Mitarbeiter in sogenannten "Sekten"

Risikobetrachtung und Ansätze zur Risikoprävention aus unternehmerischer Perspektive


Masterarbeit, 2012

81 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Danksagung

1 Einleitung
1.1 Zielstellung und Aufbau der Arbeit
1.2 Vorüberlegungen

2 Ideologisch bedingte qualitative personelle Risiken
2.1 Wesen von Ideologien
2.2 Einordnung in den unternehmerischen Kontext

3 Ideologisch konfliktträchtige Gruppen
3.1 Überblick
3.2 Scientology
3.2.1 Geschichtlicher Abriss
3.2.2 Organisationsstruktur
3.2.3 Lehre
3.3 Jehovas Zeugen
3.3.1 Geschichtlicher Abriss
3.3.2 Organisationsstruktur
3.3.3 Lehre

4 Spezielle Risiken aus der Zugehörigkeit von Mitarbeitern zu
ideologisch konfliktträchtigen Gruppen
4.1 Austritts- und Anpassungsrisiko
4.1.1 Scientology
4.1.2 Zeugen Jehovas
4.1.3 Mittelbares Austrittsrisiko
4.2 Motivationsrisiko
4.3 Deliktrisiko
4.3.1 Scientology
4.3.2 Jehovas Zeugen
4.4 Integrationsrisiko
4.4.1 Scientology
4.4.2 Jehovas Zeugen
4.5 Unterwanderungsrisiko

5 Ansätze zur Prävention
5.1 Die juristische Sichtweise
5.1.1 Das Grundgesetz
5.1.2 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
5.1.3 Kritische Würdigung der rechtlichen Situation
5.2 Die personalstrategische Sichtweise
5.2.1 Erfolgsfaktor Diversity
5.2.2 Ziele des Diversity Managements
5.2.3 Grenzen von Diversity
5.3 Die soziologische Sichtweise
5.3.1 Erfolgsfaktor Integration
5.3.2 Funktionale Koordination unterstützen
5.3.3 Moralische Integrität steuern
5.3.4 Expressive Gemeinschaft fördern

6 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Eidesstattliche Versicherung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Systematisierung von Personalrisiken

Abbildung 2: Soziale Manipulation und Ideologie

Abbildung 3: Hierarchie der Bedürfnisse nach Maslow

Abbildung 4: Motivationsprozess nach Vroom

Abbildung 5: Risikotreiber ideologisch bedingter Personalrisiken

Abbildung 6: Die Diskriminierungsverbote des AGG

Abbildung 7: Der Aspekt der juristischen Präventionsmöglichkeiten

Abbildung 8: Positive Auswirkungen von Diversity auf den Unternehmenswert

Abbildung 9: Handlungsfelder des Diversity Managements

Abbildung 10: Der Aspekt der personalstrategischen Präventionsmöglichkeiten

Abbildung 11: Die Zehn Prinzipien des UN Global Compact

Abbildung 12: Die drei Ebenen der Unternehmenskultur

Abbildung 13: Der Aspekt der soziologischen Präventionsmöglichkeiten

Abbildung 14: Ganzheitliches Modell direkter und indirekter Risikoprävention

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Danksagung

Denken und Danken
sind verwandte Wörter.

(Thomas Mann)

Ohne die Impulse und die Unterstützung zahlreicher Personen wäre diese Arbeit nicht entstanden.

Mein Dank geht an Herrn Prof. Dr. Erich Barthel, der nicht nur als Erstgutachter zur Verfügung stand, sondern mich in all seinen Vorlesungen stets zu kritischem, reflektierendem Denken anregte. Selten bin ich einem Menschen begegnet, der so wenig Wahrheiten zu verkünden, aber derart viele Erkenntnisse zu vermitteln vermochte.

Frau Dr. Sarah Ruth Pohl danke ich nicht nur für die Übernahme des Zweitgutachtens; unser Gedankenaustausch per Mail erleichterte mir auch die Klärung meiner Gedanken. Ihre Unterstützung beim Auffinden vergriffener Bücher war mir eine große Hilfestellung.

Dankbar bin ich auch zahlreichen Freunden, die meine Aussagen zu den religiösen Gemeinschaften auf die Goldwaage legten und prüften. Bei ihnen handelt es sich um Menschen, die in der Beratung von Sektenaussteigern tätig sind, oder solche Gemeinschaften erst vor kurzem verlassen haben und deswegen lieber anonym bleiben möchten.

Mein allergrößter Dank aber gebührt den beiden wichtigsten Frauen in meinem Leben: Karen, du hast mir während der Schreibphase den Rücken freigehalten, was dir sicher nicht immer leicht viel. Und Jördis, du hast es akzeptiert, dass so manche technische Hilfeleistung etwas länger auf sich warten ließ, als du es gewohnt warst. Euer Verständnis war meine größte Motivation.

1 Einleitung

Sie glauben nicht, dass sie glauben,
sondern sie glauben zu wissen,
denn sie wissen nicht, dass sie glauben.

(Humberto Maturana)

1.1 Zielstellung und Aufbau der Arbeit

Religion galt in Westeuropa lange Zeit als eine rein persönliche Angelegenheit. Ob und wie man an einen Gott glaubte, gehörte in die private Welt und ging weder Nachbarn, noch Behörden noch den Arbeitgeber etwas an. Das gab dem religiösen Fundamentalismus – in allen Weltreligionen – die Gelegenheit, sich nahezu unbemerkt auszubreiten. Die gesellschaftlichen Nachbeben des 11.Septembers 2001 führten zu einem langsamen Umdenken: Über die Rolle, die Religion in der Gesellschaft spielen darf oder spielen soll, wird seitdem wieder intensiver diskutiert.[1]

Die vorliegende Master-Thesis reiht sich mit einem betriebswirtschaftlichen Fokus in diesen Diskurs über die „Deprivatisierung der Religion“[2]ein.

Die Arbeit stellt dar, inwieweit ein Unternehmen durch seine Mitarbeiter[3]besonderen ideologisch bedingten qualitativen personellen Risiken ausgesetzt sein kann und leitet Präventionsansätze für das Personalmanagement ab. Sie widmet sich insbesondere Mitarbeitern aus den ideologisch konfliktträchtigen Gruppierungen[4]ScientologyundJehovas Zeugen. Beide lösen seit Jahren den größten Beratungsbedarf bei entsprechenden staatlichen oder halbstaatlichen Informationsstellen aus.[5]

Dabei geht es ausdrücklich nicht darum, Angehörige einer Religionsgemeinschaft pauschal zu kriminalisieren oder unter einen Generalverdacht zu stellen. Zu viel­fältig ist das Zusammenspiel möglicher Einflussfaktoren, das letztendlich zu einer Handlung des Individuums führt.[6]Vielmehr ist es gerade der Einzelne selbst, der bei Loyalitätskonflikten zwischen der Lehre seiner Religionsgemeinschaft und den Erwartungen seines Arbeitgebers jedes Mal und immer wieder neu abwägt, wie er sich verhalten wird.[7]

Zunächst wird diese Arbeit ideologisch bedingte qualitative personelle Risiken definieren und in den betriebswirtschaftlichen Kontext einordnen. Das dritte Kapitel gibt anschließend einen allgemeinen Überblick über sogenannte Sekten und Psychogruppen, bevor es detailliert auf Geschichte, Organisation und Lehre von Scientology und Jehovas Zeugen in der für das Verständnis der Arbeit gebotenen Tiefe eingeht.

Nach der daraus folgenden Darlegung spezieller personeller Risiken in Kapitel vier erarbeitet das fünfte Kapitel Präventionsansätze aus juristischer, personalstrategischer und soziologischer Perspektive. Das Fazit führt die einzelnen Perspektiven zu einem ganzheitlichen Präventionsansatz zusammen.

1.2 Vorüberlegungen

Wie der gesamte Blick auf die Welt wird auch die Bewertung von Risiken bedeutend durch die gesellschaftlichen Einflüsse des Umfeldes geprägt, in dem sich der Betrachter befindet. Die Gesellschaft wird von jedem einzelnen Individuum aus dessen subjektivem Verständnis und seinen bisherigen Erfahrungen heraus wahrgenommen und virtuell nachgebildet; die Realität gilt mithin als sozial konstruiert.[8]

Die vorliegende Arbeit hat daher mit den Worten von Glaserfelds nicht den Anspruch, in unverrückbarem Sinne „zu einem wahren Bild der Welt [zu] führen“.[9]Vielmehr möchte sie in erkenntnistheoretischer Hinsicht einen kognitiven Schlüssel bieten, mit dessen Hilfe ein Blick auf die genannten Risiken eröffnet werden kann.

Die soziale Konstruktion der Realität führt – wie Gode & Ben-Yehuda erläutern – leicht zu einer Überreaktion. Insbesondere, wenn kleine Gruppen die Werte der Mehrheit ernsthaft in Frage stellen, kann es zu unangemessenen Angstreaktion der Masse kommen. Es gibt dann nur noch „wir“ und „die“. Neben der Presse verbreiten u.a. Gruppen vonmoral entrepreneurs[10]die Ansicht, bestehende Schutzmaßnahmen müssten massiv verschärft werden.[11]Die Idealisierung der eigenen Gruppe geht dabei einher mit der Abwertung der Anderen.[12]Pohl weist auf die Existenz zahlreichermoral entrepreneursin der Anti-Sekten-Szene hin, die zu einem verzerrten Bild beitragen.[13]Wann immer möglich, zitiert diese Arbeit daher Primärliteratur der Religionsgemeinschaften, wenn es um die Darstellung von Lehrinhalten geht.

2 Ideologisch bedingte qualitative personelle Risiken

Ideologien resultieren aus dem Wunsch,
mit dem Denken an ein Ende zu kommen.

(Michael Richter)

Nachdem diese Arbeit zunächst den Begriff „ideologisch“ definiert, erfolgt eine Einordnung „qualitativer personeller Risiken“ in die betriebliche Wertschöpfungskette.

2.1 Wesen von Ideologien

Eagleton diskutiert diverse Interpretationsrichtungen des WortesIdeologieund stellt dabei das Fehlen einer allgemein anerkannten Definition heraus.[14]Im Rahmen dieser Arbeit wird unter Ideologie Folgendes verstanden:

- Es handelt sich um ein weltanschauliches Konzept, das in seiner regulato­rischen Breite und Tiefe weit über die fundamentalen Lebensfragen (wie z.B. Tod, Sinn des Lebens etc.) hinausgeht.[15]Auch alltägliche Kleinigkeiten werden normativ geprägt.[16]
- Dieses Weltbild leitet sich nicht aus aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen ab, sondern wissenschaftliche Erkenntnisse werden auf Basis eines vorgefertigten Weltbildes (um-)interpretiert.[17]
- Reflektierendes Erkennen ist „der Förderung ‚a-rationaler‘ Interessen“, die auch in der „Reproduktion gesellschaftlicher Macht“ liegen kön­nen, unterge­ordnet.[18]
- Die Weltanschauung ist ein eher affektiv als kognitiv begründetes, in sich geschlossenes, veränderungsresistentes System. Es verlangt absolute Treue.[19]Abweichler müssen ausgemerzt werden.[20]

2.2 Einordnung in den unternehmerischen Kontext

Die betriebliche Wertschöpfungskette besteht nach Porter aus Primäraktivitäten und unterstützenden Aktivitäten. Primäraktivitäten dienen direkt der Erzeugung und dem Vertrieb eines Produkts. Unterstützende Aktivitäten sorgen für einen koordinierten Einsatz der Produktionsmittel. Zu ihnen zählen die Infrastruktur des Unternehmens, die Entwicklung geeigneter Technologien, die Beschaffung und das Personalmanagement.[21]

Letzteres umfasst verschiedene personelle Funktionen entlang der betrieblichen Wertschöpfung, angefangen von der Personal­bedarfsplanung, über die Einstellung, den Personaleinsatz, die Führung, Entlohnung und Entwicklung, bis hin zur Beurteilung, zur Personalverwaltung und ggf. zur Freisetzung.[22]Das Management personeller Risiken ist in der klassischen Sichtweise bislang eher selten Gegenstand der Betrachtung.

Kobi konstatierte 2002: „Wäh­rend alle möglichen Risiken… anhand ausgefeilter Risikomo­delle ver­folgt werden, ist sogar der BegriffPersonalrisikoneu.“[23]Insbesondere Kreditinstitute rücken seit­dem auch personelle Risi­ken in den Fokus ihres In­teresses. Seit 2008 müs­sen sie diese als Teil der operationellen Risiken auf­grund internationaler Vor­schriften quantifizie­ren und mit Eigenkapital hinter­legen.[24]

Personalrisikensind potenzielle Gefahren, die einem Unterneh­men drohen, wenn Mitarbeiter ausscheiden oder sich illoyal verhalten und damit die Leistungsfähigkeit des Unternehmens beeinträchtigen.“[25]

QuantitativePersonalrisiken resultieren aus Mitarbeiterengpässen; ihre Ursache ist in un­zureichender Personalbeschaffung oder -planung zu suchen. „DerqualitativenKomponente sind die Leistungswilligkeit und -fähigkeit der Mitarbeiter sowie deren fachliche und charakterliche Eigenschaften zuzuordnen.“[26]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Systematisierung von Personalrisiken

Quelle: Eigene Darstellung unter Einbezug von Kobi, 2002, S. 17 f., Klöti, 2008b, S. 47 ff., Klaffke, 2009, S. 8 f.

Qualitative Personalrisiken zeigen in ihrer Ausprägung folgende Schwerpunkte:

-Austrittsrisiko[27]

Damit wird das Risiko umschrieben, dass Schlüsselpersonen, die das Geschäft maßgeblich prägen, das Haus verlassen.[28]Es steht in engem Zusammenhang zum Commitment der Mitarbeiter.[29]Unter Commitment wird im Folgenden in Anlehnung an Wunderer eine Selbstverpflichtung des Mitarbeiters aus seiner hohen motivationalen Bindung heraus verstanden, „auch bei gestörter situativer Motivation übertragene, aber ungeliebte Aufgaben zu erfüllen“.[30]

-Anpassungsrisiko

Es wird akut, wenn die fachliche Qualifikation der Mitarbeiter nicht mehr der aktuellen strategischen Ausrichtung des Unternehmens und den daraus resultierenden operativen Anforderungen entspricht.[31]Die qualitative Komponente dieses Risikos besteht hauptsächlich in der Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbereitschaft der Mitarbeiter.[32]

-Motivationsrisiko

Dieses umfasst das Risiko zurückgehaltener Leistung, auch aufgrund innerer Kündigung oder Burn-Outs,[33]weltanschaulicher Überzeugung oder aus Gewissensgründen.

-Deliktrisiko

Klöti ergänzt Kobis Aufzählung um das Risiko vorsätzlicher unerlaubter Hand­lung zur eigenen Bereicherung, aus Rache, aus Gleichgültigkeit oder aus Freu­de an Straftaten.[34]Unberücksichtigt bleiben bei ihm Delikte aus ideologischen Motiven, die die vorliegende Arbeit ebenfalls in die Deliktrisiken einstuft.

-Integrationsrisiko

Klaffke fügt das Risiko von Reibungsverlusten im Leistungs­erstellungsprozess hinzu und begründet dieses damit, dass aufgrund des erwarteten Fachkräfte­mangels „vormals häufig monolithisch geprägte“ Belegschaften sich zuneh­mend mit Kollegen mit „unter­schiedlichen sozialen, kulturellen, eth­nischen oder auch Erfahrungs­hintergründen“ auseinandersetzen müssen.[35]

-Unterwanderungsrisiko

Bei diesem in der Literatur bislang vernachlässigten Subrisiko handelt es sich darum, dass Menschen sich gezielt als Mitarbeiter anwerben lassen, um dann gemeinsam mit ideologisch Gleichgesinnten das Unternehmen gegen den Willen der Eigentümer oder gegen die Interessen der Stakeholder[36]in ihrem Sinne zu verändern.

3 Ideologisch konfliktträchtige Gruppen

Der Glaube an eine größere und bessere Zukunft
ist einer der mächtigsten Feinde gegenwärtiger Freiheit.

(Aldous Huxley)

3.1 Überblick

Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht pluralistisch geprägt. Das Vorhandensein größerer und kleiner Gruppierungen an sich ist kein Grund zur Besorgnis.[37]Der Begriff „Sekte“, der für solche Gruppierungen umgangssprachlich häufig benutzt wird, ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zum einen wird er in der Umgangssprache nicht nur deskriptiv, sondern wertend benutzt. Zum anderen wurde dieser Begriff seit dem Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein kriminalisierend verwendet.[38]Auch in theologischer Hinsicht ist seine Bedeutung nicht vollends klar.[39]

Im Rahmen dieser Arbeit wird daher die Bezeichnung „ideologisch konfliktträchtige Gruppe“ benutzt. Damit soll verdeutlicht werden, dass es dabei nicht um die Größe der Religionsgemeinschaft oder um die Einzelheiten der Lehre geht. Vielmehr rückt das Konfliktpotenzial der Gruppe im Verhältnis zur Gesellschaft als solcher in den Vorder­grund. Dieses resultiert aus einem anderen Umgang mit jenen Werten, Normen und Verhaltensweisen, die in der pluralistischen Gesellschaft Westeuropas als universell gelten. Der Begriff des ideologisch Konfliktträchtigen[40]geht dabei über Religion und Weltanschauung hinaus. Jede Art von Inhalt kann ideologisch konfliktträchtig werden, „sei es Politik, Religion, Handel, Selbstvervollkommnungstechniken,… Meditation, asiatischer Kampfsport, Öko-Lebensstil und so fort“.[41]

Religiöse Ideologien beschreiben Almond, Appleby & Sivan mit dem Wort Fundamentalismus:

„‚Fundamentalism’, in this usage, refers to a discernible pattern of religious militance by which self-styled ‚true believers’ attempt to arrest the erosion of religious identity, fortify the borders of the religious community, and create viable alternatives to secular institutions and behaviors.”[42]

Religionsgemeinschaften werden dann zu einem gesellschaftlichen Problem, wenn sie das Heil für alle Menschen nur in ihrer Gruppe sehen und sich gleichzeitig für auserwählt halten, allen anderen dieses Heil zu bringen.[43]Diese Grup­pen neigen dazu, ihre Lebens­wirklichkeit „ideell, kulturell, sozial, unter Umstän­den auch wirtschaftlich [und] poli­tisch“ aus den in ihnen geltenden Ansichten herzuleiten und zu begründen.[44]Meist sind sie autoritär strukturiert. Das letzte Wort in allen Fragen hat die Leitung der Gemein­schaft; eine neutrale Appellationsinstanz (z. B. eine unabhängige Judikative) gibt es nicht.

Solche Gruppierungen geben sich gern den Anschein von Innovation und Exklusivität. Ihre Mitglieder halten sich für Erleuchtete oder Berufene, während alle anderen als min­derwertig gelten. Auch vermittelt man häufig,denWeg zur Lösung aller Probleme ge­funden zu haben. Schließlich ist oft eine doppelte Moral vorzufinden: Innerhalb der Gruppe wird eine totale (häufig auch „totalitäre“) Offenheit erwartet, Nichtmitglieder dürfen jedoch getäuscht und manipuliert werden. So entsteht eine „private Moral… jen­seits der geltenden gesellschaftlichen Normen“.[45]Diese Gruppierungen nutzen zum Zu­sammenhalt ihrer selbst verschiedene Mechanismen intensiver sozialer Manipulation.[46]

Hassan greift zurück auf Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz, der zufolge der Mensch bestrebt ist, einen Einklang in seinem Denken, Fühlen und Handeln hervor­zubringen,[47]und beschreibt die in diesem Zusammenhang häufig genutzten Techniken[48]der Manipulation:[49]

-Verhaltenskontrolle

Das Verhalten wird allumfassend reglementiert, z.B. in Bezug auf Klei­dung, Frisur, Nahrung etc. Ein straffer Zeitplan sieht für Erholung kaum Zeit vor, widmet dafür aber einen großen Anteil der Zeit der Indoktrination durch die Gruppe. Eine absolute Gehorsamsforderung gegenüber der Obrigkeit, verbunden mit einem detaillierten System von Belohnung und Bestrafung sorgt für die Einhal­tung der Verhaltensnormen. Gruppendenken geht vor Individualdenken.

-Gedankenkontrolle

Es gibt ein klares Schwarz-Weiß-Schema: Drinnen sind die Guten und draußen sind die Bösen. Ein anderes, alternativ zulässiges Glaubens­system existiert nicht. Kritik an der Gruppe, an der Leitung oder an der Lehre ist unzulässig. Zweifel werden mit Denkstopp-Techniken unterdrückt. Die Weltanschauung der Gruppe stellt „die“ Wahrheit schlechthin dar. Eine emotional aufgeladene Sprache[50]ersetzt eine logische Argu­mentation.[51]

-Gefühlskontrolle

Angst und Schuld werden überbetont. Es gibt vielerlei Dinge, vor denen Ängste geschürt werden: Furcht vor unabhängigem Denken, Furcht davor, die Gruppe verlassen zu müssen, Furcht vor dem Verlust der „Rettung“, Furcht vor der Welt „da draußen“ u. v. m. Eine glückliche und erfüllte Zukunft außerhalb der Gruppe ist nicht vorstellbar. Wer die Gruppe verlässt, muss mit „dem Schlimmsten“ rechnen. Das kann – je nach Ausprägung – die ewige Höllenqual sein, Dämonen ergreifen Besitz von der Person, das Auftreten von schrecklichen Krankheiten oder fürchterlichen Unfällen. Entstehende Probleme liegen immer an der schlechten Umsetzung oder der kritischen Einstellung des Mitgliedes, niemals bei der Führung. Die Emotionen werden polarisiert: Nach innen ist uneingeschränktes Vertrauen gefordert; nach außen gelten Furcht und/oder Hass.

-Informationskontrolle

Nach innen und nach außen wird von der Täuschung Gebrauch gemacht. Ungläubige dürfen angelogen werden, wenn es dem Gruppenzweck dient. Zuverlässige Informationen sind nur innerhalb der Gruppe von der Leitung erhältlich. Informationsquellen von außer­halb unterliegen dem Teufel, dem Feind, dem Bösen, sind daher unzuverlässig und zu meiden; das gilt insbesondere für ehemalige Mitglieder. Es gibt innerhalb der Gruppe verschiedene Wahrheits­ebenen, der Zugang zu diesen variiert und ist von der Hierarchie innerhalb der Gruppe abhängig. Wer sich unabhängige Informationen beschafft, gilt als potenzieller Kritiker und ist der Führung zu melden.

Im Folgenden werden zwei dieser konfliktträchtigen Gruppen näher vorgestellt, zunächst Scientology und später Jehovas Zeugen.

3.2 Scientology

3.2.1 Geschichtlicher Abriss

Als Gründer der Scientology gilt Lafayette Ronald („L. Ron“) Hubbard, der 1911 in Tilden, Nebraska geboren wurde. Bis heute ist es schwierig, sein Leben zu recherchieren. Zwar überhäuft Scientology „die Welt seit mehr als fünfzig Jahren geradezu mit Details seiner Biographie“; häufig allerdings passen die Einzelheiten nicht zuein­ander und auch nicht zu den durch Dritte belegbaren Fakten.[52]

[...]


[1] Vgl. Bohleber, 2010, S. 25.

[2] Bizeul, 2009, S. 49.

[3] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit stehen in dieser Arbeit Personenbezeichnungen in ihrer generischen Form; selbstverständlich sind damit Frauen und Männer gleichermaßen gemeint.

[4] Zur Vermeidung des Begriffes „Sekte“ vgl. Kapitel 3.1.

[5] Vgl. Riede, 2010, Riede, 2011, Bundesstelle für Sektenfragen, 2010, S. 35f.

[6] Vgl. Klöti, 2008 b, S. 91 f.

[7] Vgl. dazu auch Schulz von Thun, 2004, S. 15 ff.

[8] Vgl. Berger & Luckmann, 2010, S. 139 ff.

[9] Vgl. von Glasersfeld, 2010, S. 30.

[10] Wörtlich: „moralische Unternehmer“; gemeint sind Akteure, die ihre Ansichten als „die“ Rettung vor der vermeintlich herannahenden Bedrohung darstellen und damit die Überreaktion der Gesellschaft weiter anheizen.

[11] Vgl. Goode & Ben-Yehuda, 2009, S. 16f., 26f.

[12] Vgl. Benz & Widmann, 2007, S. 39 f.

[13] Vgl. Pohl, 2010, S. 49 f.

[14] Vgl. Eagleton, 2000, S. 7 – 41.

[15] Vgl. Eagleton, 2000, S. 39.

[16] Vgl. Deckert, 2007.

[17] Vgl. Durkheim, 1965, S. 142.

[18] Eagleton, 2000, S. 39.

[19] Vgl. Shils, 1968.

[20] Vgl. Watzlawick, 2010, S. 206.

[21] Vgl. Porter & Millar, 2008, S. 75

[22] Vgl. Jung, 2011, S. 4.

[23] Kobi, 2002, S. 13,kursivim Original.

[24] Vgl. Klöti, 2008 a.

[25] Gmür & Thommen, 2011, S. 227,kursivim Original.

[26] Börner & Büschgen, 2003, S. 268, Hervorhebung d. Verf.

[27] Daneben zeigt das Austrittsrisiko auch eine quantitative Komponente, die aber mit Blick auf die Zielstellung der Arbeit an dieser Stelle unberücksichtigt bleibt.

[28] Vgl. Kobi, 2002, S. 17.

[29] Vgl. Klaffke, 2009, S. 8.

[30] Wunderer, 2009, S. 66.

[31] Vgl. Kobi, 2002, S. 17.

[32] Vgl. Klaffke, 2009, S. 8.

[33] Vgl. Kobi, 2002, S. 17.

[34] Vgl. Klöti, 2008 b, S. 47 ff.

[35] Klaffke, 2009, S. 9.

[36] Stakeholder: Die Interessengruppen eines Unternehmens, also i. W. Anteilseigner, Mitarbeiter, Lieferanten, Kunden.

[37] Vgl. Deutscher Bundestag XIII. Wahlperiode, 1998, S. 5.

[38] Vgl. Eberlein, 2006, S. 138 f.

[39] Vgl. Deutscher Bundestag XIII. Wahlperiode, 1998, S. 17 ff.

[40] Zum Verständnis des Wortes „Ideologie“ in dieser Arbeit siehe Kapitel 2.1.

[41] Singer & Lalich, 1997, S. 40 f.

[42] Almond, Appleby & Sivan, 2003, S. 17.

[43] Vgl. Angenendt, 2007, S. 374.

[44] Deutscher Bundestag XIII. Wahlperiode, 1998, S. 20.

[45] Singer & Lalich, 1997, S. 36 f.

[46] Vgl. Deckert, 2007, S. 93.

[47] Vgl. Festinger, 1957

[48] Dabei lässt diese Arbeit die Frage offen, ob diese Mechanismen den freien Willen der Mitglieder untergraben, wie es Singer & Lalich (1997, S. 82 ff.) nahelegen, jeglichen Zweifel und jegliche Kritik an der Gruppe über logische, psychologische und soziologische Immuni­sierungstechniken verhindern, wie es z.B. Deckert (2007, S. 19 ff.) interpretiert oder zu einer starken sozialpsychologischen Gruppen­bindung beitragen, so z.B. in Köppl (2001, S. 86 ff.). Für die Zielstellung der vorliegenden Arbeit ist das Ergebnis dieser Techniken, weniger ihre Funktionsweise en detail von Bedeutung.

[49] Folgende Aufzählung in Anlehnung an Hassan, 2000, S. 42 ff.

[50] „Loaded language“, vgl. dazu auch Lifton, 1989, S. 429 f.

[51] Zum Wesen einer solchen Sprache vgl. Deckert, 2007, S. 36.

[52] Vgl. Nordhausen & von Billerbeck, 2008, S. 175.

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Mitarbeiter in sogenannten "Sekten"
Untertitel
Risikobetrachtung und Ansätze zur Risikoprävention aus unternehmerischer Perspektive
Hochschule
Frankfurt School of Finance & Management
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
81
Katalognummer
V192273
ISBN (eBook)
9783656171591
ISBN (Buch)
9783656171805
Dateigröße
710 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Personalrisiken, Sekten, Sekte, Risikoprävention, Scientology, Jehovas Zeugen, Austrittsrisiko, Anpassungsrisiko, Motivationsrisiko, Deliktrisiko, Integrationsrisiko, Unterwanderungsrisiko, Kündigung, Austritt, Motivation, Integration, Diversity, Arbeitsrecht, AGG, Integrität
Arbeit zitieren
Michael M. Drebing (Autor:in), 2012, Mitarbeiter in sogenannten "Sekten", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192273

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Titel: Mitarbeiter in sogenannten "Sekten"



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