Gefälschtes Abendlicht?

Die Inszenierung eines Täuschungsaktes am Beispiel Stephan Hermlins


Hausarbeit, 2012

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


1 Einleitung

Als Karl Corino im Oktober 1996 in der Zeitung „Die Zeit“ seinen Artikel DDR- Schriftsteller Stephan Hermlin hat seinen Lebensmythos erlogen. Dichtung in eigener Sache [1] veröffentlichte, ging ein Aufruhr durch die feuilletonistische Landschaft Deutschlands, der eine lange Debatte nach sich zog. Der Grund für diesen Disput war der in dem Bericht artikulierte Vorwurf, Hermlin habe mit Lügen seine Vita verfälscht. Vor allen Dingen sein Werk Abendlicht (1979), das von dem Großteil der Kritiker stets als Autobiographie gelesen wurde, basiere auf Unwahrheiten. Ein paar Monate nach Veröffentlichung des Beitrags erschien Corinos Buch Aussen (sic!) Marmor, innen Gips. Die Legenden des Stephan Hermlin [2]. In diesem geht er ausführlicher auf die bereits in seinem Artikel geäußerten Entdeckungen ein und entlarvt den Lebenslauf des Schriftstellers somit vollständig als Konstrukt.

Die Enthüllung hatte eine Debatte in den Feuilletons zur Folge, die sich alsbald zu einer politischen entwickelte. In der Auseinandersetzung wurden „(von den Hermlin-Freunden) die Biermann-Petition und (von den Gegnern) die Stalin­Gedichte gegeneinander aufgerechnet“ [3], das heißt, dass die Argumentation eher auf einer persönlichen als auf einer literarischen Ebene erfolgte. So setzten sich nur wenige Beiträge mit literaturwissenschaftlich interessanten Fragestellungen auseinander. [4]

Die vorliegende Arbeit holt das nach, was in der Diskussion weitestgehend nicht beachtet worden ist: Eine Untersuchung, ob der Fälschungsvorwurf Corinos hinsichtlich der Biographie Hermlins zutreffend ist. Hierfür muss das Buch zunächst gattungstheoretisch untersucht und bestimmt werden. Dies erfolgt unter Berücksichtigung Philippe Lejeunes' Theorie des autobiographischen Pakts [5]. In einem nächsten Schritt wird das Verhalten Hermlins auf eine Täuschungsintention hin analysiert und evaluiert.

2 Die Rezeption von Abendlicht

Karl Corino gibt bereits mit dem Titel seines Beitrags in der „Zeit“ DDR- Schriftsteller Stephan Hermlin hat seinen Lebensmythos erlogen. Dichtung in eigener Sache viel zu erkennen: Zum einen stellt er fest, dass Stephan Hermlin ein Schriftsteller ist, der in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik lebte. Zum anderen bringt er mit dem Wort „Mythos“ den Begriff der Verklärung ins Spiel als auch, dass es sich bei der der Lüge bezichtigten Person um eine mit hohen Ansehen und großer Bedeutung handelt. [6] Es folgt die Behauptung, Hermlin habe gelogen, also nicht der Wahrheit entsprechende Aussagen getätigt. Der Ausdruck „Dichtung“ lässt an etwas Gegenteiliges von Wahrheit denken und bekräftigt somit den Vorwurf der Lüge. Der Buchtitel Aussen Marmor, innen Gips verweist ebenso auf eine Täuschungsabsicht Hermlins: Er unterstellt dem Autor, im Inneren etwas anderes, Minderwertigeres zu sein, als nach Außen dargestellt.

Um von einer Täuschungsabsicht Hermlins auszugehen, muss zunächst angenommen werden, dass sein Werk Abendlicht [7] eine Autobiographie ist. Denn nur in einer solchen haben die in ihr getätigten Äußerungen referenziellen Charakter, das heißt, dass sie verifizier- oder falsifizierbar sind. Sie können also auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden. Damit das Hermlinsche Werk eine Fälschung darstellt, müssen weiterhin die Aussagen des Textes mit bereits vorliegenden Informationen über den Lebenslauf des Autors verglichen werden. Schließlich muss eine Divergenz zwischen den Angaben der Autobiographie und den historischen Quellen festgestellt werden. Corino ist wie oben beschrieben vorgegangen und hat eine solche Abweichung von der Wahrheit in der Darstellung Hermlins erkannt. Aufgrund dessen ist er davon ausgegangen, dass der Schriftsteller in Abendlicht lügt. Wenn Corino dieses Werk als Roman angesehen hätte, wäre der Vorwurf der Unaufrichtigkeit abwegig, denn bei einer Fiktion wird ein Sachverhalt ohne überprüfbare Referenz dargestellt, er kann also weder „wahr“ noch „falsch“ sein. [8]

Obschon der Großteil der Öffentlichkeit davon ausging, Abendlicht beinhalte die wahre Lebensgeschichte Hermlins, gab es bereits vor Corinos Aufdeckung gegensätzliche Meinungen. Kindlers Neues Literaturlexikon bezeichnet dieses Buch als „Prosaband“, in dem sich „im lyrischen Gestus gehaltene Texte“ befänden, mit denen der Autor „seinem Leben [...] nachdenk[e]“. [9] Das von Walther Killy herausgegebene Literaturlexikon verwendet gar den Begriff „Prosagedicht“ als auch die Behauptung, dass „der strenge Begriff der Autobiographie“ sich für Abendlicht „verbiete“ [10]. Es muss aber davon ausgegangen werden, dass die Mehrheit der Kritiker die Wahrheitstreue der sich in Abendlicht befindlichen Aussagen als gegeben annahm. Selbst Silvia Schlenstedt gibt in ihrer Biographie über Stephan Hermlin an:

„Abendlicht ist [...] ebensosehr und ebensowenig autobiografisch zu nennen wie die Lyrik: Mit dem Lebensmaterial wird künstlerisch gearbeitet, es wird von der Subjektivität transformiert, das Ich ist nicht derAutor, er macht es.“ [11]

Interessant an dieser Aussage ist, dass Schlenstedt Hermlin die Verarbeitung seiner eigenen Erfahrungen mithilfe der Literatur zwar attestiert, ihm jedoch auch Veränderungen „künstlerischer“ Art zugesteht. Hermlins Biographin geht davon aus, dass die von dem Schriftsteller verwandten Ich-Figuren seiner Werke fiktive seien. Diese Ich-Figuren seien ihrer Meinung nach zwar stark dem Lebenslauf des Literaten entlehnt, erfahren jedoch via künstlerischer Bearbeitung fiktiven Charakter. [12] Bemerkenswert ist, dass Schlenstedt zur Belegung biographischer Fakten Hermlins unter anderem auch fiktionale Werke heranzieht. [13]

Im Folgenden wird herausgestellt, ob Abendlicht dem Anspruch einer Autobiographie gerecht wird und dem Autor bei Falschaussagen in einer solchen eine Täuschungsabsicht unterstellt werden kann.

3 Gattungstheoretische Einordnung von Abendlicht

3.1 Definition des Begriffes „Autobiographie“

Das Wort „Autobiographie“ bedeutet zunächst, wörtlich genommen, eine Lebensbeschreibung, die jemand von sich selbst abgibt. [14] Nach Lejeune ist solch ein Werk eine [r]ückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt. (Hervorhebung im Original, S. 14.) [15]

Eine Autobiographie kennzeichnet sich demnach durch die Elemente sprachliche Form, behandeltes Thema, Situation des Schriftstellers und Position des Erzählers aus. In einer solchen thematisiert der Protagonist in einer rückblickenden Erzählung demzufolge sein eigenes Leben. Als Besonderheit dieser Gattung gilt die doppelte Identität, nämlich die des Autors mit dem Erzähler und die des Erzählers mit dem Protagonisten. Laut Lejeune ist jedes Werk, das alle Bedingungen in jeder Kategorie erfüllt, eine Autobiographie, wobei die doppelte Identität bedingungslos vorhanden sein muss (ebd.).

Auf Abendlicht [16] treffen fast alle dieser Eigenschaften zu: Es ist eine Prosaerzählung, in der mit einer rückblickenden Erzählperspektive das Leben einer Person dargestellt wird. In dem Buch taucht eine Ich-Figur auf, so dass davon ausgegangen werden kann, dass der Erzähler und der Protagonist identisch sind. [17] Lediglich die Bestimmung der Situation des Autors bereitet Schwierigkeiten und wird im Folgenden eindringlicher untersucht.

[...]


[1] Corino, Karl: DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin hat seinen Lebensmythos erlogen. Dichtung in eigener Sache. In: Die ZEIT 41 (04.10.1996).

[2] Corino, Karl: Aussen Marmor, innen Gips. Die Legenden des Stephan Hermlin. Düsseldorf 1996.

[3] Geißler, Cornelia und Koberg, Roland: Nüchterne Bilanz eines Falles: Hermlins Biographie muss neu geschrieben werden. Dichtung, Lügen und Geheimnisse. In: Berliner Zeitung vom 08.10.1996.

[4] Besonders Fritz J. Raddatz beleuchtet die Problematik unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Ihm gelingt es, seine persönliche Sympathie für den Schriftsteller außer Acht zu lassen und eine kritische Beurteilung vorzunehmen. Raddatz, Fritz J.: Der Mann ohne Goldhelm. Ein Nachwort zum Fall Stephan Hermlin. In: Die Zeit v. 18.10.1996. Auch Walther und Drawert beleuchten einige wissenschaftliche Fragestellungen: Walther, Peter: Dichterisch sehr frei. In: Die Tageszeitung v. 04.10.1996. / Drawert, Kurt: Die Maschine der Utopie und ihr Leerlauf. In: Neue Zürcher Zeitung v. 12.12.1996.

[5] Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt am Main 1994.

[6] Der Begriff Mythos hat viele umfangreiche Bedeutungen. Zum einen bezeichnet er die Erzählung von Göttern und Helden. Zum anderen ist der Ausdruck „das Resultat einer sich [...] vollziehenden Mythisierung im Sinne einer Verklärung von Personen, Sachen, Ereignissen oder Ideen zu einem Faszinosum von bildhaftem Symbolcharakter.“ In: Art. Mythos. Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 15. 19. Aufl., Mannheim 1991, S. 271.

[7] Hier wird im Folgenden auf eine konkrete Gattungsbezeichnung verzichtet und Abendlicht stets allgemein als Werk, Buch o.ä. bezeichnet.

[8] Art. „Fiktion“. In: Killy Literaturlexikon. Hrsg. v. Walther Killy. Bd. 13: Begriffe, Realien, Methoden, Hrsg. v. Volker Meid. Gütersloh / München 1992, S. 304.

[9] Art. Abendlicht zu Hermlin, Stephan. In: Kindlers Neues Literaturlexikon. Hrsg. v. Walter Jens. Bd. 7. München 1990, S. 747.

[10] Art. Abendlicht zu Hermlin, Stephan. In: Literaturlexikon. Hrsg. v. Walther Killy. Bd. 5. München 1990, S. 252.

[11] Schlenstedt, Silvia: Stephan Hermlin. Leben und Werk. Berlin 1985, S. 231.

[12] Diese Beschreibung von Schlenstedt lässt eher an den Begriff der Autofiktion, einer Mischung von Autobiographie und Fiktion, denken. Die Erforschung von Autofiktionen ist noch nicht weit fortgeschritten. Das in Berlin im Jahr 2009 von Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer herausgegebene Buch Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen der Literatur beschäftigt sich mit diesem Terminus unter verschiedenen Gesichtspunkten. Besonders der Artikel von Frank Zipfel, Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? ist in diesem Zusammenhang interessant.

[13] Vgl. Schlenstedt, Biographischer Teil und Fußnoten. Z. B. Fußnote 38 (S. 60), wo Schlenstedt aus dem sich in Abendlicht befindlichen Halbsatz „ [...] ich sah Aragon, dem ich alle paar Tage Informationen über die spanischen Flüchtllinge der Rue 4 Septembre brachte [...]“ als Hermlins „Hauptaktivität [...] die Unterstützung der kämpfenden spanischen Republik“ und die Arbeit im „Internationalen Spanienhilfskomitee“ (alle Zitate ebd, S. 60) herausliest. Auch andere literarische Werke Hermlins gelten als Stütze für Schlenstedts biographische „Fakten“.

[14] Die einzelnen Morpheme auto-bios-grapein bedeuten selbst - Leben - beschreiben. Art. Autobiographie. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 13, S. 58.

[15] Im Folgenden werden die Seitenzahlen der Zitate aus Lejeunes autobiographischen Pakt unmittelbar nach dem jeweiligen Zitat in Klammern angegeben. Zitatangaben zu anderen Werken befinden sich in Fußnoten.

[16] Für die Untersuchung wird die Quarthefte-Ausgabe des Verlags Klaus Wagenbach verwendet: Hermlin, Stephan: Abendlicht. 9.-15. Tausend. Berlin 1979.

[17] Natürlich gibt es auch Ich-Erzählungen, in denen der Erzähler und der Protagonist nicht identisch sind (homodiegetische Erzählsituation nach Genette, Gérard: Die Erzählung. München 1994, S. 175.). Dies ist hier allerdings nicht der Fall, das Ich erzählt eindeutig seine eigene Geschichte. In den Fällen, in denen Erzähler und Protagonist nicht deckungsgleich sind, handelt es sich im Übrigen nicht um eine Autobiographie, sondern um eine Biographie.

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Details

Titel
Gefälschtes Abendlicht?
Untertitel
Die Inszenierung eines Täuschungsaktes am Beispiel Stephan Hermlins
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Deutsche Literatur)
Veranstaltung
Plagiat, Fälschung, Inszenierung von Täuschungsakten
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
21
Katalognummer
V197611
ISBN (eBook)
9783656237242
ISBN (Buch)
9783656238447
Dateigröße
505 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stephan Hermlin, Rudolf Lederer, Täuschung, Lüge, Karl Corino, Außen Marmor innen Gips, Lebensmythos, Philippe Leujene, Autobiographie
Arbeit zitieren
Bachelor of Arts Julia Hans (Autor:in), 2012, Gefälschtes Abendlicht?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/197611

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