Job zu begreifen? Wären Koordination, Effektivität und Motivation nicht schlagartig besser?

Natürlich ist das alles nicht neu. Man hört derlei immer wieder. Aber man sieht so selten die Umsetzung! Viele Führungskräfte wissen diese Dinge ganz genau, sie spüren, wie es sein müsste, aber es gelingt ihnen nicht. Irgendwann geben sie auf. Dann bekommt das Wirtschaftssystem die Schuld zugewiesen. Es ginge eben nicht, heißt es dann, und man müsse sich nach der Decke strecken.

Worte sind veränderbar, wie wir gesehen haben. Man hat also immer zwei Möglichkeiten: unterwerfen oder verändern. Wer sich nur nach der Decke streckt, unterwirft sich. Das ist nicht verboten und darf sein! Wenn er damit aber massenhaftes Unglück produziert, dann irrt er sich!

Fragen Sie wen Sie wollen: in einer Welt, in der die Arbeit lebenswert ist, würde jeder gerne leben und arbeiten. Nur wie das gehen soll, ist die ungelöste Frage. Hier scheitern nicht nur Führungskräfte, sondern auch Berater. Sie wissen zwar, wie es sein sollte, aber nicht, wie man dahin kommt und es umsetzen könnte. Und sie geben das selbst zu!

Der Grund für diese Sackgasse ist in der bereits erwähnten Entwicklung der Führungstheorie zu suchen. Bei Henry Ford ging es nicht um ein Miteinander, sondern um ein oben, wo bestimmt wurde, und ein unten, wo möglichst fragmentierte und einfache Tätigkeiten zu absolvieren waren. Damals gab es viele potentielle Arbeitskräfte, die schlecht ausgebildet waren. Ihr Gehirn war nicht gefragt. Aber die Zeiten haben sich geändert. Heute ist der allgemeine Bildungsstand so hoch, dass sich erstens für einfache Tätigkeiten kaum noch jemand finden lässt. Zweitens wächst die Fähigkeit zu komplexem Denken.

Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass wir zwar immer besser ausgebildet sind, aber immer weniger darüber wissen, wozu Bildung überhaupt gut sein soll, wem oder was sie dienen soll.

Anders ausgedrückt, wir stehen an der Kante, wo unser allgemeiner Bildungsstand zum Problem wird. Anstatt nun zu überlegen, was wir denn mit all diesen hoch ausgebildeten Leuten machen könnten, bleiben wir lieber bei den Lösungen des Henry Ford – auch wenn sie im Gegensatz zu früher mit dem Blattwerk team- und beziehungsorientierter Sprache umrankt werden.

Was eigentlich brauchen Menschen?

Was brauchen Unternehmen als Organismen?

Gehen wir pragmatisch vor und beginnen wir mit der Frage, was Unternehmen eigentlich brauchen, um auf dem Markt zu reüssieren. Zunächst ist das der Geschäftserfolg. Dieser ist die Folge von Leistungsbereitschaft und Motivation der Mitarbeiter. Wem es gelingt, engagierte Mitarbeiter zu haben, bei dem wird mit dem geringsten Aufwand ein Maximum an Output erzielt, die Kreativität bleibt hoch und die Krankernstände niedrig.

Nun kann man Unternehmen, so wie jede andere soziale Gemeinschaft auch, als Metaorganismen verstehen. Also als individuelle Wesenheiten, die aus einzelnen Menschen zusammengesetzt sind. Ganz ähnlich, wie jeder von uns aus Zellen zusammengesetzt sind, von denen jede ein eigenständiges Lebewesen darstellt.

Wie jeder Organismus will sich auch eine soziale Gemeinschaft am Leben erhalten. Einfach weil sie da ist und lebt. Solche sozialen Wesenheiten können einen eigenen Willen entwickeln, Lust und Freude empfinden, oder auch Ängste, ganz so wie jeder von uns. Bemerkbar werden diese „Empfindungen“ an der Befindlichkeit der einzelnen Teilindividuen.

Erfahrene Organisationsentwickler wissen, dass soziale Organismen immer als Ganzes reagieren. Ganz so, wie es auch bei Individuen der Fall ist. Wenn wir etwa Zahnweh haben, dann geht es uns als ganzem Menschen schlecht. Der Zahn ist nicht vom Ich zu trennen. So ist es auch in Unternehmen. Wenn bereits am Eingang zu erkennen ist, dass alle hektisch herumlaufen, sich nicht grüßen und nicht lachen, weiß man schon, dass das die Werte des Unternehmens wiedergibt. Dasselbe gilt, wenn Lächeln und Freundlichkeit nur verordnet wurden, aber nicht innerlich gelebt werden. Geschäftlich ist vielleicht noch alles in Ordnung, aber der Geist des Organismus ist bereits krank.

Andersherum gilt selbstverständlich dasselbe. Wird man von Lachen und wacher Freundlichkeit begrüßt, so kann man davon ausgehen, dass hier insgesamt Wohlbefinden herrscht.

Ein solches Klima wirkt unmittelbar auf alle dort Beschäftigten und deren Kunden und reißt sie mit, begeistert sie.

Unternehmen sind Metaorganismen. Sie haben ein Klima, das sich auf alle überträgt, die mit ihm in Berührung kommen. Dies wirkt in beide Richtungen. Wie es den Individuen mehrheitlich geht, so gestaltet sich die Ausstrahlung des Gesamtorganismus nach innen und nach außen. Dabei kommt es zu einem rückgekoppelten und sich selbst verstärkenden Kreislauf zwischen Metaorganismus und Individuen.

Es ist Aufgabe und Kunst der Führung, dass dieser Kreislauf positiv bleibt und nicht ins Negative abrutscht.

Ein gesunder Organismus ist – nach Definition der WHO – einer der sich körperlich, mental und sozial gut fühlt. Dies gilt für Menschen ebenso wie für deren kollektive Konstruktionen.

Die positive Sinn-Bilanz

Unternehmen brauchen gute Arbeit, um erfolgreich sein zu können. Diese Arbeit wird von Menschen erledigt. Die Frage muss also sein, unter welchen Bedingungen Menschen in der Lage sind, wirklich gute Arbeit zu leisten.

Im Film „Der Sturm“ spielt George Clooney den Kapitän eines Fischkutters, der am Beginn darüber philosophiert, warum er diese harte Arbeit tut: „Man kann nur gut sein, wenn man es liebt! Der Frühnebel lichtet sich. Du machst die Leinen los, erst Bug, dann Heck. Du fährst in den South Channel raus, an Rocky Mac vorbei, Ten Pound Island, vorbei am Miles Pont, wo ich als Junge Schlittschuh gelaufen bin. Du lässt das Signalhorn ertönen und winkst dem Sohn vom Leuchtturmwärter. Dann kommen die Meeresvögel. Die Heringsmöwen und die Eistaucher, fette dumme Enten. Der erste Sonnenstrahl, Du fährst nach Norden. Volle Fahrt voraus. Zwölf Knoten. Alle machen ihre Arbeit. Und du weißt, du bist ein Schwertfischkäpt’n. Gibt es etwas Besseres auf der Welt?“

Man muss seine Arbeit lieben können, dann kann man außergewöhnlich gut sein und hat das Beste für sich gefunden.

Es ist beileibe nicht so, dass solche Texte Filmen vorbehalten sind. Bei meinem letzten Aufenthalt in Granada traf ich Cristobal Romera im Garten der Alhambra. Er ist Jurist mit Universitätsabschluß, arbeitet aber als Gärtner der Alhambra. „Meine Frau“, so sagte er, „fragt mich manchmal, warum ich nicht etwas anderes mache, wo ich mehr verdienen könnte. Ich bleibe aber hier, denn hier bin ich glücklich!“ Die meisten Menschen, meinte er, arbeiten lediglich, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Aber wenn man Glück hat, dann kann die Arbeit zu einer Lebensart werden. Dann lebt man bereits im Diesseits im Paradies.“

Auch das ist keine neue Entdeckung. Der persische Philosoph Al Gazzahli (+ 1111) schrieb bereits, dass alles Wissen in einem glücklichen Leben seinen Sinn finde.

Wir alle wissen, dass wir nur in solchen Dingen gut sind, die wir gerne und mit Freude tun. Diese Erfahrung hat jeder einmal gemacht. Und es ist deshalb erstaunlich, wie wenig Einfluss das auf die Gestaltung unserer Arbeit hat. Als ich selbst ein Kind war, sahen die Erwachsenen immer sehr ernst aus, so als laste der Fortbestand der gesamten Welt auf ihren Schultern. Arbeit galt als etwas, wo man nicht lachte und keine Zeit mit persönlichen Gesprächen vergeudete. Wer sein Hobby zum Beruf machte und Freude an seiner Arbeit hatte, war geradezu suspekt. Arbeit roch nach Blut, Schweiß und Tränen. Diese Zukunftsaussichten waren für Jugendliche freudlos. Es war nicht überraschend, dass die Hippie-Bewegung zumindest versuchte, das aufzubrechen.

Heute haben wir Abstand genug, dass wir nicht einfach aus der Gesellschaft aussteigen müssen, um anders leben zu können, sondern in der Lage sind, die wesentlichen Grundfragen anders, nämlich lebensnäher, zu formulieren. Denn es ist seit langem bekannt und gut untersucht, dass Menschen, denen es in ihrer Arbeit gut geht und die am Arbeitsplatz Freude erleben, die besten Leistungen mit dem geringsten Aufwand erbringen, am kreativsten sind und die wenigsten Krankenstände aufweisen. Was also braucht der Mensch?

Die Beispiele sagen es deutlich: der Mensch braucht ein sinnerfülltes Leben. Diese Worte wirken eigentümlich antiquiert, wenn sie sich auf die Arbeitswelt beziehen. Vielleicht ist aber genau das unser Problem.

Ein befreundeter Abteilungsleiter mit mehreren hundert Mitarbeitern in seiner Abteilung machte einen Test. Er fragte seine Leute, was Arbeit für sie bedeute. Es gab eine Liste zum Ankreuzen und er ließ ihnen keine Zeit zum Überlegen. Über sechzig Prozent kreuzten spontan „Sinn“ an. „Wohlstand“ rangierte erst auf Platz zwei, „Gehalt“ war weit abgeschlagen im hinteren Feld.

Alles Leben ist auf der Suche nach dem besseren Leben und nach dem Glück, meinte der Verhaltensforscher Konrad Lorenz. Menschen sind genetisch Rudeltiere und benötigen die Gemeinschaft. Sie wollen eingebunden sein. Wir sind so gestrickt, dass wir immer dann unser Leben als sinnvoll empfinden, wenn wir etwas für andere getan haben, also wenn wir unsere Lebenskraft für etwas eingesetzt haben, das jemandem anderen Freude und Sinn bereitet. Dieses Gefühl ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.

Wenn sich dieser Kitt auflöst, dann keimen Vereinsamungsängste in uns auf und Misstrauen breitet sich aus.

Wenn man vorhat ein Unternehmen zu führen, in dem die Menschen sich vertrauen und mit Motivation, Engagement und Eigenverantwortlichkeit arbeiten, wäre es naheliegend, nach Wegen zu suchen, die eine positive Sinn-Bilanz ermöglichen, wie Viktor Frankl (1905 – 1997), der Begründer der Logotherapie forderte: „Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten!“ Seiner Ansicht nach ist der Mensch existentiell auf Sinn ausgerichtet. Er braucht die innere Zustimmung zum eigenen Handeln und Dasein, um solchen Sinn erkennen zu können. Jeglicher Zwang würde wirksam diese innere Zustimmung verhindern.

Er führte aus, dass sinn-entleerte Arbeit nicht nur ein Vakuum schaffe, sondern auch noch ein Maximum an Erwartungsstress hervorrufe. Das bedeute Mobilisierung von Energie an einer für Mitarbeiter und das Unternehmen gleichermaßen destruktiven Stelle. Diese Energie stünde dann für Produktivität jeder Art nicht mehr zur Verfügung und die Mitarbeiter flüchten in Widerstand oder Krankheit.

Es ist also für jeden Geschäftserfolg von eminenter Bedeutung, darauf zu achten, dass die Sinnbilanz im Unternehmen immer positiv bleibt. Diese ergibt sich, wenn man Sinn-Erwartung und Sinn-Erfüllung gegenüberstellt. Eine positive Sinnbilanz ist es, was Menschen am dringendsten benötigen, denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein!

Führungskräfte, denen es gelingt, die Sinnbilanz hoch zu halten, schaffen ein Klima von Vertrauen und gegenseitiger Unterstützung. Die Zeit, die sie hierfür investieren, kommt hundertfach zurück. Man darf nur nicht in den Irrtum verfallen, jeden, der auf die Qualität von Beziehungen schaut, für einen weltfremden Spinner zu halten. Das Gegenteil ist der Fall, die erfolgreichsten Führungskräfte achten bewusst oder intuitiv auf diese Sinnbilanz. Sie sind Pragmatiker, die wissen, was Menschen benötigen, damit sie dem Geschäftserfolg am besten dienen können. Sie richten den Fokus daher konsequent auf Vertrauen und Wirkung, sowie auf Stärken von Mitarbeitern, Kunden und dem eigenen Unternehmen aus. Gleichzeitig verabschieden sie sich von der üblichen defizit- und gehorsamsbestimmten Perspektive.

Die Kunst und der Geist

Führung von Menschen ist eine hohe Kunst. Dabei geht es weniger um den heute üblichen Sprachgebrauch, sondern vielmehr um jene Auffassung, die Technik von Kunst schied. Das Wort Technik meint nichts weiter, als Fertigkeit. Es ist damit dem reinen Handwerk vergleichbar. Für einen Tischler gehört dazu, viel über Holz, Leim und deren unterschiedliche Qualitäten zu wissen, aber auch die technische Beherrschung der Herstellung von Möbeln zu kennen.

Die Kunst des Handwerkers besteht aus weit mehr, als der bloßen Fähigkeit, einen haltbaren Tisch herzustellen. Es geht dabei um so etwas wie die Freude, neue Formen zu entwickeln und dabei einem inneren Wegweiser zu folgen, der Tische nicht nur zweckdienlich und passgenau, sondern auch schön und angenehm machen kann.

Dieses zweite, über das rein Technische hinaus gehende Verständnis von Kunst wurde einmal sehr hoch geschätzt. Man sprach von der Kunst des Lebens, der Kunst des Liebens, ja auch von der Kunst des Sterbens. Dabei war es nicht nötig, etwas Einmaliges und Besonderes zu tun. Es genügte, alles im Leben so zu tun, dass es weiteres Leben mehren und Sinn stiften konnte. Diese Haltung ist die Grundlage für jenen eigenartigen Effekt, der uns in einer gotischen Kathedrale sofort beruhigt und ergreift. Kaum kennt man die Namen der frühen Baumeister, schon gar nicht die der Handwerker. Sie alle aber arbeiteten mit einem gemeinsamen geistigen Hintergrund und jeder versuchte mit seiner „Kunst“ dazu seinen Beitrag zu leisten. Ihre Kraft erkennen wir an der Gesamtausstrahlung eines solchen Gebäudes.

Die nämliche Wirkung kann natürlich auch von moderner Architektur ausgehen, jedenfalls wenn sie gelungen ist.

Eines der herausragendsten Beispiele ist das Guggenheim Museum im spanischen Bilbao. Die Stadtväter dieser Stadt mit einem der höchsten Prozentsätze an Arbeitslosen in Spanien, setzten sich zum Ziel, ein Gebäude zu bauen, das Stadt und Region Kraft geben sollte. Sie riskierten dabei die letzte Peseta aus der Stadtkasse. Sie fanden einen Architekten, der das richtige Gefühl hatte, Frank Gehry. Nicht nur das: die Gewerke stellen Material zu niedrigen Kosten zur Verfügung und die Arbeiter arbeiten mit Stolz, denn sie wussten alle, dass sie etwas Außergewöhnliches schufen. Dieser Stolz gab schon der Bauphase Kraft. Dieser Stolz ist bis heute in einer Bar in der Nähe des Museums zu sehen. Denn die Arbeiter signierten ihre Helme und hängten sie dort auf, wo sie bis heute zu bewundern sind.

Vom fertigen Gebäude ging eine Kraft aus, die nicht nur die Stadt, sondern die gesamte Region ergriff. Die alte Werft- und Stahlkocherstadt blühte innerhalb kurzer Zeit auf. Sie glänzt nun nicht nur, wie ihr Museum, sondern sie hat es innerhalb weniger Jahre zu neuer Blüte geschafft. Heute ist die Stadt der kollektiven Depression entkommen und hat diese durch Aufbruchstimmung ersetzt, die überall zu bemerken ist.

Der Kern dieses Wunders war das Gebäude des Museums, Die Kunst hatte darin bestanden, sich auf die Kraft zu konzentrieren und sie danach auch zum Leben zu erwecken.

Dabei war dieser Weg alles andere als leicht. Denn zu Beginn herrschte die Meinung vor, dass eine Stadt im Niedergang direkt in die Wirtschaft investieren müsse. Man folgte letztlich und nach vielen harten Kämpfen einer Idee, die bereits in Frankfurt Erfolg gehabt hatte. Dort war der Gedanke entstanden, dass man internationale Unternehmen nur dann in die Stadt bekommen würde, wenn das Leben attraktiv gestaltet werden würde. Anstatt in billige Baugründe, Subventionen und andere direkte Wirtschaftsförderungen zu investieren sei es daher klüger, in die Oper, in Theater und alle anderen Möglichkeiten zu investieren, die das Leben angenehm und interessant machen. Auch Frankfurt war damit erfolgreich gewesen.

Das ist eine gute und erfolgreiche Idee, aber wo ist hier die Kunst, wird man fragen. Nun, sie findet sich in diesem unnennbaren, zusätzlichen Etwas, in dem sich diese Kraft findet.

Janos Szurcsik, ein befreundeter Künstler kam einmal völlig überwältigt von einer Reise in die Toskana zurück. Er konnte kaum sprechen, so bewegt war er. Er erzählte von Bildern, die er gesehen hatte und von anderen, ganz ähnlichen, die er auch betrachtet hatte. Die einen seien Kunst, die anderen einfach nette, manchmal auch gut gemalte Bilder. Der Unterschied ist, so sagte er, dass sich bei großen Bildern etwas in einem rührt, irgendetwas aufschreien will. Diese Bilder geben Kraft. Sie verstrahlen Energie zum Leben.

Ähnlich überwältigt war Johann Wolfgang von Goethe, nachdem er Niccolo Paganini in einem Konzert erlebt hatte. Er sprach danach von „jener mysteriösen Kraft, die alle spüren, die aber kein Philosoph erklären kann“.

Mancher Künstler träumt von der Erweckung dieser Kraft und schafft es doch Zeit seines Lebens nicht, sie zu spielen oder zu malen. Andere leben wiederum vom bloßen Image dieser Kraft sehr gut und sind doch eher im Marketing zu Hause. Oft durchaus mit wirtschaftlichem Erfolg, aber ohne dieses Etwas der Kraft. Wieder andere schaffen es, mehr oder weniger interessant über diese Kraft zu parlieren. Aber auch sie gehören nicht zu den wirklich Großen. Denn über diese Kraft zu reden ist nicht dasselbe, wie sie wecken zu können.

Generell scheint es Künstlern vorbehalten, diese Kraft zu entwickeln. Wir überlassen es auch den Meistern des Marketings unter ihnen, darüber zu philosophieren. So scheint es deren Privileg zu sein.

Das ist ein Fehlschluss. Denn alles im Leben kann diese Kraft entwickeln und damit Kunst in diesem alten Sinne sein. Das gilt selbstverständlich auch für die Führungsarbeit. Wie in der bildenden Kunst verlangt das selbständige Persönlichkeiten, deren inneres Feuer sich nach außen überträgt.

Hier wie dort gibt es die Unterscheidung zwischen der Technik einerseits und der Kunst andererseits. Wollte man diese beiden Bereiche mit einem Begriff belegen, so könnte man sagen, dass in den Bereich der Technik sowohl die gesamte Kenntnis der für diesen Beruf notwendigen Fertigkeiten zu verstehen ist, während der Bereich der Kunst jener ist, der begeistert.

Mit Fug und Recht kann man daher sagen, dass ein Unternehmen, in dem Begeisterung herrscht, diese Kunst besitzt und zumindest eine Person beschäftigt, die diese Kunst beherrscht.

Das ist kein Widerspruch zur Gewinnorientierung. Es ist nur unüblich und widerspricht den gängigen Vorstellungen des Wirtschaftslebens, sowohl bei denen, die es erleiden, als auch bei denjenigen, die es betreiben.

Es verlangt wenig Mühe, sich zu vorzustellen, wie die Arbeit aussehen würde, wenn sie von dieser Kraft durchzogen wäre. Wie würde es dabei den Mitarbeitern gehen, wie den Kunden, wie würde sich das auf betriebliche Kennzahlen auswirken? Wie schließlich würde es einem selbst als Führungskraft gehen in einem solchen Unternehmen?

Um hier weiter zu denken, ist es sinnvoll, sich mit dieser besonderen Kraft noch ein wenig eingehender zu beschäftigen. Denn das war es immer, was gesucht wurde. All die Kommunikations-, Motivations- und Kreativitätsseminare der vergangenen Jahrzehnte wollten nichts anderes, als sie zu wecken.

Nur: diese Kraft ist flüchtig. Sie kann nicht einfach normiert und in Seminarmodule gepresst werden.

Viele dieser Trainings sind während der Tage ihrer Dauer erfolgreich, bleiben dann aber dort stecken! Ganz einfach deshalb, weil die Segnungen der Kraft zwar möglicherweise erklärt werden, aber die Handlungsebene unterbelichtet und den Teilnehmern überlassen bleibt. Man glaubt, dass es genügen würde zu verstehen, um es auch tun zu können.

Hier geht es aber nicht um Verstehen, sondern um Handeln. Es ist wie beim Rad fahren, das man auch nicht aus Büchern oder im Hörsaal lernen kann. Das ist eine andere Kategorie, die einen anderen Fokus verlangt. Wenn dieser fehlt, bleibt die Umsetzung hinter der Erwartung zurück. Aber – und das erklärt den wirtschaftlichen Erfolg dieser Programme – es ist Managern, die in Budgets denken und nicht in strategischen Zielen, leicht verständlich, wenn man nur das Verstehen verkauft. Denn Selbiges lässt sich in Module verpacken, die man wie im Regal des Supermarktes kaufen kann. Das verletzt das gewohnte Denken dieser Manager nicht, denn es reproduziert jenes linear-kausale Denken industriellen Zuschnitts, das sie gut kennen und mit dem sie täglich zu tun haben. Gekauft werden dann Module, nicht strategische Erfolge!

Das Ergebnis ist häufig Unzufriedenheit. Denn die Teilnehmer solcher Programme haben dort zwar gelernt, was ihnen fehlt und können es auch ausdrücken. Aber es fehlt immer noch die Handlungsebene. Das schafft Frust, Enttäuschung und Gefühle der Ohnmacht.

Diesem fatalen Mechanismus liegt die Basisannahme zugrunde, dass Inhalte für sich selbst stehen und industriell reproduzierbar seien. Und davon, dass diese Inhalte etwas vom Individuum und von der Gruppe Getrenntes seien. Allzu häufig muss dann festgestellt werden, dass sich diese Kraft nicht auf Flaschen ziehen lässt, als wäre sie Coca Cola.

Nämliches geschieht mit den verschiedenen Beratungsansätzen, egal, ob sie im humanistischen, gruppendynamischen oder systemischen Pelz daherkommen. Auch sie bleiben weitgehend ohne jenen nachhaltigen Erfolg, den sie eingangs versprochen haben. Einfach deshalb, weil sie an eine Art Schwarm-Intelligenz glauben, die das Kollektiv „automatisch“ immer intelligenter macht, als der Einzelne es sein kann. Im Grunde verwechseln sie Intelligenz mit Durchsetzungsmacht.

Immerhin ist zu bedenken, dass auch ein lynchender Mob so etwas wie eine Schwarmintelligenz besitzt. Nur ist er unfähig, diese konstruktiv einzusetzen.

Einer der vielen, die über die mangelnde Umsetzbarkeit all dieser Programme klagt, ist der Direktor eines der größten deutschsprachigen Verkehrsunternehmen: „Beratung hatten wir genug. Das Problem ist nur, dass niemand einem sagen kann, wie man die Dinge umsetzen könnte!“

Die benötigte Kraft ist etwas Seltsames, weil sie zwar für jeden spürbar, aber dennoch so schwer greifbar bleibt. Um sie hervorzurufen, braucht man etwas anderes, als industrielles Multiplikationsdenken. Oder die Delegation der Verantwortung für die Lösungsfindung nach unten. Die mächtige Rhetorik, mit welcher Ansätze vermarktet werden, die an eine mechanisch wirkende Kollektivintelligenz glauben, kann nicht über die mageren Ergebnisse hinwegtäuschen.

Es war Sokrates, der hier einen ersten Hinweis darauf gab, um was es bei dieser Kraft überhaupt geht. Er selbst sprach von seinem „Daimonion“. Damit meinte er nicht etwa einen Dämon, sondern etwas Unerklärliches, das zu ihm sprach. Dieses Daimonion ähnelt dem christlichen „Gewissen“, ist aber doch nicht dasselbe. Denn dieses wird von der herrschenden Moral bestimmt, das Daimonion aber durch die Ethik.

Sokrates war absolut konsequent. Er folgte seinem Daimonion bis in den Tod. Aber wir dürfen davon ausgehen, dass er ein erfülltes und glückliches Leben hatte. Jedenfalls erzählt das sein Schüler Platon.

Dieses Damonion hatte einen Abkömmling, den Duende. Er entstammt dem Sprachgebrauch in Andalusien und beschreibt genau jene Kraft, die wir suchen. Einer der bedeutendsten Dichter des 20. Jahrhunderts, Federico García Lorca (1898 – 1936), beschäftigte sich mit ihm in einem Vortrag, den er im Jahr 1933 in Buenos Aires hielt. Sein Titel war „Theorie und Spiel des Duende“ (Teoría y juego del duende).

Dieser Text stellt eine präzise Beschreibung jener Kraft dar, die kommt und geht, dieses positiven Geistes der wehen kann und den hervorzurufen wahre Kunst ist. Dabei ist es egal, um welche Kunst es sich handelt, sagt Lorca, und wir dürfen davon ausgehen, dass er den Begriff Kunst sehr weit gefasst verstanden hat. Denn Kunst ist für ihn nicht das, was als solche kodiert ist, wie das bei bildenden Künsten der Fall ist, sondern jene Art der Lebensgestaltung, aus der Kraft hervorgeht. In diesem Sinne kann jeder Beruf, jede Tätigkeit, vom Duende „gebissen werden“, wie er schreibt.

Zunächst ist anzumerken, dass der Duende der andalusischen Umgangssprache entstammt. Die Zugewandtheit zum Leben, die man im Süden Spaniens vorfindet, verlangt nach einem Begriff. Dieser fand sich im Duende. Diese Menschen brauchen ihn, um das ihnen eigene Lebensgefühl zu beschreiben. Man hört dort häufig den Satz: „Das hat Duende!“ Damit ist gemeint, dass aus dem, was da bezeichnet wurde, pure Lebenskraft hervorquillt. Es sind insbesondere, die andalusischen Zigeuner, für deren Lebensart der Duende essentiell ist. Dies tritt in der Musik des Flamencos hervor. Der Sinn dieser Musik besteht darin, die Menschen mitzureißen.

Lorca berichtet von einer alten Zigeunerin, die, als sie zum ersten Mal ein Stück von Bach hörte, begeistert ausrief: „Olé! Das hat Duende!“ Bei Gluck und Brahms allerdings blieb sie still.

Pastora Pavón Cruz war eine Meisterin des Duende. Sie gilt als die bedeutendste Flamencosängerin der Geschichte angesehen und wurde unter ihrem Künstlernamen La Niňa de los Peines so berühmt, dass er bis in unsere Tage Klang hat, Lorca berichtet von einem Konzert, in dem sie sang. Es waren lauter Experten des Flamenco anwesend. Leute, die man nicht mit einer einfachen Show für Touristen abspeisen konnte.

Die Gitarren leiteten das Lied ein. Plötzlich sprang sie auf, fast wie von Sinnen, griff nach einem großen Glas Anisschnaps und trank es mit einen Zug aus. Dann begann sie zu singen, ohne Stimme, ohne Atem, ohne die geringsten Phrasen. Man spürte, wie der Schnaps in ihrer Kehle brannte. Aber sie sang mit Duende, wild und verzehrend. Die Zuhörer verloren sich selbst in ihrem Gesang, waren Teil der Veranstaltung. Der Duende hatte Besitz von allen ergriffen und schmiedete sie zu einer Einheit, die im gleichen Rhythmus schwang, die gleich fühlte. Der Duende fuhr in alle und in allen stieg die Lebenskraft und die Freude auf.

Im Flamenco geht es nicht um Technik und Brillanz. Vielmehr einzig und allein um das Hervorbringen des Duende. Freilich ist dazu technisches Können notwendig. Das ist aber nur die Voraussetzung für dieses Wunder der Übertragung von Kraft. Es beginnt mit der Gitarre. Der Gitarrist sucht eins zu werden mit seinem Instrument und mit dem Klang. Wenn dann, nach einigen Minuten oder Sekunden, Instrument, Musiker und Klang eines geworden sind, hebt der Gesang an. Hier wiederholt sich das Spiel. Die Macht des Duende wird größer. Schließlich ergreift sie die Zuhörenden. Irgendwann kann jemand – Frau oder Mann - nicht mehr still sitzen, springt auf und ein wilder Tanz beginnt. Dieser verstärkt seinerseits die Wirkung und Anwesenheit des Duende. Es ist eine sich wechselseitig verstärkende Kraft, die entsteht und alle mitreißt.

Reine Lebensenergie.

Wer ein solches Schauspiel einmal in einem Dorf oder in einer kleinen Bar erlebt hat, wo die Leute nur für sich spielen, tanzen und singen, kann diesen Eindruck nie wieder vergessen.

Lorca erzählt eine weitere Geschichte aus Jerez de la Frontera, der Sherry-Stadt. Einmal fand dort ein Tanzwettbewerb für Frauen statt. Es traten wunderschöne Mädchen und feurige Frauen auf. Den Siegeskranz erhielt aber eine Frau von achtzig Jahren, denn ihr war es am besten gelungen, den Duende zu wecken. Sie war die Meisterin, die jenes Feuer am besten entzündete, das danach in allen brannte.

Der Duende ist eine Macht, die nicht durch Nachdenken entstehen kann. Er gibt lebendige Kraft, Begeisterung und Energie. Wo er auftaucht, hilft er zu verstehen, zu lieben, und geliebt und verstanden zu werden, weil er eine unmittelbare Verbindung zwischen Menschen schafft, die nicht durch Sprache oder Äußerlichkeiten verfälscht wird. Nur wo er ist, gelingt reine, unverfälschte Kommunikation.

Er kann nicht aus Büchern oder durch Erklärungen erlernt werden. Er muss erfühlt und gelebt werden. Ganz gleich, um welchen Bereich des Lebens es sich handelt: ohne Duende gibt es keine Emotion. Ohne Emotion kann es aber auch keine innere Zustimmung geben zum Leben und seinen Umständen.

„Du hast die Stimme, du kennst die Stile und die Technik. Aber du wirst niemals Triumphe erleben, weil dir der Duende fehlt!“ Dies sagte Manuel Torres, einer der großen andalusischen Künstler, zu einem, dem er beim Singen zugehört hatte.

Vielleicht gelingt die Umsetzung von Trainings und Beratungen in Unternehmen deshalb so mangelhaft, weil das vergessen wird. Anstatt dessen wird über Kommunikation geredet. Das aber ist nicht dasselbe wie Kommunikation!

Es fehlt dieses „wozu“, das der Emotion zugänglich ist. Was bringt es denn mir, stellt sich innerlich die Frage, wenn ich mich anders verhalte? Wo sich keine gefühlsmäßige Antwort finden lässt, kann auch keine innere Zustimmung entstehen. Die Forderung, etwas anders zu tun, wird dann als Fremdbestimmung erlebt und möglicherweise abgelehnt. In der Folge scheitern an dieser Klippe Kommunikations-und Motivationsprojekte ebenso, wie Firmenfusionen und die Umsetzung von Strategieplänen. Der Grund für dieses Scheitern ist offenbar, dass viel zu tief gezielt wird!

Cristóbal Romera, der schon erwähnte Gärtner der Alhambra meint, dass die meisten Menschen ihre Arbeit nur machen, um Geld zu verdienen. Wer aber auf seine innere Stimme höre, für den könne das, was er tue, zur Erfüllung werden und er kann zum Träger jenes Feuers werden, das wir alle brauchen. Er könne jenes Brot backen, das wir als geistige Nahrung brauchen.

Ursprünglich war der Flamenco die Ausdrucksform der Ärmsten gewesen, von Tagelöhnern, die unter unwürdigen Verhältnissen lebten. So gaben sie sich gegenseitig die Kraft, um weitermachen zu können. Sie entwickelten dafür perfekte Formen, die auch jene mitreißen können, die nicht aus Andalusien stammen. Denn hier handelt es sich um etwas allgemein Menschliches. Sind wir alle nicht beständig auf der Suche nach dieser Kraft? Ist es nicht das Geheimnis des nachhaltigen Erfolges diese Kraft vermitteln zu können, etwa von Barbara Streisand und Tina Turner, von Tom Jones oder Frank Sinatra, von Anna Netrebko und Rolando Villazón?

Interessant ist dabei, dass die Kraft des Duende nicht von außen zugeführt wird. Sie entsteht innen. „Der Duende ist nicht in der Stimme“, sagte ein alter Gitarrist, „der Duende steigt von den Füßen her in einem auf“.

In seinem Vortrag unterschied Lorca klar zwischen dem Duende und anderen verwandten Begriffen, wie Muse und Engel.

Der Engel, so sagt er, bringt Licht. Er kann führen, wie Rafael, verteidigen und schützen, wie Michael, und vorhersehen, wie Gabriel. Es heiße, dass Menschen, die von Engeln begleitet würden, ihre Arbeit ohne Anstrengung machen würden.

Die Muse wiederum diktiert und bestimmt.

Beide aber, Engel, wie auch Musen, kämen von außen. Sie sind Vorstellungen, Personalisierungen von bestimmten geistigen und emotionalen Zuständen. Sie sind daher unserem Einfluss entzogen und lassen uns weitgehend, wie wir sind.

Der Duende ist ebenfalls eine solche Personalisierung. Aber er beschreibt jene Kraft, die von innen kommt, die von uns selbst hervorgebracht werden kann. Deshalb kann er Menschen verändern.

Das kann geübt werden und durch diese Übung wird man zum Meister.

Warum kommt nicht jeder da hin? Einfach deshalb, weil es zwar hundert Tore zur Glückseligkeit gibt, aber auch tausend Wege an diesen Toren vorbeiführen. Dieses Schicksal traf beispielsweise Philipp II von Spanien. Lorca, der Poet, bedauert den König, weil er zwar diese Kraft suchte, aber glaubte sie erlangen zu können, indem er Musen und Engel der christlichen Theologie zwingen wollte, sie ihm zu verleihen. So sei Philipp Gefangener einer kalten Glut geworden und in diesem Escorial gesessen, dessen strenge Geometrie Träume und Kraft begrenzt. Er besaß große Macht, es fehlten ihm aber Feuer und Liebe. So verurteilte er sich selbst dazu, ein ewiger Kontrolleur sein zu müssen, dem jede Freude fehlte.

Die meisten Menschen arbeiten nur, um sich ihr Brot zu verdienen. Sie wissen nichts von der Kraft des Duende, von seinem Feuer. So sitzen auch sie gefangen in ihrer kalten Glut. Deshalb ist es so selten, dass dieser Geist weht.

Dass es wirtschaftlich erfolgreich ist, dieses Thema in unseren Unternehmens-Zusammenhängen sehr ernst zu nehmen, mögen die folgenden Beispiele zeigen.

Duck-Hockey spielen

Als ein erfolgreicher und skrupelloser Anwalt wegen Trunkenheit am Steuer zu sozialer Arbeit verurteilt wird, wählt er aus den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten eine aus, die ihn an seine Jugend als Eishockeyspieler erinnert. Er beginnt eine Vorstadtmannschaft von Jugendlichen zu trainieren. Diese sind zerstritten, ruppig und sind echte „Loser“.

Nach anfänglichen gegenseitigen Schwierigkeiten gelingt es ihm, die Akzeptanz der Jugendlichen zu erringen. Als es darum geht, sich auf ein Match vorzubereiten, kommt er auf die Idee, die Mannschaft „Ducks“, Enten, zu nennen. Ein wüster Sturm der Entrüstung bricht unter den Spielern los. Denn es ist in der Eishockey-Welt üblich, sich Namen wie Krieger, Eisbären, Löwen, Haie, Panther oder ähnliche, gefährlich klingende Namen zuzulegen. Da wirken Enten geradezu schlapp!

Aber der Trainer setzt sich durch mit seinem Entenvorschlag. Er erklärt der Mannschaft, dass sie nicht Eishockey spielen, sondern dass das Spiel, das sie realisieren „Duck-Hockey“ ist.

So gelingt es ihm, der Mannschaft eine Identität zu verleihen, es zusammenzuführen, sie auf Kooperation und Teambewusstsein einzuschwören, ihm Selbstbewusstsein zu verleihen und es schließlich von Sieg zu Sieg zu führen.

Der Kunstgriff bestand darin, dem Hockey, zu dem gerade diese Mannschaft fähig war, einen neuen Namen zu geben. Damit war jedes Teammitglied aufgefordert, seinen Teil beizutragen zu dieser neuen Qualität. In den Teammitgliedern entwickelte sich das Bewusstsein, dass Eishockey schließlich jeder spielen könne, aber Duck-Hockey nur sie.

Der Trainer hatte die Möglichkeit geschaffen, Eishockey neu zu erfinden. Das war das Geheimnis des Erfolges.

Diese Geschichte ist der Plot eines Walt Disney Films aus dem Jahr 1992. Es ist ein Jugendfilm, aber auch ein wunderschönes Beispiel für Teambildung. Aber es ist nicht nur ein Film. Er wurde Realität. 1992 wurden in Anaheim die Mighty Ducks vom Walt Disney Konzern gegründet. Sie wurden durch die Filme weltweit bekannt und besitzen ein eigenes Stadion.

In unserem Zusammenhang ist jener Teil der Geschichte interessant, wo die Mannschaft erfolgreich wird, weil sie etwas Eigenes zu machen beginnt und sich damit für Teamgeist, Identität, Kreativität, Selbstbewusstsein und Siegeswillen öffnet. Es ist der Moment, wo sie beginnen ihr eigenes Duck-Hockey zu spielen. Erst da „beißt“ sie der Duende und sie beginnen zu siegen.

Nicht anders würde es sich in der Realität der Unternehmen verhalten, wenn diese Regel befolgt würde. Drei Beispiele mögen das belegen.

Raus aus der Opferhaltung: Wir werden weltberühmt

Freunde, die von einem Ferienaufenthalt in den USA zurück kamen berichteten begeistert von Seattle. Dort waren sie auf dem Pike Place Market gewesen, um einzukaufen. „Als wir an einem Fischstand vorbeikamen, flog plötzlich ein großer Lachs an uns vorbei, der von einem der Verkäufer meisterhaft aufgefangen wurde. Der Werfer schrie 'Salmon for Minnesota!' und der Fänger wiederholte diese Worte im gleichen Wortlaut. Wir blieben stehen, um uns das anzusehen. Als nächstes flog eine riesige Krabbe durch die Luft und wieder wurde gerufen 'Crab for Montana!'“

Als sie um sich blickten, bemerkten sie, dass alle Menschen hier fröhlich waren und lachten. Die Fischhändler hatten die Aufmerksamkeit aller. Sie schienen das Zentrum des gesamten Marktes zu sein.

Mit einem der Fischhändler kamen sie ins Gespräch und dieser erzählte ihnen, wie es dazu gekommen war.

Im Anfang hatte das Handeln mit Fischen einen schlechten Ruf gehabt. Denn es ist nicht nur schwere körperliche Arbeit, sondern es ist auch kalt und nass, nicht zuletzt ist der Fischgeruch auch kaum vom Körper zu bekommen, wenn man den ganzen Tag damit zu tun hat. So kam es, dass diese Fischhändler häufig mürrisch waren und sich selbst als Randgesellschaft des Marktes wahrnahmen. Sie waren auch im übertragenen des Wortes „stinkig“.

Eines Tages machten sie die Beobachtung, dass diese schlechte Laune aus ihnen selbst kam. Also beschlossen sie dagegen etwas zu unternehmen. Sie erkannten eine so einfache Tatsache, wie die, dass Menschen nicht deshalb fröhlich sind, weil sie eine fröhliche Arbeit machen, sondern deshalb, weil sie fröhlich sind. Also muss es an der inneren Einstellung liegen, so folgerten sie.

Am Ende dieser Überlegungen hatten sie ihre erste neue Regel aufgestellt: Wähle Deine Einstellung. Sie hatten festgestellt, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob man in der Früh aufsteht und die Arbeit hasst, in die man jetzt gehen muss, oder ob man sich auf den Tag und die Menschen, denen man begegnen wird, freut. Der Tag an sich ist natürlich derselbe. Aber wie man ihn wahrnimmt und verarbeitet ist völlig verschieden. Die andere Wahrnehmung wiederum führt zu völlig anderen Handlungen. So lernten sie positiv auf die Arbeit und die Menschen zuzugehen.

Da geschah ein kleines Wunder. Die positive Grundstimmung kam von den Kunden zurück und verstärkte ihre eigene Fröhlichkeit. So begannen sie, sich neu zu erfinden. Sie stellten sich zur Aufgabe, den Fischhandel neu zu definieren und außerdem weltberühmt zu werden.

Nach und nach entwickelten sie vier Regeln:

- Wähle deine Einstellung!
- Spiele!
- Sei präsent!
- Mach anderen eine Freude!

Alle diese Regeln hängen innerlich zusammen. Denn man kann nicht anderen eine Freude machen oder spielen, ohne präsent zu sein. Andererseits kann man nicht präsent sein, ohne etwas Positives zu tun.

Die Grundidee dafür, den Fischmarkt neu zu erfinden, war das Spielen. Mit Fischen und deren Verkauf kannten sie sich ohnehin aus. Nun aber begannen sie spielerisch etwas dazu beizutragen. Sie suchten, wie sie mehr Freude miteinander und mit den Kunden haben könnten. Fischmarkt ist das, was alle machen. Was wir machen ist etwas anderes. „Heute sehen wir das so“, sagte einer von ihnen. „Wir produzieren in Wahrheit Freude. Das ist unser Produkt. Nebenher verkaufen wir auch noch Fische!“

Das wirkt sich auf die verschiedensten Dinge aus. Sie machen beispielsweise Spaß mit Kindern, aber auch den Erwachsenen. Sie gehen auf Menschen zu, die traurig aussehen und versuchen sie aufzuheitern. „Niemand soll hier ohne ein freudiges Gesicht weggehen. Auch wenn jemand kein Geld hat, um sich einen Fisch zu kaufen, muss er deswegen nicht traurig sein. Wir versuchen ihm zu helfen! Das hilft ihm, aber es freut uns selbst auch, wenn wir jemandem ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnten. Das gibt uns selbst Kraft.“

Die Kunden werden auch eingeladen, selbst Fische zu fangen und sich als Hobbyverkäufer zu betätigen. Heute geht es soweit, dass die Manager von Unternehmen aus der Gegend in den Pausen vorbeikommen, um hier Energie zu tanken. Gelegentlich kommen sie sogar vor der Arbeit in aller Frühe vorbei, binden sich eine Schürze über den Anzug und helfen den Fischverkäufern Eis zu schaufeln. Nur um Energie für den Tag zu tanken!

Alles das müssen die Fischhändler nicht tun. Es steht nicht in ihrem Arbeitsvertrag. Aber es macht zunächst einmal ihr eigenes Leben leichter und danach auch das ihrer Kunden. Diese Kraft kommt wieder zu ihnen zurück und so entsteht ein wechselwirkendes System der Freude und Energie.

Das Geheimnis, dass diese Männer entdeckt haben, ist eigentlich einfach: es geht darum, Freude und Energie durch die Arbeit zu bekommen! Ganz gleich, wo man arbeitet und was man tut, man kann erreichen, Erfüllung darin zu finden und es gerne zu machen. Diese Einstellung breitet sich dann auch auf die Kunden aus.

Freilich sind damit einige Tabubrüche verbunden. Zunächst geht man – nicht nur im deutschen Sprachraum – davon aus, dass Arbeit nichts zum Lachen sei. An die eigene Arbeit spielerisch heranzugehen ist vielleicht noch stärker verpönt. Eine positive Grundeinstellung zum Tag wird oft als Oberflächlichkeit gelesen und anderen macht man nur dann eine Freude, wenn es einen „benefit“ dafür gibt.

In der Welt des Return-of-Investment sind all das sogenannte „unproduktive“ Dinge, denn sie bringen Gewinn nicht so linear hervor, wie ein Zigaretten-Automat: oben wirft man Geld hinein und unten kommen die Zigaretten heraus. Vom Automaten wird ebenso wenig verlangt, dass er Spaß hat, wie von Mitarbeitern.

An diesem Marktstand wurde ein Umweg gegangen, der einen unleugbaren wirtschaftlichen Nutzen hervorbringt. Denn die Fischhändler am Pike Place verkaufen so viel Fisch, wie nie zuvor. Nicht obwohl, sondern weil sie zu einer Keimzelle der Energie und Freude, zu einer wahren Brutstätte des Duende geworden sind.

Ganz nebenbei haben sie es auch geschafft, weltberühmt zu werden. Über ihre Art zu arbeiten wurde ein Buch geschrieben und ein Video erschien. Beides wurde weltweit mit großem Erfolg vertrieben und erhielt Nachfolgeprojekte. Der Pike Place Market ist auch in jedem modernen Reiseführer über Seattle zu finden und die Touristen strömen massenweise in den Markt, um das Treiben der fröhlichen und erfolgreichen Fischhändler zu erleben.

Der radikale Kulturbruch: Wo wir sind ist vorne

Erwin ist Abteilungsleiter bei einem Energieerzeugungsunternehmen. Die Abteilung hat über zweihundert Mitarbeiter. Seine Aufgabe war es, in seiner Abteilung Akzeptanz zu schaffen für die Liberalisierung des Strommarktes und die Folgen für die Abteilung. Sein Wunsch war, Aufbruchstimmung zu schaffen.

So schuf er für seine Abteilung das „Kolumbus-Projekt“. Dieses hatte zum Ziel, die gesamte Abteilung auf der Suche nach einer neuen Welt zu begleiten. Die Aufgabe war schwierig, denn die Mitarbeiter trauerten ihrer alten Welt nach und weigerten sich, andere Regeln anzunehmen, als die, die sie von früher kannten.

Dies wurde nicht nur an der aufgeregten Stimmung der Verweigerung, des Schimpfens und der Niedergeschlagenheit deutlich, sondern auch aus Zeichnungen, die die Mitarbeiter zu diesem Projekt anfertigten. Sie alle zeigten Schiffe, die an Klippen zerschellten, zerbrachen, von Meeresungeheuern gefressen wurden oder sonst wie untergingen.

Das Ziel des Projektes war nicht nur Akzeptanz für die neue Situation, sondern darüber hinaus eine motivierte und engagierte Mannschaft zu formen. Am Beginn stand ein Seminar, das die nötige Aufbruchstimmung schaffen sollte.

Bereits in dieser Veranstaltung wurde der Slogan erfunden: „Wo wir sind ist vorne!“ Er wurde zum Identifikationskern der Abteilung.

Betritt man heute die Abteilung, so ist man überrascht über die allgemeine Freundlichkeit und Freude, mit der gearbeitet wird. Bereits am Eingang empfangen einen die Insignien der Abteilung, mit der sie ihr Territorium selbstbewusst kennzeichnet. An der Decke steht – für jeden sichtbar – eine Ampel auf grün, weil die Umsetzung der Ziele sich im grünen Bereich befindet. Dahinter schwebt ein endloser chinesischer Glücksdrache.

Jeder, der durch dieses Tor hereinkommt, wird begrüßt und in Empfang genommen. Jedem, der Hilfe braucht, wird unverzüglich geholfen. Die ganze Abteilung strotzt vor Kraft und Selbstbewusstsein und strahlt Energie der positivsten Art aus.

Nach einer anfänglichen Phase der Skepsis kamen zunehmend Kollegen aus anderen Abteilungen, um hier Energie zu tanken. Man spürt, dass nicht nur gelernt wurde, jede Situation anzunehmen und mit ihr konstruktiv umzugehen, sondern auch die Ärmel selbst hochzukrempeln und zu handeln! Dass sie damit Erfolg haben, gibt ihnen ein nahezu unzerstörbares Selbstbewusstsein.

Spricht man mit den Mitarbeitern, so sind sie stets bereit neue Ideen aufzunehmen. Das Jammern liegt bereits Jahre zurück und findet kaum noch statt. Denn man weiß hier, wie man mit widrigen Umständen umgehen muss, um auch die gefährlichsten Klippen sicher zu umschiffen.

In der Präambel des Projektes heißt es:

„Wir befanden uns mitten in einem Meer der Veränderung. Niemand wusste wo die Reise hingehen würde. Ängste und Befürchtungen verschiedenster Art waren die Folge. Aber die Flottille verließ den Ankerplatz und segelte los.

Während der Reise wurden Entdeckungen gemacht. Die wichtigste war, dass die Sonne immer noch jeden Tag aufging, dass die Geschäfte zu blühen begannen und dass die Welt des Stromes rund war. Überraschenderweise stellte sich heraus, dass die Erde – auch unter veränderten Bedingungen – bewohnbar blieb. Es wuchs die Sicherheit, dass niemand über den Rand der Welt stürzen wird, solange das Team zusammen bleiben würde. Es wuchs das Wissen, dass Sicherheit in einem sich fort entwickelnden Leben nur durch Bewegung entsteht, niemals aber durch Stillstand. Mehr noch: es entstanden völlig neue Sichtweisen und Möglichkeiten, der eigenen Arbeit und dem eigenen Leben Sinn zu geben.

So wurde Leben in der Veränderung möglich und so kam es, dass wir ein Tor aufstießen zu einem neuen Kontinent, in dem es Platz und Möglichkeiten für alle gibt und in dem die Sonne des positiven Lebensgefühls scheint.“

Im Verlauf des Projektes wurde festgestellt, dass Menschen sofort und gerne eine Richtung einschlagen, die ihnen persönlich – nicht nur beruflich – eine Perspektive bietet. Dies seinen Mitarbeitern zu ermöglichen, betrachtet Erwin als seine eigentliche Führungsaufgabe.

Er ging dabei nicht den direkten Weg. Er verlangte nicht einfach von seinen Leuten mehr Motivation, sondern er kam zu dem Schluss, dass man Menschen nur dann motivieren kann, wenn man ihnen einen Grund für die Motivation gibt. Das kann nur über einen Umweg geschehen. Ähnlich wie in einem Transformator, die niedrige Spannung auch nicht einfach direkt in Hochspannung transformieren kann. Er braucht dazu einen Eisenkern und zwei Spulen. Über die erste Spule wird die hereinkommende niedrige Energie zuerst in magnetische Energie umgewandelt. Erst diese induziert dann über die zweite Spule Hochspannung.

Dieser Gedanke wurde auf die Entwicklung der Abteilung übertragen. „Wenn wir ein bestimmtes geschäftliches Ergebnis erzielen wollen, dann müssen wir über eine Energieform gehen, die den Kollegen gehört. Wir brauchen Begeisterung! Erst wenn unsere Mitarbeiter begeistert sind, werden sie in der Lage sein, geschäftliche Ergebnisse zu generieren.

Der Fokus wurde damals auf Begeisterung gelegt, nicht auf die Ergebnisse.

Um die Begeisterung der Belegschaft zu erreichen, wurde an verschiedenen Werthaltungen und deren Umsetzung nach und nach gearbeitet. Da ging es beispielsweise darum, gezielt auf Vertrauen an Stelle von Kontrolle zu setzen, Sinnhaftigkeit in der Arbeit zu ermöglichen, das Bewusstsein zu entwickeln, für die eigene Zukunft selbst verantwortlich zu sein, Leben als Veränderung und diese als Spaß zu erleben und Größe aus der Vielfalt zu entwickeln. Die wichtigste Entscheidung war, es zu einem Abteilungswert zu erheben, auf den Erfolg der anderen zu schauen.

Die Umsetzung dieser Werthaltungen gelang, weil sie nicht aufgesetzt, sondern vom Chef selbst und einigen wesentlichen Exponenten konstant gelebt und getragen wurde und wird. Er setzte ein Team ein, das für die Entwicklung des Neuen Geistes dauerhaft zuständig sein sollte. Er selbst verkörpert nach wie vor die Richtung der Entwicklung. Die Umsetzung delegierte er an das Team. Dieses wuchs zu einem seltenen Hochleistungsteam zusammen und sieht sich als Hüter der neuen Werthaltungen.

Alles geschah – trotz der Wichtigkeit des Ergebnisses – spielerisch. Die Abteilung musste sich in der eigenen Wahrnehmung nicht der Knute der Liberalisierung beugen, sondern sie ging auf große Fahrt unter ihrem Käpt'n. So konnte, trotz des anfänglich verbreiteten Misstrauens, eine Abteilung geschaffen werden, die der Idealvorstellung eines Hochleitungsteams sehr nahe kommt.

Wie Spürhunde sind sie seither ständig auf der Suche nach Dingen, die man entwickeln oder verbessern könnte, zum eigenen Nutzen, zum Nutzen von anderen oder jenem des Unternehmens. Ihre Blickrichtung hat sich vollkommen verändert. Sie schauen nicht mehr auf die scheinbar so gute alte Zeit, sondern richten all ihre Energie darauf aus, was sie jetzt und in Zukunft machen können. Diese Energie ist überall spürbar, ihre Arbeit ist zielgenau fokussiert und das Abteilungsklima flirrt in beneidenswerter Weise vor lauter Lust am Handeln.

Erwin bekommt durch den Erfolg seiner Maßnahmen recht. Es hat sich nicht nur das Abteilungsklima nachhaltig und bleibend verändert, es ist nicht nur die Lust an der Suche nach Verbesserungen geradezu zu einer Konstanten geworden, es haben nicht nur die Kollegen untereinander Freude miteinander, sondern auch der Geschäftserfolg stellte sich im Übermaß ein.

Stolze Ehefrauen: Wir werden die Nummer 2

Anfang der neunziger Jahre war die deutsche Niederlassung eines internationalen Phama-Unternehmens sehr erfolgreich unterwegs. In nur vier Jahren war sie von sechs auf rund achtzig Mitarbeiter – die große Mehrheit von ihnen männlich – angewachsen. Sie vertrieb Röntgenkontrastmittel und arbeitete in einem sogenannten „geschlossenen Markt“, wo jeder, der solche Produkte benötigt, bereits seinen Lieferanten hat.

In diesem Markt war das Unternehmen an vierter Position in Deutschland. Nun sollte ein Prozess ins Laufen gebracht werden, um das Unternehmen auf Platz zwei zu bringen.

Die geschäftlich sehr erfreuliche Entwicklung der ersten Jahre brachte aber auch Nachteile und Gefahren mit sich. Da das Wachstum überdurchschnittlich groß war, gab es genügend Kapital, um Leute einzustellen, wann immer man jemanden zusätzlich brauchte. Es entstanden und wuchsen Abteilungen, die nach und nach ein Eigenleben zu entwickeln begannen.

Am Markt hatte das Unternehmen den Plafond seiner „natürlichen“ Möglichkeiten erreicht. Bei weiterer Expansion würde man es mit den Riesen des Marktes zu tun bekommen. Der bevorstehende Wachstumsstillstand brachte eine Reihe von Gefahren hervor. Sowohl was die Erwartungen der Eigentümer, als auch jene der erfolgsverwöhnten Mitarbeiter betraf.

Ständiger Erfolg macht unvorsichtig. So führte das schnelle Wachstum dazu, dass die immer größer werdenden Abteilungen wachsende Zentrifugalkräfte zu entwickeln begannen. Ein „Schützengrabensydrom“ stand bevor. Der Grund war, dass die Kommunikationsstränge zwischen Mitarbeitern und zwischen Abteilungen nicht mit dem Wachstum Schritt halten konnten. Man schottete sich zu nehmend voneinander ab.

Damit kam jenes Kapital in Gefahr, das den Einstandserfolg gebracht hatte: die sechs Gründungsmitarbeiter hatten sich immer wieder an einem Tisch zusammengesetzt und miteinander über ihre Erfahrungen und Pläne gesprochen. Es gab ein dicht gewebtes Netz von Kommunikation. Jeder wusste, was der andere dachte und tat und jeder konnte sich auf die anderen verlassen. Man ging gemeinsam vor und der Erfolg wurde als gemeinsamer Erfolg gesehen.

Aber jetzt ging diese Teamstruktur verloren. Führungsebenen wurden eingezogen und nahezu unmerklich trieb diese Entwicklung die Gründungsgruppe auseinander. Es gab Anzeichen, dass sich bald jeder nur noch um sich selbst kümmern würde und um den Erfolg seiner Abteilung. Man hatte im Überschwang des Erfolges verabsäumt, das Wesentliche in die neue Struktur zu überführen.

Dieses Auseinanderdriften hatte den Nebeneffekt, dass die anfängliche vernetzte Teamstruktur sich zugunsten einer hierarchischen Kommandostruktur zu verändern begann.

Ogle, der zuständige Direktor, erkannte die schlummernden Gefahren und versuchte gegenzusteuern.

Zunächst begann er Vortragende einzuladen, welche die Mitarbeiter über die Situation aufklären und ihnen mögliche Wege zeigen sollten. Es ging um Kooperation und Kommunikation, um psychologische Themen und Vorschläge, was man tun könnte.

Dieser Zugang war in Zeiten des beginnenden Share-Holder-Value äußerst vorausschauend. Aber der erhoffte Effekt blieb aus.

Danach wurde ein Zukunftsbild entwickelt. Zwar hatte man bereits früher ein Leitbild erstellen lassen und allen Mitarbeitern in Form eines Folders übergeben, ja sogar Trainings veranstaltet, um das dazugehörige Verhalten zu vermitteln, aber die Erfahrung hatte gezeigt, dass bereits ein halbes Jahr später die Erinnerung an das Leitbild ziemlich verblasst war.

Nun wurde das Unternehmen virtuell abermals gegründet – als mentales Gedankenexperiment. Dieses sollte eine Spielwiese sein, um zukunftsträchtige Ideen zu entwickeln. Eine Gruppe aus Kollegen aller Abteilungen wurde zusammengestellt, die gemeinsam in einem Planungs- und Zukunftsworkshop diejenigen Werthaltungen erarbeiten sollte, die für eine erfolgreiche Zukunft notwendig sein würden.

Diese erspielte Realität sollte nicht die alte bekämpfen, sondern sich neben sie stellen und allmählich an Kraft gewinnen.

Die Ideen gab es nun, sie wurden begeistert aufgenommen, aber die Umsetzung blieb aus. Man wartete einfach ab und sah zu, was dem Management einfiel. Dieses hatte es jedoch andersherum geplant und wollte seinerseits, dass die Mitarbeiter nachdachten. Sie sollten mitbestimmen, genau das aber taten sie nicht!

Also entschloss sich Ogle zusätzlich zu einem Umweg. Er wollte nicht nur, dass die Mitarbeiter das Projekt mittrugen, vielmehr war es ihm ein Anliegen, dass es auch tatsächlich ihres wurde! Die Kultur sollte sich verändern und das hatte nur eine Chance auf Erfolg, wenn er sich nicht einmischen würde.

Das verlangte viel Mut. Denn erstens war es nicht sicher, wie das Haus insgesamt darauf reagieren würde, zweitens wusste er nicht, was seine Mitarbeiter daraus machen würden. Aber er vertraute auf das Projektteam und den Externen und ließ ihnen freie Hand. Lediglich eine strategische Kommunikationsebene zwischen dem Team und ihm wurde eingesetzt. Diese Runde hatte die Aufgabe, gemeinsam die sich entwickelnden Kräfte so zu steuern, dass sie das Unternehmen zusammenführten und nicht auseinander trieben.

Um das freie Denken der Teammitglieder zu gewährleisten, gewährte er ihnen auch speziellen Schutz. So konnten sie mit ihm auf einer Augenhöhe sprechen und frei ihre Meinung sagen, ohne irgendwelche Sanktionen befürchten zu müssen.

Jeder Mitarbeiter sollte sehen, wie das Team – als Speerspitze – jedes Problem offen, sogar manchmal hart ansprechen konnte. Damit war die Hoffnung verbunden, dass der Funke der Offenheit und des Vertrauens übersprang.

Das Experiment gelang. Das Vertrauen Ogles in seine Leute mündete im Vertrauen, welches das Team – und später die Mannschaft – ihm schenkte. Der Resonanzseffekt kam ins Laufen.

Dieses Projekt ließ er extern begleiten, wobei er auf Kontinuität großen Wert legte, gleichermaßen beim Team und beim Externen. Denn er war der Meinung, dass „Vertrauen nur entstehen kann, wenn man sich immer besser kennenlernt.“

Der Auftrag an den Externen vielschichtig: zum einen sollten die Kommunikationsstränge zwischen den achtzig Mitarbeitern hergestellt werden. Die Grundlage dafür bildete zweitens die Idee, dass der Kundenwunsch vorne zu rangieren habe. Die Kundenkontakter sollten die wichtigsten Leute werden. Das Management sollte dann hinten gehen und nur die Möglichkeitsräume bereitstellen. Diese Idee sollte sich drittens in einer neuen Organisationschart abbilden, die am Ende gemeinsam mit allen Mitarbeitern entstehen sollte.

Als Nebenbedingungen gab er an, dass kein Mitarbeiter bei diesem Prozess seine Würde verlieren sollte und dass ein einziger Externer alleine diesen Prozess zu begleiten hatte. Der Grund dafür war seine Überlegung, dass solch ein Vorhaben nur mit Kontinuität der Inhalte und der betreuenden Personen eine Chance auf Erfolg haben könne.

Er nannte das „Primat der Kontinuität“.

Außerdem sollte der Externe darüber wachen, dass bei all der Offenheit allseitig die Formen gewahrt blieben und es zu keinen Verletzungen komme.

Die Komplexität dieses Auftrages war ungewöhnlich groß und die Festlegung eines konstanten externen Begleiters war ein Novum. Das wirklich Sensationelle war aber die verdeckte Agenda, die er über alle anderen stellte:

„Wir schicken“, so sagte Ogle Burian, „unsere Mitarbeiter am Abend völlig erschöpft nach Hause. Dann missbrauchen wir, das Unternehmen, in Wahrheit die Ehefrauen und Familien, damit die Männer es überhaupt am nächsten Tag in die Firma schaffen. Das müssen wir umdrehen: Die Frauen und die Familien müssen etwas davon haben, dass ihre Männer bei uns arbeiten. Das Geld gibt es, aber sie brauchen etwas anderes. Die Leute dürfen müde sein, aber sie sollen aus dem Arbeitstag Freude und Energie nach Hause mitnehmen. Nur wenn es uns gelingt, eine Ebene weiter zu denken, werden wir auf Dauer erfolgreich sein!“

Einmal nicht in kurzen kausalen Ursache und Wirkungsketten denken! Sondern ein Stück weiter sehen, eine Stufe weiter, an die Familien der Mitarbeiter denken!

Dieser Gedanke rüttelte auf und gab Kraft! Was würde geschehen, wenn die Lebenspartner der Angestellten eines Unternehmens stolz darauf sein würden, dass ihr Mann oder ihre Frau bei diesem Unternehmen arbeitet? Wie würde sich solch eine Zustimmung auf die Motivation und das Engagement der Mitarbeiter auswirken? Wie würde sich das auf das Unternehmensklima auswirken und wie würden sich unter dieser neuen Unternehmenskultur die Kundenbeziehungen, letztlich auch die Geschäftserfolge entwickeln?

Für alle diese Fragen waren nur die besten Ergebnisse zu erwarten.

Der zentrale Gedanke wurde zur Leitschiene des Projektes. An ihm wurde geistig entlang gearbeitet, er bestimmte die Kriterien, nach denen entschieden wurde, ob Ideen und Handlungen funktional sein würden, oder nicht.

Nicht weniger wichtig war die Wahl des Projektnamens. Anstatt, wie üblich, irgendwelche Funktionsnamen zu überlegen, suchte man einen Namen, der aus sich heraus bereits eine gewisse Kraft und die Gewissheit des Erfolges erkennen ließ. So wurde das „Merlin-Projekt“ geboren.

Die Haltung, die Ogle gegen die Regeln des damals um sich wuchernden Shareholder Value entwickelte und durchsetzte, war revolutionär. Ohne dass dieser Gedanke jemals publik gemacht worden wäre, begann er zu wirken. Die Identifikation mit dem eigenen Unternehmen wuchs ständig, Krankenstände und Fluktuation waren dagegen äußerst gering.

Es entstand eine Kraft, die jahrelang, weit über die Projektdauer weit hinaus, anhielt und alle Beteiligten trug.

Das Projekt wurde ein großer Erfolg. Freude, Stolz und Lachen erfüllten spürbar die Gänge der Büros. Der Geschäftserfolg war zwar ausdrücklich nicht auf der Agenda des Externen gestanden. Dennoch bewirkte das Projekt, dass binnen zwei Jahren ein weiteres Umsatzplus von dreißig Prozent in diesem geschlossenen Markt erreicht wurde.

Die Grundlage dieser Erfolgsbeispiele ist stets eine grundlegende Veränderung des Denkens gewesen. Sie alle brachen mit üblichen Vorstellungen und brachen Tabus.

In allen drei Fällen wurden mentale Spielwiesen geschaffen, für deren Konstanz gesorgt wurde. Es wurde nicht in linearen Input-Output-Strukturen gedacht, sondern in komplexen Prozessen. Nicht der direkte Weg zum Erfolg wurde gesucht, sondern es wurde in Kraft und Energie investiert. Auch die Projektdauer war nicht von vorne herein durch ein definiertes Ende limitiert, sondern offen. Die primären Projekt-Ziele waren nicht operativ, sondern mental und es gab besondere und konstante Strukturen, um die Projekte kontinuierlich wachsen zu lassen.

Erst auf dieser Basis konnte Kraft entstehen und der Duende sich verbreiten. Im Weiteren werden wir uns zunächst ansehen, woraus die innere Dynamik von Organisationen besteht und wie sie arbeitet.

Kapitel 3 Über die Veränderung von Organisationskulturen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Warum soll man sich eigentlich der Mühe unterziehen, eine Unternehmenskultur zu entwickeln? Ist es nicht besser, wenn alles so bleibt, wie es ist?

Natürlich ist es in Krisenzeiten leicht nachvollziehbar, dass Unternehmenskulturen sich ändern müssen. Unter existenzieller Bedrohung gibt es häufig keinen anderen Weg, als einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel durchzuführen. Bricht ein Hauptkunde, oder gar ein ganzes Geschäftsfeld weg, dann leuchtet unmittelbar ein, dass sich nun eine heftige Dynamik entwickeln muss.

Aber sonst? Braucht es das wirklich? Kann man nicht einfach alles beim alten lassen, wenn alles halbwegs gut läuft?

Der Grund, warum das Thema der Entwicklung von Unternehmenskulturen immer im Fokus der Führung bleiben muss, liegt in den Gesetzen, mit denen sich Organismen verändern. Dabei ist sowohl die innere, als auch die äußere Dynamik zu beachten.

Zu inneren Veränderungen kommt es immer dann, wenn Personen ausgetauscht werden oder wenn sich Aufgabenbereiche ändern. Aus der Teamentwicklung wissen wir, dass jede personelle Veränderung einer Gruppe die Rang- und Positionskämpfe neu ausbrechen lässt. Auch neue Führungskräfte verändern das Gewohnte, häufig ohne es zu wollen. Es genügen Erwartungshaltungen an den neuen Chef, um einen gezielten Kulturprozess notwendig zu machen, will man nicht zu viel Energie durch Machtkämpfe verschwenden.

Zu den äußeren Veränderungen gehören alle Arten von Veränderungen, die von oben veranlasst werden. Etwa Umstrukturierungen, Zusammenlegungen oder Trennungen von Einheiten, Fusionierungen, bereichsübergreifende Kooperationen, Internationalisierungen, etc. Alle diese Phänomene stellen das Bestehende in Frage. Bisher erfolgreiche Muster zur Lösung von Problemen, die selbstverständlich geworden sind, werden dadurch aus den Angeln gehoben. Implizit geht das immer mit einer unausgesprochenen Abwertung der bestehenden Kultur einher. Das wird als Beleidigung der bisher geleisteten Arbeit verstanden. Die Antwort bleibt dann nicht aus und zeigt sich in Form von Widerständen und Blockaden.

Teil der äußeren Dynamik ist auch die allgemeine Beweglichkeit des Gesamtorganismus, die Dynamik des Rahmensystems, die den Bezug verändert. So waren Studentenverbindungen in der Ära Napoleons, ihrer Frühzeit, eher linke Organisationen. Mit Erreichen der gesellschaftspolitischen Ziele bewegte sich das gesellschaftliche Rahmensystem unter den Verbindungen hinweg. Die Gesellschaft entwickelte sich, die schlagenden Verbindungen blieben weitgehend mental dort stehen, wo sie waren. So kommt es, dass sie heute zu den bewahrenden Kräften gehören und eher dem rechten Lager zuzurechnen sind.

Schließlich gibt es noch eine dritte externe Basis für die Notwendigkeit koordinierter Veränderung, die in den Paradigmen der Finanzmarkt-getriebenen Wirtschaft ihre Ursache hat. Denn die Menschen werden dadurch dreifachen und steigenden Beengungen ausgesetzt, denen sie immer schlechter standhalten:

Zum einen steigt der Arbeitsdruck. Arbeit wird als immer bedrohlicher erlebt, was durch das unablässige Krisengerede mancher Top-Manager, aber auch der Medien, noch unterstützt wird.

Zum anderen steigt die Arbeitsdichte. Damit ist gemeint, dass bei sinkendem Personalstand immer mehr Arbeit mit übernommen werden muss. Immer weniger Zeit bleibt, um seine menschlichen Bedürfnisse befriedigen zu können. Es geht das Gefühl des Lebens verloren und macht einem „Gelebt-Werden“ Platz.

Drittens steigt auch die Arbeitsbreite. Konnte man früher unter relativ konstanten Bedingungen arbeiten, beispielsweise weil man seinen erlernten Beruf durch sein gesamtes Arbeitsleben ausüben konnte, so ist es heute nötig immer mehr zu wissen und zu können. Oder ständig neue Berufe zu erlernen. Die Folge sind allgemeine Gefühle des Nicht-Genügens und des Versagens. Hinzu kommen noch die Ängste vor Kündigung, Abwertung und Sinnverlust.

„Die Arbeitswelt kennzeichnet eine wachsende Grausamkeit gegenüber dem Individuum“, sagt Michael Schumann vom soziologischen Forschungsinstitut der Universität Göttingen. Er meint, dass die Humanisierung der Arbeitswelt in den siebziger Jahren mittlerweile Nebeneffekte zeigt, die nur noch mit dem Wort „inhuman“ bezeichnet werden können.

Die Statistiken der Krankenkassen sprechen hier eine deutliche Sprache. Nach Erhebungen der deutschen Techniker Krankenkasse ließen sich wegen Überforderung, diffusem Unwohlsein und unerträglicher Müdigkeit 33.000 Menschen im Jahr 2006 krank schreiben. Das bedeutet für die Bundesrepublik einen Verlust von acht Millionen Arbeitstagen pro Jahr! Wir beobachten eine Steigerung um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Angststörungen, Depressionen, Herzinfarkte oder Hörstürze verdoppelten sich binnen zehn Jahren. Damit sind enorme direkte Kosten für die Allgemeinheit, aber auch für die Arbeitgeber verbunden. Gar nicht dazu gerechnet jene verdeckten Kosten, die sich durch Unachtsamkeiten am Arbeitsplatz, sinkende Motivation und Rette-sich-wer-kann-Haltung bei allen anderen Mitarbeitern ergeben.

Experten nennen das „Entgrenzung der Arbeit“. Dieter Sauer, Sozialwissenschaftler an der Bundeswehrhochschule in München, fand heraus, dass das größte Ausmaß an solchem Psychostress nicht bei Arbeitern, sondern bei Führungskräften zu finden ist. Bedenkt man, dass sich deren Unwohlsein stets mit der Anzahl der zugeordneten Mitarbeiter multipliziert, kommt man auf weitere verdeckte Kostenfaktoren in ungeahnter Höhe.

Alle diese Faktoren kommen in Kombinationen vor und erzeugen Stress und Ängste. Das kostet Leistungsfähigkeit in erheblichem Ausmaß. Es ist interessant, wie sehr wir uns im öffentlichen Diskurs mit der Umweltverschmutzung beschäftigen und wie wenig mit der seelischen Innenweltverschmutzung!

Eine bereits etwas ältere Studie der Universität München zeigte, dass eine Gruppe von Studenten, die mit der üblichen Prüfungsangst belegt war, um 40% schlechter abschnitt, als eine Vergleichsgruppe, der vor der Prüfung angstmindernd betreut worden war. Das bedeutet einen dramatischen Leistungsverlust bereits durch geringe Ängste! Durch Steigerung der Angst ist auch ein nahezu vollkommener Leistungsverlust möglich. Wobei deutlich gesagt werden muss, dass diese Ängste nicht allein durch unvorsichtige Professoren oder Führungskräfte hervorgerufen werden, sondern ebenso durch das allgemeine Klima im Unternehmen oder in der Gesellschaft insgesamt.

Einfach alles beim Alten lassen? Einfach den Druck erhöhen, um mehr Leistung zu erzielen? Wer solches versucht, angesichts der vorliegenden Befunde ist zumindest sehr schlecht beraten. „Wer den Ast absägt, auf dem er sitzt, kann deshalb noch längst nicht fliegen!“ kommentiert Michael Schumann kurz und trocken.

Der Münchner Arzt und Philosoph Franz von Baader (1765 – 1841) hat einmal geschrieben. „Alles Leben steht unter dem Paradox, dass, wenn es beim alten bleiben soll, es nicht beim alten bleiben darf!“ Mit dem geschärften Blick eines gebildeten Arztes erkannte er, dass Leben jener Prozess ist, der mit wechselnden Umwelten umgehen kann. Ein Körper, der sich erhalten will, muss konstruktiv auf wechselnde Situationen eingehen können.

Veränderung und Konstanz erweisen sich als die zwei Seiten derselben Münze. Keine Seite kann ohne die andere existieren. Denn Konstanz ohne Veränderung ist Stillstand und gleichbedeutend mit dem Tod. Noch hallt uns der Satz Michael Gorbatschows im Ohr: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ Hinzufügen könnte man: wer gar nicht kommt, den noch viel mehr!

Veränderung um ihrer selbst willen, deren Sinn im Dunklen bleibt, ist dagegen nichts als sinnloses Geflatter. Sie verschwendet ein Maximum an Energie und erzielt ein Minimum an möglichem Ergebnis.

Ein Organismus braucht beides, Konstanz ebenso, wie Veränderung.

Warum Kulturen verändern?

Unsere Gesellschaft ändert sich massiv und mit ihr die Regeln, nach denen Wirtschaft funktioniert. Konnte man vor wenigen Jahrzehnten noch aus dem Vollen schöpfen, so wurde der Sparstift eines der markantesten Kennzeichen der Wirtschaft seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Dies hat viele Gründe, die sowohl in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, im veränderten Verhalten im Konkurrenzkampf der Betriebe, aber auch im Verhalten der Konsumenten zu suchen sind.

Es war interessant zu beobachten, wie in den ersten Jahren, in denen der aufkommende Engpass der Wirtschaft erkennbar wurde, von „Strategien“ und „Visionen“ gesprochen wurde. Man glaubte, die Situation damit retten zu können, dass man sich andere Ziele gab. Es erwies sich, dass bloßes Herbeireden nicht ausreichte. Und so scheiterten diese Versuche.

Später wurde die zweite mentale Säule von Organisationen entdeckt, die „Struktur“. Von nun an wurde in immer schnelleren Abfolgen „reengineered“, freilich mit abnehmendem Erfolg. Denn sobald der soziale Organismus „Organisation“ lernt, dass er sowohl Ideen, wie Berater aussitzen kann („Wenn die Berater weg sind, sind wir immer noch da!“), wird kein Versuch einer Restrukturierung mehr ernst genommen.

Wenn es also mit Strategie und Vision nicht geht, wenn Strukturveränderungen zum größten Teil scheitern oder an der Absicht vorbeigehen, wie kann man dann Unternehmen auf den Markt der Zukunft vorbereiten?

Was bleibt ist die dritte Säule der Organisation, die Kultur.

Aber was ist das?

Kurz gesagt ist Kultur jenes Konglomerat von kollektiven Sitten und Gebräuchen, Erzählungen und Wertvorstellungen, das uns einerseits sagt, was richtig und falsch ist und uns andererseits von anderen abgrenzt. In Organisationen ist es allein die Kultur, die es erlaubt, auf das eigene Unternehmen stolz zu sein, sich mit ihm zu identifizieren, sich zu engagieren und es damit letztlich am Markt weiter zu bringen.

Kultur ist jene Brille, mit der wir eigenes und fremdes Verhalten bewerten, die uns sagt, was Erfolg ist und letztlich sogar die Wertvorstellungen über ein gelungenes Leben beinhaltet. Diese Brille wurde bisher bei Unternehmensveränderungen kaum als solche erkannt. Im Gegenteil: ohne die alte Brille zu verändern, wurde versucht Strukturen zu verändern. Das konnte nicht gut gehen. So kam es zu jenem negativen Diktum, das da sagt: „Kultur ist das Brett, das wir uns selbst an den Kopf nageln!“

Ich hingegen glaube, dass Kultur der wahre Schlüssel zur Veränderung menschlichen Zusammenlebens ist. Nur muss man ihre Gesetze kennen und sie nutzen.

Anhand der nachfolgenden Definition von Clifford Geertz lässt sich nachvollziehen, wie es kommt, dass Führungskräfte so oft in Veränderungsprozessen scheitern:

Definition:

Kultur ist ein System von Symbolen, die mächtige, eindringliche und dauernde Grundstimmungen im Menschen erzeugen. Die Kultur erreicht diese Wirkung, indem sie allgemeine Prinzipien solcherart in eine Aura des Wirklichen einkleidet, dass diese Grundstimmung und die daraus resultierenden Handlungsgründe als einzig gültig erscheinen.

Macht, auch disziplinarische Gewalt, ist kein Mittel, um Haltungen tiefgreifend und nachhaltig positiv zu verändern, um Kollegen – wenn vielleicht auch nur scheinbar – Zusammenhalt und Sicherheit geben. Jede Kultur wird ihre „einzig gültigen Handlungsgründe“ vehement verteidigen. Strukturänderungen und Personalwechsel können daran sogut wie nichts ändern. Jedenfalls nicht in die positive Richtung. Man kann Strukturen zerschlagen, man kann Menschen kündigen, aber man kann Ideen weder zerschlagen noch kündigen.

Andersherum ist aus der Anwendung dieser Definition ebenso erkennbar, dass immer dann, wenn eine notwendige Veränderung Änderungen der herrschenden Haltung voraussetzt, die kulturelle Säule angespielt werden muss.

Das ist möglich!

Denn trotz des jeder Kultur innewohnenden Absolutheitsanspruches ist sie doch veränderbar. Man muss nur ihre Regeln kennen und sich daran halten.

Diese Regeln folgen anderen Paradigmen, als den schlichten wenn-dann-Abfolgen. Sie sind komplex und laufen auf mehreren Ebenen gleichzeitig, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ab. Zunächst ist es in unserem Vorhaben, Kulturen zu verändern, notwendig, sich diese verschiedenen Ebenen und ihre Funktionsweise schematisch anzusehen. Beginnen wir mit den allgemeinen Regeln sozialer Prozesse und sehen wir uns dann im Einzelnen die typischen Verläufe von Prozessen in der Organisation, in Gruppen und im Zusammenspiel zwischen Führung und Geführten an.

Welche Regeln gelten in einer Kultur?

Bereits ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, dass „Kultur“ kein starrer Tatbestand, sondern eine veränderliche Größe ist. Wer würde sich heute noch gerne in den starren bürgerlichen Korsetts des 19. Jahrhunderts bewegen? Wer kann nach Tschernobyl und Challenger noch dem Glauben der Jahrzehnte davor frönen, dass Technik grundsätzlich das Leben verbessert?

Kulturen sind als Ganzes ständig in Bewegung, selbstverständlich auch der mittelgroße Bereich der Organisationskulturen. Sie stehen niemals still. Verändert werden sie sowohl durch die Kräfte, die sich in ihrem Inneren entfalten, als auch durch externe Einflussfaktoren. Dabei ist zu beobachten, dass die Bewegungsrichtung nur sehr unscharf, manchmal gar nicht vorhergesagt werden kann. Dieser Umstand liegt an den inneren Regeln, nach denen Kulturen funktionieren.

Dynamische Wechselwirkung

Anders als in einem technischen System, in dem Energie zugeführt wird und eine vordefinierte Leistung erzeugt wird, generieren Kulturen ihre Energie selbst. Sie besteht aus Sinngefühl, Lust und Freude oder auch aus Hass, Neid und Angst. Wie immer ein Arbeitstag empfunden wird, diese Empfindung ist die Voraussetzung für den nächsten. Dabei fokussiert sich das Bewusstsein auf Bestätigung des Ausgangsgefühls. Hat jemand das Gefühl, von den Führungskräften in seiner Würde missachtet und getreten zu werden, so wird sich sein Bewusstsein auf Bestätigung dieser Annahme ausrichten und diese auch finden. Ebenso funktioniert das mit Sinngefühl: wer Sinn in der Arbeit findet, wird weiteren Sinn suchen.

Dasselbe gilt auf der kollektiven Ebene: wo gemeinsam Sinn gesucht wird, wird er auch immer wieder gefunden, wo Angst gesucht wird, werden auch Gründe dafür gefunden.

Diese starke dynamische Wechselwirkung führt dazu, dass ein „Endzustand“ einer Kultur niemals erreicht werden kann. Jeder beliebige Zustand wird quasi wieder oben in den Entwicklungsprozess eingefüllt und ist somit Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung.

So verändern sich unter dem Einfluss der Wechselwirkung die Anfangsbedingungen fortwährend selbst. Man spricht hier auch von „Selbstorganisation“.

Nicht-Linearität

Die Wechselwirkungen zwischen den Teilen eines Systems sind nicht-linear, wenn sie sich nicht einfach addieren, sondern das Ganze mehr wird, als die Summe seiner Teile. Das hat zur Folge, dass ein solcher „nicht-linearer Aufbauprozess“ die Eigenschaft hat, über alle Grenzen zu wachsen. Dies geschieht, wenn ein Mitarbeiter das Gefühl hat, ungerecht behandelt worden zu sein und darüber in der Kantine zu den Kollegen spricht. Nun kommen die anderen und erzählen ähnliche Geschichten, die sie selbst erlebt oder auch nur gehört haben. Durch die oftmalige Wiederholung der Kernaussage wird diese ständig bestätigt und gerinnt zu einer „Wahrheit“. In einem konkreten Fall führte dieser Prozess zu der „Wahrheit“, dass die Direktion den geheimen Auftrag vom Eigentümer habe, das Unternehmen kalt zu liquidieren – was jeder realen Grundlage entbehrte. Man kann sich vorstellen, wie sich das auf den Arbeitseinsatz der Mitarbeiter auswirkte!

Diese Regel der Nichtlinearität funktioniert natürlich auch in die andere Richtung. Gefühle wie Sinn an der Arbeit und Freude verstärken sich ebenfalls nicht-linear. Nur wird dies nicht von allein geschehen. Dazu bedarf es einer Führungsmannschaft, die diese Regel kennt, in der Lage ist, sie konsequent anzuwenden und in der positiven Richtung zu halten.

Randbedingungen

In einem sich selbst organisierenden Ganzen verliert sich der „Anfang“ des Systems in seiner Entwicklungsgeschichte. Er gab zwar die ursprüngliche Richtung vor. Dann aber entstehen dynamische Wechselwirkungen, so dass – anders als bei einem technischen System, wie einem Motor, der in seiner Leistung determiniert ist – nicht mehr linear vorausgesagt werden kann, wie das System sich weiterentwickelt. In diesem Prozess entstehen immer neue Randbedingungen, die die Entwicklung des Ganzen kanalisieren: Lüste und Freuden ebenso wie das Gefühl ein Opfer zu sein oder am Markt nicht bestehen zu können.

Interessanterweise verändern sich die Rahmenbedingungen (also die Auswahlkriterien für die nächsten Schritte) nur durch Einflüsse im Mikrobereich. Große Reden, dass es uns besser gehen wird, können höchstens momentane Linderung verschaffen, wenn sie überhaupt noch geglaubt werden. Viel eher rufen solche Kraftakte Widerstände hervor. Wirksamer ist ein einzelner Kollege, der mit Freude an die Arbeit geht und einen kleinen Erfolg nach dem anderen einfährt. Von ihm geht ein Sog aus, der seine Umgebung nach und nach mitnimmt.

Das heißt auch, dass zur Veränderung von Haltungen häufig viel weniger Kraftaufwand notwendig ist, als vielfach angenommen. Es geht darum, solche Kollegen in adäquater Weise zu fördern. „Adäquat“ heißt in kleinen Dosen, denn würde man ihn als leuchtendes Beispiel darstellen, so könnten sie leicht als Verräter gebrandmarkt und isoliert werden.

Die Beharrungsregeln von Kulturen darf man nicht überrennen. Denn das führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Abstoßungsreaktionen. Man muss sie langsam und ruhig, geradezu homöopathisch steuern. Darin liegt das Geheimnis erfolgreicher Veränderungsprozesse.

Die kleinste Haltungs-bestimmende Größe in einer Organisation ist das Gespräch beim Kaffee und in der Kantine. Wenn es gelingt, Art und Inhalt dieser Gespräche in Selbststeuerung zu verändern, verändert sich die Kultur in der Folge.

Selbstähnlichkeit

Bei dieser Grundregel von Kulturen handelt es sich um ein Analyseinstrument erster Ordnung, das sehr präzise und kostengünstig ist. Es besagt, dass eine Kultur sich durch die ganze Organisation zieht und in jedem ihrer Teile wiederzufinden ist.

Ähnlich dem Bild einer Küstenlinie: Allein aus der Linie kann nicht erschlossen werden, ob es sich um einen Küstenabschnitt von fünf Metern, fünf, fünfzig oder fünfhundert Kilometern handelt. Eine Küstenlinie ist „selbstähnlich“.

In einem Unternehmen betrifft das alle Fragen der Haltungen, beispielsweise die Grade des Lächelns, der Arbeitsfreude, des Engagements, der Überzeugung und Identität mit dem eigenen Unternehmen. Sie gelten für alle gleich, für den Direktor ebenso wie für die Führungskräfte und die Mitarbeiter, für das Gesamtunternehmen, die einzelnen Abteilungen und die Individuen. Immer wieder lässt sich feststellen, dass in Unternehmen, in denen die Opferhaltung vorherrscht, sich auch die Führungskräfte als Opfer fühlen. Zum Beispiel als Opfer ihrer eigenen Mitarbeiter oder des Vorstandes. Auch dann, wenn darüber gegossene Rhetorik anders klingt.

Haltungen sind „selbstähnlich“, genau wie Küstenlinien oder das Delta eines Flusses.

Auch hier wieder: Nachhaltige Veränderungen in einem Skalenbereich führen mittelfristig zu Veränderungen im Gesamtsystem. Denn jedes nicht-lineare System „will“ geradezu selbstähnlich sein! Um hier erfolgreich einzugreifen, gilt es allerdings vorher die richtigen Variablen zu finden.

Prozessverlauf 1: Die soziale Organisation

Wie sich Kulturen verändern

Um zu verstehen, in welch komplexen Abläufen sich Kulturen verändern, ist eine geeignete Modellvorstellung notwendig. Denken wir einmal an ein Pendel, an dem eine Stahlkugel hängt. Der Aufhängepunkt sei das, was allgemein menschlich ist. Würde die Stahlkugel einfach herunterhängen, und immer am selben Punkt zum Stillstand kommen. Was so zu verstehen ist, dass wir, wäre da nicht noch etwas anderes, alle ziemlich gleich wären.

Folie 1

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Verlauf der Geschichte müssen wir uns differenzieren. Dies geschieht zunächst durch die Entwicklung von Kulturen und gilt im Makrobereich der Menschheitsgeschichte ebenso wie im Mikrobereich der Organisationskulturen.

Jede Population schafft sich ihre eigenen Werthaltungen und ihre Geschichten, die begründen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Sie schafft sich eine Kultur. Man kann das als einen selbst generierten Magneten darstellen, der zwar aus der Population kommt, sie aber, sobald er da ist, aus dem allen gemeinsamen Zentrum zieht und damit unterscheidbar von anderen macht.

So entsteht die Vielzahl der Kulturen.

Folie 2

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dabei entsteht ein neuer Attraktor. Er liegt nun im Zentrum der Kraft des Magneten, aber er ist immer noch punktförmig, was natürlich nicht der Wirklichkeit entspricht, denn Kulturen bewegen sich durch die Geschichte, sie verändern sich.

Die Kräfte, die in der Lage sind, die Kultur zu bewegen, sind dieselben, die sie geschaffen haben: das diffuse Sprechen über Dinge, das Vertreten widerstreitender Interessen, etc., innerhalb einer Population. So entstehen „Ansichten“, die – weil kollektiv – der eingangs festgestellten Bedingung des „einzig gültigen“ genügen. (Folie 2)

So kommt die Population niemals zur Ruhe und vollführt eine diffuse Bewegung über dem Magneten. Außerdem kommen noch von außen einwirkende Kräfte hinzu, seien es Naturereignisse oder Interessen anderer Kulturen. Insgesamt kommt es in diesem wogenden hin und her immer wieder zu einem Überhang, zu einer Präferenz für eine bestimmte Richtung. Tritt das ein, bewegt sich der Magnet der Kultur verzögert in diese Richtung.

Nun ist der Attraktor nicht mehr punktförmig. Die Kultur geht ihren Weg durch die Geschichte. (Folie 3)

Folie 3

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dieser komplexe und zeitintensive Vorgang provoziert die Ungeduld vieler Unternehmensführer. Sie versuchen mit Kraftakten das Verhalten im Unternehmen zu ändern. Warum das in der Regel scheitert, zeigt die folgende Grafik.

Man muss wissen, dass eine Kultur allein in der Lage ist, Menschen auf Dauer Sicherheit und Halt zu geben. Niemand würde das gerne aufgeben. Deshalb sind beharrende Kräfte zunächst immer stark. Je mehr Energie für die Veränderung aufgewendet wird, umso größer wird die Gegenkraft. Nur mit dem Unterschied, dass das Management stets wenige Köpfe hat, die Belegschaft aber viele. Eine schiere Kraftprobe kann deshalb vom Management mittelfristig nur verloren werden. Es dauert nicht lange, bis einige gute Gründe zur Veränderung, durch tausend kleine Gründe dagegen lahmgelegt werden.

Wer daher die Kraft zur Veränderung übersteuert, stärkt paradoxerweise die beharrenden Kräfte. Obwohl dieses Vorgehen in Führungsetagen der Wirtschaft und Politik - der Mode folgend - üblich ist, ist es dennoch kontraproduktiv und stellt einen gigantischen Kraftverschleiß auf allen Seiten dar, der zudem völlig unnötig ist.

Um in unseren Bildern zu bleiben: wird eine Kultur bedroht, oder empfindet sie etwas als Bedrohung, dann wird sie sich nicht bewegen, sondern so viele Magnete wie möglich übereinander stapeln, um jede Bewegung unmöglich zu machen. (Folie 4)

An diesem Prozess ist niemand schuld. Die Ursache liegt in den Prozessregeln nicht-linearer Systeme verborgen. Und diese erlauben kein asynchrones Verhalten.

Folie 4

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dennoch ist Kulturentwicklung möglich. Allerdings muss man ihren eigenen Regeln folgen.

Wenn die inneren Kräfte in einem Sozialsystem der entscheidende Faktor bei der Veränderung von Haltungen sind, so ist auf diese in erster Linie Rücksicht zu nehmen. Wenn es von entscheidender Bedeutung ist, was sich Menschen wie und mit welcher Grundstimmung beim Kaffee und in der Kantine erzählen, so ist hier anzusetzen.

Durch geeignete Mittel ist zu erreichen, dass sich eine Bewegungs-Präferenz der Populationskugel in die gewünschte Richtung ergibt. Ist diese Präferenz auch noch so klein, sie wird eine Bewegung des „Kulturmagneten“ in die gewünschte Richtung ergeben. Ist es einmal so weit, sind in der Wechselwirkung durch Resonanz neue Handlungsrichtlinien für alle entstanden.

Damit ist die wichtigste Führungsaufgabe in einem Veränderungsprozess, die Voraussetzungen zu schaffen, dass sich die Generierungsregeln für Werthaltungen ändern können. (Folie 5)

Folie 5

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Scheitern üblicher Ansätze

Nun wird klar, warum alle Versuche, Veränderungen in Haltung und Verhalten allein durch Strategien oder strukturelle Maßnahmen herbeizuführen scheitern müssen: Das Magnetfeld ändert sich dadurch in keiner Weise! Im Gegenteil, die Gefahr ist groß, dass Magnete gestapelt werden.

Auch die beliebten, zu diesem Zweck durchgeführten Restrukturierungen, müssen nahezu zwangsweise wirkungslos bleiben. Zwar verursacht eine Veränderung der inneren Struktur der Populationskugel ein Zittern derselben. Aber der Magnet ist träge. Er reagiert nicht auf isolierte Handlungen. Außerdem fehlt es Führungskräften, ebenso wie deren Beratern, häufig sowohl an der Geduld, wie auch am Verständnis der Zusammenhänge. Im Ergebnis werden Organisationen dann mit Reorganisationen in immer schnellerer Abfolge überschüttet. Das Ergebnis ist jedoch nicht die Optimierung irgendeines Zustandes, sondern eine „antherapierte“ Organisation, die genau weiß, wie man mit Bossen und Beratern umgehen muss, damit sie einen nicht weiter stören.

Häufig ist es Führungskräften nicht klar, wie sehr sie selbst am Scheitern ihrer – gutgemeinten – Absichten beteiligt sind.

Nun ist es so, dass für die Methode der Reorganisation doch auch ein paar Argumente sprechen, die sie in den Augen des Managements attraktiv machen. Zunächst scheitern sie auf operativer Ebene nicht immer. In 20 – 30 % aller Fälle können sie kurzfristig zum wirtschaftlichen Erfolg führen. Das ist genug, um Erfolgsgeschichten zu erzählen, aber nicht genug, um Unternehmen in ein solches Abenteuer zu stoßen.

Es sollte jedenfalls bedenklich stimmen, dass sogar Mike Hammer und Brian Champy, die Väter des Business Reengineering, selbst immer wieder zugeben, dass rund 80% ihrer Reorganisationen schlichtweg scheitern!

Zum anderen ist ein technisches Denkmodell leicht verständlich. Der sozial-technische Zugang einer Reorganisation entspricht dem: wenn man ein technisches System richtig baut, dann liefert es die gewünschte Leistung. Das begann mit Mühlrädern, ging über das Verständnis von Motoren und reicht bis zu den Vorstellungen, dass ein straff organisiertes Sozialsystem glückliche Menschen hervorbringen würde.

Auch die Ökonomie und die Führungstheorie vergangener Jahrzehnte setzte auf Technik und Social Engeneering.

Wird dieser technische Zugang jedoch auf kulturelle Systeme angewandt, so wird leicht übersehen, dass alle technischen Systeme künstlich stabile Rahmenbedingungen herstellen. Das heißt, sie schaffen Laborbedingungen. Werden diese in ein System, etwa einen Motor, mit eingebaut, dann funktioniert es auch. Ein Auto fährt! Aber er kann sich nicht verändern, nicht entwickeln und nicht aus sich heraus verbessern. Von sich aus kann ein Auto nicht schwimmen oder fliegen lernen!

Lebendige Strukturen unterscheiden sich wesentlich von technischen. Denn sie können fliegen oder schwimmen lernen – aus sich heraus!

In lebende Systeme lassen sich jedoch keine Laborbedingungen einbauen! Denn im Gegensatz zu einem Motor tragen sie unauslöschlich jene innere Veränderungskraft und Kreativität einprogrammiert.

Das ist ja gerade das, was Leben in seinem Kern ausmacht! Sie mit künstlichen Laborbedingungen, Kontrollsystemen und Gewalt zu unterdrücken, kommt dem Versuch gleich, dem Leben das Leben zu nehmen!

Reale Kulturen bleiben immer in innerer Bewegung. Sie dulden keine Begrenzung. Die Geschichte ist voll von Diktatoren und Weltverbesserern, die das nicht verstanden haben und diese Lektion mitunter blutig lernen mussten!

Prozessverlauf 2: Die Gruppe in Bewegung

Kulturen sind Großorganismen. Wie wir gesehen haben, sind sie in der Lage, sich zu verändern. Allerdings benötigen sie dazu relativ große Zeiträume. Denn sie sind auch träge. Es braucht die koordinierte Bewegung von Teilorganismen, um sie zu bewegen. Und selbst dann bewegen sie sich eher schleichend.

Kulturveränderung braucht Zeit. Mindestens zehn Prozent jener Zeit, welche die alte Kultur Zeit gehabt hat, sich zu verfestigen. Und selbst das nur unter idealen Bedingungen. Das heißt, wenn die Führungskräfte ihre Linie halten, die Mitarbeiter gut vorbereitet sind und es eine externe Begleitung gibt, die den Prozess in verantwortlicher Weise betreut.

Meist braucht es länger, denn irgendwelche Störfaktoren treten immer auf. Es kann sogar 100% der Zeit brauchen, wenn die Zügel schleifen gelassen werden und der Prozess sich selbst überlassen bleibt.

Großorganismen werden durch das innere Summen der Teilorganismen bewegt. Jenseits der Größe einer Familie jedoch bilden sich Gruppen, so dass sich zwischen dem Großorganismus und dem Individuum noch die Gruppenebene einzieht.

Der Veränderungsprozess funktioniert dann von unten nach oben. Zuerst verändern sich die Individuen. Diese sind am schnellsten, aber auch am wankelmütigsten. Gemeinsam verändern sie die Kultur ihrer Gruppe. Diese gewinnt daraufhin ein eigenes Profil. Sie wird dadurch zu einem mittleren Organismus. Dieser ist träger, aber auch stabiler, als die Individuen. Sein Beharrungsvermögen lässt Konstanten entstehen, die den Individuen die Sicherheit der Gruppe schenken.

Jenseits dieser Gruppengröße – die maximal etwa die Größe einer Fußballmannschaft hat – kann es den Organismus der Abteilung geben. Dieser hat eine noch höhere Systempersistenz und ist deshalb noch träger, als der Organismus der Gruppe. Konstanten, die ein solcher Organismus entwickelt, bieten noch mehr Sicherheit, weil die Systempersistenz größer ist.

Allgemein lässt sich sagen, dass diese Systempersistenz mit der Größe und dem Alter des Organismus zunimmt. So bilden Kulturen größerer Unternehmen höchst komplexe Gebilde, die sehr unterschiedliche Kräfte entwickeln können, welche auch miteinander im Konflikt liegen können. Sei es aus irgendwelchen aktuellen Anlässen, oder aus strukturellen Gründen, wie dies typischerweise zwischen Vertrieb und Produktion der Fall ist.

Dadurch wird die Sicherheit, welche persistente Organismen entwickeln, auch gleich wieder gestört durch Prozesse innerhalb dieses Organismus. Alles Leben sehnt sich nach Ruhe und Stabilität und schafft gerade dadurch wieder Unruhe in diesem wechselwirkenden Prozess. Diese komplexe Wechselwirkung ist der Motor, der die Evolution antreibt.

Um Gruppen zielorientiert in Bewegung zu bringen ist es unerlässlich zu erkennen, wie sich soziale Organismen innerhalb von Großorganismen verhalten. Bei jeder Veränderung, möge sie nun durch äußere Einflüsse erzwungen werden, oder durch innere Meinungsfindung entstehen, durchlaufen Organismen einen musterhaften Prozess in drei Phasen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 330 Seiten

Details

Titel
Meisterhaft führen. Führungsenergie entwickeln – Gemeinsamkeit gestalten
Autor
Jahr
2012
Seiten
330
Katalognummer
V204747
ISBN (eBook)
9783656307754
ISBN (Buch)
9783656308188
Dateigröße
3879 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit beschäftigt sich grundlegend mit dem Thema Führung von Menschen in Organisationen. Anhand vieler Beispiele aus der Praxis stellt sie Fragen überraschend anders und eröffnet hochwirksame und bisher kaum berachtete Steuerungsmaßnahmen, mit dem Ziel, ein lebendiges und krisen-stabiles Miteinander zu bewirken.
Schlagworte
Führung, Mitarbeiter, Philosophie, angewandte Philosophie, Führungsverantwortung, Organisation, Organisationsentwicklung, Konflikt, Sinn, Vertrauen, Organisationskultur, Kultur, Chef, Erfolg, Geschichten, Narrativ, Story telling, Kommunikation, Selbstorganisation, Bessere Welt, Gehirn, Neurophysiologie, Motivation, Kooperation, Gemeinsamkeit, Ordnung, Chaos
Arbeit zitieren
Dr. phil. Michael Vogler (Autor:in), 2012, Meisterhaft führen. Führungsenergie entwickeln – Gemeinsamkeit gestalten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/204747

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Titel: Meisterhaft führen. Führungsenergie entwickeln – Gemeinsamkeit gestalten



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