"La idea de convivencia no es tolerar, sino compartir"

Diskursanalytische Studie zum Selbstbild der Mapuche und ihrem Bild von der chilenischen Gesellschaft


Magisterarbeit, 2008

127 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Danksagung

2 Einleitung

3 Die Mapuche in Chile
3.1 Die Mapuche in historischer Zeit
3.2 Die Vergabe von Land an die Mapuche
3.3 Die Mapuche unter Allende und Pinochet
3.4 Der Übergang zu demokratischen Verhältnissen in Chile
3.5 Das geltende Ley Ind í gena
3.6 Die Mapuche zur Regierungszeit der Concertaci ó n
3.7 Die Umfrage des CEP von

4 Theorie und Methode
4.1 Leontjew
4.2 Jürgen Link
4.3 Jägers Terminologie
4.4 Van Dijk
4.5 Jägers Diskurstheorie als Grundlage für diese Arbeit
4.6 Diskursanalyse
4.7 Die konkrete methodische Vorgehensweise in dieser Arbeit

5 Analyse der Texte aus den Jahren 1986 und ‘
5.1 Feinanalysen
5.1.1 Öffentliche Erklärung von christlichen Mapuche-Priestern aus Chile und Argentinien
5.1.2 Programm einer sozialistisch orientierten Mapuche-Organisation
5.1.3 Zusammenfassung

6 Analyse der Texte aus den Jahren 1992 und ‘
6.1 Feinanalysen
6.1.1 Interview mit dem ehemaligen Leiter des Consejo de Todas las Tierras
6.1.2 Zwei Texte zur Frage „Was bedeutet die 500-Jahrfeier für Sie?“
6.1.3 Zusammenfassung

7 Analyse der Texte aus dem Jahr
7.1 Feinanalysen
7.1.1 Auszüge aus dem Interview mit Adolfo Millabur, dem Bürgermeister der Stadt Tirúa
7.1.2 Bericht über gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Mapuche Gemeinschaften und einer Fortwirtschaftsfirma
7.1.3 Auszüge aus einem Interview mit den Leitern der Coordinadora Arauco-Malleco
7.1.4 Zusammenfassung

8 Analyse der Texte aus dem Jahr
8.1 Feinanalysen
8.1.1 Liedtext über den Konflikt zwischen Mapuche, Staat und Unternehmern
8.1.2 Brief eines Mapuche aus dem Gefängnis
8.1.3 Auszug aus dem Kommentar zu einer Rede der Präsidentin
8.1.4 Foto eines Graffiti am Rande der Universidad de la Frontera in Temuco
8.1.5 Foto eines Graffiti in Cañete
8.1.6 Foto eines Transparentes auf einer Mapuche-Protestveranstaltung in Santiago
8.1.7 Interview mit Juan Viluñir Garrido
8.1.8 Interview mit Isabel Huaiquillán
8.1.9 Interview mit Irene Hueche
8.1.10 Zusammenfassung

9 Schlussbemerkung

10 Verzeichnis der Abbildungen, Karten und Fotos

11 Bibliographie
11.1 Primärliteratur
11.2 Selbst erhobenes Material
11.3 Sekundärliteratur

1 Danksagung

Die Bearbeitung des Themas dieser Magisterhausarbeit hatte einen längeren Forschungsaufenthalt in Chile notwendig gemacht. Die Reise nach Chile wurde mir von der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe- Universität Frankfurt am Main e.V. ermöglicht. Ihr sei daher an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. Ohne ihre Unterstützung hätte ich mich unmöglich nach Chile begeben können, um dort von August 2007 bis Januar 2008 zu forschen. Frau PD Dr. Iris Gareis möchte ich ebenfalls sehr herzlich danken, da sie als Betreuerin für diese Arbeit die Befürwortung des Antrags verfasst hatte, die der Gewährung des Reisekosten-zuschusses vorausging. Zudem war es in einer ihrer Lehr- veranstaltungen, in der ich mich am Ende des Grundstudiums zum ersten Mal in Form eines Referats näher mit der Kultur der Mapuche beschäftigen konnte.

Des Weiteren möchte ich meinem Freund Daniel Flores Cáceres für den Ver- weis auf die Umfrage des Centro de Estudios P ú blicos mit dem Titel „Los mapuche rurales y urbanos hoy“ sowie für weitere interessante Literaturhinweise danken.

Meiner Schwester Elisabeth Scholz möchte ich auch herzlich danken. Sie erstellte die Karte auf Seite 6 dieser Arbeit nach meinen Vorgaben, da keine adäquate Karte des „Kleinen Süden“ Chiles mit nicht mehr und nicht weniger als den für diese Arbeit wichtigen Angaben zu bekommen war.

Für das Lesen eines beachtlichen Teils des Manuskripts und für Kommentare danke ich Frau Annette Schroedl M.A.

2 Einleitung

Der spanischsprachige Satz im Titel dieser Magisterhausarbeit stammt von dem Mapuche-Dichter Leonel Lienlaf, der ihn in einer Diskussionsrunde mit dem Thema „Plurilingüismo y sociedad abierta“ an der Universidad de Chile am 11.07.2005 im Rahmen einer Veranstaltungsreihe mit dem Institut Ramon Llull sagte.1 Der zitierte Satz beschreibt keineswegs das Thema dieser Arbeit. Lienlaf hatte ihn gesagt, um zu beschreiben, wodurch das Zusammenleben zwischen Chilenen und Mapuche seiner Meinung nach charakterisiert sein sollte. Der Satz fand seinen Platz im Titel dieser Arbeit, weil er meiner Ansicht nach sehr schön ist und immerhin eine der vielen Stimmen von Seiten der Mapuche repräsentiert.

Thema dieser Arbeit ist hingegen das Selbstbild der Mapuche-Indianer und ihr Bild von der chilenischen Gesellschaft. Es geht darum, die Entwicklung dieser präziser auch Auto- und Heterostereotypen genannten Bilder der Mapuche seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart zu erörtern.

In diesem Zeitraum hat es in Chile viele Veränderungen gegeben, die auch für die Mapuche von Bedeutung waren. Während es zur Zeit der Diktatur unter Pinochet laut einem Minister keine Ureinwohner gab - alle seien Chilenen -, verabschiedete der chilenische Staat 1993 ein Indianergesetz. Doch stellt sich natürlich die Frage, ob sich dadurch tatsächlich positive Veränderungen für die Mapuche ergeben haben. Etwas scheint sich getan zu haben, wird doch mittels neuer Begriffe versucht ein Phänomen zu fassen, das in den 90er Jahren begann: Bengoa sieht eine „Reethni- fizierung“ (Bengoa 2000), Foerster eine „ethnonationale Bewegung“ (Foerster 1999) und Catrileo zudem eine auf der Reethnifizierung beruhende „Revitalisierung“ der Sprache der Mapuche (Catrileo 2005). Das könnte für eine gestärkte Identität der Mapuche sprechen, die jedoch nach meiner These im Hinblick auf die Gesamtheit der Mapuche nicht besonders einheitlich sein kann, denn sie treten der chilenischen Gesellschaft auf sehr unterschiedliche Art und Weise gegenüber. Ein Extrem bilden sicherlich die Mapuche, die sich gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei, mit Forstwirtschaftsfirmen und Großgrundbesitzern liefern und die nun zum Teil nach der Anwendung eines Antiterrorgesetzes, das aus der Zeit der Diktatur stammt, langjährige Gefängnisstrafen verbüßen (Human Rights Watch 2004); ein anderes Extrem liegt sicherlich in den Mapuche-Gemeinschaften, die ihre Kultur als Erlebnis für Touristen anbieten, so wie es zahlreiche Gemeinschaften am Lago Budi tun (Naturaleza y Cultura Ancestral en El Lago Budi 2007).

Zur Bearbeitung des hier beschriebenen Themas wurde zunächst ein Kapitel über die Mapuche, ihre Geschichte und vor allem über ihr gegenwärtiges Dasein als Teil der chilenischen Gesellschaft verfasst, damit klar ist, vor welchem Hintergrund sich Mapuche und Chilenen heute begegnen. Das folgende Kapitel beschreibt die Theorie, die für die Erörterung des Auto- und des Heterostereotyps der Mapuche zugrundegelegt wurde. Dabei handelt es sich um die Diskurstheorie Siegfried Jägers. Auch die methodische Vorgehensweise, die hier angewendet wurde, geht haupt- sächlich auf seine Diskursanalyse zurück. Der sich anschließende analytische Teil dieser Arbeit ist in vier Kapitel unterteilt, da der Diskurs der Mapuche - entspre- chend einer Empfehlung Jägers - zu bestimmten Zeitpunkten in seiner thematischen Breite untersucht wurde. Letztlich wurden Texte aus den Jahren 1986/87, 1992/93, 1999 sowie 2007 analysiert. Das letzte Kapitel beinhaltet die Zusammenfassung der Ergebnisse und ihre Interpretation.

Die Zusammenstellung der Primärtexte wurde bei einem Forschungsaufenthalt in Chile während der zweiten Hälfte des Jahres 2007 durchgeführt. Diese Tätigkeit des Zusammenstellens war dadurch gekennzeichnet, dass für die Jahre 1986/87 und 1992/93 nur sehr wenig Texte zu finden waren. Letztlich wurden für die Mitte der 80er Jahre nur Texte aus der damals existierenden Zeitschrift N ü tram berücksichtigt. Für den Anfang der 90er Jahre konnte immerhin zusätzlich auf die Zeitung Auki ñ des Consejo de Todas las Tierras, einer politisch aktiven Mapuche-Organisation, zurück- gegriffen werden. Demgegenüber gab es für die Jahre 1999 und 2007 sehr viele Texte, da das Internet seit Ende der 1990er Jahre eben auch der Archi-vierung von Texten dient, die von Mapuche stammen oder über sie verfasst wurden.

Zur Eingrenzung der Menge an Primärtexten auf eine Anzahl, die sich im Rah- men dieser Magisterhausarbeit bearbeiten ließ, wurden ausschließlich Texte berück- sichtigt, die sowohl die Mapuche als auch die chilenische Gesellschaft thematisier- ten. Da auch diese Textmenge noch zu groß gewesen wäre, habe ich letztlich eine recht heterogene Textsammlung zusammengestellt, um so verschiedene Stimmen und verschiedene Textsorten präsentieren zu können. Um diese Textsammlung zu erwei- tern, habe ich außerdem Fotos von Graffiti mit politischen Äußerungen sowie von den Transparenten einer Mapuche-Protestveranstaltung gemacht und 4 Interviews mit unterschiedlichen Informanten geführt.

Die untersuchten Primärtexte lagen allesamt in spanischer Sprache vor, was darauf zurückzuführen ist, dass ein Großteil der Leute, die sich als Mapuche identifizieren, das Mapudungun gar nicht mehr beherrschen.2 Um alle Mapuche zu erreichen, ist es daher notwendig, zu publizierende Texte auf Spanisch zu verfassen. Die Texte enthalten jedoch hin wieder bestimmte Wörter oder kurze Sätze auf Mapudungun. Grundkenntnisse dieser Sprache hatte ich mir mittels verschiedener Grammatiken (Harmelink 1996, Salas 1992, Zúñiga 2006) und eines Wörterbuchs (Augusta 1989) angeeignet. Mit der Kultur der Mapuche hatte ich mich vor dem Verfassen dieser Magisterhausarbeit bereits mehrmals beschäftigt - zum einen im Rahmen von Hausarbeiten während des Grund- und Hauptstudiums, zum anderen in einer Lehrveranstaltung an der Universidad de Chile im Jahr 2005, die die Kultur der Mapuche zum Thema hatte.

3 Die Mapuche in Chile

In diesem ersten Kapitel soll eine allgemeine Darstellung der historischen und der gegenwärtigen Situation der Mapuche-Indianer in Chile gegeben werden. Die Mapuche stellen die größte indigene Bevölkerungsgruppe in Chile dar. Beim Zensus im Jahr 2002 gaben 604 349 Personen an, Mapuche zu sein.3 87 753 weitere Personen gaben an, zu anderen indigenen Gruppen in Chile zu gehören. Die Bevölkerung Chiles insgesamt wurde mit 15 116 435 Einwohner angegeben, d.h., dass der indigene Bevölkerungsanteil bei etwa 4,6% liegt, und dass davon knappe 4% Mapuche sind (INE 2003). Etwa 30% der Mapuche leben heute in der Región Metropolitana (Santiago de Chile und Umland) und 59% in den heutigen Regionen Bío Bío, Araucanía und Los Lagos; die übrigen 11% verteilen sich mehr oder weniger gleichmäßig auf die verbleibenden Regionen Chiles (Zúñiga 2006: 35). Ihre Eigenbezeichnung mapuche „Leute der Erde“ setzt sich aus mapu „Erde, Land“ und che „Mensch, Person“ zusammen. Dieser Begriff etablierte sich jedoch erst infolge der Zunahme des Kontakts zur Spanisch sprechenden Bevölkerung fest als Eigenbezeichnung der Mapuche-Indianer (Salas 1992: 30). Guillaume Boccara sieht das Aufkommen dieses Wortes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Zusammenhang mit der Ethnogenese der Mapuche.4 Für die frühe Kolonialzeit in Chile fand er dagegen den Begriff reche „wirkliche Leute“ zur Bezeichnung der indigenen Bevölkerung im mittleren Süden Chiles (Boccara 1999). Heutzutage unterscheidet man mehrere Untergruppen der Mapuche-Indianer: die hauptsächlich in der Region Los Lagos ansässigen Huilliche (von willi "Süden") die Lafquenche (von lafken" Meer", "See"), die vor allem an der Pazifikküste zwischen Cañete und dem Río Toltén vorzufinden sind die Mapuche im Valle Central zwischen dem Río Toltén und Cañete die Pehuenche (von pewen"Araukarie"), die im Gebiet der Anden und Voranden in den Provinzen Alto Bío Bío und Lonquimay sowie in einem Landstreifen zwischen dem Lago Panguipulli und dem Lago Icalma wohnen die Picunche (von pikum"Norden"), die jedoch die Kolonialzeit aufgrund von Krankheiten und Vermischung mit der spanischen Bevölkerung nicht überlebten (Zúñiga 2006: 30)

Bei Ankunft der spanischen Konquistadoren im 16. Jahrhundert bewohnten die

Vorfahren der Mapuche ein Gebiet, das im Norden die zentralen Täler Mittelchiles umfasste und im Süden bis zur Insel Chiloé reichte. Das, was man heute dagegen all- gemein als traditionelles Gebiet der Mapuche bezeichnet, reicht im Norden aber nur bis zum Río Bío Bío (Zúñiga 2006: 29), der sich in der frühen Kolonialzeit als Gren- ze etablierte. Dieses Gebiet wird heute auch der Kleine Süden Chiles genannt; siehe dazu die Karte auf der vorigen Seite, zur Geschichte der Mapuche jedoch mehr im nächsten Abschnitt.

3.1 Die Mapuche in historischer Zeit

Vor der Ankunft der Spanier in Mittelchile war es den Inka gelungen, ihr Reich bis in die Gegend des heutigen Santiago de Chile auszudehnen. Ob sie noch weiter nach Süden vordrangen, ist umstritten. Die Eroberung Mittelchiles durch die Spanier begann im Jahr 1541 unter der Führung Pedro de Valdivias. Die Konquistadoren konnten zwar Siedlungen gründen, doch gelang es ihnen nicht, die Mapuche vollends zu unterwerfen (Schindler 1990: 18). Schindler erwähnt vier Umstände für den erfolgreichen Widerstand gegen die Spanier:

1. Sie lebten nicht in einem zentralistisch verwalteten Reich, wie zum Beispiel die Azteken oder die Inka, sondern in zahlreichen politisch voneinander unabhängigen Einheiten.
2. das waldige und hügelige Wohngebiet der Mapuche, das sich für einen Guerilla-Krieg ausgezeichnet eignet.
3. die Übernahme des Pferdes sowie
4. das Geschick der Araukaner, gegen die Eroberer neue Kampftaktiken und neue Waffen zu entwickeln. (Schindler 1990: 18)

Um 1600 schloss sich eine Vielzahl von Mapuche-Gruppen gegen die Spanier zusammen und zerstörte mehrere spanische Siedlungen, vor allem südlich des Bío Bío-Flusses, der sich in den folgenden Jahren als Grenze etablierte (ebd.: 19f). Die Spanier führten regelmäßig Strafexpeditionen ins Gebiet südlich des Bío Bío aus, wobei sie von nördlich des Flusses ansässigen Mapuche als Hilfstruppen unterstützt wurden. Gefangen genommene Indianer wurden versklavt und erst gegen Ende des

17. Jh. fing mit dem Verbot des Sklavenhandels eine längere Phase relativen Friedens an der Grenze an. Auch wenn die Mapuche untereinander ständig Fehden ausfochten, so waren sie an der Grenze im 18. Jh. doch um Frieden bemüht, denn sie fürchteten einerseits die Verheerungen der spanischen Truppen und schätzten andererseits die sich bietenden Handelsmöglichkeiten (ebd.: 21). Zu erwähnen ist hier außerdem, dass nicht nur in der Spanisch sprechenden Bevölkerung Chiles eine starke Mestizisierung durch indianische Frauen einsetzte, sondern auch auf Seiten der Mapuche - wenn auch in geringerem Maße -, denn die Indianer nahmen regelmäßig spanische Frauen gefangen. Darüber hinaus wechselten mitunter spanische Deserteure und Kriminelle ins Gebiet der Mapuche. Ein relativ friedliches Leben unter den Mapuche war den zahlreichen Missionaren (in der Regel Jesuiten oder Franziskaner) beschert. Sie hatten allerdings trotz der Gründung von Missionsstationen und Massentaufen nur wenig Erfolg (ebd.: 22f).

Bereits im 17. Jh. drangen die Mapuche über die Anden in das heutige Argentinien vor, wo sie vor allem verwilderten Pferden und Rindern nachstellten. Dort vermischten sich die Mapuche zum einen mit der dort ansässigen Indianer- bevölkerung und zum anderen mit Spaniern. Im 18. Jh. kamen noch mehr Mapuche aus Chile über die Anden und es kam zur so genannten Araukanisierung der Pampa, womit die starke Ausbreitung der Kultur der Mapuche in dieser Gegend bezeichnet wird (ebd.: 24f).

Zur Zeit der Unabhängigkeit nahmen die Mapuche erst 1819 an den Kämpfen zwischen Royalisten und Patrioten teil. Aufgrund zahlreicher Fehden untereinander schlossen sich manche den Royalisten, andere den chilenischen Truppen an. Nach 1822 setzte eine relativ friedliche Phase mit intensiven Handelsbeziehungen an der Grenze ein (ebd.: 28f). Nach der Unabhängigkeit begaben sich jedoch zunehmend chilenische Siedler in das Gebiet südlich des Río Bío Bío an. Sie pachteten Land von den Mapuche oder nahmen es sich mit Gewalt und drangen dabei bis zum Río Malleco vor; sie widmeten sich hauptsächlich der Viehzucht. Seit der Mitte des 19. Jh. kamen in der heutigen Region Los Lagos deutsche Siedler hinzu, die die Mapuche ebenfalls mehr und mehr verdrängten. Während des chilenischen Bürgerkriegs 1859-1862 kämpften die verschiedenen Mapuche-Gruppen auf beiden Seiten. Die siegreiche Seite unter General Cornelio Saavedra konnte dies als Vorwand nutzen um weiteres Mapuche-Land zu besetzen (ebd.: 30f). Das chilenische Heer drang in den nachfolgenden Jahren immer weiter nach Süden vor und führte Krieg gegen die Mapuche, wobei es deren Siedlungen zerstörte, Felder ansteckte, Vieh vertrieb sowie Frauen und Kinder gefangennahm (ebd.: 33). 1878 rückten die chilenischen Truppen bis zum Río Traiguén vor. Während des sich anschließenden Salpeterkrieges zwischen Chile, Peru und Bolivien erhoben sich die Mapuche ein letztes Mal gegen die Chilenen, doch ohne dabei größere Erfolge zu erzielen. Mit der Gründung Temucos 1881 und der Neuerrichtung Villarricas 1883 galt die so genan nte „Pacificación de la Araucanía“ als abgeschlossen (ebd.: 34f).

3.2 Die Vergabe von Land an die Mapuche

Nach dieser langwierigen und grausamen Eroberung enteignete der chilenische Staat 90% des Mapuche-Landes zwischen dem Río Malleco und der Stadt Valdivia. Fünf Millionen Hektar Land wurden an Weiße versteigert. Die Mapuche erhielten dagegen weniger als eine halbe Million Hektar, die ihnen von der chilenischen Regierung zwischen 1884 und 1929 mittels so genannter T í tulos de Merced zugewiesen wurden. Die auf diese Weise entstandenen Landstücke wurden Reduktionen (sp. reducciones) genannt. Bei der Vergabe dieser Titel bekam jedoch rund ein Viertel der damals über 100 000 Mapuche gar kein Land (Schindler 1990: 52). Zudem wurden die meisten in der Región de la Araucanía vergeben. In den weiter südlich gelegenen Provinzen Valdivia und Osorno wurden auf diese Art und Weise nur sehr wenige Reduktionen geschaffen (Vergara 1991: 34). Da das den Mapuche zur Verfügung stehende Land meist nicht für den Unterhalt ganzer Familien reichte, wanderten viele in die Städte ab, um dort zu arbeiten. Rechtlich gesehen war das Reduktionsland unveräußerliches Gemeinschaftseigentum, doch im Laufe des 20. Jh. gelang es den Chilenen immer wieder, den Mapuche sowohl Land als auch andere Besitztümer wegzunehmen, entweder gewaltsam oder durch Manipulationen der Landrechtsansprüche (Schindler 1990: 52-54).

Die Besetzung des Landes der Huilliche in der heutigen Region Los Lagos verlief dagegen anders: Dort kam es 1793 nach militärischen Auseinandersetzungen zwischen Spaniern und Huilliche zum Abschluss eines Friedensvertrags, der als Tratado de Canoas bekannt ist. Darin wurde das Territorium in eine spanische und eine indianische Zone aufgeteilt. Ein derartiger Vertrag wurde 1883 zum Ende der Eroberung der Araukanie nicht abgeschlossen. Die Besetzung der Araukanie erfolgte darüber hinaus mit breiter Zustimmung der chilenischen Bevölkerung, deren Großteil den Mapuche mit Verachtung gegenüberstand. Eine solche geringschätzende Haltung gegenüber den Indianern gab es knapp hundert Jahre zuvor bei den Friedensver- handlungen mit den Huilliche nicht (Vergara 1991: 31f). Um 1800 und in der ersten Hälfte des 19. Jh. erwarb die Spanisch sprechende Bevölkerung jedoch auch Grundstücke, die im Vertrag von 1793 eigentlich dem indianischen Gebiet zugeteilt worden waren. Es kam zu einer spontanen Kolonisierung von Teilen des Landes, das man den Indianern gewaltsam oder auf betrügerische Art und Weise wegnahm.5 Nachdem die chilenische Regierung in Europa Kolonisten für das angeblich leere Gebiet, in dem es offiziell keine unzivilisierten Indianer mehr gab, angeworben hatte, kamen ab 1850 viele deutsche Siedler ins Land. Vor dieser staatlich geplanten Kolonisation erhielten viele Huilliche zwischen 1824 und 1848 so genannte T í tulos de Comisario, in denen ihnen Landbesitz anerkannt wurde (ebd.: 33f).6 In den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1930 kam es jedoch trotz dieser Titel zu Besetzungen von Huilliche-Land sowie zur Vertreibung und Ermordung vieler Huilliche-Indianer. Dafür nennt Vergara zahlreiche Gründe:

die chilenische Legislative erkannte die an die Huilliche vergebenen T í tulos de Comisario nicht an oder hinderte die Indianer daran, sie geltend zu machen die deutsche Kolonie von Llanquihue breitete sich zwischen 1875 und 1880 nach Norden und Westen aus, wobei sie Indianerland besetzten ein ähnlicher Druck ging von chilenischen Großgrundbesitzern aus; es gab keine Gesetze, die die Huilliche geschützt hätten, und die Huilliche fanden keine Unterstützung von Seiten der sozialen Gruppen mit politischem Einfluss auf regionaler oder nationaler Ebene der chilenische Staat vergab oder versteigerte seit dem Ende des 19. Jh. große Landstriche in den Provinzen Llanquihue und Osorno, was eine Vielzahl von Gewalttaten und Vertreibungen zur Folge hatte, die sich allerdings nicht nur gegen Indianer sondern auch gegen chilenische Kleinbauern und Siedler richtete ein Klima der Gewalt und der gegenüber den unteren Gesellschaftsschichten repressive Staat, der die Besetzungen von Indianerland nicht strafrechtlich verfolgte. (Vergara 1991: 35f) 1930-31 wurden neue Gesetze verabschiedet, die so genannten Leyes de propiedad Austral. Damit wurde einerseits die Vergabe der T í tulos de Merced beendet, so dass keine neuen Reduktionen mehr entstehen konnten.7 Andererseits wurde festgelegt, dass die ausländischen Siedler, die eine rechtliche Anerkennung ihres Grundbesitzes erlangen, künftig als Eigentümer gelten. Die Huilliche waren im rechtlichen Sinne zwar chilenische Bürger, doch in der Praxis verfügten sie nicht über die Mittel, um die Anerkennung ihres Landes durchzusetzen. Die T í tulos de Comisario konnten nur geltend gemacht werden, wenn die Indianer sich noch im Besitz des entsprechenden Landstücks befanden, und sie in der Lage waren, die bürokratischen Hürden zu nehmen (u.a.: einen Antrag an den Präsidenten der Republik zu stellen, an notariell beglaubigte Kopien der T í tulos de Comisario zu kommen, die im Nationalarchiv in Santiago verwahrt wurden, einen Anwalt zu bezahlen). Hinzu kommt, dass die lokalen Behörden den Indianern oftmals vorenthielten, dass es rechtliche Lösungen für die Anerkennung ihres Grundbesitzes gab (ebd.: 43f). Letztlich hatten die Leyes de propiedad Austral zur Folge, dass die Besetzungen von Indianerland legalisiert wurden. Somit hatte der Großteil der Huilliche im Gegensatz zu den weiter nördlich ansässigen Mapuche nicht einmal mehr ein Recht auf das Land, das ihnen vor der Kolonisation im 19. Jh. zugestanden hatte (ebd.: 45).

3.3 Die Mapuche unter Allende und Pinochet

Unter der Regierung des Sozialisten Allende bekamen mehrere Mapuche-Familien Land, zum Teil durch Zuweisungen, zum Teil durch die Duldung von Land- besetzungen. Während der Zeit der sich anschließenden Diktatur unter Pinochet wurde das jedoch wieder rückgängig gemacht. 1979 wurde ein Gesetzesdekret erlas- sen, das die Umwandlung von Reduktionsland in Privateigentum sehr erleichterte (Schindler 1990: 55). Dieses Dekret wurde von politisch aktiven Mapuche-Or- ganisationen stark kritisiert, denn aus ihrer Sicht wurde dadurch die historische Bindung der Mapuche zum Land gebrochen, weil die Gemeinschaften nicht länger als Eigentümer der Parzellen gelten würden. Eine Abteilung des INDAP (Instituto Na-cional de Desarrollo Agropecuario) begann mit der Aufteilung der Reduktions- parzellen und deren Überschreibung an einzelne Mapuche, die ihr Land dann verpachten und nach 20 Jahren komplett veräußern konnten. Einige der fruchtbarsten Landstriche, die den Mapuche geblieben waren, wurden daraufhin von nicht indi- genen Privatpersonen gepachtet, und zwar mit Laufzeiten von bis zu 99 Jahren (Aylwin 2000: Kap. IV u. VIII).

Der Großteil der über 40 Mapuche-Organisationen war nach dem Militärputsch 1973 aufgelöst worden und die verbliebenen Organisationen strebten anfangs die Integration in die chilenische Gesellschaft an (Gacitúa 1992: 27-29). Doch kam es in den Jahren 1978-1983 infolge des bereits erwähnten Gesetzesdekrets zur Entstehung neuer und zur Neubelebung alter Mapuche-Organisationen, die zum Teil von der katholischen Kirche und NGOs unterstützt wurden. Sie wollten sich für das Über- leben ihres Volkes einsetzen, das sie vom chilenischen Staat bedroht sahen. Diese Gruppierungen konnten binnen kurzer Zeit viele Mapuche-Gemeinschaften für sich gewinnen (ebd.: 29-31). Das Regime beantwortete die öffentlichen Versammlungen der Mapuche jedoch bald mit repressiven Maßnahmen, wodurch die Organisationen wieder geschwächt wurden.

In den Jahren nach 1983 suchten und bildeten die Mapuche-Organisationen Allianzen mit anderen nicht-indigenen Gruppierungen, die ebenfalls politisch unterdrückt wurden, und innerhalb vieler Mapuche-Organisationen wurde die Forderung nach Anerkennung ihrer ethnischen Identität laut. Sowohl in den Städten als auch auf dem Land führten die Mapuche mehrere öffentliche Protestaktionen durch. Aufgrund von Streitigkeiten in den Führungsbereichen der Organisationen kam es allerdings zu mehreren Spaltungen, so dass neue Mapuche-Organisationen entstanden (ebd.: 32f).

Ende der 1980er Jahre, als politische Parteien wieder zugelassen wurden und die Volksabstimmung darüber anstand, ob Pinochet eine weitere Amtszeit als Präsident Chiles übernehmen solle, sahen die Mapuche-Organisationen die Gelegen- heit gekommen, einen Platz in der nationalen Politik einzunehmen. Da jedoch keine dieser Organisationen in der Lage gewesen wäre, das alleine in Angriff zu nehmen, schlossen sich viele von ihnen 1987 zur Vereinigung Futa Trawun zusammen (ebd.: 34). Futa Trawun forderte die Anerkennung der Mapuche als ethnischer Minderheit in der Verfassung und besondere Rechte auf der Grundlage dieses Status. Außerdem verbanden sich die Mapuche-Organisationen mit den Vertretungen anderer ethnischer Minderheiten, um mehr Gewicht gegenüber der nationalen Politik aufzubringen. Sie gewannen auf diese Weise zwar mehr politischen Raum, aber die Organisationen hatten zur selben Zeit Schwierigkeiten, ihr Programm unter den einfachen Mapuche auf dem Land zu verbreiten (ebd.: 36). Futa Trawun standen die so genannten Consejos Regionales Mapuches gegenüber, die mit dem Regime zusammenarbeiteten und versuchten, die Mapuche für eine weitere Amtszeit Pinochets zu gewinnen, indem sie bestimmte Zuschüsse und Subventionen in Aussicht stellten. Letztlich überwogen in der Región de la Araucanía beim Plebiszit sogar die Stimmen der Regimebefürworter. Anfang 1989 löste sich Futa Trawun allmählich auf und die meisten Mapuche-Organisationen bereiteten sich auf den Übergang zu demokratischen Verhältnissen vor (ebd.: 37).

3.4 Der Übergang zu demokratischen Verhältnissen in Chile

Gegen Ende der Diktatur richteten sich viele Mapuche-Organisationen an das als Concertaci ó n bekannte Parteienbündnis, das eine Rückkehr zur Demokratie in Chile beabsichtigte. Alle Organisationen stellten als wesentliche Forderung die Anerkennung der indigenen Völker in der Verfassung und die damit verbundene Forderung nach besonderen Rechten für diese Völker (in Bezug auf Landbesitz, natürliche Ressourcen, Bildung, Kultur usw.). Im Oktober 1989 kam es in Nueva Imperial zu einem Treffen zwischen Vertretern der indigenen Organisationen und dem Präsidentschaftskandidaten der Concertación Patricio Aylwin. Ergebnis dieser Zusammenkunft war die Acta de Nueva Imperial, in der sich die indigenen Organisationen dazu verpflichteten, die Concertaci ó n in der künftigen Regierung zu unterstützen; Aylwin dagegen versprach, sich um die verfassungsrechtliche Aner- kennung der indigenen Völker zu bemühen, eine Behörde für indigene Entwicklung zu schaffen, und eine Sonderkommission zu berufen, die einen Gesetzesentwurf diesbezüglich erarbeiten würde (Aylwin 2000: Kap. VII). Dementsprechend schuf die Regierung der Concertaci ó n nach Amtsantritt 1990 die so genannte Comisi ó n Especial de Pueblos Ind í genas (CEPI). Sie bestand aus zehn Vertretern der verschie- denen indigenen Völker Chiles, zehn Vertretern diverser Regierungsbehörden sowie einem Direktor und einem Vizedirektor - beide vom Präsidenten der Republik ernannt. Die CEPI beriet den Präsidenten bei indigenen Angelegenheiten, schlug Projekte zur kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der indigenen Völker vor und befasste sich mit der Ausarbeitung des Entwurfs eines Indianer- gesetzes (ebd.: Kap. VIII).

Der fertige Entwurf wurde im Januar 1991 auf dem Congreso Nacional de Pueblos Ind í genas in Temuco diskutiert und im Oktober desselben Jahres dem chi- lenischen Nationalkongress vorgelegt. In diesem Entwurf waren folgende Punkte wichtig:

die Anerkennung der indigenen Völker als Teil der chilenischen Nation die Pflicht des Staates, diese Völker zu schützen und ihre Entwicklung zu fördern der juristische Schutz von indigenem Grundbesitz sowie Möglichkeiten, neue indigene Ländereien zu schaffen die Gültigkeit des indigenen Gewohnheitsrechtes und die Einrichtung eines speziellen Rechtssystems für Angelegenheiten innerhalb der indigenen Gemeinschaften die Schaffung der CONADI (Corporación Nacional de Desarrollo Indígena) als öffentliche Einrichtung für die Politik des Staates gegenüber den indigenen Völkern (Aylwin 2000: Kap. VIII)

Zum gleichen Zeitpunkt wurde dem Nationalkongress ein Verfassungsreform- vorschlag vorgelegt, der die Anerkennung der Rechte der indigenen Völker vorsah. Mit der Anerkennung der indigenen Völker als Teil der chilenischen Nation in der Verfassung würde der chilenische Staat dem von der Geschichtsschreibung geschaf- fenen Mythos der Homogenität der chilenischen Nation eine Absage erteilen und Chile als ein pluriethnisches Land definieren. Der Nationalkongress hat diese Verfas- sungsänderung jedoch bislang nicht verabschiedet, was auf den Widerstand der rechten Opposition im Kongress zurückzuführen ist. Ebenso verhält es sich mit dem „Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“ der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1989, das Chile bisher nicht ratifiziert hat (Aylwin 2000: Kap. VIII). Die einzige Initiative, die Erfolg hatte, war das Projekt des Ley Ind í gena.

3.5 Das geltende Ley Indígena

Der Gesetzesentwurf wurde zwar bereits 1991 dem Nationalkongress vorgelegt, doch erst 1993 mit mehreren Änderungen verabschiedet. Die rechten Parteien im Parla- ment kritisierten vor allem den Begriff indigene Völker, da sie ihn als Bedrohung für die Einheit des Staates und als mögliche Quelle für separatistische Bewegungen ansahen (Aylwin 2000: Kap. IX). Daher erkannte der Staat in der endgültig verabschiedeten Fassung von 1993 (Ley 19.253) auch keine indigenen Völkern an, sondern nur:

los descendientes de las agrupaciones humanas que existen en el territorio nacional desde tiempos precolombinos, que conservan manifestaciones étnicas y culturas propias, siendo para ellos la tierra el fundamento principal de su existencia y cultura (Gobierno de Chile 2007: Ley 19.253, §1, Art.1)

Mit Verabschiedung besagten Gesetzes erkannte der Staat außerdem die wichtigsten Ethnien in Chile an und schuf die so genannte Comunidad Ind í gena als juristische Person, unter der sich Personengruppen ein und derselben Ethnie zusammen- schließen können, wenn sie von derselben Familie herstammen, wenn sie ein traditionelles Oberhaupt haben, wenn sie gemeinsam indigenes Land besitzen oder besaßen oder wenn sie von ein und derselben alten Siedlung herstammen.

Der Staat erkennt ferner die indigenen Ländereien an, die indigene Gruppen -der Privatpersonen besitzen, wenn sie ihnen mittels verschiedener staatlicher Titel seit 1823 zugewiesen wurden, sowie die Ländereien, die in historischer Zeit und in der Gegenwart im Besitz von Indianern waren bzw. sind, wenn sie im Registro de Tierras Ind í genas (das durch dieses Gesetz geschaffen wurde) eingetragen sind. Darüber hinaus schuf der Staat mehrere Regeln für den Schutz des indigenen Landes sowie einen Fond zum Kauf von Ländereien für indigene Gruppen, die kein Land besitzen.

Das Gesetz schuf zusätzlich so genannte Á reas de Desarrollo Ind í gena, in denen der Staat besondere Anstrengungen für die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Indianer unternehmen soll.

Außerdem verpflichtete sich der Staat zum Schutz und zur Förderung der indigenen Kulturen und ihrer Sprachen und sieht die Einrichtung eines interkulturellen und zweisprachigen Bildungssystems vor.

Durch das Ley Ind í gena wurden außerdem die so genannten Asociaciones Ind í genas geschaffen, zu denen sich Indianer zusammenschließen können, wenn sie ein gemeinsames Interesse verfolgen. Diese Vereinigungen können kulturellen und erzieherischen, aber auch wirtschaftlichen Tätigkeiten, wie z.B. der Landwirtschaft, der Viehzucht, dem Kunsthandwerk oder der Fischerei nachgehen.

Das Gesetz schuf zudem die oben bereits erwähnte CONADI, dessen höchstes Organ, der Consejo Nacional, aus acht indigenen Vertretern (die von indigenen Gemeinschaften und Vereinigungen vorgeschlagen und vom Präsidenten der Repu- blik ernannt werden), insgesamt aber aus sechzehn Mitgliedern besteht (Aylwin 2000: Kap. IX).8

Dieses Gesetz weist allerdings klare Mängel auf, von denen einer sicherlich die Vermeidung der Bezeichnung indigene Völker ist. Davon abgesehen bilden die im Gesetz vorgesehenen Á reas de Desarrollo Ind í gena lediglich bloße Aufmerksam- keitsschwerpunkte des Staates. Das im ursprünglichen Entwurf vorgesehene Kapitel bezüglich des indigenen Gewohnheitsrechtes und eines speziellen Rechtssystems für kleinere Angelegenheiten innerhalb der indigenen Gemeinschaften wurde komplett gestrichen (ebd.).

3.6 Die Mapuche zur Regierungszeit der Concertación

Die Mapuche-Organisationen zeigten sich in den ersten Jahren nach der Diktatur größtenteils gewillt, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, auch wenn letztere z.T. widersprüchlich handelte: So setzte das INDAP die Aufteilung der Reduktions- parzellen dem Gesetzesdekret von 1979 entsprechend fort, obwohl die Behörden Gegenteiliges angekündigt hatten, und es kam zur Unterdrückung von Demonstra- tionen indigener Organisationen durch Polizeieinheiten. Die Mapuche-Organisa- tionen kamen ihrem Teil des Paktes von Nueva Imperial nach, indem sie Mitglieder für die CEPI stellten, indem sie den Entwurf des Indianergesetzes diskutierten und indem sie das Gesetz im Parlament sowie die Regierung unterstützten (Aylwin 2000: Kap. VIII + X). Lediglich die Mapuche-Organisation Consejo de Todas las Tierras arbeitete nicht mit der chilenischen Regierung zusammen und unterstütze auch nicht das Ley Ind í gena, da sie die weitaus drastischere Forderung nach territorieller und politischer Autonomie für das Volk der Mapuche stellten - eine Forderung die Aylwin zufolge allerdings die politischen und kulturellen Gegebenheiten in Chile verkennt (ebd.).

Der strukturelle Aufbau der CONADI war erst Anfang 1994 abgeschlossen. Aylwin beschreibt die Ergebnisse der Arbeit dieser Institution, darunter die Durch- setzung bestimmter Regelungen, der Kauf von Grund und Boden sowie der Erhalt von 29.000 Hektar Land in ehemals staatlichem Besitz zur Umwandlung in Land für indigene Gemeinschaften und die Verbesserung der Infrastruktur bestimmter indigener Gemeinschaften. Jedoch benennt er auch die Schwierigkeiten, mit denen die CONADI zu tun hatte. So fehlten die finanziellen Mittel für die Einrichtung des interkulturellen und zweisprachigen Bildungssystems. Hinzu kommt, dass viele Mitarbeiter keine Erfahrung mit der Arbeit in einer staatlichen Institution hatten, und dass die Verwaltung der CONADI in Temuco angesiedelt wurde, wo sie vom politischen Machtzentrum des Landes entfernt liegt. Letztlich erwähnt er Streitigkeiten im Bereich des Führungspersonals, wodurch diese Institution an Effizienz eingebüßt hat (ebd.).

Das hier beschriebene Ley Ind í gena von 1993 und die CONADI - beides Projekte, die mit Unterstützung verschiedener Mapuche-Organisationen realisiert wurden - scheinen jedoch nicht dazu geeignet, den Interessen aller Mapuche gerecht zu werden. In den Regionen, in denen traditionell viele Mapuche auf dem Land leben, kam es seit Ende der 1990er Jahre immer wieder zu Konflikten aufgrund von öffentlich oder privat finanzierten Großprojekten, die viele Mapuche-Gemein schaften als Bedrohung empfinden. In einem Aufsatz über die „Problemática Mapuche“ stellen Foerster und Lavanchy eine Tabelle mit allen Streitfällen um Wald und Land zusammen, die sich im Jahr 1999 zwischen Mapuche-Gemeinschaften und Privatpersonen oder Forstwirtschaftsfirmen ergeben haben. Sie stützten sich dabei auf die Meldungen aus diversen Zeitungen und listen insgesamt 69 Vorfälle auf (Foerster, Lavanchy 1999: 68-70). Danach folgen zwei Tabellen, in denen die Mapuche-Gemeinschaften aufgeführt werden, die 1999 an derartigen Konflikten beteiligt waren: In der Region Bío Bío waren es 13 und in der Region Araucanía 10 Gemeinschaften (ebd.: 71f).

Naguil unterscheidet in einem Aufsatz aus dem Jahr 1999 drei Konflikttypen:

Konflikte um Land und Wald

Naguil nennt hierzu 4 konkrete Fälle: So eignete sich in San Juan de la Costa in der Provinz Osorno der Unternehmer José González sowohl mit legalen Mitteln als auch mit Gewalt 3000 ha Naturwald an, die nun von 5 Mapuche- Gemeinschaften zurückgefordert werden. In Quellón in der Provinz Chiloé kaufte die Sociedad Inversiones Sudamericana 120.000 ha Land, auf dem nicht nur sehr viel Urwald vorzufinden ist, sondern auch 150 Mapuche-Familien mit dem von ihnen genutzten Wald und Ländereien. Die Firma plant die Abholzung dieses Waldes, die geschätzte 10 Millionen Kubikmeter Holz erbringen dürfte. In Lumaco in der Provinz Malleco befinden sich zehn Mapuche-Gemeinschaften im Konflikt mit drei Forstwirtschaftsfirmen (Mininco, Arauco und Millalemu). Die Indianer fordern ungefähr 10.000 ha Land zurück, auf denen zur Zeit Baumsorten angepflanzt werden, die sehr viel Wasser benötigen und die Qualität des Bodens verschlechtern. Seit Oktober 1997 versucht die Asociaci ó n Comunal Mapuche Ñ ankucheu, dieses Land zurückzubekommen, was starke Repressions- maßnahmen und die Inhaftierung von 12 Mapuche nach sich zog, die beschuldigt werden, Lastwagen der Firma Arauco angezündet zu haben. In der Provinz Arauco gibt es verschiedene Konflikte zwischen Forstfirmen, Privatpersonen und kleinen Landbesitzern. Es geht um etwa 60.000 ha Land. Die schärfsten Konflikte kamen allerdings in Gebieten zustande, in denen die Forstwirtschafts- firmen Arauco, Mininco und Volterra präsent sind. Teilweise kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Mapuche und Sicherheits- angestellten der Firma Arauco (Naguil 1999: 18f).

Konflikte wegen Stra ß enbauprojekten

Naguil erwähnt hier 2 Fälle: In den Gemeinden Temuco und Padre Las Casas sehen sich Mapuche-Gemeinschaften durch eine Umgehungsschnellstraße beein- trächtigt, die den Durchgangsverkehr durch die Stadt Temuco mindern soll. Ende 1997 akzeptierten die betroffenen Gemeinschaften jedoch ein Angebot von Entschädigungszahlungen. An den Küstengebieten der Regionen Bío Bío, Araucanía und Los Lagos soll eine große Straße, hauptsächlich für den Holztransport, gebaut werden. Sie würde mehrere Mapuche-Gemeinschaften beeinträchtigen (ebd.: 19).

Konflikte wegen industrieller und energetischer Infrastrukturprojekte

Hierzu führt Naguil 3 Fälle auf: In der Provinz Alto Bío Bío ist der Bau von sechs Staudämmen für Wasserkraftwerke geplant. Der zweite Staudamm würde 683 ha Land überfluten, auf denen 92 Pewenche-Familien leben. In San José de la Mariquina in der Region Los Lagos soll eine Zellulosefabrik gebaut werden, deren Abfälle an der Küste eines Fischerdorfs entsorgt werden würden. Die Fischer haben zusammen mit Mapuche-Gemeinschaften bislang dreimal die Durchführung einer Studie über die zu erwartenden Auswirkungen dieser Fabrik auf die Umwelt verhindert, da das Projekt erst genehmigt werden kann, wenn die Studie vorliegt. Eine geplante Öl-Pipeline von San Vicente in der Region Bío Bío bis nach Temuco in der Araukanie würde in ihrer ganzen Ausdehnung durch Mapuche-Land verlaufen (ebd.: 19f).

Der chilenische Staat geht unverhältnismäßig hart gegen diejenigen Mapuche vor, die gegen den Raub ihres Landes protestieren. Die Besetzung von Holzplantagen der Forstwirtschaftsfirmen oder die Blockade von Zufahrtsstraßen zu den von eben diesen Firmen genutzten Flächen reichen in der Regel aus, um die Mapuche auf Grundlage eines Antiterrorgesetzes anzuklagen, das noch aus der Zeit der Diktatur stammt (Gesetz Nr. 18.314). Terroristische Brandstiftung ist der typische Anklage- punkt. Während der Prozesse sind sogar „anonyme Zeugen“ zugelassen, deren Aussagen nicht geprüft werden können und die der Verteidigung nicht bekannt sind. Manche Mapuche werden so zu enorm hohen Geld- und Haftstrafen verurteilt. 2003 hatte der Sonderberichterstatter der UNO für indigene Angelegenheiten Rodolfo Stavenhagen die Anwendung des Antiterrorgesetzes scharf kritisiert und die chilenische Regierung dazu aufgefordert endlich Maßnahmen zu ergreifen, um die Mapuche wegen ihres gerechtfertigten Protestes nicht mehr zu kriminalisieren (GfbV 2006).

Abgesehen vom Landraub hat die Aktivität der Forstwirtschaftsfirmen aber noch weitere nachteilige Folgen: Die Abholzung von Urwald und die Pflanzung von Bäumen, die viel Wasser benötigen, führen zur Austrocknung der Böden in bestimmten Gebieten, wodurch es vielen Mapuche-Gemeinschaften an Wasser für die Landwirtschaft fehlt. Darüber hinaus haben die Plantagen der Forstfirmen zu einer starken Minderung der Biodiversität geführt, so dass den Mapuche weniger Lebensmittel zur Verfügung stehen. Die Verwendung von Pestiziden durch die Forstfirmen mindert zusätzlich die landwirtschaftlichen Erträge der Mapuche. Als weitere Folgen sind die gesunkene Nachfrage nach Arbeitskräften und die geminderten Löhne für Saisonarbeiter zu nennen. Der Transport von Holz auf großen Lastwagen hat außerdem den Zustand vieler Wege verschlechtert, und schließlich ist der Nutzen der forstwirtschaftlichen Aktivitäten für die Provinzen fraglich, da in der Regel Arbeitskräfte von außerhalb angeheuert werden (Foerster, Lavanchy 1999: 73).

Alle Konflikte werden jedoch durch eine Reihe von Umständen verschärft: Zum einen hat der chilenische Staat ein Interesse daran, sich im internationalen Markt wettbewerbsfähig zu zeigen und ausländische Investoren anzulocken. In Chile geht es dabei vor allem um natürliche Ressourcen, deren Nutzung in jedem Fall den Ausbau der Infrastruktur in den betroffenen Regionen erfordert. Die regionalen Behörden haben allerdings nicht die Möglichkeit, an Planung und konkreter Umsetzung dieser Infrastrukturprojekte in den jeweiligen Regionen teilzunehmen. Die transnationalen Konzerne üben als Investoren für Großprojekte in Chile immensen Druck auf den Staat aus, damit besagte Projekte notfalls auch auf Kosten der lokalen Bevölkerung umgesetzt werden. Bei früheren Konflikten hatten die Mapuche es hingegen nur mit nationalen Interessen zu tun, die den ihrigen gegenüberstanden (Naguil 1999: 14).

Zum anderen leben die Mapuche heutzutage sowohl in den Städten als auch auf dem Land in extremer Armut. Da das zur Verfügung stehende Land nicht zur Versorgung ganzer Familien reicht, kommt es zur Landflucht der Mapuche. Aufgrund mangelnder Ausbildung für spezialisierte Tätigkeiten können die meisten von ihnen in den Städten allerdings nur schlecht bezahlten Tätigkeiten wie der Arbeit auf Baustellen oder in Bäckereien nachgehen. Von Seiten der Mapuche wird daher oft argumentiert, dass der Mangel an Land der Grund für ihre Armut ist, so dass angemessener Landbesitz den Unterhalt und die Zukunft der Mapuche garantieren würde (ebd.: 15f).

Darüber hinaus, so Naguil, sehen und fühlen sich die Mapuche heutzutage als Volk, woraus sie bestimmte, mit diesem Status zusammenhängende, kollektive Rechte ableiten. Die Rückgewinnung von Land ist daher nicht nur eine Ange- legenheit der im Einzelnen betroffenen Mapuche-Gemeinschaften ist, sondern eine Sache, die das ganze Volk der Mapuche angeht. Darauf und auf der geforderten rechtlichen Anerkennung als Volk beruhen die sich häufig anschließenden Forderungen nach Autonomie und nach Selbstbestimmung (ebd.: 16f).

Ein weiterer Aspekt, der die Konflikte verschärft, ist die heute unter den Mapuche verbreitete Auffassung, dass ihnen ein Territorium zusteht. Es geht ihnen nicht nur um Land, das sie wirtschaftlich nutzen können, um für ihren Lebens- unterhalt zu sorgen, sondern um ein Territorium als Raum, in dem sie aufgewachsen sind und leben, sowie als physische Grundlage für ihre Kultur und Entwicklung in der Zukunft (ebd.: 17f).

Das Interesse des chilenischen Staates, auf dem internationalen Markt eine gute Stellung einzunehmen, erfordert politische Stabilität und wirtschaftliches Wachstum. Doch scheint es, dass das Wirtschaftswachstum für den chilenischen Staat zum Selbstzweck geworden ist, so dass alle anderen Interessen der Wirtschaft untergeordnet werden. Der Staat argumentiert mit den Zwängen der Weltwirtschaft und versichert, dass die geplanten Megaprojekte die Lebensqualität aller Bürger verbessern werden. Die Mapuche würden davon besonders profitieren, schließlich gäbe es mehr Arbeitsplätze für die Bevölkerung in den Regionen. Außerdem stellt der Staat „gerechte Entschädigungen“ in Aussicht, sollten die Megaprojekte den einen oder anderen Nachteil mit sich bringen (ebd.: 21f). Angesichts der Konflikte im Süden Chiles ermahnt der Staat häufig zur Respektierung des Rechtsstaates, denn anders könne man die staatliche Autorität nicht ausüben. Bei den ersten Protestaktionen in Form von Landbesetzungen, die Mapuche-Gemeinschaften durch- führten, waren es daher die politischen Autoritäten selbst, die die beteiligten Ma- puche vertreiben ließen und Verhaftungen anordneten. Im oben bereits erwähnten Fall von Lumaco war es die Regionalverwaltung, die die Anwendung des Ley de Seguridad Interior del Estado forderte. Später änderte der Staat jedoch seine Vor- gehensweise und überließ die Räumungen und Verhaftungen den Justizbehörden (ebd.: 25). In jedem Fall hat das Vorgehen des Staates zu einer Distanzierung zwischen Staat und Mapuche-Gemeinschaften geführt. Die Regierung verweist immer auf das geltende Ley Ind í gena 19.253 als Instrument zur Lösung der Probleme der Mapuche (ebd.: 27) und erhöht hin und wieder die finanziellen Mittel für die Institutionen, die mit den Mapuche zu tun haben. Neue Betrachtungsweisen des Problems kommen jedoch nicht hinzu, so dass sich auch keine neuen Handlungsweisen ergeben (ebd.: 36).

Für die Unternehmer in Chile bedeuten die Landbesetzungen ein Hindernis für die Durchführung ihrer wirtschaftlichen Projekte. Sie argumentieren, dass die Mobilisierungen der Mapuche den Eindruck sozialer Instabilität schaffen, was Investoren abschreckt, und betonen die Wichtigkeit ihrer Großprojekte für die Überwindung der Armut der lokalen Bevölkerung (ebd.: 22f). Die Unternehmer berufen sich stets auf das Eigentumsrecht, kritisieren den Staat aufgrund der „Sonderbehandlung“ der Mapuche und werfen ihm mitunter Schwäche beim Umgang mit den Indianern vor (ebd.: 28f). Zur Überwindung der Armut fordern sie mehr Ausbildungsmöglichkeiten sowie allgemein bessere Lebensbedingungen für die Mapuche-Gemeinschaften, sehen dies jedoch als Verantwortung des Staates (ebd.: 36f).

Die Haltung der Mapuche ist in Bezug auf die beschriebenen Konflikte und Probleme keineswegs einheitlich. Es gibt Mapuche, die nicht den Versuch unternehmen, sich gegen die verschiedenen Großprojekte zu wehren. Manche bekleiden öffentliche Ämter und bemühen sich sogar um eine Durchsetzung der Großprojekte bei den betroffenen Gemeinschaften. Doch in den meisten Äußerungen der Mapuche wird deutlich, dass sie die Umsetzung besagter Projekte als schädlich für die Gemeinschaften erachten (ebd.: 23). Die häufigsten Argumente, die von den Mapuche vorgebracht werden, sind:

Die Gemeinschaften haben keine Möglichkeit, an der Planung der Großprojekte teilzunehmen und werden nicht einmal um ihr Einverständnis gebeten In der Regel betreiben die Firmen und die lokalen Behörden eine Politik der Desinformation und versuchen, mit einzelnen Familien Abkommen zu treffen anstatt sich an die gesamten Gemeinschaften zu wenden, was häufig zu Streitigkeiten innerhalb der Mapuche-Gemeinschaften führt Die erbrachten Entschädigungszahlungen erleichtern nur die unmittelbar auf- tretenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Betroffenen, sind aber keine langfristigen Lösungen. Zudem werden die Entschädigungen mit enormer Ver- spätung ausgezahlt Der Verlust von spirituell und religiös wichtigen Orten beweist die Gering- schätzung der Kultur. Kultureller Schaden lässt sich nicht wirtschaftlich ermessen Der Ankauf von Land für Mapuche-Gemeinschaften durch die CONADI verliert seinen Sinn, wenn fortwährend indigenes Land den Großprojekten zum Opfer fällt

Die CONADI und das Ley Ind í gena sind nur schwache Mittel zum Schutz und zur Bewahrung der Mapuche-Kultur (Naguil 1999: 24)

Die Mapuche sehen in der Regel die Rückgabe von Land an die indigenen Gemeinschaften als Grundlage für die nachhaltige und umfassende Entwicklung ihrer Kultur. Mit anderen Worten: Ohne Land lassen sich die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Mapuche nicht lösen (ebd.: 37). Da die Mapuche nach chilenischem Gesetz nicht als Volk gelten, kommt es erstens nicht zu einer veränderten Betrachtungsweise der gegebenen Konflikte und somit zweitens auch nicht zu deren Lösung auf veränderte Art und Weise. Indem sowohl der Staat als auch die Unternehmer versuchen, mit den jeweils betroffenen Familien Übereinkünfte zu treffen, verkennen sie laut Naguil den ethnischen und den kollektiven Aspekt des Gesamtproblems (ebd.: 30).

Foerster und Vergara beschreiben dieses Gesamtproblem in seiner aktuellen Erscheinung etwas differenzierter. Ihre These lautet, dass sich die Forderungen der Mapuche in historischer Zeit zwei großen Bereichen zuordnen lassen: Wenn die Mapuche Forderungen stellten, so taten sie dies erstens in ihrer Eigenschaft als Bauern auf dem Land (und forderten dementsprechend Kredite für landwirtschaftliche Projekte, bessere Infrastruktur auf dem Land, etc.) und zweitens als Angehörige einer Ethnie (und forderten daher Respekt für ihre Identität als Mapuche, interkulturelle zweisprachige Erziehung, etc.). Nun ist aber laut Foerster und Vergara ein dritter Aspekt hinzugekommen, nämlich ein ethnonationaler: Heutzutage stellt ein wichtiger Teil der Gesellschaft der Mapuche Forderungen als Volk oder Nation (Foerster, Vergara 2003: 108).9 Diese ethnonationale Bewegung der Mapuche stellt die Politik der Regierung grundlegend infrage und strebt nach politischer und territorialer Autonomie für die Mapuche. Ihren Gegenpol findet diese radikale Bewegung im konservativen Bereich der chilenischen Gesellschaft, der sowohl die politische Rechte als auch die Unternehmerschaft und die Medien, die beide repräsentieren, umfasst. Sie sehen in der Politik des Staates der Jahre 1990-93 den Grund für die Radikalisierung der Mapuche-Bewegung, die sie als Bedrohung für die geltende politische Ordnung begreifen. Die Regierung selbst hat inzwischen nur beschränkte Möglichkeiten, diesen Konflikt zu lösen, was sich zum Teil auf den Macht- und Legitimitätsverlust der Mapuche zurückführen lässt, die an der Arbeit der CONADI mitwirken. Hatte man die CONADI ursprünglich als vermittelnde Instanz konzipiert, so ist sie letztlich bloß zu einer weiteren Institution des Staates geworden; sie gilt nur noch selten als Einrichtung, die die indigene Bewegung repräsentiert (ebd.: 109f).

Die ethnonationale Tendenz ist allerdings nur eine unter mehreren innerhalb

der Mapuche-Gesellschaft und der indigenen Bewegung in Chile. Sie koexistiert Foerster und Vergara zufolge mit den „demandas campesinas y étnicas“. Ob der Ethnonationalismus unter den Mapuche erfolgreich sein wird, können auch Foerster und Vergara nicht beantworten; sie geben jedoch folgendes zu bedenken:

Su éxito dependerá, en gran medida, de incorporar las demandas campesinas y étnicas, dándoles un nuevo sentido, en forma similar a cómo la tendencia étnica había integrado la demanda campesina, subordinándola dentro de un esquema distinto. La misma diferenciación interna del movimiento mapuche representa un obstáculo para llevar a cabo esto con éxito. (Foerster, Vergara 2003: 144)

3.7 Die Umfrage des CEP von 2006

Der Ethnonationalismus scheint jedoch unter den Mapuche noch nicht sehr weit gediehen zu sein; das legt zumindest eine neuere Umfrage nahe, die 2006 vom CEP (Centro de Estudios P ú blicos) durchgeführt wurde (CEP 2006).

Die Fragebögen wurden vom CEP in Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachleuten aus Chile erstellt und umfassten mehrere Themenbereiche, wie z.B. die Politik der Regierung, das Ansehen bestimmter Institutionen, Kultur und Sprache der Mapuche, Kenntnisse über und Teilnahme an traditionellen Mapuche-Ritualen, Ansichten zum Leben auf dem Land und in der Stadt, die Bedeutung des Landbesitzes und damit zusammenhängende Konflikte. Die Umfrage wurde in vier Regionen, nämlich in Bío Bío, Araucanía, Los Lagos und in der Región Metro- politana de Santiago durchgeführt, da nach dem Zensus von 2002 in diesen Regionen 90% der Personen leben, die sich selbst als Mapuche bezeichnen. Es wurden 1487 Personen ab einem Alter von 18 Jahren befragt sowie 1484 Personen, die sich selbst nicht als Mapuche bezeichnen, die aber an den selben Orten wie die Mapuche wohnen, um die Nachbarn der Mapuche als Kontrollgruppe aufzuführen. Die Aufteilung der Mapuche-Bevölkerung auf die genannten Regionen sowie auf urbane und ländliche Räume ebenso wie die Gruppe der letztlich befragten Personen lässt sich prozentual folgendermaßen darstellen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 (Segovia, Sierra 2006: 6)

Eine Umfrage dieses Ausmaßes hatte es vorher unter den Mapuche nicht gegeben. Außerdem wurden die urbanen Mapuche - heutzutage 60% der Gesamtbevölkerung der Mapuche in Chile - mitberücksichtigt. Letzteres ist angesichts der Tatsache, dass sich die staatliche Indianerpolitik in der Regel bislang auf die ländlichen Gegebenheiten konzentriert hat, von besonderem Interesse (Segovia, Sierra 2007: 7).

Die Ergebnisse der Umfrage gestatten verschiedene Interpretationen. So sieht Valenzuela (2007) die Sprache und den Landbesitz als wichtigste Elemente der ethnischen Identität der Mapuche. Dass die Sprache einen derart wichtigen Platz einnimmt, mag zunächst verwundern, geht doch aus der Analyse Zúñigas (2007) hervor, dass der Zustand des Mapudungun kritisch ist. Derzeit kann man zwar von etwa 140.000 Mapuche ausgehen, die das Mapudungun aktiv beherrschen (und von etwa 260.000 Personen, wenn man diejenigen hinzuzählt, die über passive Kenntnisse der Sprache verfügen), wobei von den Befragten auf dem Land 40,3% angaben, Mapudungun sprechen zu können (gegenüber 13,3% der Befragten in den Städten). Doch die Zahl derjenigen, die die Sprache täglich benutzt, ist sehr gering (17,5% der Befragten auf dem Land, 1,9% der Befragten in den Städten). Weiter infrage gestellt wird das Überleben des Mapudungun dadurch, dass der Großteil der Befragten mit aktiven Kenntnissen des Mapudungun mit Kindern auf Spanisch spricht (Zúñiga 2007: 18-21). Dass Valenzuela die Sprache in ihrer Bedeutung für die Identität dennoch so hoch einschätzt, ergibt sich aus der Tatsache, dass in der Umfrage unter anderem nach den zwei wichtigsten Merkmalen eines Mapuche gefragt wurde, woraufhin die Mehrheit das Sprechen des Mapudungun und das Führen eines Mapuche-Namens nannte (CEP 2006). Foerster und Montecino vermuten, dass die Sprache zu einem „schwebenden Signifikanten“ geworden ist, der das Wesentliche der Kultur der Mapuche bezeichnet, allerdings auf eine abstrakte Art und Weise, die es gestattet, dass das Mapudungun für die Mapuche zur einer Art Nationalsymbol geworden ist:

La lengua se ha transformado en un significante flotante: designa lo esencial de la identidad y de la cultura mapuche, pero es una esencialidad “abierta” (y, por tanto, se puede llenar de múltiples maneras), equivalente al papel que tienen las banderas o los himnos nacionales para los estados. (Foerster, Montecino 2007: 131; Hervorh. i. Orig.)

Dass Valenzuela zu der Einsicht gelangt, dass das Land für die Mapuche wichtig ist, wird bei Durchsicht der Umfrageergebnisse sofort klar. Auf die Frage, was für den Erhalt ihrer Kultur besonders wichtig sei, nannten 32% aller Befragten „Von der Arbeit auf dem Land leben“ gleich nach der Sprache, die mit 51% an erster Stelle rangiert. „An Zeremonien und Ritualen teilnehmen“ und „Unter Mapuche heiraten“ liegen mit 15% bzw. 14% weit dahinter. Auf die Frage, worauf sich die Regierung in ihrer Indianerpolitik am meisten konzentrieren sollte, wurde „die Rückgewinnung von Land indigener Vorfahren“ am häufigsten genannt. Auch auf die Frage, wie der Staat die Mapuche entschädigen sollte, rangiert das Thema Land an erster Stelle - weit vor der „Förderung der Sprache und Kultur“. Unter den befragten urbanen Mapuche spielt die Rückgewinnung von Land eine größere Rolle als unter den auf dem Land lebenden Mapuche. Das Leben in der Stadt wird als Bedrohung für die kulturelle Integrität empfunden: 76% der Mapuche glauben, dass diejenigen, die in der Stadt leben, den Kontakt zur Kultur der Mapuche verlieren. Die Mapuche scheinen sich darüber hinaus in der Stadt unwohl zu fühlen, gaben doch 58% der urbanen Mapuche an, dass das Leben auf dem Land besser sei als das Leben in der Stadt. Nur 22% aller Befragten behaupteten das Gegenteil. 69% der auf dem Land lebenden Mapuche lehnt es ab, in die Stadt zu ziehen. Die Bereitschaft, auf das Land zu ziehen, ist unter den urbanen Mapuche sehr groß (71%); auch unter den jüngeren Mapuche in der Stadt hält sich diese Ansicht: 68% würden gerne auf dem Land leben. Dieser Beliebtheit des Landes entsprechend rechtfertigen 22% der befragten Mapuche die Anwendung von Gewalt zur Rückgewinnung von Land; weitere 36% rechtfertigen dies „unter bestimmten Umständen“. Doch scheint man sich darüber unter den Mapuche keineswegs einig zu sein, denn 39% der Befragten rechtfertigen die Anwendung von Gewalt nicht. Interessant sind die Ergebnisse hinsichtlich der Besitzverhältnisse: 89% sind der Ansicht, dass die Ländereien einzelnen Personen oder Familien gehören, sich also nicht im Besitz der indigenen Gemeinschaft befinden sollten. Aber 65% der Mapuche sind für ein Verbot des Verkaufs von Mapuche-Land an Nicht-Mapuche. Wie aus den Befragungsergebnissen hervorgeht, hat das Land offenbar einen besonderen symbolischen Wert für die Mapuche (Valenzuela 2007:32f).

Die traditionelle Kultur spielt dagegen laut Valenzuela heute nur eine geringe Rolle für die ethnische Identität der Mapuche. So wissen zwar die meisten Befragten, worum es sich bei Ritualen wie dem Machitun (Ritual zur Krankenheilung), dem Ngillatun (Ritual zum Erhalt guter Ernten) oder dem Wetripantu (Mapuche- Neujahrsfest) handelt, aber nur sehr wenige wussten, was es mit bestimmten Übergangsritualen wie dem Lakutun (Namensgebungsritual), dem Ngapin (Heirat) und dem Eluwun (Bestattungsritual) auf sich hat. Die tatsächliche Teilnahme an diesen Übergangsritualen findet so gut wie gar nicht mehr statt, worin Valenzuela einen Beleg für die schwache Stellung der indigenen Gemeinschaften sieht (ebd.: 28f). Ein weiteres Indiz dafür besteht ihm zufolge in den häufigen Mischehen: 57% der urbanen Mapuche sind mit Chilenen verheiratet. Auf dem Land sind es dagegen nur 22%. Die Ehe unter Mapuche (Endogamie) ist auf dem Land häufiger (65%) als in der Stadt (23%). Die Mischehen werden diesen Ergebnissen entsprechend auch weitestgehend akzeptiert: 65% der befragten Mapuche wären damit einverstanden, wenn ihre Söhne oder Töchter eine Heirat mit Nicht-Mapuche anstrebten. Auch auf die Frage, ob es in Ordnung sei, dass Mapuche Chilenen heiraten, antworteten 75% mit ja. Laut Valenzuela belegt dies, dass sich die Mapuche-Identität nicht auf die Gemeinschaft im Sinne von Blutsgemeinschaft stützt (ebd.: 30f).

Irarrázaval und Morandé kommen im Hinblick auf die traditionelle Kultur zu einem ähnlichen Schluss wie Valenzuela: Ihnen zufolge zeigen die Umfrage- ergebnisse, dass die Beziehung der Mapuche zur Kultur ihrer Vorfahren vor allem symbolischer Art ist. Darüber hinaus bescheinigen sie den Mapuche einen aufrichtigen Wunsch nach Integration in der chilenischen Gesellschaft (Irarrázaval, Morandé 2007: 37). Die Mapuche haben ihnen zufolge heute nicht nur eine Identität: Sie bezeichnen sich zwar als ind í genas, sehen sich aber auch als Teil der übergeordneten nationalen Kultur, die nicht indigen ist, denn sie haben viele Gemeinsamkeiten mit chilenischen Bauern und Arbeitern (ebd.: 39f). Irarrázaval und Morandé erstellen in ihrer Analyse der Umfrage des CEP einen „Index zur Messung der Intensität der Zugehörigkeit zur Mapuche-Kultur“, der die Angaben der Be- fragten zur a) traditionellen Kultur, zur b) Sprache und zur c) Abstammung berück- sichtigt. Sie definieren drei Gruppen, nämlich eine mit hoher, eine mit mittlerer und eine mit geringer Zugehörigkeit zur Kultur der Mapuche, und stellen schließlich fest, dass knapp 20% zur ersten, gute 30% zur zweiten und fast die Hälfte der Befragten zur dritten Kategorie zählen.

[...]


1 Übergreifendes Thema des Tages war „Políticas lingüísticas y democracia en Chile y Cataluña“.

2 Nach Zúñiga befindet sich das Mapudungun in einem soziolinguistisch kritischen Zustand (Zúñiga 2007).

3 Nach dem Zensus im Jahr 1992 wurde die Zahl der Mapuche dagegen mit 928 060 beziffert, was angesichts der Ergebnisse des Zensus von 2002 verwundert. Allerdings hatte man die Fragen unterschiedlich formuliert: Während man 1992 fragte, ob man zu einer der indigenen Kulturen in Chile gehöre, ging es im Jahr 2002 darum, ob jemand erklärte, er gehöre zu einem der in Chile existierenden indigenen V ö lker oder Urv ö lker (Zúñiga 2006: 36; Hervorh. M.S.).

4 Die Ethnogenese der Mapuche, also die Entstehung ihrer ethnischen Identität, war laut Boccara eine Folge des fortwährenden Versuchs von Seiten der spanischen Autoritäten, die Indianer politischmilitärisch sowie spirituell (Missionierung) zu unterwerfen (Boccara 1999). Siehe hierzu auch seine umfassende Monographie (Boccara 1998).

5 Chilenische Bürger und Indianer galten damals im juristischen Sinne als gleich, so dass sie miteinander Verträge abschließen konnten (Vergara 1991: 33).

6 Dagegen wurden die bereits erwähnten T í tulos de Merced in der Araukanie erst vergeben, als der Kolonisationsprozess bereits in vollem Gange war (Vergara 1991: 33).

7 Wie oben bereits erwähnt, war der Großteil der Reduktionen in der weiter nördlich gelegenen Araukanie geschaffen worden.

8 Die CEPI wurde damit hinfällig und bestand nur bis September 1993.

9 Vgl. Foerster 1999 sowie Foerster, Lavanchy 1999.

Ende der Leseprobe aus 127 Seiten

Details

Titel
"La idea de convivencia no es tolerar, sino compartir"
Untertitel
Diskursanalytische Studie zum Selbstbild der Mapuche und ihrem Bild von der chilenischen Gesellschaft
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Historische Ethnologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
127
Katalognummer
V192305
ISBN (eBook)
9783656172307
ISBN (Buch)
9783656172154
Dateigröße
14095 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mapuche, Diskursanalyse, Chile, Ethnologie
Arbeit zitieren
Markus Scholz (Autor:in), 2008, "La idea de convivencia no es tolerar, sino compartir", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192305

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