Schülervorstellungen über Demokratie

Eine explorative Studie in der Grundschule


Examensarbeit, 2008

217 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Sicht der Schüler in der Sachunterrichtsdidaktik

3 Der Wissenserwerb von Grundschulkindern

4 Demokratie und Demokratielernen
4.1 Demokratie
4.2 Demokratielernen

5 Forschungsstand zum demokratischen Bewusstsein von Grundschulkindern

6 Empirischer Teil

6.1 Erhebungsmethoden
Quantitative Erhebungsmethode
Qualitative Erhebungsmethode
Anmerkung
6.2 Datenerhebung
6.3 Interviewleitfaden
Kategorie 1 - Mitbestimmen
Kategorie 2 - Basis
Kategorie 3 - Wahl
Kategorie 4 - Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Kategorie 5 - Gleichberechtigung
Kategorie 6 - Geschlechterrollen
Kategorie 7 - Regeln
Ergänzung
Interviewleitfaden der Lehrerin
6.4 Auswertung der Interviews
6.4.1 Interview 1 - Isabel
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung

6.4.2 Interview 2 - Leonie
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.3 Interview 3 - Georg
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.4 Interview 4 - Leo
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.5 Interview 5 - Adrian
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.6 Interview 6 - Lorena
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.7 Interview 7 - Melina
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.8 Interview 8 - Sofi
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.9 Interview 9 - Lia
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.10 Interview 10 - Franziska
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.11 Interview 11 - Tuna
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.12 Interview 12 - Caroline
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.13 Interview 13 - Andrea
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.4.14 Interview 14 - Selma
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Zusammenfassung
6.5 Die Lehrerin - Vorstellungen über Vorstellungen
Mitbestimmen
Basis
Wahl
Gleichberechtigung
Geschlechterrollen
Regeln
Ergänzung
Zusammenfassung
6.6 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

7 Schlussbemerkung

8 Anhang
8.1 Interviewleitfaden
8.1.1 Schüler
8.1.2 Lehrerin
8.2 Transkriptionen
8.2.1 Transkript 1 - Isabel (8 Jahre)
8.2.2 Transkript 2 - Leonie (8 Jahre)
8.2.3 Transkript 3 - Georg (8 Jahre)
8.2.4 Transkript 4 - Leo (7 Jahre)
8.2.5 Transkript 5 - Adrian (8 Jahre)
8.2.6 Transkript 6 - Lorena (7 Jahre)
8.2.7 Transkript 7 - Melina (9 Jahre)
8.2.8 Transkript 8 - Sofi (7 Jahre)
8.2.9 Transkript 9 - Lia (8 Jahre)
8.2.10 Transkript 10 - Franziska (7 Jahre)
8.2.11 Transkript 11 - Tuna (9 Jahre)
8.2.12 Transkript 12 - Caroline (8 Jahre)
8.2.13 Transkript 13 - Andrea (8 Jahre)
8.2.14 Transkript 14 - Selma (7 Jahre)
8.2.15 Transkript 15 - Klassenlehrerin Frau H

9 Literatur

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Überblick über die interviewten Kinder

Abb. 2: Legende Transkriptionen

Anmerkung

Der Gebrauch der männlichen Schreibweise für die Begriffe Lehrer, Schüler, Klassensprecher und Forscher dient lediglich der Vereinfachung und bezieht sich selbstverständlich auch auf Frauen.

1 Einleitung

„Ich bin nicht jung genug, um alles zu wissen“. Dieses Zitat von einer unbekannten Person las ich vor Jahren in einem Buch. Der Glaube und das Wissen, Herr über die Welt zu sein, alles zu verstehen, die Augen zu öffnen für die Wunder dieser Erde, das ist es, was unsere Kinder zu Kindern macht - und was sie den Erwachsenen voraus haben. Dies ist auch der Grund, warum wir die Kinder fragen müssen, befragen müssen, denn ihr Blick auf die Welt ist ein anderer, ein direkter, ein „unschuldiger“.

Sinn und Zweck der vorliegenden Arbeit ist es, einen kleinen Ausschnitt aus dem reichhaltigen Erfahrungsschatz der Kinder zu erfassen und mit erwachsenen Augen zu analysieren. Auch wenn es nicht ideal erscheint, die Vorstellungen der Kinder auf diese Weise zu interpretieren, so denke ich wie Hartinger (2002), dass man die subjektive Sicht der Schüler dennoch erheben muss (vgl. S. 228).

In dieser Arbeit widme ich mich dem Demokratiebewusstsein von Grundschülern der zweiten Klasse. Dazu habe ich mit empirischen Methoden vierzehn Schüler und eine Lehrerin befragt. Drei Fragen dienten mir dabei als Ausgangspunkt:

- Verfügen sieben- bis neunjährige Kinder bereits über eine eigene Vorstel- lung von demokratischen Prinzipien wie das Recht auf Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit?
- Falls die Kinder ein Demokratiebewusstsein besitzen, ist dieses Bewusstsein dann egozentrisch orientiert, oder denken sie, dass demokratische Prinzipien allen Menschen zuteil werden sollten?
- Welche Vorstellungen hat eine Lehrperson von den Vorstellungen ihrer Schüler? Besteht hier ein Unterschied zwischen den auf Vermutung basier- enden Lehrervorstellungen zum Demokratiebewusstsein der eigenen Schül- er und den tatsächlichen Schülervorstellungen zu demokratischen Prinzipi- en?

Diesen drei Fragen soll vor allem in Kapitel 6 Empirischer Teil nachgegangen werden. Dort beschäftige ich mich zunächst mit verschiedenen Erhebungsmethoden, die sich für Interviews mit Kindern eignen. Danach folgen eine Beschreibung der Datenerhebung, die

Begründung des Interviewleitfadens und die Auswertungen der Schülerinterviews und des Interviews mit der Klassenlehrerin der Kinder. Abschließend werden die Untersuchungsergebnisse der Auswertungen zusammengefasst.

Beginnen werde ich die wissenschaftliche Hausarbeit mit der Sicht der Schüler in der Sachunterrichtsdidaktik. Hier stelle ich die Bedeutung heraus, die die individuelle Sicht der Schüler nicht nur für empirische Erhebungen hat, sondern auch für den eigentlichen Unterricht in der Schule.

Kapitel 3 beschäftigt sich dann mit dem Wissenserwerb von Grundschulkindern. Um Kinder optimal fördern und fordern zu können, ist es wichtig zu wissen, wie Kinder lernen und wie sie ihre Umwelt wahrnehmen.

Anschließend folgt in Kapitel 4 Demokratie und Demokratielernen ein kurzer Einblick in die Eigenschaften und Merkmale einer Demokratie und in die nachhaltige Umsetzung von Demokratielernen in der Schule. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Demokratieverständnis John Deweys, welcher Demokratie als eine „persönliche Art individuellen Lebens“ (Bohnsack 2003, S. 21) definiert hat.

Bevor in Kapitel 6 die Schülervorstellungen über Demokratie untersucht werden, widmet sich Kapitel 5 dem aktuellen Forschungsstand zum demokratischen Bewusstsein von Grundschulkindern. Dabei wird untersucht, welche Studien sich bereits intensiv mit dem Demokratiebewusstsein von Kindern beschäftigt haben und wie sich ein Demokratiebewusstsein beim Menschen überhaupt entwickelt.

Abschließend greift Kapitel 7 Schlussbemerkung die eingangs gestellten Fragen wieder auf und führt sie zu einem Ende.

„Die Dinge sind mit Willen und Einsichtsfähigkeit begabt und in ihren Handlungen völlig frei, aber ihr Wille ist ein guter Wille und an moralische Regeln gebunden“ (Freese 1997, S. 119).

2 Die Sicht der Schüler in der Sachunterrichtsdidaktik

Kinder, die heute in die Schule kommen, verfügen durch Sozialisation in der Familie, in den Medien und durch Freunde bereits über ein breites Spektrum an Wissen, Erfahrungen und Vorstellungen. All diese Dinge sind individueller Natur. Jedes Kind besitzt andere Vorstellungen von der belebten und unbelebten Welt, von ihren Unterschieden und ihren Zusammenhängen. Manche dieser Vorstellungen laufen im Einklang mit wissenschaft- lichen Vorstellungen, andere Vorstellungen hat das Kind jedoch auch exklusiv für sich. Aber ist die subjektive Vorstellung, wenn sie mit der wissenschaftlichen nicht deckungs- gleich ist, denn falsch? Welcher Aufgabe muss sich eine Lehrperson stellen, wenn Schüler mit ganz verschiedenen Vorstellungen in den Unterricht kommen? Und ist es überhaupt notwendig zu wissen, welche konkrete Vorstellung ein Kind von einer Sache oder einem Vorgang hat? All diese Fragen haben einen spezifischen Wert, darauf näher einzugehen es sich lohnt.

Die Erforschung der Schülervorstellungen ist kein junger Bereich der Didaktik. Duit (1992) zitiert in seiner Arbeit Forschungen zur Bedeutung vorunterrichtlicher Vorstellungen für das Erlernen der Naturwissenschaften den Volksschul-Pädagogen Diesterweg, der bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck brachte, dass vorunterrichtlich erworbenes Wissen der Kinder im Unterricht eine wichtige Rolle spielt (vgl. S. 48). Duit (1997) bezieht sich in seiner Arbeit zwar ausschließlich auf den naturwissenschaftlichen Bereich, doch dürfte klar sein, dass sich seine Aussage „daß die vorunterrichtlichen Vorstellungen, mit denen die Lernenden in den naturwissenschaftlichen Unterricht hineinkommen, das Erlernen der naturwissenschaftlichen Begriffe und Prinzipien tiefgreifend bestimmen“ (S. 234) auch auf sozialwissenschaftliche Gebiete beziehen lässt.

In Untersuchungen zu Schülervorstellungen liegt heute der Schwerpunkt klar auf den naturwissenschaftlichen Bereichen. Vorstellungen zu soziokulturellen Bereichen sind in der Minderzahl (vgl. Einsiedler 2002, S. 25ff.). Dasselbe Bild zeigt sich bei der Erhebung von Schülervorstellungen durch Studenten in deren wissenschaftlichen Hausarbeiten, die im Rahmen des europäischen Projekts „STIPPS“ Grundschulkinder zu sachunterrichtstypischen Themen befragen und deren Vorstellungen dokumentieren (vgl. Schmeinck / Kosack 2006, S. 193ff.). Auch hier dominieren außer dem Themenfeld Geografie vor allem Inhalte aus dem naturwissenschaftlichen Bereich.

Naturwissenschaften wie auch Sozialwissenschaften gehören in der Grundschule dem Bereich Sachunterricht an. Aufgabe des Sachunterrichts ist es unter anderem, „Fragen, Interessen und Lernbedürfnisse der Kinder von heute zu berücksichtigen“ (Hempel 2003, S. 161) und demnach auch ihre subjektive Sicht. Petillon (2002) formuliert drei Leitideen, warum es so wichtig ist, die individuelle Perspektive des Kindes zu beachten (vgl. S. 17):

- Erstens wird in den Handlungen und Äußerungen der Kinder nicht nur ein „Sinn“ erkannt, sondern dieser auch anerkannt.
- Zweitens wird den Kindern mehr Glaubwürdigkeit eingeräumt, da sie als Experten in eigener Sache angesehen werden.
- Drittens haben Kinder heute aufgrund einer Erweiterung des demokrati- schen Partizipationsprinzips das Recht auf aktive Teilhabe und Mitbestimmung (siehe auch Kapitel 4.2 Demokratielernen).

Entscheidend für den schulischen Lernprozess ist dabei die Lehrperson (vgl. Wasmund 1982b, S. 68). Auch sie kommt mit einer subjektiven Vorstellung in den Unterricht. Die Schwierigkeit liegt im Gegensatz zu den Schülern jedoch darin, dass der Lehrer „alle Äußerungen der Schüler nur auf dem Hintergrund seiner eigenen Vorstellungen inter- pretieren kann […]. Die Konstruktionen des Lehrers sind also immer Konstruktionen von Konstruktionen“ (Duit 1992, S. 58). Dies ist eine Dilemma-Situation, mit welcher auch Forscher, die mit empirischen Erhebungen arbeiten, allgemein zu „kämpfen“ haben. Denn auch der Forscher interpretiert die Aussagen der von ihm befragten Schüler immer nur auf der Basis seiner eigenen Vorstellungen. Mit diesem Dilemma hat sich Fromm (1987) beschäftigt. Indem sich Lehrer in die Situation versetzen, wie sie selbst früher als Schüler handelten, versuchen sie, ihre eigenen Schüler besser zu verstehen, was aber nicht funktio- nieren kann. Der Grund dafür liegt in den unterschiedlichen Erfahrungen des Lehrers und des Schülers. Der Lehrer weiß in der Regel nur über einen Bruchteil der Erfahrungen des Schülers Bescheid. Und nur auf der Grundlage dieses Bruchteils kann er versuchen, die Sicht des Schülers zu verstehen (vgl. S. 190ff.). Ein Teil dieser wissenschaftlichen Haus- arbeit besteht darin, genau diese Vorstellungen von Vorstellungen zu erheben und auszu- werten. In Kapitel 6.5 Die Lehrerin - Vorstellungenüber Vorstellungen wird näher darauf eingegangen.

Da die Lehrerperson immer nur Vermutungen über die Sicht des Schülers anstellen kann, ist es vonnöten, Kinder über ihre Vorstellungen zu befragen. Dies gilt nicht nur für Pädagogen, sondern für alle Erwachsenen (vgl. Brückner 2003, S. 95). Das Ergebnis dieser Befragungen dient jedoch nicht dazu, die verschiedenen Sichtweisen und Alltagsvorstel- lungen der Kinder „zu überwinden, ja möglichst auszurotten“ (Duit 1992, S. 71), sondern die Kinder müssen erkennen, dass es nicht nur ihre eigene Vorstellung gibt, sondern auch noch eine wissenschaftliche bzw. eine fachlich orientierte. Beide Vorstellungen haben ihre Berechtigung, jedoch immer nur „unter bestimmten Rahmenbedingungen“ (ebd., S. 71). Ein Ansatz, der sich aus Untersuchungen zu Vorstellungen der Schüler in den 80er Jahren entwickelt hat ist der Conceptual-Change-Ansatz. Das ursprüngliche Denkmodell, welches hinter dieser Theorie steckt, sollte dafür sorgen, dass die vorunterrichtlichen Alltagsvor- stellungen der Grundschulkinder „allmählich korrekten Konzepten weichen“ (Einsiedler 1997, S. 30). Vier Bedingungen müssen dementsprechend erfüllt sein, damit ein „Konzept- wechsel“ stattfindet (vgl. ebd., S. 30; Duit 1997, S. 238):

- Erstens muss der Lernende mit seiner bisherigen Vorstellung unzufrieden
sein.
- Zweitens muss die neue Vorstellung logisch verständlich sein.
- Drittens muss sie plausibel sein.
- Viertens muss sie sich in einer neuen Situation als erfolgreich erweisen.

Es hat sich in Untersuchungen jedoch gezeigt, dass die Schüler mitnichten ihre subjektiven Alltagsvorstellungen änderten, einfach weil sich viele davon im Alltag bestens bewährt haben. Deswegen geht man heute davon aus, dass „vorunterrichtliche Alltagsvorstellungen und die wissenschaftlichen Vorstellungen in einer gewissen Koexistenz nebeneinander bestehen bleiben“ (Duit 1997, S. 238). Es genügt nicht, dem Schüler einzureden dass die wissenschaftliche Sichtweise die richtige ist und seine eigene die falsche. Der Schüler muss für sich selbst erkennen, was wahr ist und was nicht. Dies kann er, indem ihm von der Lehrperson eine Lernumgebung zur Verfügung gestellt wird, die den Konzeptwechsel nachhaltig unterstützt (vgl. ebd., S. 239). Für die Lehrperson selbst ist das „Kennen lernen“ der Sichtweise eines jeden Schülers, und seien es nur winzige Ausschnitte, der Beginn einer Reise in eine subjektiv einzigartige Welt.

3 Der Wissenserwerb von Grundschulkindern

Wie wir im vorangehenden Kapitel gesehen haben, spielt die Perspektive des Kindes in der Sachunterrichtsdidaktik eine große Rolle. Um Kinder optimal fördern und fordern zu können, ist es wichtig zu wissen, „was Kinder von ihrer Welt in welchem Alter günstigstenfalls wissen können und wie dies vor sich geht“ (Büttner 2004, S. 32). Daher werden wir uns nun dem Wissenserwerb von Grundschulkindern zuwenden und der Frage, wie Kinder überhaupt ihre Umwelt wahrnehmen.

„Kinder sind schlauer als manche Pädagogen meinen“ (S. 89). So überschreibt Wilkening (1994) einen Beitrag der Entwicklungspsychologie zur Denkweise von Kindern. Doch fällt es vorab schwer, das zu glauben, denn Kinder wirken auf Erwachsene erstmal sehr naiv. Ihr Denkstruktur ist einfach und ihre Wortwahl ebenso. Ihre Entwicklung ver- läuft „zunächst einmal gemäß den in ihnen vorhandenen genetischen Programmen von allein“ (Büttner 2003, S. 20). In der Entwicklungspsychologie konnte in den letzten Jahren jedoch nachgewiesen werden, dass die Fähigkeit zu abstraktem Denken bereits im Alter von nur wenigen Monaten vorhanden ist. Versuche mit Säuglingen im so genannten Habi- tuationsparadigma haben dies bestätigt (vgl. Stern 2002, S. 30). Dass diese Fähigkeit nicht aus der Handlungserfahrung in den wenigen Monaten, die der Säugling lebt, entstanden sein kann, zeigt, dass Gene jeden Menschen „nicht nur auf das Lernen der Sprache vor- bereiten, sondern auch auf die Verarbeitung von Information aus der belebten und unbe- lebten Umgebung“ (ebd., S. 30). Damit steht dieses Ergebnis der neueren Säuglings- forschung im Widerspruch zu Piagets Annahme, das Kind wäre in den ersten Lebens- monaten noch nicht zu einfachsten Abstraktionsleistungen fähig (vgl. ebd., S. 29f.). Über- haupt Piaget. Geht es um die kognitive Entwicklung von Kindern, trifft man unweigerlich auf Piagets kognitionspsychologische Grundannahmen. Diese besagen, dass sich das Kind „die Vorstellung von der Welt und seiner eigenen Rolle aktiv aneignet“ (Moll 2001, S. 34). Indem sich das Kind aktiv mit seiner Umgebung auseinandersetzt, lernt und entwickelt es sich. Das Konzept der Äquilibration ist dabei der entscheidende Prozess (vgl. Glasersfeld 1994, S. 34f.; Portele 1994, S. 112ff.) Es beschreibt einen Zustand des Gleichgewichts für das Individuum. Ein einfaches Beispiel kann dies näher verdeutlichen:

Ein Kind lebt mit der Vorstellung, dass Flugzeuge immer fliegen. Sie können zwar auf dem Boden rollen, wenn die Menschen ein und aussteigen wollen, oder wenn das Flugzeug aufgetankt wird, aber eigentlich sind Flugzeuge da um zu fliegen. Und auch wenn diese Flugzeuge verschiedene Formen und Größen haben, so wird die Erwartung, die das Kind an ein Flugzeug hat, immer wieder erfüllt. Sieht das Kind ein Flugzeug, das es noch nicht kennt, so weiß es gleich, dass das ein Flugzeug ist und deshalb fliegen kann. Das Kind assimiliert, es löst das Problem des Auftauchens eines neuen Flugzeugs mit seinen „bereits vorhandenen Denkschemata“ (Dollase 1997, S. 22) Aber was ist, wenn das Kind ein Flugzeug sieht, das auf dem Wasser schwimmt? Darauf könnte es nicht vorbereitet sein, da es bisher immer davon ausgegangen ist, dass Flugzeuge fliegen und nicht schwimmen. In den vorhandenen Denkschemata tritt damit eine Störung auf, eine Perturbation. Diese Stö- rung verändert die Denkschablone des Kindes. Die Eigenschaft „schwimmen“ wird nun einem Flugzeug hinzugefügt. Dieser Vorgang nennt man Akkomodation. Das Kind hat gelernt, dass Flugzeuge nicht nur fliegen, sondern manche von ihnen auch schwimmen können. Damit wird die Perturbation beseitigt und der Zustand des Gleichgewichts, die Äquilibration tritt wieder an die erste Stelle.

Obwohl Piaget in den letzten Jahren sehr viel Kritik erfahren hat, vor allem aufgrund seines Stufenmodells, welches die kognitive Entwicklung „als invariant und unumkehrbar, als hierarchische Integration und strukturierte Ganzheiten“ (Moll 2001, S. 35) beschreibt, was inzwischen durch empirische Untersuchungen widerlegt wurde („Stufen können über- sprungen werden. Auch bilden Stufen keine strukturierte Ganzheit“, ebd., S. 44), „so bleibt seine konstruktivistische Grundidee der Entwicklung unangefochten: Neue kognitive Kom- petenzen sind das Ergebnis einer aktiven Konstruktion und nicht einer passiven Über- tragung vom Lehrenden zum Lernenden“ (Stern 2002, S. 40). Das Kind muss seine Umge- bung aktiv und selbständig entdecken und nutzen, um die Welt, wie es sie vorfindet, zu verstehen. Dollase (1997) nennt die Leitlinie: „Das Kind als Forscher“ (S. 23). Wichtig dabei ist, dass jedes Kind die Welt mit anderen Augen sieht, denn jedes Kind macht unter- schiedliche Erfahrungen, aus denen sich sein subjektives Weltbild wiederum konstruiert (vgl. Aufschnaiter et al. 1992, S. 389). Was das eine Kind für richtig hält, muss das andere Kind nicht ebenfalls so sehen. Daraus folgt, dass den Kindern im erzieherischen Alltag Gelegenheiten geschaffen werden müssen, „in denen sie erfahren und nachvollziehen kön- nen, dass es andere Sichtweisen gibt und wie diese aussehen“ (Strätz 2003, S. 137). Für das soziale Miteinander ist das Lernen, eine fremde Perspektive einzunehmen, von beson- derer Bedeutung, denn nur so kann man in einer bestimmten Situation angemessen reagie- ren. Doch gilt die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme nicht nur für Kinder. Auch die Erzieherinnen, die sich jeden Tag mit einer Gruppe von Kindern beschäftigen, müssen „die Perspektiven der Kinder erfassen und berücksichtigen und das weitere Geschehen aushandeln“ (ebd., S. 142). Damit erfüllen sie gleichzeitig die Aufgabe eines Modells, an dem sich die Kinder das richtige Verhalten abschauen können. Oder wie es Aufschnaiter et al. (1992) treffend zusammenfassen: „Lernen als die Entwicklung subjektiver Erfahrungsbereiche. Immer geht es darum, Konstruktionen für angemessenes Handeln in der jeweils gegebenen Umwelt zu erzeugen“ (S. 394).

4 Demokratie und Demokratielernen

Nachdem wir uns mit der Frage beschäftigt haben, wie Kinder ihre Umwelt wahrnehmen und wie ihr Wissenserwerb funktioniert, wenden wir uns nun dem Ausgangspunkt dieser Arbeit zu: der Demokratie. Dieses Kapitel beschreibt dabei in aller Kürze zunächst die Eigenschaften und Merkmale einer Demokratie und wendet sich danach dem Demokratielernen in der Grundschule zu. Dabei geht es vor allem um die Frage, welchen Nutzen Kinder vom „Demokratie lernen“ haben, denn mit Demokratie verbinden einige Menschen in erster Linie ein politisches System (vgl. Shinar-Zamir 2006, S. 31) und leben damit nach einer „älteren, weit verbreiteten Auffassung, wonach Politik noch jenseits des Erfahrungsraumes von Kindern liege“ (Reeken 2003, S. 25).

4.1 Demokratie

Was ist Demokratie? Ohne auf die verschiedenen Demokratieformen näher einzugehen, die Schmidt (2000) in seinem Lehrbuch Demokratietheorien beschreibt, ist Demokratie heute vor allem zweierlei: einerseits eine „repräsentativ gestaltete, rechts-staatlich organi- sierte Herrschaftsform auf der Makro-Ebene der Gesellschaft“ (Himmelmann 2007, S. 10), die sich vor allem auf die zentralen Grundprinzipien der Freiheit, Gleichheit aller Bürger und Brüderlichkeit gründet, und andererseits ein Lebensstil, eine „persönliche Art indivi- duellen Lebens“ (Bohnsack 2003, S. 21), um die Worte von John Dewey zu gebrauchen. Dewey, amerikanischer Philosoph und Pädagoge, sieht die Demokratie als einen Prozess, der niemals zu Ende ist. Demokratie ist für ihn Wissenschaft, „unbehinderte Untersuchung dessen, was Verbesserung, auch soziale Entwicklung, verspricht, Ablegen von Scheu- klappen und Dogmen und von Intoleranz“ (ebd., S. 21). Indem Dewey die Einmaligkeit des Individuums betont und damit den Glauben an die Möglichkeiten der menschlichen Natur, zeigt er uns ein Verständnis von Demokratie, das durch und durch liberal ist, durch- drungen von einem Zusammengehörigkeitsgefühl, von Kooperation und von der Beteili- gung des Einzelnen, so auch der des Kindes in der Familie, der Schule und überhaupt in der Gemeinschaft (vgl. ebd., S. 22f.).

4.2 Demokratielernen

Wie findet Demokratielernen im Geiste Deweys statt? Die Förderung und Entwicklung der Demokratie ist heute zentrales Anliegen der politischen Bildung (vgl. Himmelmann 2007, S. 10). Bereits in den Bildungsplänen der 50er Jahre tauchte die politische Bildung auf. Zunächst zwar lediglich im gemeinschaftsbildenden Zusammenleben im überschaubaren Heimatkreis, in den 70er Jahren jedoch schon als Gesellschaftslehre mit Inhalten wie Konfliktlösung, Rollenverhalten, Regeln und Ordnungen, oder auch in der Zusammenarbeit durch Absprache (vgl. Götz 1994, S. 119ff.). Die Lernziele der politischen Bildung orientierten sich dabei „an der Leitnorm des mündigen Bürgers“ (ebd., S. 119), sprich an der Selbst- und Mitbestimmung des Individuums.

Dies gilt auch heute noch. Wie Burk (2003) bemerkt, ist Demokratie ein „gesamt- gesellschaftlicher Prozess“ (S. 17), der Mitbestimmung und Selbstbestimmung in allen Bereichen des Lebens umfasst. Indem Kinder die Möglichkeit bekommen zu partizipieren (siehe auch 6.3 Interviewleitfaden), sich an den Geschehen des Alltags aktiv zu beteiligen und lernen Verantwortung zu übernehmen, werden sie nachhaltig in ihrer Entwicklung beeinflusst (vgl. Völkel 2000, S. 143; Marel 2004, S. 194). Wichtig dabei ist vor allem, dass Kinder das Recht auf aktive Teilhabe und Mitgestaltungsmöglichkeiten nicht erst durch die Lehrperson zugebilligt bekommen, sondern dass sie dieses Recht haben, weil sie gleichberechtigter Teil einer demokratischen Gemeinschaft sind. Die Frage, ob Kinder etwas machen oder lernen sollten, obwohl sie es in den Augen vieler Erwachsenen nicht verstehen würden, stellt sich nicht. Natürlich sind Kinder keine Erwachsenen, sondern anders (vgl. Völkel 2000, S. 147), sie verfügen noch nicht über die komplexen gesamt- gesellschaftlichen Zusammenhänge, und doch haben sie „große Potentiale für die Gestal- tung ihres schulischen und außerschulischen Lebens“ (Prote 2004, S. 142). Die Schule als der einzige gesellschaftliche Ort, den alle Kinder durchlaufen müssen (vgl. Wegener- Spöhring 2003, S. 85), hat die Aufgabe, Kinder bereits in jungen Jahren - ausgehend von der eigenen subjektiven Welt, über ihre unmittelbare Lebenswelt hin zur großen weiten Welt (vgl. Bönsch 2004, S. 52f.) - durch Partizipation an Entscheidungen des gesamten schulischen Lebens auf ein Dasein als aktive demokratische Bürger in der gegenwärtigen und zukünftigen Welt einzustellen und damit direkt Einfluss auf die demokratische Bewusstseinsbildung zu nehmen.

5 Forschungsstand zum demokratischen Bewusstsein von Grundschulkindern

Bevor wir uns im nächsten Kapitel dem empirischen Teil dieser Arbeit und damit den Schülervorstellungen über Demokratie widmen werden, wollen wir uns zunächst mit dem aktuellen Forschungsstand zum Demokratiebewusstsein von Grundschulkindern beschäf- tigen. Die Studie „Demokratie leben lernen“, die im Buch Kinder und Politik von Deth et al. (2007) ausführlich vorgestellt wird, geht unter anderem der Frage nach, ob Kinder bereits bei Schuleintritt über widerspruchsfreie Wertorientierungen verfügen, die sich im Einklang mit demokratischen Prinzipien befinden (vgl. Abendschön 2007, S. 202). Dabei wurden Kinder mehrerer Mannheimer Grundschulen mithilfe eines standardisierten Frage- bogens nach ihren politischen Ansichten befragt. Abendschön zeigt in ihrer Auswertung der Ergebnisse zu demokratischen Werten und Normen, dass Kinder „ihre Bildungs- karriere offensichtlich mit deutlichen Vorstellungen wünschenswertem Verhalten starten“ (ebd., S. 202). Kinder verfügen demnach schon in frühen Jahren über eine konsistente Wertorientierung (vgl. Deth / Rathke 2007, S. 20). Dass sie dieses Bewusstsein bereits zu Beginn des Schuleintritts haben, bedeutet, dass unterschiedliche familiäre und soziale Kontextfaktoren wie Geschlecht, Religion, kulturelle Herkunft usw. einen großen Einfluss auf das Niveau der Wertorientierung haben. In ihrer Analyse konnte Abendschön zeigen, dass die Schule im Laufe des ersten Schuljahres zwar einen positiven Einfluss auf die Wertvorstellung des Kindes insgesamt hat, dass jedoch am Ende des ersten Schuljahres aufgrund der eben genannten Kontextfaktoren noch beträchtliche Unterschiede zwischen den Vorstellungen der einzelnen Kinder bestehen (S. 203).

Im vorhergehenden Kapitel haben wir gesehen, dass politische Bildung in der Grund- schule wichtig ist für die Entwicklung von Demokratie. Durch die Studie „Demokratie leben lernen“ wissen wir, dass Kinder über eine konsistente Wertorientierung bereits zu Beginn ihrer Grundschulzeit verfügen. Brückner (2003) schreibt in ihrem Aufsatz Beteili- gung hei ß t teilen, dass Kinder sehr fundierte Vorstellungen von Problemen haben und gerne bereit sind an der Umsetzung von kommunalen Themen auf lokaler Ebene selbst mitzuwirken. Allerdings müssen sie dazu die Möglichkeit bekommen, sich bereits im Vor- feld mit einem Thema auseinanderzusetzen und sie müssen ein Recht auf Mitsprache haben (vgl. S. 99). Sollte dies alles gegeben sein, können oft „sehr unkonventionelle und interessante Lösungsvorschläge“ (ebd., S. 99) entstehen.

Die Bereitschaft, sich als Kind oder als Erwachsener politisch zu engagieren, setzt die Entwicklung eines demokratischen politischen Bewusstseins voraus (vgl. Deichmann 2007, S. 13). Interaktion ist dabei das Schlüsselwort, das Deichmann gebraucht. Indem die Menschen im Alltag miteinander in Interaktion treten, entwickeln sie ein politisches Bewusstsein. Vier Elemente beschreiben diesen Interaktionsprozess (vgl. ebd., S. 14):

- Erstens die Rollenübernahme: Das handelnde Subjekt reagiert auf seine Umwelt und entwickelt dadurch eine Persönlichkeit. Es erlernt auf diese Weise nicht nur allgemeine Verhaltensweisen, sondern auch politische Einstellungen und Werte.
- Zweitens das Individuum richtet sein Denken und Handeln an der tatsäch- lichen oder vermuteten Reaktion des Anderen aus.
- Drittens die Bedeutung der Gemeinschaft für die eigene Bewusstseins- bildung: Obwohl das Individuum immer nur mit einem konkreten Teil der Gemeinschaft in Interaktion tritt, sieht es den konkreten Teil als eine Einheit, als ein „verallgemeinerter Anderer“ (ebd., S. 14). Indem es die Hal- tung der Gemeinschaft übernimmt, wird sich das Individuum als seiner selbst bewusst und entwickelt dadurch eine eigene Persönlichkeit.
- Viertens werden wechselseitige Perspektiven auf gesamtgesellschaftliche Interaktionen übertragen. Das heißt, dass das Individuum die Meinung eines bestimmten anderen Individuums teilt und deren Haltung, etwa zu gesellschaftlichen Problemen, übernimmt.

Treten die Menschen miteinander in Interaktion, erkennen sie, welche Gemeinsamkeiten sie haben und welche Unterschiede. Sie reden über gemeinsame Erfahrungen oder streiten sich aufgrund unterschiedlicher Meinungen. Doch was hat das alles mit der Entwicklung eines Demokratiebewusstseins zu tun? Für Himmelmann (2007) ist demokratisches Be- wusstsein „die vertiefte Erkenntnis der Bedeutung von Demokratie auf allen drei Ebenen im alltäglichen Leben, in der Gesellschaft und im institutionellen Arrangement des Herr- schaftssystems“ (S. 12). Diese drei Ebenen nennt er Mikro-, Meso-, Makro-Ebene der Demokratie. Das bedeutet auch, dass das Demokratiebewusstsein nicht etwas Natur- gegebenes ist, das sich automatisch entwickelt, ohne ein Zutun von außen, sondern dass die Bildung eines demokratischen Bewusstseins „viele äußere Anlässe, Anstöße und Gelegen- heits- sowie Entwicklungsangebote“ (ebd., S. 11) voraussetzt. Dies geschieht etwa in Schulen durch die Abhaltung von Kinderversammlungen, die Teilnahme von Kindern an Entscheidungen, die die Schulorganisation betreffen, oder durch andere demokratiebezo- genen Projekte. All das, was ein demokratisches Bewusstsein ausmacht, Empathie, Selbst- bewusstsein, Kommunikations- und Kritikfähigkeit, das Streben nach der Wahrheit und der Freiheit, all das „kann ein Individuum aus sich heraus nur in den seltensten Fällen leisten“ (ebd., S. 11). Der Erfolg einer demokratischen Kultur ist abhängig von den Einstellungen zu demokratischen Werten und Normen einzelner Individuen. Und indem diese Individuen miteinander in Interaktion treten, ihre Erfahrungen und Ansichten weitergeben und darüber diskutieren, entwickeln sie gemeinsam ein kollektives Demokratiebewusstsein. Der Kern dazu und damit der Beginn der Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins findet sich im Kleinen. Er „ist eingebettet in biographische, möglichst bereits familial gewachse- ne, durch schulische Bildung und Erziehung beförderte und durch konkret-gesellschaft- liche Erfahrungen gefestigte Interaktionen“ (ebd., S. 12).

Die folgende empirische Untersuchung wird zeigen, wie weit entwickelt das demokratische Bewusstsein von sieben- bis neunjährigen Kindern ist und welche Anstrengungen das schulische Umfeld, speziell die Klassenlehrerin, unternimmt, um die Einstellungen der Kinder zu demokratischen Prinzipien zu fördern.

6 Empirischer Teil

In diesem Kapitel wird der Fokus zunächst auf unterschiedliche Erhebungsmethoden ge- legt, die sich für Interviews mit Kindern anbieten. Unterschieden wird dabei vor allem zwischen qualitativen und quantitativen Erhebungsverfahren. Danach folgen die Daten- erhebung und die Vorstellung des Interviewleitfadens. Anschließend wird die Auswertung der einzelnen Interviews dargestellt und die eingangs gestellte Frage geklärt, ob ein Unter- schied zwischen den auf Vermutung basierenden Lehrervorstellungen zum Demokratie- bewusstsein der eigenen Schüler und den tatsächlichen Schülervorstellungen einer demo- kratischen Welt besteht. Abschließend werden die Untersuchungsergebnisse der Interviews zusammengefasst und kommentiert.

6.1 Erhebungsmethoden

Dieses Kapitel gibt einen kurzen Überblick über verschiedene Methoden, mit denen sich Vorstellungen von Kindern erfassen lassen. Der Fokus liegt dabei auf qualitativen und quantitativen Erhebungsverfahren. Die Hauptunterschiede zwischen diesen beiden Me- thoden liegen zum einen in der Überprüfbarkeit von Hypothesen und zum anderen in der Überprüfbarkeit der Forschungsergebnisse (vgl. Fromm 1987, S. 182f.; Moll 2001, S. 52f.; Rost 2002, S. 74ff.). Da ich mich für ein qualitatives Verfahren entschieden habe, sollen zunächst einige Merkmale der quantitativen Erhebungsmethode vorgestellt werden.

Quantitative Erhebungsmethode

Quantitative Verfahren werden häufig auf die „Platzierung eines Kreuzchens“ (Rost 2002,

S. 77) reduziert und vor allem bei Befragungen durch Multiple-Choice-Fragebögen ange- wandt, um ein messbares Ergebnis zu bekommen, das sich etwa in statistischen Erhebung- en widerspiegelt. Voraussetzung für eine quantitative Erhebung ist die Verfügbarkeit einer Hypothese, die mithilfe der Befragung bestätigt wird (ebd., S. 77). Wichtig bei dieser Me- thode ist zudem, dass der Kommunikationsverlauf standardisiert ist, um „auf diese Weise die Reproduzierbarkeit der Prozesse der Erhebung und Auswertung sicherzustellen“ (Moll 2001, S. 52). Dies ist gleichzeitig auch der größte Kritikpunkt an quantitativen Verfahren. Denn durch die Reduzierung der vorgegebenen Daten und evtl. Antwortmöglichkeiten auf ein Minimum an Informationen, wird der Proband zu einem bloßen Mittel zum Zweck. Weder der emotionale Zustand der befragten Person zum Zeitpunkt des Interviews oder der Befragung, noch etwaige Unsicherheiten bei der Abgabe der Antworten spielen eine Rolle oder werden erfasst (vgl. Rost 2002, S. 77). Aus diesen Gründen kommt ein quantitatives Erhebungsverfahren für meine Arbeit nicht infrage. Denn gerade die Möglichkeiten der Beobachtung und der Nachfrage bei Kinderäußerungen spielen eine große Rolle, um indi- viduelle Vorstellungen und Verhaltensmuster zu erkennen und den Kindern Raum für Korrekturen und Präzisierungen zu lassen (vgl. Möller 2001, S. 120; Engelen et al. 2002, S. 159).

Qualitative Erhebungsmethode

„Qualitative Forschungsmethoden werden in Untersuchungen zu Schülervorstellungen und zum Denken der Schüler seit langem eingesetzt“ (Duit 1992, S. 62). Sie sind geeignet, um die Sicht der Kinder wissenschaftlich zu erfassen, sprich welche Vorstellungen sie über ihnen alltäglich begegnende Prozesse besitzen, mit welchen Dingen sie sich beschäftigen, oder auch einfach, welche Wünsche sie haben (vgl. Heinzel 1997, S. 396). Im Gegensatz zu quantitativen Methoden arbeiten qualitative Verfahren nicht auf der Grundlage beste- hender Hypothesen, sondern die Hypothesen müssen mithilfe des qualitativen Verfahrens erst entwickelt werden (vgl. Rost 2002, S. 74ff.). Wichtigstes Kennzeichen eines qualita- tiven Interviews ist die offene Gesprächstechnik, also die Möglichkeit des Befragten, eige- ne Vorstellungen nach eigenem Gutdünken zu artikulieren, ohne einem starren Frage- bogen zu folgen (vgl. Heinzel 1997, S. 402). Es gibt mehrere Formen, die ein qualitatives Interviews kennzeichnen. Dazu gehören teilstandardisierte Interviews, narrative Interviews und psychoanalytische Tiefeninterviews (ebd., S. 402ff.). Während narrative Interviews sich besonders bei lebensgeschichtlichen Fragestellungen eignen, etwa der Konstruktion eigener Lebenslinien, und psychoanalytische Tiefeninterviews die gesamte Entfaltung freier Phantasietätigkeiten deuten, also alles, was ein Kind während des Interviews tut und spricht, wird das teilstandardisierte Interview, das häufig auch als Leitfadeninterview be- zeichnet wird (ebd., S. 402), meist genutzt, um anhand eines zuvor erarbeiteten Leitfadens Fragen zu Themenkomplexen zu stellen, die eine „gewisse Vergleichbarkeit der Ergeb- nisse verschiedener Einzelinterviews“ (Friebertshäuser 1997, S. 375) sichern sollen. In meinem Fall benutze ich einen Interviewleitfaden, der die Fragen in sieben Themenkom- plexe unterteilt, die im Einzelinterview mit den Kindern angesprochen werden sollen. Allerdings folgen die Fragen und Antworten keinem starren Gerüst, sondern sind in sich selbst flexibel genug, um auf die Äußerungen der Kinder durch Nachfragen entsprechend reagieren zu können. Hilfreich bei einem Leitfadeninterview ist, wenn man den Leitfaden zuvor „detailliert ausformuliert und Nachfrage-Themen festlegt“ (ebd., S. 376), um auf mögliche Antworten des Befragten spontan reagieren zu können und somit den Interviewer zu entlasten. Weiterhin ist es wichtig, den Leitfaden zuvor in Probeinterviews zu testen, um mögliche Schwierigkeiten am Interviewverlauf festzustellen und sie entsprechend be- heben zu können. Auch sollte man während des Interviews sehr genau auf die Aussagen des Interviewten achten, um ein Übergehen von interessanten Äußerungen zu verhindern.

Insgesamt hat sich das Leitfadeninterview als sinnvolle Methode herausgestellt, um die Vorstellungen der Kinder zu demokratischen Prinzipien zu erforschen.

Anmerkung

Es muss darauf hingewiesen werden, dass „eine strikte Dichotomie qualitativ versus quan- titativ heute mich mehr zu vertreten ist“ (Mayring 2002, S. 61), sondern beide Methoden integriert angewandt werden können. Ein Beispiel dafür ist das Buch Kinder und Politik von Deth et al. (2007), das sich mit den politischen Einstellungen von Kindern im ersten Grundschuljahr beschäftigt. Bevor die Autoren mit einem standardisierten Kinderfrage- bogen mehrere hundert Kinder befragten und deren Antworten sammelten und statistisch auswerteten, wurden „zur Vorbereitung der Fragebogenentwicklung […] insgesamt 21 Interviews mit Kindern durchgeführt“ (Berton / Schäfer 2005, S. 6.). Die Interviews fanden in für Kinder gewohnten Umgebungen mithilfe von Interviewleitfäden statt, die jedoch nur den Rahmen bildeten, um „aus der Interviewsituation heraus spontan neue Fragen und Aspekte mit einzubeziehen“ (ebd., S. 7).

6.2 Datenerhebung

Nach Absprache mit der Schule und der Klassenlehrerin Frau H. besuchte ich noch vor der Erstellung des Interviewleitfadens die zweite Klasse einer Grundschule in X. im Frühsommer 2008, um die Kinder darüber zu informieren, dass ich mich dafür interes- sieren würde, was sie denken. Da ich in dieser Klasse einen Teil meiner Praktikumszeit verbracht habe, gab es keine Berührungsängste, sondern freudige Begrüßungen. In meiner Erklärung an die Kinder, warum ich sie gerne befragen würde, hielt ich mich an Gläser (2002), die sich in ihrer Befragung zu Alltagstheorien der Kinder über Arbeitslosigkeit ebenfalls Gedanken über den ersten Zugang zu den Schülern gemacht hat. So stellte ich mich als jemanden vor, der Interesse daran habe, was Kinder denken würden, da sie ja „Experten von Kinderleben“ (S. 142) seien.

Bevor es mit den eigentlichen Interviews losgehen sollte, überprüfte ich die Verständ- lichkeit der Fragen des Interviewleitfadens in einem Gespräch mit einem Kind aus der Nachbarschaft. Dabei habe ich wertvolle Erkenntnisse gewonnen, wie ein Interview ge- führt wird. Außerdem musste noch das schriftliche Einverständnis der Eltern eingeholt werden. Obwohl mir von Seiten der Lehrerin gesagt wurde, dass ein Brief nicht notwendig sei, wollte ich die Eltern über mein Thema informieren, vor allem, da es sich um ein poli- tisches Thema handelt. Im Laufe einer Woche kamen von 27 abgegebenen Briefen drei- zehn an die Lehrerin zurück, so dass ich mich gleich an die Arbeit machen konnte - ein einzelnes Kind interviewte ich nach Rücksprache der Lehrerin auch ohne die direkte Zustimmung der Eltern.

Die Umgebung ist bei einem Interview sehr wichtig. Nicht nur beim Gespräch mit Erwachsenen, mehr noch bei Kindern spielt eine gewohnte und beruhigend wirkende Umgebung eine große Rolle. Die Kinder sollen sich sicher fühlen (vgl. Heinzel 1997, S. 405). Da alle Interviews einzeln und an Vormittagen während der Unterrichtszeit durch- geführt wurden, ging ich mit den Kindern in ein Eltern-Lehrer-Besprechungszimmer, das direkt neben dem Klassenzimmer lag. Obwohl Moll (2001), die das Gesellschaftsver- ständnis von Schulkindern erforschte, den Eindruck bekam, dass Kinder, die für das Inter- view direkt aus dem Unterricht herausgezogen wurden, sich oftmals genötigt sahen, unbe- dingt eine Antwort auf eine Frage geben zu müssen und sich sogar „zu Beginn des Interviews meldeten, obwohl noch gar keine Frage gestellt war“ (S. 81), kann ich diese Ansicht nur bedingt teilen. Der Idealfall wäre, wenn deutlich wird, „dass der Interviewer außerhalb der schulischen Hierarchie steht“ (Gropengießer 2001, S. 133). Da ich die Kin- der vorab informierte, dass ich lediglich daran interessiert wäre, was sie denken würden und nicht daran, ob etwas richtig oder falsch wäre, nahm ich ihnen stückweit das Gefühl, in einer Unterrichtssituation zu sein. Allerdings stimmt es, dass die meisten Kinder versuch- ten, schnell zu antworten. Nur wenige Kinder nahmen sich die Zeit richtig nachzudenken.

Vor den jeweiligen Interviews erklärte ich den Kindern das Diktiergerät, da manche von ihnen es für ein Handy hielten und mich darauf aufmerksam machten, dass das in der Schule verboten wäre. Das Diktiergerät war so ausgestattet, dass ich es zuhause an den Computer anschließen und das Gespräch direkt und schnell transkribieren konnte. Vom Gerät selbst ließen sich die Kinder während des Gesprächs nicht ablenken.

Bei der Auswahl der Kinder wäre es mir zwar lieber gewesen, wenn etwa gleich viele Jungen wie Mädchen dabei gewesen wären, da Kinder „ihre gesamte Lebenswelt ge- schlechtsdifferenziert wahrnehmen und sich sehr früh als männlicher oder weiblicher Mensch in diesem System verorten“ (Hempel 1997, S. 178), doch war dies wegen der mir zur Verfügung stehenden Kürze der Zeit nicht möglich. Ferner wäre es aufgrund des The- mas wichtig gewesen, Kinder verschiedener Religionszugehörigkeiten zu interviewen, um Rückschlüsse auf die Antworten der Kinder ziehen zu können. Hier war die Überraschung schließlich groß, als von acht Kindern mit islamischem Bekenntnis nur ein Kind für das Interview zur Verfügung stand - eben genau das eine Kind, das ich ohne Zustimmung der Eltern interviewte. Ob das Thema den Ausschlag gab, oder ob andere Gründe angeführt werden können, kann lediglich vermutet werden. Sicher ist nur, dass mehrere Kinder mit islamischem Bekenntnis mir gegenüber den Wunsch geäußert haben, beim Interview mitmachen zu wollen, es aber von ihren Eltern untersagt wurde.

Die folgende Tabelle ist ein Überblick über alle interviewten Kinder. Die Form lehnt sich dabei an die Darstellung von Gläser (2002, S. 144f.) an, deren Aufbau strukturell sinnvoll ist. Die Zahlen vor den jeweiligen Namen entsprechen der Reihenfolge der durchgeführten Interviews. Dieselben Zahlen finden sich ebenfalls bei den einzelnen Interviewanalysen (6.4) und bei den Transkriptionen im Anhang (8.2). Außerdem wird bei jedem Kind Alter, Klasse, Geschlecht, religiöses Bekenntnis und Wohnform angegeben. Speziell die Wohnform ist wichtig, da durch die familiären Strukturen Rückschlüsse auf Verhalten und Ansichten der Kinder gezogen werden können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Überblick über die interviewten Kinder

6.3 Interviewleitfaden

Im Laufe der Vorbereitung zu einem Interviewleitfaden, der auf möglichst vielfältige Weise dem Objekt „Demokratie“ gerecht wird, bekam ich vor allem Anregungen von Shinar-Zamirs (2006) Konzept ABC der Demokratie, von Berton / Schäfer (2005), die Tiefeninterviews zur politischen Orientierung von Grundschulkindern durchführten, und von Schmidts (2000) Standardwerk über Demokratietheorien. Da die einzelnen Interviews nicht länger als 30 Minuten dauern sollten, mussten einzelne Schlüsselkategorien der De- mokratie so miteinander verknüpft werden, dass ein roter Faden erkennbar war, der die Kinder weder überfordern, noch unterfordern sollte. Außerdem war es notwendig, die Fra- gen entsprechend zu formulieren, denn „kindgerechte Verfahren dürfen ein Kind weder in sprachlich-kognitiver noch motivational-affektiver oder physisch-verhaltensmäßiger Hin- sicht überfordern“ (Petermann/Windmann 1993, S. 126). Um die Ergebnisse anschließend miteinander vergleichen zu können, war es außerdem wichtig, einen möglichst standardi- sierten Leitfaden zu benutzen, der sich nur punktuell von Kind zu Kind unterscheiden sollte und dem jeweiligen Entwicklungsstand angepasst werden konnte (vgl. ebd., S. 125). Ich entschloss mich dazu, den Leitfaden unter Einbeziehung der o.g. Anregungen in sieben zentrale Kategorien zu unterteilen, die je nach Antworten der Kinder in weitere Fragen unterteilt werden konnten. Folgende Kategorien kristallisierten sich dabei heraus - siehe auch im Anhang 8.1.1 Schüler:

Kategorie 1 - Mitbestimmen

Mitbestimmung ist ein zentrales Grundprinzip der Demokratie. Der Begriff „Demokratie“ stammt von den beiden griechischen Wörtern demos (Volk) und kratia (Herrschaft) ab und bezeichnet demnach eine Volksherrschaft, also eine Herrschaft, die vom Volke ausgeht. Folglich nimmt das Volk an politischen Entscheidungen Teil, es partizipiert. Sturzbecher und Waltz (2003) verstehen unter Partizipation umgangssprachlich, „dass Einzelne oder auch kleinere Gruppen an Entscheidungen mitwirken, die sowohl das eigene Leben als auch das einer größeren Gemeinschaft betreffen“ (S. 14). Die ersten Fragen des Interview- leitfadens beschäftigen sich daher mit der Mitbestimmung von Kindern in verschiedenen Bereichen des Alltags. Die Kinder werden mit Fragen konfrontiert, die sich mit dem ge- meinsamen Spielen beschäftigen, mit der Mitbestimmung im Elternhaus und mit der Mit- bestimmung in öffentlichen Angelegenheiten, etwa beim Bau eines Spielplatzes. Denn wer könnte besser geeignet sein als Kinder, bei der Gestaltung von Spielplätzen als Experten zu fungieren (vgl. Lange 2004, S. 122). Durch anschauliche und kindgerechte Beispiele soll den Kindern damit die Gelegenheit gegeben werden, ihr eigene Vorstellung und Haltung von Mitbestimmung und Teilhabe darzulegen und zu begründen. Durch Partizipation in allen Lebensbereichen, nicht nur der Erwachsenen, sondern auch der Kinder, würde die Demokratie ihrem Idealzustand näher kommen. Doch wird die „vollständige Partizipation eine Illusion“ (Büttner 2003, S. 19) bleiben, aufgrund der „notwendigen Begrenzung durch die naturgegebenen Entwicklungstatsache“ (vgl. Büchner 2003, S. 14).

Kategorie 2 - Basis

Diese Kategorie beschäftigt sich mit dem Ausgangspunkt dieser Arbeit, dem Begriff und der Bedeutung von „Demokratie“ selbst. Daher möchte ich von den Kindern wissen, ob sie den Begriff kennen und wenn ja, ob sie eine Vorstellung davon haben, was er bedeuten könnte. Sollten die Kinder den Begriff zwar kennen, jedoch nicht wissen, welche Bedeutung er hat, so gebe ich ihnen zwei verschiedene Möglichkeiten vor, aus denen sie entscheiden können, was in ihren jeweiligen Augen eher der Fall wäre: dass eine Person alleine bestimmt, oder dass alle Personen mitbestimmen können.

Kategorie 3 - Wahl

Wie wir bereits gesehen haben, ist Mitbestimmung Teil einer Demokratie. Nach deren Einstieg in den Interviewleitfaden und der Demokratie als Basis der Arbeit, folgt nun die „Wahl“. Hier möchte ich zunächst von den Kindern wissen, ob sie schon einmal von einer Wahl oder, als Alternative, von einer Abstimmung gehört haben und wie sie denn funktio- nieren könnte. Falls die Schüler auf beide Möglichkeiten keine Antwort wissen, bekom- men sie als zusätzliche Hilfestellung die Person „Klassensprecher“. Hierbei soll ihnen die Gelegenheit gegeben werden, an einer ihnen möglicherweise bekannten Person aufzuzei- gen, wie eine Wahl vonstatten geht und welche Funktionen eine demokratisch gewählte Person ausüben könnte.

Kategorie 4 - Das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit

Der Name für diese Kategorie entstammt dem Konzept ABC der Demokratie von Shinar- Zamir (2006, S. 47). Mit dieser Kategorie sollen die Kinder erfahren und auch selbst zum Ausdruck bringen, wie wichtig die eigene Individualität ist und dass nicht alle Menschen gleich sein können (vgl. Bohnsack 2003, S. 22), auch wenn man sie dennoch gleich behan- deln sollte (s.u.). Als Beispiel für das gleiche Recht auf Unterschiedlichkeit stelle ich den Kindern die Frage nach der Wichtigkeit des eigenen Namens, denn wo - neben dem Aussehen - könnte die Unterschiedlichkeit offensichtlicher zu Tragen kommen als an der Verschiedenheit der Namen.

Kategorie 5 - Gleichberechtigung

Die fünfte Kategorie des Interviewleitfadens ist die der Gleichberechtigung. Wie wir gera- de gesehen haben, hat jeder Mensch das Recht auf eine eigene Identität. Dennoch gehört zu einer demokratischen Lebensweise, dass alle Menschen, egal wie alt sie sind, wie reich sie sind, oder wie sie Aussehen, gleich behandelt werden sollten. So steht es auch im deu- tschen Grundgesetz unter Artikel 3. Wichtig ist dabei, dass sich Gleichberechtigung nicht nur auf die Gleichheit vor dem Gesetz bezieht (Art. 3 I), sondern auch auf gleiche Chancen von Mann und Frau (Art. 3 II) und gegen Diskriminierung jeglicher Art (Art. 3 III). Um den Kindern den Einstieg in diese Kategorie zu erleichtern, wird ihnen eine kurze Ge- schichte über eine Lehrerin erzählt, die im Unterricht häufig bei einem bestimmten Schüler ist, der Probleme mit dem Lernstoff hat. Eine andere Schülerin beobachtet das Verhalten der Lehrerin eifersüchtig, da die Lehrerin so oft bei diesem einen Schüler ist. Die Frage, die den Kindern dabei gestellt wird, ist die Frage nach Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des Verhaltens der Lehrerin, oder ob vielleicht sogar beides zutrifft, dass das Verhalten demnach beide Betrachtungsweisen zulässt.

Weitere Fragen dieser Kategorie beschäftigen sich mit dem formalen Aspekt des Be- griffs („Hast du schon einmal was von Gleichberechtigung gehört?“) und mit der bereits angesprochenen gleichen Behandlung aller Menschen. Interessant dabei ist herauszufinden, ob Kinder der zweiten Schulklasse tatsächlich der Meinung sind, dass alle Menschen gleich behandelt werden müssten, oder ob es auch Fälle gibt, in denen Menschen anders behandelt werden sollten. Dabei könnte auch festgestellt werden, wie Kinder den Begriff „Gleichbehandlung“ interpretieren, sprich ob sie ihn wörtlich nehmen, oder ob sie andere Deutungen des Begriffs bevorzugen. Durch zwei lebensnahe Beispiele möchte ich den Kindern abschließend die Wichtigkeit der gleichen und gerechten Behandlung aller Men- schen entnehmen. Es geht um die Frage, ob alle Kinder die Möglichkeit haben sollten, eine Schule zu besuchen und um die Frage, ob Menschen das Recht haben sollten, hinzugehen, wohin sie möchten. Man könnte viele weitere Beispiele anbringen, die das Thema Gerech- tigkeit widerspiegeln, doch hätte das den Rahmen der Befragung gesprengt und wäre auch nicht notwendig gewesen, da es hier um grundsätzliche Vorstellungen der Kinder geht und nicht um die jeweilige Vorstellung zu vielen verschiedenen Beispielen. Die Frage nach dem Besuch eines öffentlichen Ortes, etwa dem Kino oder dem Freizeitpark, gibt den Kindern den Raum zu begründen, warum sie der Meinung sind (oder auch nicht), dass Menschen die Freiheit hätten, für sich selbst zu entscheiden und danach zu handeln.

Kategorie 6 - Geschlechterrollen

Wie bereits dargelegt, betont die Demokratie die Gleichberechtigung der Geschlechter- rollen. Diese Kategorie unterteilt jedoch nicht nur in Mann und Frau, sondern auch in Kind und Eltern. Interessant ist zunächst, ob die Kinder Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen machen, also ob im Kindesalter beide Geschlechter dasselbe sollten machen dürfen. Als Beispiel wird der Sportunterricht in der Schule genannt. Dabei wird den Kin- dern ebenfalls die Möglichkeit gegeben zu sagen, ob es etwas gäbe, das Jungen besser könnten als Mädchen und umgekehrt. Diese Frage kann darüber Aufschluss geben, ob Kin- der schon in frühen Jahren durch die Erziehung der Eltern oder durch „Miterziehung“ der Kinder untereinander ein typisches Rollenklischee erfahren, etwa dass Jungs nur mit Autos spielen und Mädchen nur mit Puppen, und dass sie das nicht nur sich selbst, sondern für das jeweilige Geschlecht ganz allgemein zuordnen.

Danach wird parallel dazu gefragt, ob Männer und Frauen dasselbe machen sollten. Dabei werden den Kindern einige Beispiel genannt, die sie nach ihrer eigenen Vorstellung den Männern, den Frauen oder beiden zuordnen. Die Beispiele entstammen allesamt dem Kinderfragebogen des Buchs Kinder und Politik von Deth et al. (2007). Diese Beispiele wurden bewusst ausgewählt, da an ihnen typische Rollenmerkmale ersichtlich werden, etwa dass der Mann zur Arbeit gehen und Werkzeuge benutzen und die Frau sich statt- dessen um den Haushalt und die Kinder kümmern sollte. Um herauszufinden, woher die Kinder ihre Vorstellungen über das Rollenverhalten der Geschlechter haben, werden ihnen zunächst fünf Tätigkeiten vorgegeben, die sie so auf die Geschlechter verteilen sollen, wie sie es selbst zuhause vorgelebt bekommen. Anschließend werden ihnen wiederum die- selben fünf Tätigkeiten genannt und sie müssen nun sagen, wie sie es eher für richtig halten, also ob beispielsweise eher die Männer zur Arbeit gehen sollten, eher die Frauen, oder ob eher beide arbeiten gehen sollten. Dabei kann festgestellt werden, ob ein Unter- schied zwischen den ihnen tatsächlich vorgelebten Rollenverteilungen und ihren eigenen Ansichten besteht. Dabei wird auch ersichtlich, wie stark die „Familie eine Schlüssel- funktion im kindlichen (politischen) Sozialisationsprozess“ (Büchner 2003, S. 15) besetzt. Das Verhalten und die Einstellungen der Eltern als erste und wichtigste Sozialisations- instanz besitzen eine unglaubliche Prägung auf das Kind und sind damit auf entscheidende Weise bestimmend für das spätere Verhalten und Denken des jungen Menschen und zu- künftigen Erwachsenen (vgl. ebd., S. 15). Durch die abschließende Frage, ob die Kinder von Rollenverteilungen in andere Familien Kenntnisse besitzen und dazu Stellung nehmen, wird wieder auf die eigene Unterschiedlichkeit oder die der ganzen Familie hingewiesen.

Kategorie 7 - Regeln

Die letzte Kategorie des Interviewleitfadens beschäftigt sich mit Regeln, speziell den Verhaltensregeln. Wichtig ist hier vor allem herauszufinden, wie wichtig Regeln für Kinder sind und ob sie sich immer an Regeln halten. Für das Thema der Arbeit ist die Frage nach der Wichtigkeit von Regeln von großer Bedeutung. Gerade Verhaltensregeln sind dazu da, um eine gewisse Ordnung zwischen den unterschiedlichen Lebensweisen der Menschen aufrecht zu erhalten. Regeln sind der Nährboden, aus dem eine Demokratie ihre Kraft schöpft und ein geregeltes Miteinander gewährleistet. Doch gibt nicht das bloße Vor- handensein von Regeln den Ausschlag, sondern das „Thema“ einer Regel. Die Basis einer Demokratie ruht auf den Rechten der Freiheit, der Gleichheit und der Würde des einzelnen Menschen. Alle aufgestellten Verhaltensregeln und Gesetze sind nur dann etwas wert, wenn sie diese drei genannten Werte in keiner Weise beschneiden.

Indem Kinder sich im Kleinen über Regeln Gedanken machen, eine Vorstellung darüber entwickeln und vielleicht sogar im Schulalltag darüber streiten und diskutieren, bilden sie den Ausgangspunkt für das Große Ganze, eine funktionierende Demokratie.

Ergänzung

In jeder der sieben beschriebenen Kategorien werden die Kinder nach Begründungen für ihre Antworten und Meinungen gefragt, in etwa, warum sie beispielsweise Mitbestimmung toll finden, oder warum sie Gleichberechtigung nicht gut finden usw. Damit soll sichergestellt sein, dass die eigentliche Vorstellung, das eigentliche Bewusstsein der Kinder zu einem Thema auf nachvollziehbare Weise erfasst wird.

Interviewleitfaden der Lehrerin

Da ein Teil meiner Arbeit darin besteht, herauszufinden, ob ein Unterschied zwischen den Vorstellungen der Kinder und den auf Vermutung basierenden Vorstellungen der Lehrerin über die Vorstellungen ihrer Schüler besteht, werden der Lehrperson Fragen gestellt im Sinne von „wie sie denn vermuten würde, wie ihre Schüler zu einem bestimmten Thema geantwortet haben bzw. was für eine Vorstellung darüber sie haben könnten“. Aus den Antworten auf die verschiedenen Fragen können Rückschlüsse darüber gezogen werden, wie die Lehrerin das demokratische Bewusstsein ihrer Schüler einschätzt und ob sie ihnen ein bestimmtes Wissen bereits in der zweiten Klasse zutraut oder nicht.

Der Interviewleitfaden der Lehrerin befindet sich im Anhang unter 8.1.2 Lehrerin.

6.4 Auswertung der Interviews

6.4.1 Interview 1 - Isabel

Das erste Kind, das interviewt wird, ist Isabel, 8 Jahre alt. Das Interview beginnt nach der ersten großen Pause in einem Sprechzimmer für Eltern-Lehrer-Gespräche. Isabel ist über- haupt nicht aufgeregt, sondern sehr wissbegierig. Sie möchte als erstes wissen, was das denn für ein Gerät sei, das dort auf dem Tisch liege. Sie meinte noch, dass Handys in der Schule eigentlich verboten wären. Der Hinweis, es sei ein Aufnahmegerät, stellt sie jedoch umgehend zufrieden. Die erste Frage, die ich ihr stelle, zielt dann auch gleich darauf ab, was sie denn in der großen Pause gespielt habe. Diese Frage bekommen alle Kinder ge- stellt, sozusagen als Einführung in das Thema Schülervorstellungenüber Demokratie und um gleichzeitig einen Zugang zu den Gedanken der Kinder zu bekommen. Auffällig ist bei Isabel, dass sie meist sehr zügig auf eine Frage antwortet und nur selten nachdenken muss. Außerdem kommt sie mit nahezu allen Fragen problemlos zurecht, was mich zunächst da- rin bestätigt, dass die Fragen nicht zu schwer oder zu kompliziert geraten sind.1

Mitbestimmen

Die erste Kategorie des Interviews ist die des „Mitbestimmens“. Bei Isabel herauszufinden, wie sie und ihre Freundinnen entscheiden, was sie in der Pause spielen wollen, ist zunächst nicht von Erfolg gekrönt. Isabel spielt mit ihren Freundinnen fangen und gibt mir zu ver- stehen, dass sie dazu nichts besprechen mussten, sondern gleich wussten, dass sie das spielen wollten (vgl. Z. 18-23). Es bedarf also weiterer Fragen, um herauszufinden, wie Isabels Vorstellung von Mitbestimmung ist. Ihre Position zu diesem Punkt festigt sie mit zahlreichen Antworten, die darauf schließen, dass sie sehr viel von Mitbestimmung hält. Sie findet es gerecht, wenn „alle“ (Z. 26) mitbestimmen dürfen, was gespielt werden soll, weil es „ungerecht“ (Z. 28) wäre, wenn nur einer sagen würde, was man machen soll „und wenn die anderen das nicht sagen dürfen“ (Z. 30). Bei ihr zuhause ist es ähnlich. Auch dort darf sie mitbestimmen und ihre Wünsche äußern, die dann „manchmal“ (Z. 39) so gemacht werden. Ob Kinder allerdings genauso viel sollen bestimmen dürfen wie Erwachsene, weiß Isabel nicht. Hier ist sie sich unsicher (vgl. Z. 49). Allerdings würde sie es begrüßen, wenn Kinder mitbestimmen dürfen, wenn im Ort ein neuer Spielplatz geplant ist, denn „vielleicht tun die [Erwachsenen] keine Rutschen oder, ich weiß nich, vielleicht machen die den Spielplatz nicht so toll wie wir wollen“ (Z. 59f.).

Isabels Eindrücke und Erfahrungen, die sie im Elternhaus vorfindet, decken sich mit denen im Schulalltag und umgekehrt. Es macht für sie keinen Unterschied, ob sie sich mit ihren Freundinnen ob eines Spiels bespricht oder ob sie zuhause einen Wunsch äußern darf, der dann umgesetzt wird. Stets findet sie Mitbestimmung gerecht und im Beispiel mit dem Spielplatz sinnvoll.

Basis

Die nächste Frage beschäftigt sich mit dem Begriff „Demokratie“ und ob Isabel ihn schon einmal gehört hat. Dies verneint sie, indem sie den Kopf schüttelt (Z. 64). Trotzdem stelle ich ihr zwei Möglichkeiten zur Auswahl, unter denen sie wählen kann, was sie eher für demokratisch hält, nämlich dass einer bestimmt, was alle machen sollen, oder dass alle mitbestimmen dürfen (vgl. Z. 65ff.). Isabel war das erste und einzige Kind, dem ich diese Möglichkeit zur Auswahl gegeben habe, obwohl es zuvor niemals den Begriff Demokratie gehört hat. Ich habe diese Frage in späteren Interviews bei gleichzeitiger Verneinung des Wissens um den Demokratiebegriff deshalb weggelassen, weil es in meinen Augen zu sehr nach Raten ausgesehen hätte und auf diese Weise kein ordnungsgemäßes Ergebnis zustan- de gekommen wäre.

[...]


1 Siehe Transkript 1 - Isabel: S. 118 - 123

Ende der Leseprobe aus 217 Seiten

Details

Titel
Schülervorstellungen über Demokratie
Untertitel
Eine explorative Studie in der Grundschule
Hochschule
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
217
Katalognummer
V188656
ISBN (eBook)
9783656124719
ISBN (Buch)
9783656125020
Dateigröße
1161 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Demokratieverständnis, Demokratiebewusstsein, Demokratielernen
Arbeit zitieren
Lothar Reiner (Autor:in), 2008, Schülervorstellungen über Demokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188656

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