Zeit als Thema und Strukturgeber in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts


Examensarbeit, 2011

61 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Jetzt fängt alles an: Terézia Moras Alle Tage
Verlust des zeitlichen Zusammenhangs als strukturgebendes Prinzip
2.1. Eine andere Ordnung: Erfassen des zeitlichen Umfangs
2.2. Verfahren der Einführung neuer Figuren
2.3. Strukturgebende Verfahren in der Narration
2.4. Im Rausch, aber nicht der Zeit
2.5. Hypothese über den Erzähler auf Basis der Zeitstruktur
2.6. Anders als chronologisch erzählen

3. Familiengeschichte erzählen in Houwelandt
3.1. Gleichzeitigkeit und Fortschreiten
3.2. Rückblicke in die Vergangenheit
3.3. Gegenwart gegenüber der Vergangenheit

4. Zeit und das Entdecken der Langsamkeit
4.1. Von Kindheit bis Lebensende
4.2. Selektion in der Erzählung
4.3. Franklins Problem mit der Zeit
4.4. Im „Hier und Jetzt“: Gegenwart und Zeitverständnis

5. Resümee: Repräsentation von Zeit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In ihrer Einführung in die Erzähltheorie (2007: 9f) bestimmen Matias Martinez und Michael Scheffel den Begriff des Erzählens. So ist Erzählen in ihrem Sinne

eine Art von mündlicher oder schriftlicher Rede, in der jemand jemandem etwas besonderes mitteilt; [E]ine Rede [heißt] offenbar eine ‹Erzählung›, wenn diese Rede einen ihr zeitlich vorausliegenden Vorgang vergegenwärtigt, der als ‹Geschehnis› oder ‹Begebenheit› bestimmt werden kann.

Dies gilt unabhängig davon, ob die Erzählung fiktionaler oder faktualer Natur ist. Während es etliche identische Definitionen davon gibt, was eine Erzählung ausmacht, können die Ziele ebenso wie der Erzählanlass jeden Schriftstellers sich stark unterscheiden.

In der vorliegenden Arbeit werden drei Erzählungen untersucht, die jeweils die Biographie eines Charakters oder der verschiedenen Charaktere, von denen sie handeln, beleuchten und damit zwangsläufig zeitlich verankert sind. Dem Erzählen des linearen, zeitlich abgeschlossenen Menschenlebens als Kontext haftet eine Zeitdualität an, wie sie auch für andere Erzählungen gilt: so ist die Lebenszeit als erzählte Zeit (Zeit der Geschichte) (Genette 2010: 17) klar umrissen, insofern die äußeren Grenzen von Anfang und Ende der Geschichte sich von selbst ergeben und eine lineare Zeitfolge von beispielsweise Geburt bis Tod der Erzählung zu Grunde liegt. Andererseits bietet die Erzählzeit (Zeit der Erzählung) (ibid.) die Möglichkeit, in der Narration durch unterschiedliche Verfahren von der erzählten Zeit abzuweichen, sei dies durch Veränderung der zeitlichen Abfolge/Ordnung, der Dauer von Ereignissen oder durch andere Verfahren.

Johann Wolfgang von Goethe formulierte Anfang des 19. Jahrhunderts in der Einleitung zum ersten Teil seines Werkes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (2010)[1] die für ihn maßgebliche Hauptaufgabe einer Biographie, die darin bestünde,

den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt. Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, dass man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein. (Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Erich Trunz [Hrsg.], Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 9. Autobiographische Schriften I (HA9). München. 1998, zitiert in Alheit/Brandt 2006: 94)

Ferner ist es ein Anliegen Goethes, dass es in der Biographie „darum ginge, ‚die Lücken … auszufüllen‘“ (Flüh 2001: 35). Es liegt also auch ein reflektierender, interpretativer Bestandteil in der Biographie, insofern Erklärungen und Deutungen der eigenen Biographie erforderlich gemacht werden. In der Form, wie Goethe seinen Anspruch an die Biographie festlegt, wird die zeitliche Komponente der Narration eines Lebens umso deutlicher, indem die besondere Bedeutung des Kontextes oder der Lebenswelt des Individuums als eine Determinante bestimmt wird, welche den Menschen prägt und formt und letztendlich an seinem Entwicklungsprozess entscheidenden Anteil hat. Um diesen (wechselseitigen) Einfluss zwischen Individuum und Umwelt angemessen darstellen zu können, ist es nötig, den Charakter des Menschen als Inneres und alle Umweltfaktoren als Äußeres als verflochten zu betrachten (Gwosc 2001: 15-16), um damit die Kohärenz oder Kausalität bzw. den logischen Zusammenhang richtig herzustellen, indem der Prozess statt des Produktes und die Ursache statt der Wirkung erzählt wird (idem: 15), was genau diejenige Leistung ist, durch die Goethes Autobiographie sich gegenüber anderen als revolutionär erwies (idem: 21) und womit wiederum der Anspruch Lücken zu schließen (s.o.) genannt wäre. Erst durch das Bewältigen eines Lebens im Schreiben der Biographie, wodurch komplexe Zusammenhänge und Einflüsse hergestellt werden, kann davon die Rede sein, dass Lücken geschlossen werden. Als starker Gegensatz zur Biographie steht der tabellarische Lebenslauf, in dem bloße Eckdaten zeitlich eingeordnet wiedergegeben werden, ohne dabei nähere Auskunft über all das zu geben, was zwischen den Zeilen steht.

Ausgehend von diesen Überlegungen sollen die Romane Alle Tage (2004) von Terézia Mora, Die Entdeckung der Langsamkeit (1983) von Sten Nadolny und Houwelandt (2004) von John von Düffel dahingehend untersucht werden, wie einerseits im Hinblick auf die zeitliche Struktur erzählt wird und wie andererseits Zeit als Phänomen dargestellt wird und betrachtet wird. Alle drei Narrationen thematisieren Abschnitte aus der Biographie ihrer Figur(en).

2. Jetzt fängt alles an: Terézia Moras Alle Tage

In Terezia Moras Roman Alle Tage (2004; im Folgenden als AT abgekürzt) wird die Geschichte von Abel Nema erzählt, der von seiner Jugendliebe abgelehnt wird und im Angesicht des drohenden Jugoslawienkrieges sein Heimatland verlässt, um (vermutlich nach Deutschland [Hammer 2007: 80]) zu fliehen, mit dem Ziel der Einberufung zu entkommen. Ohne Papiere, weil es sein Land plötzlich nicht mehr gibt, beginnt für ihn eine Odyssee. Bei seinem ersten Halt auf der Flucht, einer ehemaligen Geliebten seines Vaters, der Abel Nema und dessen Mutter verließ, als Abel noch sehr jung war, kommt es zu einem Gasunfall, durch dessen Folgen Abel einerseits seinen Geschmackssinn verliert, an Schlaflosigkeit und Panikattacken leidet, andererseits die Fähigkeit, Sprachen zu höchster Perfektion zu erlernen, gewinnt.

Der Roman setzt mit einem expliziten Verweis ein, „Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Beschreiben wir beides wie folgt.“ (AT: 9). Damit wird klar die Gegenwart referiert, die den Ausgangspunkt für alles was folgt darstellen wird und die im Gegensatz zu Vergangenheit und Zukunft verstanden werden soll. So ist die Gegenwart jene Zeit, welche mehr oder weniger simultan mit der Zeit einer Äußerung kongruiert (Klein 2009b: 43), während die Vergangenheit der Gegenwart vorausgeht und die Zukunft nach der Gegenwart stattfindet (ibid.). Das genaue Ausmaß jenes jetzt, welches in Alle Tage festgelegt wird, ist dabei weniger von Belang – es wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit im Kapitel über Sten Nadolnys Erzählung eine genauere Untersuchung des Zeitverständnisses erfolgen. In Alle Tage werden dem Begriff des jetzt Grenzen durch den Erzähler gesetzt, der andere Abschnitte der Narration als vor dem jetzt befindlich oder als nach dem jetzt befindlich festlegt. Dies entspricht dem Grundgedanken, dass Zeiteinteilungen in Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit nur durch den Betrachter oder Wahrnehmenden erfolgen und für diesen bedeutungsvoll sind, weil der Betrachter ohne feste Maßstäbe bestimmt, wie lang die Gegenwart für ihn ist (Klein 2009b: 23-25). Der Betrachter im Roman ist dementsprechend weniger der Leser, dem die Erzählung vermittelt wird, sondern die Erzählinstanz, die in der gewählten Darstellungsweise eine Interpretation der Zeitlichkeit vornimmt und die Struktur der Erzählzeit vorgibt, während die erzählte Zeit immer einem Zeitstrahl von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft entlang verläuft. Der Leser rezipiert die ihm vorgegebene Zeiteinteilung.

Von diesem Moment des jetzt ausgehend, in welchem Abel Nema kopfüber von einem Klettergerüst baumelt – einem Samstag – nimmt die Erzählung ihren Ursprung, um mit der großen Frage ein Aufdecken des bis dato Geschehen zu beginnen: „Wie konnte es dazu kommen?“ (Fröhlich 2006[2] ). Um dies zu enthüllen, entfaltet die Erzählung die Vergangenheit, in welcher der Erzähler sich Ereignis für Ereignis und Beschreibung für Beschreibung in der Vergangenheit voran arbeitet, ohne dabei einem offensichtlichen „roten Faden“ typischer Erzählungen zu folgen, in denen kausallogische Schlüsse gezogen werden (siehe auch Hammer 2007: 91). Die Vorgehensweise, in welcher die Narration entfaltet wird, ist durchweg assoziativ. So schließt an die Beschreibung des jetzt, in dem sich der orientierungslose, bewusstlose Abel befindet, eine Erinnerungssequenz an, die mit der Frage nach dem letzten Treffen von Mercedes mit Abel eröffnet wird (AT: 10). Mercedes Antwort auf die Frage des Polizisten „Das war vor … Bei unserer Scheidung“ (ibid.) folgt ein neues Unterkapitel „Chöre“, das seinen Titel durch den Chorgesang, der für den Inhalt der Narration nebensächlich ist, bezieht. Dies sei nur ein weiterer Verweis auf die assoziative Struktur. Die Erinnerungssequenz schließt ohne Überleitung an das jetzt an, indem „einfach drauflos“ erzählt wird. Die Hinweise auf den Zusammenhang zum jetzt ergeben sich allein aus deiktischen Relata, welche eine zeitliche Relation zwischen dem Erinnerten und dem Origo, dem Moment des Erzählens oder auch der „time of utterance“ aus Sicht des Erzählers, herstellen (Klein 2009a: 32-35) und per Implikation Aufschluss über die Kohärenz zwischen jetzt und Erinnerung geben. Abels verspätetes Erscheinen zur Hochzeit mit Mercedes (AT: 10) wird rückblickend vom Origo aus von der Erzählinstanz anders bewertet: „Zur Scheidung am Montag vor …, kam er wieder zu spät, ich habe so was schon geahnt, […]“ (AT: 11) und „Es war also schon zu wissen, dass es auch diesmal nicht glatt gehen würde […].“ (ibid.) stellt eine radikale Raffung der Erfahrungen Mercedes mit Abel über deren vier Jahre dauernde Ehe dar, die durch das Erzähltempus im Perfekt („ich habe so was schon geahnt“) und Präteritum („Es war […] zu wissen“) innerhalb des jetzt situiert wird. Diese Spuren von Gegenwartsreferenz sollen sich immer wieder in der Erzählung finden lassen. Sie helfen, den Erzähler zu ermitteln, wie in diesem Fall, in dem sie die Erzählinstanz als Mercedes entlarven, also eine homodiegetisch-interne Fokalisierung (Scheffel/Martinez 2007: 64) vorliegt, indem die Erzählinstanz eine am Geschehen beteiligte Figur der Erzählung ist, deren Wissen über die Ereignisse völlig kongruent mit den der Figur möglichen Kenntnissen ist. Somit liegt hier im eigentlichen Sinne nicht einmal eine Anachronie zum jetzt vor, da alles das, was in „Chöre“ erinnert wird, aus der Gegenwart heraus geschieht, aber andererseits innerhalb der Erinnerung über den Scheidungstermin zur Hochzeit und wieder zur Scheidung gesprungen wird, um daraus eine Erfahrung zu bilden, die wie oben gesagt im Misstrauen Mercedes gegenüber Abel besteht und welche noch weiter reicht: Mercedes scheint zu vermuten, dass Abel ihr Fremdgeht („Sie roch Fremdheit an ihm“, AT: 10). Damit wird allein in „Chöre“ ein großer Teil des Konfliktpotentials angelegt, von dem aus die weitere Narration sich entwickelt, indem die rein-hypothetische Ellipse, die in den vielen Unbekannten besteht, welche in der Frage des „Wie konnte es dazu kommen“ (s.o.) angelegt ist. Die rein-hypothetische Ellipse besteht darin, dass der Leser nicht um die Summe der ausgesparten Zeit weiß, diese aber an einer späteren Stelle in der Narration in Form kompletiver Analepsen nachgeliefert wird (Genette 2010: S.66f). Es ist für ihn unmöglich abzuschätzen, welche Menge an Informationen aus der Vergangenheit relevant ist, um Abels Geschichte bis zum jetzt zu erzählen – so ist, auch wenn eine Lücke von vier Jahren explizit erkennbar ist, die Ellipse als solche weitestgehend unbestimmt, weil doch deutlich mehr als nur die vier Jahre der Ehe erzählt werden und ihren Beitrag zur Auflösung der o.g. Frage leisten.

Verlust des zeitlichen Zusammenhangs als strukturgebendes Prinzip

Wie im vorherigen Abschnitt angedeutet, ist die Narration in Alle Tage keine synthetische Erzählung, bei der Ereignisse gemäß ihrer natürlichen zeitlichen Reihenfolge erzählt werden, sondern eine analytische Erzählung, weil die Ereignisfolge der Erzählzeit von jener der erzählten Zeit abweicht. Fröhlich (2007: 70-71; 2006) konstatiert intertextuelle Anleihen von Alle Tage bei Ovids Metamorphose und Homers Odyssee in der Erzählstruktur und auch in hier nicht näher zu erwähnenden inhaltlichen Aspekten. Ähnlich diesen antiken Erzählungen ist in Alle Tage die Struktur, so Fröhlich (2007: 68), brüchig, mit Sprunghaftigkeit und Rissen, „als wäre der Raum aus der Zeit geraten“ (AT: 379). Erika Hammer (2007: 86f) beschäftigt sich näher mit dem Bezug zwischen der Odyssee und Alle Tage und stellt dabei fest, dass Alle Tage „nur als Persiflage dieses Musters gelesen werden [kann]“ (eadem: 86), da das „alte Schema […] nur als Negativfolie vorhangen“ (ibid.) ist. Während Odysseus Bezugspunkte wie Heimat und Familie kennt, gibt es in Alle Tage „nur Scheinehen, Scheinfamilien und Ersatzmütter oder –väter, Umzüge und keinen Bezugspunkt“ (eadem: 87), woraus es zu einer gesteigerten Labyrinthartigkeit der Erzählung kommt[3].

Es soll nun darum gehen, das kohärenzstiftende Verfahren hinter Alle Tage zu erfassen und in einem im Rahmen dieser Arbeit zulässigen Ausmaß die erzählte Zeit soweit zu rekonstruieren, dass die vorliegenden Brüche geschlossen werden. Darüber hinaus sollen über den Weg einer zeitlich orientierten Interpretation Rückschlüsse auf die Erzählinstanz gemacht werden.

Gloy (2006: 91) beschreibt die Erzählweise in der Odyssee als eine durch die Handlungslogik sich entfaltende Erzählung, in der Einzelhandlungen ohne Zusammenhang erzählt werden. Diese sogenannte präsentische Erzählweise stellt sie der neuen Geschichtsschreibung gegenüber, in der es üblich ist, dass Ereignisse „exakte Zeitstelle (Datum), […] Abstand zueinander (Dauer), sowie ihre Ordnung (nacheinander oder zugleich sein) erhalten" (ibid.). Dass ein derartiges Prinzip der präsentischen Erzählweise auch auf Alle Tage anwendbar ist, zeigt sich an verschiedenen Stellen. Beispielsweise wird sehr häufig auf genauere Zeitangaben, als kalendarische Relata, die eine Orientierung über den Verlauf von Abels Geschichte erlauben könnten, verzichtet, wie auch Orte verschwiegen werden. So wird selbst Abels Namensherkunft getilgt („Und Nema. So wie das Nichts? Nein, sagte Abel und errötete. […] Es ist ein …scher Name“, AT: 27). Zwar wird unter der Verwendung von relativen Zeitangaben erzählt, die es erlauben, die Ereignisse grob zueinander in Beziehung zu setzen, wie es mit der Erzählung über Abels bis dato ereignislose Kindheit getan wird: „Damals vor fünfzehn, zwanzig Jahren, lebten sie in einer kleinen Stadt in der Nähe dreier Grenzen.“ (AT: 24) oder „Nach (wie vielen?) Jahren fragte Thanos seinen Stammgast: Wo kommst du her? Darauf antwortete er endlich was.“ (AT: 258) sind weitere Beispiele für das programmatische unterschlagen genauerer Ortsangaben, während einzig die gegenwartsreferentielle Angabe im Bezug zum Origo („vor fünfzehn, zwanzig Jahren“) eine grobe Einordnung in den Erzählkontext erlaubt. Mehr Informationen über Zeit und Ort lassen sich dennoch beiläufigen Ereignissen abgewinnen, welche, als spielten sie keine Rolle, den erzählten Gesprächen der Figuren zu entnehmen sind. So ist der emotionalen Reaktion Andres in einer politischen Debatte abzulesen, dass alle Beteiligten als mutmaßlich Betroffene persönliches Interesse am Jugoslawienkonflikt haben. So bietet

Dusko T. –

Andre: Das Schwein …

– ist in elf von einunddreißig Anklagepunkten für schuldig befunden worden. (AT: 291)

einen Anhaltspunkt, der eine zeitliche Einordnung erlaubt. Das Gespräch der Gruppe ereignet sich am 7. Mai 1997, dem Tag an dem Dusko T. – Duško Tadić – verurteilt wurde:

On 7 May 1997, Dusko TADIC was found guilty of Crimes against humanity (on 6 counts) and of Violations of the laws or customs of war (on 5 counts). The Sentencing Judgment recalls that "the crimes consisted of killings, beatings, and forced transfer by Dusko TADIC as principal or as an accessory, as well as his participation in the attack on the town of Kozarac in opstina Prijedor, in north-western Bosnia". (ICTY 1997)

Anhand der gebotenen Informationen über den Kontext von Abels Flucht lässt sich auch der Zeitpunkt von Abels Abitur relativ genau datieren. Indem Abel nach seiner Abiturfeier seiner Familie offenbart, dass er „den Rest des Sommers auf Reisen sein“ (AT: 61) würde, wird im Zusammenhang mit der Information, dass Abel im Herbst flieht (AT: 30), weil Kämpfe in der Heimat ausbrechen, deutlich, dass Abel zu Beginn des Jugoslawienkriegs im Jahr 1991[4] etwa 18 oder 19 Jahre alt ist. Explizite (kalendarische) Angaben dieser Art werden jedoch nie gemacht.

Diese systematische Unklarheit im Umgang mit Orts- und Zeitangaben spiegelt die Orientierungslosigkeit der Protagonisten Abel („[er] fand sich damit ab, die meiste Zeit nicht mehr als eine Vorstellung davon zu haben, wo er sich gerade befand.“, AT: 159) und Mercedes wieder und projiziert diese auf den Leser. Mercedes, die „nach dem 'nie gesehenen', fremden Ehemann [sucht]“ (Müller-Dannhausen 2006: 199) und sich durch einen Irrgarten hindurch zu arbeiten versucht, reflektiert die Vergangenheit und Geschichte Abels, die sie zu ergründen versucht: „Was auch immer ich erfahre, ein Teil der Geschichte ist immer hinter der nächsten Ecke verborgen. Tolles Spiel. Oder mieses Spiel. Das weiß man noch nicht so richtig“ (AT: 303) und gibt damit gewissermaßen metafiktional Auskunft über die labyrinthartige Beschaffenheit des „gigantische[n] Ehemann-Puzzle[s]“ (AT: 302), dem sie sich mühsam von den Rändern her nähert, welches aus ihrer Sicht Abel und dessen Geschichte sind. Der Leser muss mit dem gleichen Labyrinth ringen, um der Erzählung einen Sinn zu geben, indem ihm, in gleicher Weise wie den Protagonisten, zeitliche und lokale Bezüge zum Geschehen weitestgehend unbekannt bleiben.

Parallelen zu einem Labyrinth lassen sich in der Konstruktion der Narration finden. So sind die Kapitel "0. Jetzt“ und "0. Ausgang" formal per Nummerierung identisch. Inhaltlich schließt sich die Erzählung hier durch das Kopfüberhängen Abels (AT:10) (vgl. Müller-Dannhausen 2006: 200-202).

Die ‘dazwischen’ liegende Vorgeschichte verläuft wie der Irrgarten durch ein Labyrinth nicht linear. Als zentrale ‘Wegkreuzungen’ und dadurch auch als zeitliche Orientierungspunkte für die Chronologie des Handlungsablaufs fungieren die beiden Ereignisse ‘Hochzeit’ und ‘Scheidungsversucht’, denen man sich immer wieder aus von einer anderen Richtung aus nähert und von denen man jedes Mal wieder in eine andere Richtung weggeht. Auf der Ebene der an einem bestimmten Punkt einsetzenden Gesamthandlung schreitet man in einer Jahren umfassenden ‘Zeitschleife’ die Vorgeschichte ab, bis man wieder an den erzählerischen Ausgangspunkt kommt und in der chronologischen Richtung weitergeht. (eadem: 200-201)

Im Rahmen der großen Zeitschleife befinden sich immer wieder kleinere, analeptische Zeitschleifen, die den Hintergrund zu bestimmten Episoden liefern.

2.1. Eine andere Ordnung: Erfassen des zeitlichen Umfangs

Die Narration vollzieht sich wie gesagt nicht in einer linearen Folge von A à B à … à Z sondern ist brüchig und analytisch. Die Spuren zwischen den vielen unterschiedlichen Episoden aus Abels Leben und den Leben derer, die mit ihm zusammenstoßen, durch welche die Narration zusammengehalten wird, sollen bei näherer Betrachtung Aufschluss über das Arrangement der Narration geben. Schließlich liegt mit Alle Tage eine besondere Biographie vor, die, so wie sie erzählt ist, in Unordnung geraten ist. Diese im chronologischen Sinne „unordentliche“ Biographie ist nicht selbstverständlich, sondern das Symptom der o.g. Orientierungslosigkeit der Protagonisten.

Für die Figuren neben und um Abel herum wird durch seine Fremdheit und das ihn umgebende Geheimnisvolle ein Sinngebungsprozess ausgelöst, im Verlauf dessen Abels Identität erfragt werden soll (Hammer 2007: 95). Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Abel Nema an jedem Tag im jetzt bewusstlos und wie eine Fledermaus am Klettergerüst hängt, anstatt sich um die Scheidung seiner Scheinehe zu kümmern (AT: 9-10), liefert den Anlass für den Sprung in die Vergangenheit. Diese Anachronie in Form eine Analepse reicht im Umfang bis zu Abels Kindheit, ungefähr 20 Jahre vor dem als Gegenwart beschriebenen Zeitpunkt des jetzt (AT: 24) und ist als große Pause (vgl. Scheffel/Martinez 2007: 44) in die Gegenwart eingesetzt, welche auf S.10 (AT) aussetzt und auf S.427 unvermittelt einsetzt, „als würde man einen gerade erst vor Stunden fallen gelassenen Faden wieder aufnehmen“ (AT: 333). Das, was sich in der Pause ereignet, in der das Geschehen der Gegenwart stillsteht, ist die in ihrer Gesamtheit scheinbar lineare Erzählung von Abels und Mercedes Vergangenheit, die durch immer neue Hintergründe ein Stück mehr erhellt wird. Damit, dass die Analepse innerhalb der o.g. Pause bis an die gegenwärtige Erzählung heranreicht, ist der Untersuchungsgegenstand eine gemischte Analepse (Genette 2010: 35f), deren Zweck es in diesem Fall ist, über frühere Ereignisse zu berichten, wodurch dieser gemischten Analepse ferner die Merkmale einer externen Analepse zuteil werden (idem: 28). Dass innerhalb der Pause / Analepse weitere Anachronien die Erzählfolge von Vergangenheit bis Gegenwart durchdringen, erfordert eine genaue Betrachtung der Logik, mit der beim Springen zwischen den Zeiträumen verfahren wird. Die Tatsache, dass Anachronien in Alle Tage vorliegen, wird zwar insgesamt in anderer Literatur zum Werk (vgl. Müller-Dannhausen, 2006) angedeutet und umrissen, aber nicht detailliert aufgeschlüsselt.

Die unterschiedlichen Zeitebenen werden ganz exakt aneinandergelegt, indem die in ihrer Reichweite sehr nahen Vorgeschichten von Abels Wochenende, bei dem er seine Papiere verliert und sich an seinem Fuß verletzt, und Mercedes Wochenende, eingeworfen als Tagtraum (AT: bis 45), mit dem Verlassen des Gerichtssaals nur wenige Tage vor dem Angriff der Jugendbande (AT: 49) beschlossen werden. Durch die wortwörtliche Rekurrenz „Sie verließen des Gebäude gemeinsam“ zur vorläufigen Pause hin (ibid.) und zum Beginn der Fortsetzung jener Erzählung der nahen Vergangenheit (AT: 333) ist durch die zeitliche Logik und die möglicherweise implizite Poetik hinter diesem Kohärenzfaden, zu erzählen, „als würde man einen gerade erst vor Stunden fallen gelassenen Faden wieder aufnehmen“ (ibid.), eine Rahmung gegeben, an welche die Inhalte der Pause anknüpfen (siehe Abbildung 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Rückblick in die Vergangenheit

In ihrer Reichweite vor den Ereignissen der nahen Vergangenheit liegen die Episoden aus Abels Kindheit, als sein Vater die Familie verlässt, und sein Abitur, als er feststellt, dass er von Ilja, dem Menschen, den er liebt, hintergangen worden ist. Diese Ereignisse werden über das in der o.g. nahen Vergangenheit liegende Telefonat mit der Mutter Mira (AT: 22) in eine kohärente Beziehung zur Erzählung gesetzt werden. Dann, unvermittelt mit dem Beginn der Pause, fügt sich die Hintergrundgeschichte zur genauen Nacht von Abels Abitur an die Ereignisse aus Abels vergangener Jugend und Kindheit an: Dieser Abschnitt soll Auskunft darüber geben, weshalb Abel seine Heimat mit dem Ziel zu reisen verlässt, um sich der Ausgangsfrage, welche die gesamte Erzählung zu begründen scheint, anzunähern. Es ist, und dessen Ausmaß wird sich der Leser erst auf S.342 (AT) vollständig bewusst, die Suche nach Ilia, – „Verschwunden, sieben Jahre später, nach Verlassen einer Abiturfeier […]: Ilia B.. Abel wartete […] dass er oder jemand sich meldete, aber nichts geschah. […] Schließlich ging auch Abel.“ auf S.65 deutet es an – die bis kurz vor Ende der Pause einen großen Einfluss auf Abels weiteres Handeln ausübt („Ich schätze, nun kann ich wirklich aufhören, dich zu suchen.“) und es ist Ilias Präsenz, die Abel so sehr fehlt, dass er eine Panikattacke erleidet (AT: 57).

Dies ist also die erste Episode aus Abels Vergangenheit (AT: 53-61), an die ein analeptischer Einschub anschließt (AT: 61-65), der Abels Weg zu Bora plausibel erscheinen lässt, insofern Abel den letzten Spuren seines Vaters Andor zu folgen scheint. Dieses ist eine partielle Analepse, denn

[bei] partiellen Analepsen [endet d]ie analeptische Erzählung [...] einfach mit einer Ellipse, und die Basiserzählung macht da weiter, wo sie aufgehört hatte, sei es implizit als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben [...] oder explizit, in dem die Unterbrechung eigens vermerkt wird und [...] die explikative Funktion noch einmal betont wird. (Genette 2010: 37)

Diese folglich implizite, weil sie nicht in der Narration vermerkt wird, partielle Analepse dient als „roter Faden“, sodass die anschließende Erzählung über Abels kurzen Besuch bei Bora mit dem folgenschweren Gasunfall und dem Hinweis der Mutter, er solle vor dem Krieg flehen (AT: 65-74), sinnvoll anschließt. Es setzt nach der kurzen Darstellung über die Suche nach Abels Vater jene Pause ein.

2.2. Verfahren der Einführung neuer Figuren

Ein gemeinsames Strukturprinzip liegt jeweils solchen Textpassagen zu Grunde, in denen Figuren eingeführt werden, die in Abels Leben eine größere Rolle eingenommen haben, die er aber in der Vergangenheit kennengelernt hatte. Es wird, um die Figuren einzuführen, ein Sprung in der Zeit vorgenommen, der den Leser zu einem Punkt führt, der bereits bekannt ist, aber von dem der Leser bisher nicht wusste, dass neue Charaktere in Abels Leben treten. Die Charaktere, deren Bekanntschaft zu Abel sich nicht zeitlich linear anknüpfen lässt wie die zu Tibor, zu dem Abel in Folge des Telefonats mit seiner Mutter reist (AT: 74f) werden anders als über den regulär linearen Handlungsablauf eingeführt. Abel reist im Anschluss an den Besuch bei Bora nach B., um Tibor aufzusuchen, der ihm weiterhelfen soll, dort Fuß zu fassen, weil sie eine gemeinsame Herkunft teilen. Darin steckt eine einfache Kausalität, die zufällig deckungsgleich mit dem linearen zeitlichen Ablauf der Ereignisse ist. Gleiches gilt für das Auftreten von Danko und dessen Bande im Leben Abels (AT: 182ff), der sich zeitlich wie auch unabhängig von einer rein zeitlichen Logik in die Narration einfügt und darum gewissermaßen in die Erzählung eingebettet erscheint.

Demgegenüber werden andere Figuren, die Abel zu einem früheren Zeitpunkt kennenlernt, nicht entsprechend ihres zeitlichen Auftretens in der Narration bekannt gemacht, sondern treten erst dann in Erscheinung, wenn es im Sinne der Kausalität oder der außer-zeitlichen Kohärenz Sinn ergibt, sie zu erwähnen. Die Präsenz der Charaktere ist für die Erzählinstanz aus zeitlicher Sicht nicht bedeutsam, sondern nur in der Art, wie sie die Ereignisse beeinflussen. Dies lässt sich bei Konstantin, Kinga und ihrer Gruppe nachweisen: Konstantin ist zeitlich eigentlich schon in der nahen Vergangenheit ein Bestandteil der Narration, wird aber erst näher erwähnt, als dessen Handlungen bedeutsam für den Werdegang Abels werden. Die Kohärenz zwischen den im Roman unterschiedlich platzierten Textstellen entsteht über die auffallend identische Semantik und damit einhergehende Analogie von „Sie verließen das Gebäude gemeinsam“ (AT: 49) und „Sie kamen gemeinsam aus dem Gerichtsgebäude“ (AT: 79), woran bei letzterem Abschnitt nun Konstantins Einführung anschließt. Es ist möglicherweise auch er – als Indiz dienen dessen finanzielle Probleme (AT: 335) – der als Erzählinstanz fungiert, da er sich als einer der „Penner am Südende“ identifiziert, „die den ganzen Sommer hier sind“ (AT: 79), was durch die Wahl der kollektivierenden Personalpronomina „Wir sammeln uns für einen Moment“ (ibid.) angezeigt wird. Ebenso funktioniert die Einführung von Kinga und ihren Freunden über eine Analogie (vgl. „Ich fuhr alleine los, bummelte mit Unbekannten durch unbekannte Provinzen.“, AT: 134 und „Er nahm den Zug. Bummelte mit Unbekannten durch unbekannte Provinzen.“, AT: 65), durch die gleichermaßen Kohärenz zwischen den in erzählter Zeit gleichzeitigen Ereignissen und den davon zeitlich entfernten Ereignissen (Silvester etwa vier Jahre später, AT: 133ff), die an die Einführung anschließen, hergestellt wird. Die Charaktere und die an unterschiedlicher Stelle erzählten identischen Szenen werden hier durch eine identische Situationszeit (Klein 2009b: 46) in offensichtliche Beziehung zueinander gesetzt.

Während die Einführung im Fall Konstantins im Bezug zur erzählten Zeit eine Prolepse darstellt, insofern von dem Zeitpunkt, an dem man sich in der Narration befindet, als Abel mit etwa 19 Jahren in B. ankommt, zurück in die nahe Vergangenheit gesprungen wird, handelt es sich bei der Einführung der Umstände des Kennenlernens von Kinga um eine kompletive Analepse. Der Hintergrund ihres Kennenlernens liegt etwa vier Jahre vor jenem Silvesterabend (s.o.), an dem Abel bei Kinga in ihrer Wohnung „Kingania“ einzieht. Näheres erfährt der Leser in einer weiteren kompletiven Analepse, die als Erklärung zu Jandas Frage „[w]as […] das für ein Typ“ sei (AT: 139) anschließt und in ihrer Reichweite „etwas mehr als ein Jahr“ (ibid.) vom Silvesterabend zurück liegt, was durch das o.g. deiktische Relatum (vgl. Klein 2009a: 32-35) expliziert wird. Eine Interferenz der Erzählinstanz schließt extradiegetisch und nullfokalisiert (Scheffel/Martinez 2007: 64, 81) jeweils die Anachronie ab, indem explizit das Ende der Episode, wie sich Abel und eine weitere Figur kennenlernen, durch „So hatte Abel Kinga wieder getroffen.“ (AT: 141) oder „So lernte Abel Konstantin T. kennen.“ AT: 95) angezeigt wird. Gleichzeitig stellt dies eine Referenz zum Erzählmoment dar, von welchem aus retrospektiv die gesamte Narration aus erfolgt.

Daran, dass die Figuren in Alle Tage immer darüber eingeführt werden, dass nähere Kenntnisse über sie durch die Handlungslogik bedingt werden, während die rein zeitliche Sukzession, in der Abel auf die anderen Charaktere trifft, nur sekundäre Bedeutung hat, lässt sich erkennen, dass eine andere als die zeitliche Kohärenz für die Erzählstruktur verantwortlich ist. Figuren werden vor allem dann eingeführt, wenn sie inhaltlich bedeutsam werden. Ob sie in Abels Biographie früher oder später als andere Figuren „auftauchen“, ist weniger relevant.

2.3. Strukturgebende Verfahren in der Narration

Die Vorgeschichte in Alle Tage, wie Abel dazu kommt, Mercedes zu heiraten, wieso die beiden sich scheiden lassen und wie Abel an das Klettergerüst gekommen ist, wird dann auf den Seiten 51 bis 426 erzählt. Um im Folgenden den Zweck der Analepsen zu bestimmen, wird die chronologische Abfolge der Ereignisse innerhalb der Pause von Abels Ankunft in B. bis zum Ende am Klettergerüst kurz skizziert: Eine grundlegende zeitliche Abfolge der vergangenen Ereignisse, wie sie auch in der Erzählzeit ohne Anachronie berichtet werden, ist Abels Ankunft in Berlin und sein Einzug bei Konstantin in die Wohngemeinschaft samt vierjähriger Studienzeit. Mit der Razzia der Polizei verlässt Abel die Wohngemeinschaft und zieht bei Kinga ein und beendet sein Studium. Er beschließt, eine Dissertation zu schreiben und zieht als Untermieter in das Gebäude einer Fleischerei. Im weiteren Verlauf gerät er an Danko, das Mitglied einer Jugendbande, und kommt ihm nahe. Der Junge stiehlt Abels Laptop mit der Doktorarbeit und ist danach unauffindbar, weshalb die Jugendbande Abel überfällt. Dies ist der Grund, weshalb Abel sich an Kinga wendet und als Fahrer mit der Band auf Tournee geht, um vorerst aus der Stadt heraus zu sein. Nachdem auf der Tournee ein Mann die Band provoziert und es zum Mord kommt, verlässt Abel die Gruppe und reist auf eigene Faust nach B. zurück, wo er in eine Wohnung in der Nähe seines Lieblingsnachtclubs „Klapsmühle“ einzieht. Abel trifft Mercedes wieder und beide kommen sich näher und heiraten, in erster Linie als Scheinehe, damit Abel eine Aufenthaltsgenehmigung erhält. Mercedes ertappt Abel in seiner Wohnung mit einem nackten Jungen und fordert daher die Scheidung. Weil Abel in einer Nacht vor dem Scheidungstermin seine Papiere verliert und sich neue beschaffen muss, verzögert sich die Scheidung. Abel trifft die Schwester seines Nachbarn, des Physikers Halldor Rose, und nimmt im Anschluss eine hohe Dosis starker Drogen zu sich, was dazu führt, dass er eine unbestimmte Zeit im Rausch verbringt und eine Art Epiphanie, oder allgemeiner eine Halluzination, hat. Der Drogenrausch bewirkt, dass Abel seine Sprachbegabung verliert, aber sich all seine Sinne normalisieren – er kann riechen und schmecken, sein Gehör ist nicht länger hypersensibel. Im Anschluss daran will er die Papiere für die Scheidung besorgen, aber bevor es dazu kommt, trifft Abel erneut auf die Jugendbande, die ihn für Dankos verschwinden verantwortlich macht, wird von ihnen überfallen, zusammengeschlagen und am Klettergerüst aufgeknüpft.

Über diese gesamte Erzählung hinweg sind Analepsen vorzufinden, die in ihrem Zweck immer kompletiv sind. Sie liegen in ihrer Reichweite innerhalb der Erzählzeit, von Abels Jungend bis hin zu dem Moment, an dem er am Klettergerüst aufgefunden wird. Inwieweit die Anachronie in Zusammenhang mit der Einführung neuer Figuren steht, wurde oben bereits geklärt. Darüber hinaus dient die Anachronie noch einem anderen Zweck, dem die Charaktereinführung der o.g. Fälle subsumiert werden kann, was an einigen Beispielen dargestellt werden soll.

So setzt Abel Nemas weitere Vergangenheit auf S.85 (AT) ein, nachdem Konstantin als Figur aus Abels naher Vergangenheit eingeführt wird. Die Erzählung verläuft grundsätzlich linear weiter, indem im Anschluss an seine Flucht vor dem Militärdienst Abels Ankunft in der fremden Stadt und seine Studienzeit im Kapitel II. „Der Besucher – Hysterie, Lamento “ erzählt werden. Dabei wird singulär erzählt, wie Abel und Konstantin sich zu Anfang ihrer gemeinsamen Zeit in der Wohngemeinschaft unterhalten und wird Pal erwähnt; gleichermaßen wird auch alles singulär erzählt, was Abels Art sich einzuleben betrifft (AT: 98-100). Anders ist dies mit den weiteren vier Studienjahren Abels (AT: 100), die nur in einer iterativen Raffung erzählt werden, welche einen generellen Eindruck des Lebens mit Abel in der Wohngemeinschaft in Zügen durch Konstantins Perspektive vermittelt, indem er häufig in seiner Ausdrucksweise in kursiv zitiert wird („ Unser fiktiver Mitbewohner schien kein Interesse an irgend etwas zu haben“, AT: 100 oder „Man weiß einfach nicht, was sie sind!“, AT: 103), wobei auch der Mitbewohner Pal zitiert wird, um ein Bild der Atmosphäre in der Wohngemeinschaft zu zeichnen: „[Konstantin] [s]tand am nicht zu öffnenden Fenster, Gesicht zur Bahn, und lamentierte (Kursive: Pal) stundenlang – über einfach alles. […] Dieses Jahrhundert, das uns hierher getragen hat! “ (AT: 102). Der Hinweis, dass diese kursiv gesetzten Phrasen wortwörtlich von Pal stammen, ist exakt so in der Narration zu finden. Faktisch trifft der Leser in der Narration den Erzähler an, der diese iterative Raffung expliziert und mit den Worten „Das waren die ersten Jahre.“ (AT: 104) beschließt.

Bemerkenswert sind nun in die Analepsen, die immer wieder in der linear erzählten Pause (s.o.) eingestreut sind. Die Pause zwischen dem jetzt soll als linearer Rahmen erachtet werden, wie entsprechend die Ereignisse in der Erzählzeit der Pause auch linear aufeinander folgen. Innerhalb dieser Pause sind Analepsen zu finden, wie jene auf S.121-122 (AT), die dazu dient, eine auf Abels Erfahrung aus seiner Jugend basierende negative, misstrauensvolle Assoziation zur Polizei zu entwickeln, die sich an die Festnahme der Bewohner in Folge Ekas Besuchs anschließt. Der Leser erfährt dabei über einen Hintergrund des Misstrauens, das eine mögliche Gemeinsamkeit der „Exilanten“ darstellt, die vor dem Jugoslawienkonflikt geflohen sind und die keine positive Einstellung den Behörden gegenüber entwickelt haben.

Es folgen mehrere Ellipsen. Sie schildern die Hintergründe, wie Tibor dazu kommt, Abel aus der Haft auszulösen (AT: 123ff), dessen Fahrt zu Abel (AT: 127f), Abels Auslösung selbst (AT: 128) und ein letzter Zeitsprung, der die Fahrt zurück zur Wohngemeinschaft ausspart und zeigt, dass Abel die Bastille für immer verlässt (AT: 128-129). Die Struktur aufzuzeigen soll folgende Abbildung 2 behilflich sein:

[...]


[1] Als Grundlage dient die frei verfügbare E-Book-Version (Kindle-Edition), welche technisch bedingt keine Seitenzahlen aufweist. Daher der Verweis auf eine andere Quelle, welche die Zitate ebenfalls belegt und eine paginierte Edition von Goethes Werk zitiert.

[2] Es handelt sich um einen nur online verfügbaren Artikel. Daher sind keine Seitenangaben verfügbar.

[3] Die Heimatlosigkeit sei hier ein Argument unter anderen, daneben gelten Abels Stummheit und die Unbestimmtheit seiner Identität durch ihn selbst als Faktoren (vgl. dazu Hammer 2007: 88, 94ff).

[4] Für einen Abriss der Geschichte des Jugoslawienkonflikts: http://www.icty.org/sid/322 (zuletzt geprüft am: 25.08.2011)

Ende der Leseprobe aus 61 Seiten

Details

Titel
Zeit als Thema und Strukturgeber in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
1,1
Autor
Jahr
2011
Seiten
61
Katalognummer
V192512
ISBN (eBook)
9783656175797
ISBN (Buch)
9783656176022
Dateigröße
2694 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Literaturwissenschaft, Gegenwartsliteratur, Zeit in der Literatur
Arbeit zitieren
Alexander Hein (Autor:in), 2011, Zeit als Thema und Strukturgeber in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192512

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