Schillers Dramen für uns heute gelesen und interpretiert


Essay, 2011

24 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Dramatisierung russischer Geschichte - Selbstbewußtwerdung und Glückswechsel - Macht und Herz - Selbstverständnis - Rechtsanspruch - Schöne Menschlichkeit - humane Ideologie und (allzu) menschliche Versprechen. Deutungen: radikale Tragödie und Geschichte als Fortschritt. Personen: Boris, Romanow, Marfa, Marina - Nemesis[1]

Demetrius - Individuen als Objekte von Geschichte - Peripetie - Fortuna-Motiv - Intereßante Parthien sind - die Reichstagsszene und Probleme der Konsensfindung - Geschichte als Ungewisses

In der wenigen Zeit, die Schiller nach dem Abschluß des Wilhelm Tell (im März 1804) noch blieb, arbeitete er, immer unterbrochen durch die Krankheit, am Demetrius. Das Stück ist Fragment geblieben; vorhanden sind auf über 400 Manuskriptseiten ausgeführte Szenen, Entwürfe, Prosazusammenfassungen der Handlung.[2]

Dramatisiert wird ein Stück russischer Geschichte. Iwan der Schreckliche ist gestorben. Sein Sohn

Czar Feodor

ein Jüngling schwacher Kraft

Und blöden Geists ließ seinen obersten Stallmeister walten, Boris Godunow[3].

Godunow läßt sich nach dem frühen Tod Feodors zum Zaren machen und den letzten Sohn Iwans, Demetrius, ermorden. Das Gerücht geht jedoch, daß Demetrius tatsächlich nicht tot, sondern von einem Getreuen gerettet sei. An diesem Punkt beginnt das Drama[4] ; es zeigt, wie Demetrius im Haus des Woiwoden [Fürsten] von Sendomir, sich selbst und andern fremd ... als Czaarowiz erkannt (wird) eben da er hingerichtet werden soll.[5] (Er hat den Freier der Tochter des Woiwoden, die er selbst liebt, im Zweikampf erstochen). Die Handlung des Stückes ist damit vorgezeichnet: sie wird die Eroberung der Zarenmacht durch Demetrius bringen, das Ende extrapolierbar, auch aus dem Untertitel: Die Bluthochzeit zu Moskau; es wird im Scheitern des Helden bestehen.

Selbstbewußtwerdung und Glückswechsel

Dieser Anfang verbindet zwei bedeutende Motive, die dem Drama eine starke Wirkung auf den Zuschauer sichern. Zunächst der höchst seltsame Glückswechsel[6] (das zweite ist die Selbstbewußtwerdung des Helden, dazu unten). Den Anfang macht also - so kommentiert Schiller selbst im Studienheft - eine ungeheure Peripetie, indem derjenige welcher als Elender mit Schande soll bestraft werden, als Thron Erbe von Rußland erkannt wird.[7] Demetrius erwartet, zur Hinrichtung geführt zu werden, er hat mit dem Leben abgeschlossen

Und also schmählich muß ich untergehn.

Ohne dass ich mein Daseyn an etwas Großes gesetzt hatte

Was hilft die Klage? Gieb dich in dein Schicksal

. . .

Verschließ in deinem Busen schweigend deine großen Träume[8]

- da geschieht die Erkennung (aufgrund eines Amuletts und eines Buches, das er bei sich trägt und das russische Edelleute, die seinem Vater nahestanden, in der Zarenfamilie sahen). Wenn Walter Rehm auf die barocke Tradition bei Schiller hingewiesen hat,[9] dann ist hier einer der stärksten Belege. Die Fortuna des Demetrius[10] ist im Spiel; Glück und Wechsel des Glücks spielen in dem Stück eine zentrale Rolle; im Register der NA erscheinen achtzehn Belege zu Glücksveränderung; zu Glück mehr als fünfzig).

Dieser Glückswechsel, der aus dem zum Tode Bestimmten einen absoluten Herrscher macht, ist begleitet von der Selbstbewußtwerdung des Helden, auf die Schiller großen Nachdruck legt (wie die mehrfachen Versuche einer Gestaltung zeigen). Der Held lebt sich selbst und andern unbekannt, er hat keine Identität, keine Aufgabe, merkt, daß er das, was er sein könnte, nicht ist: er erscheint als Diener und alles an ihm ist fürstlich.[11] Daß er als Zarewitsch erkannt wird, bedeutet, daß er seine Aufgabe, seine Identität gefunden hat. Entfeßelt ihn! (den wegen ungewollten Totschlags verurteilten Demetrius) sagt der Woiwode zum Gefängniswächter.[12] Die Formulierung ist poetisch. Sie bedeutet mehr als den blanken Vorgang der Wegnahme der Fesseln. Der Prometheus Unbound steht vor dem Leser. Der Anfang des Stückes zeigt so das Auseinanderhervorgehen entgegengesetzter Zustände, den Übergang von Dumpfheit in Bewußtsein. Hier, und nur hier gelingt diese Bewegung; in der Handlung des Stückes vernichten sich die Entgegengesetzten. Endlich erwacht Demetrius aus einem langen Erstaunen [über den Vorgang der Entdeckung] und es ist als ob eine Binde von seinen Augen fiere. Alles Dunkle in seinem Leben erhält ihm auf einmal Licht und Bedeutung. Und mit bewundernswürdiger Leichtigkeit findet er sich in diesen außerordentlichen Glückswechsel, er ist so schnell und so ganz Fürst, als ob er es immer gewesen.[13]

Der Anfang des Stückes ist deshalb groß, weil der Held in statu nascendi eingeführt wird; er ergreift seine Aufgabe. Demetrius darf durchaus nichts weiches noch sentimentales haben, sondern ist eine unbändige wilde Natur, stolz, kühn und unabhängig. ... Alles, was nach Knechtschaft schmeckt, ist ihm unerträglich ... [14]. Absicht ist, die Macht des Geistes zu zeigen, die Kraft der Begeisterung, den Effekt des Glaubens an sich selbst: Demetrius hält sich für den Czar und dadurch wird ers.[15] Es war Marina, seiner Braut, zugedacht, dieses Moment zu formulieren: Es ist gut daß wir allein sind, -wir haben Dinge zu bereden tsagt sie zu ihrem Vertrauten Odowalsky], dq der Prinz nicht wißen muß. Laßt ihn dem Gotte gläubig folgen der ihn treibt - Sein Geist muß fliegen, er muß den hohen Enthousiasmus behalten, der die Mutter großer Thaten, der das Pfand der Glückgöttinn ist.[16] Der hohe Enthousiasmus ist nötig, um dessen Zerbrechen zeigen zu können. Das ist etwas Tragisches, und das ist ein Grundelement der Schillersehen Welterfahrung.[17] Der Held, der begeiste(r)t aufbricht in die Welt, wird in der Welt und an ihr zerbrechen. Das ist eine, noch genauer zu reflektierende, Argumentationsabsicht des Klassikers.

Zunächst ist festzuhalten, daß der Stand der glücklichen Unschuld, in dem Demetrius als sich selbst nicht wissender lebte, zerstört ist.[18] Die Tötung des Nebenbuhlers, die als Schuld Strafe nach sich ziehen müßte, scheint zunächst deren Gegenteil, Glück zu bringen. Nur vermittelt wird deutlich, daß die Nemesis damit geweckt ist. Das Scheitern des Helden ist die notwendige Folge seines Handelns: das scheint eine, vom Marbacher ästhetisch verschlüsselte, These zu sein. Der ins Leben Aufbrechende ist am Anfang schon schuldig; deshalb darf sein Weg nicht zum Ziel führen.

Schiller war dieses Moment mehrfach bedeutsam, der Totschlag in der Idylle, der diese zerstört, hat tragische Strukturmomente: Aus dieser Liebe [zu Marina, der Tochter des polnischen Fürsten] entspringt sein Unglück [indem er den Nebenbuhler tötet und selbst zum Tode verurteilt wird], aus seinem Unglück entspringt sein Glück [indem er als Zarensohn erkannt wird] und seine Erhöhung [der Einzug als Zar in Moskau] [19]. Tragisch ist hier nicht das Nebeneinander der Extreme, sondern dynamisiert, deren Auseinanderhervorgehen.

Macht und Herz

Wichtig ist zudem anderes, was nur leise anklingt. Als Antwort erhält es der Leser, der fragt: was für ein Geist ist es, von dem Demetrius da begeistet ist, welcher Enthusiasmus wofür? Die Aufmerksamkeit wird geweckt, wenn man die schon angeführte Rede der Marina (zu Odowalsky) weiterliest: Aber was ihn nicht beschäftigen darf [wie die Absicht, Zar zu werden, das vermeintliche, durch Geburt gesicherte Recht, realisierbar ist], das muß uns beschäftigen. Das muß mein Werk seyn. Er giebt nur den Namen, die Begeisterung, das Glück ... wir müssen die Klugheit für ihn haben. Wir müssen die Mittel herbeischaffen, wir müssen auf alles denken.[20] Zusammen gesehen mit dem Charakter der Marina ist dies Programm deutlich: es heißt Eroberung der Zarenmacht, ohne alle Rücksichten. Wer an den Faust des fünften Aktes denkt, der von den drei Gesellen hintergangen wird, assoziiert nicht falsch. Aber der Keim des Bösen liegt auch in Demetrius selbst, er ist nicht nur der blank positive Held, der nur am Widerstand der Welt scheiterte, an den Gewalt der Umstände[21]. Wohl gehört dies zum Bild des Tragischen seit der Antike. Die Helden müssen auch schuldlos sein; aber nur auch. Die Schuld des Demetrius, noch vor aller Handlung, wird im Gespräch mit Lodoiska deutlich. Sie, die einfache Magd, die ihn liebt und durch seine Erkennung als Zarensohn verloren hat, holt es aus ihm für den Leser heraus. Und dieses kurze Gespräch ist eines der bedeutendsten, die Schiller geschrieben hat:

Lodoiska

. . .

Du gehst, um eine Krone zu erkämpfen?

Demetrius

Erkämpfen will ich sie, und dann

Lodoiska (mit steigender Bewegung)

Und dann?

Demetrius

Mit Ruhm und Sieg besizen was mir ward.[22]

Dies ist das Schlimme: besitzen, und Sieg und Ruhm und freilich Kampf. Auf die bohrende Frage der Lodoiska: und dann? folgen eben nicht mehr vom jugendlichen Demetrius, jugendlich humanistische Menschheitsideale.[23]

Lodoiska

Wird nicht dies Herz noch andre Wünsche hegen?

Demetrius

Nein keinen andern glaube mir.

Das süßeste

Wonach ich streben mochte, ist erreicht.

Lodoiska

Und (1) werden dieses Herzens [Sofortstreichung Schillers, dafür:]

(2) wirst du nichts nach einem Herzen fragen?

Demetrius Schon fühl ich, da des Ruhmes Glanz mich lockt,

Von keinen Wünschen, sonst mich festgehalten.

Macht, braucht kein Herz; ...[24]

Schiller hat, in diesem letzten Stückentwurf, nicht mehr idealisiert; er bleibt rein verbal, abstrakt: indem er von Macht und Herz spricht. Was alles muß der Leser bei beiden Worten denken! Ins Herz hat sich, seit Pascal, wiederaufgenommen von Pietismus und Empfindsamkeit, gegen die rauhe Wirklichkeit der verstandesbestimmten Welt, das Gefühl gerettet, die richtende Empfindung [25]. Schiller ist jetzt aber mit Recht abstrakt: weil seine Abstraktionen die Wirklichkeit selbst, nicht mehr im Modus des Forderns, das Seinsollende deklamierend, übersteigen. Er hat gelernt, sie im Wesen zu erfassen und auszudrücken. Die Macht, die auf das Herz verzichtet hat, richtet sich selbst. Demetrius muß, hält der Dichter an poetischer Wahrheit fest, scheitern. In seinem Untergang spricht die Geschichte ihr Urteil.[26]

Selbstverständnis, Rechtsanspruch

Die vorhandenen Materialien zeigen, daß Schiller lange überlegt hat, ob die Szenen zu Sambor (Tötung des Rivalen, Gefängnis, Verurteilung zum Tode, Erkennung als Zarensohn, Gespräch mit Lodoiska) zu bringen seien - etwa auch in Form eines Vorspiels (wie im Wallenstein und der Jungfrau von Orleans, - oder nicht, und ob dann sogleich mit dem polnischen Reichstag, von dem Demetrius Hilfe für sein Vorhaben erbittet, anzufangen wäre. Eine Summierung der Vortheile und der Nachtheile bringt drei Argumente für die Streichung von Sambor (und damit für den Reichstag, aber fünf, und gewichtigere, dafür)[27]. Das Hauptproblem dürfte sein, daß Sambor und Reichstag Wiederholungen bedeutet hätten, besonders im Hinblick auf die Erkennung und Legitimierung des Demetrius als Zarensohn. Wie immer Schiller dies letztendlich gelöst hätte, der gegenwärtige Interpret hat das vorhandene Textkorpus zu analysieren - und hier stehen beide Szenengruppen nebeneinander. Im Hinblick auf den Protagonisten ergibt sich dabei ein Unterschied, den man im Deutschen relativ gut durch die Ausdrücke Selbstbewußtwerdung und Selbstverständnis wiedergeben kann. Die Samborszenen zeigen mehr das erstere: dramatisch ausgebreitet, als stattfindende Handlung. Die Szenen vor dem Reichstag bringen das letztere: nicht mehr den Prozeß selbst, sondern das reflektierte Ergebnis. Demetrius steht selbstbewußt vor König, Geistlichen und Adligen und vertritt, was er selbst als Rechtsanspruch[28] erlebt. Diesen Rechtsanspruch als Zarensohn auf den Thron kann er aber nur legitimieren, wenn er noch einmal die Geschichte seiner Erkennung erzählt:

Kein Jahr ists noch daß ich mich selbst gefunden,

Denn bis dahin lebt ich mir selbst verborgen,

Nicht ahndend meine fürstliche Geburt.

Mönch unter Mönchen fand ich mich, als ich

Anfieng, zum Seibstbewußtseyn zu erwachen,[29]

Ich kannt mich nicht. Im Hauß des Palatins

Und unter seiner Dienerschaar verloren

Lebt ich der Jugend fröhlich dunkle Zeit.

Mir selbst noch fremd, mit stiller Huldigung

Verehrt ich seine reizgeschmückte Tochter,[30]

Wie wichtig Schiller dieser Zustand des Sich-selbst-nicht-Kennens war, erhellt aus dieser dreimaligen Wiederholung (mir selbst verborgen, ich kannt mich nicht, mir selbst noch fremd); er symbolisiert die Unschuld des arkadischen, unbewußten Lebens, das Ansich, das notwendig sich entwickeln muß. Aus der Liebe zu Marina entspringt ja der Totschlag, der die weitere Handlung vorantreibt.

Das Resultat der Erkennung ist hier, in der fertig ausgearbeiteten Szene vom Klassiker klassisch verbalisiert:

Und jezt fiels auch wie Schuppen mir vom Auge!

Erinnrungen belebten sich auf einmal

Im fernsten Hintergrund vergangner Zeit;

Und wie die letzten Thürme aus der Ferne

Erglänzen in der Sonne Gold, so wurden

Mir in der Seele zwey Gestalten hell,

Die höchsten Sonnengipfel des Bewußtseyns.[31]

Deutend wäre hier zu sagen (wenn man nicht nur die Worte wirken lassen will): die höchsten Sonnengipfel des Bewußtseyns - sie erweisen sich als Trug, als schlichter Schein, der keine Wahrheit deckt. Das ist nicht emphatisch vom Dichter in den Vordergrund gestellt, aber als ästhetisch formulierte These ist es nicht zu übersehen. Was dem Subjekt jetzt so erscheint, erweist die Handlung des Stückes als Wahn, als Fata Morgana. Auch hier ist, wenn man es auf den Nachweis anlegt, Schiller barock.

Schöne Menschlichkeit

Aber dies Moment: die Täuschung im Selbstverständnis: daß Demetrius sich über seine physische Identität irrt, ist nur das eine Motiv der Reichstagsszenen. Wichtiger ist der Irrtum im Moralischen (um die Terminologie der Zeit, auch Schillers, zu benutzen). Was Demetrius in öffentlicher Rede, vor dem Forum der Vertreter eines ganzen Volkes, als Absichten kundgibt, ach, es sind Absichten, schöne Worte, denen keine Taten folgen:

Die schöne Freiheit die ich [unvollendet]

Will ich verpflanzen

Ich will aus Sklaven Menschen machen.

Ich will nicht herrschen über Sklavenseelen.[32]

Das sind Anklänge an Programmpunkte der Aufklärung, unvergessene Forderungen schon des frühen Schiller.

Demetrius versteht es, auf sein Publikum einzugehen, rhetorisch zu reden:

Ich stehe vor euch ein beraubter Fürst

Ich suche Schutz, der unterdrückte hat

Ein heilig Recht an jede edle Brust.

Wer aber soll gerecht seyn auf der Erde,

Wenn es ein großes tapfres Volk nicht ist,

Das frei in höchster Machtvollkommenheit

Nur sich allein braucht Rechenschaft zu geben,

Und unbeschränkt von

Der schönen Menschlichkeit gehorchen kann.[33]

Schöne Menschlichkeit kann hier nur im Parlament (dem Reichstag) verbal stattfinden; deren Realisierung ist der blanke Eroberungskrieg. Schiller baut dieses Moment aus, um die Differenz von Worten und Taten aufzuweisen, wenn Demetrius sich an unterschiedliche Zielgruppen wendet. Zum König:

O übe Großmuth auch an mir

Zu den Großen des Reichs:

Hier ist der Augenblick,

Zwey lang entzweyte Völker zu versöhnen.[34]

Hier bemüht er also humane Werte, letzte Ziele menschlichen Handelns: Versöhnung. Ganz anders denen gegenüber, die konkret kämpfen sollen:

Landboten,

Zäumt eure schnellen Roße, sitzet auf,

Euch öffnen sich des Glückes goldne Thore,

Mit euch will ich den Raub des Feindes theilen.

Moskau ist reich an Gütern, unermeßlich

An Gold und edlen Steinen ist der Schatz

Des Czars, ich kann die Freunde königlich

Belohnen und ich wills. Wenn ich als Czar

Einziehe auf dem Kremel, dann, ich schwörs,

Soll sich der ärmste unter euch, der mir

Dahin gefolgt, in Samt und Zobel kleiden,

Mit reichen Perlen sein Geschirr bedecken,[35]

Hier ist die humane Ideologie vergessen; mit Gerechtigkeit, Versöhnung, Großmut ist die Masse nicht zu ködern; die nackten Fakten müssen genannt werden, (allzu) menschliche Versprechen. Demetrius muß in der Öffentlichkeit bestimmt auftreten, ohne Skrupel sich auf sein (vermeintliches) Recht berufen:

Daß ich den Thron erobre meiner Väter.

Die Gerechtigkeit hab i c h, i h r habt die Macht,

Es ist die große Sache aller Staaten

Und Thronen, daß gescheh was rechtens ist,

Und jedem auf der Welt das seine werde.

Denn da, wo die Gerechtigkeit regiert,

Da freut sich jeder sicher seines Erbs,[36]

Vermeintlich ist das Recht des Demetrius aus einem doppelten Grund: einmal wird sich herausstellen, daß er nicht der wirkliche Zarensohn ist, also selbst einem Betrug erlag, dann, weil sein Gegner, der Zar Boris Godunow, zwar durch ein Verbrechen Zar geworden, aber er herrscht würdig[37]. Oder: weil die Verwirklichung des Erbrechts nur mit inhumanen Mitteln: dem Krieg, realisierbar ist.

Anders: die Berufung auf das Erbrecht widerspricht eigenen, expliziten Handlungsmaximen des Prätendenten:

Doch meiner eignen Kraft will ich verdanken[38]

An dieser Koexistenz der gegengeseztesten Zustände zerbricht er mit: einmal beruft er sich, erinnernd an das Selbsthelferturn der Stürmer und Dränger, auf die eigene Leistung, doch dann muß er Unverdientes, Ererbtes als Legitimation primär anführen.

In der nichtöffentlichen, privaten Szene mit Lodoiska ist der Schein der Sicherheit trübe geworden. Demetrius fragt sich selbst kritisch:

[...]


[1] Zitate nach der Ausgabe von H. Kraft (= Schillers Werke. National­ausgabe, Bd. 11, Weimar 1971), hier S. 111. Schiller hatte zunächst geschrieben entgegengesezteste, das ent‑ aber später gestrichen. Die NA löst die noch immer benutzbare und wegen des Vorworts wichti­ge Ausgabe von G. Kettner, Weimar 1894 ab (= Schriften der Goethe ‑Gesellschaft, Bd. 9). Editionskritische Zeichen der Nationalausgabe sind z.T. weggelassen.

[2] Zur Textlage, zu den Quellen und dem Stoff, zur Entstehungsge­schichte u.a.m. vgl. man Kraft bzw. Kettner in den angeführten Aus­gaben. Hinweise auch in HS Bd. 3, S. 921ff

[3] NA 11, S. 10.

[4] Schiller hat lange geschwankt, womit er anfangen solle, ob mit dem Motiv der Selbstbewußtwerdung des Helden - es ist in den später ganz gestrichenen Szenen, die in Sambor spielen, bes. gestaltet -, oder mit dessen Hilfsersuchen auf dem polnischen Reichstag. Kettner schreibt dazu: Wir glauben ihm nachfühlen zu können, daß er rasch, ohne viel Bedauern sich entschlol3, den ganzen ursprünglich ersten Akt zu opfern, als sich ihm die Möglichkeit ergab, die Exposition gleich mit der Reichstagsscene zu beginnen, den Helden aus dem en­gen Kreis des Privatlebens sofort in große politische Verhältnisse zu versetzen und damit für sein Drama von vornherein die Weite der historischen Perspective zu gewinnen (Titel A 1), S. XXXIII).

[5] NA 11, S. 98.

[6] Ebd. S. 128.

[7] Ebd. S. 129.

[8] Ebd. S. 241.

[9] W. Rehm, Schiller und das Barockdrama, in: DVJs 19, 1941, S. 311-353

[10] NA 11, S. 102.

[11] Ebd. S. 146.

[12] Ebd. S. 242.

[13] Ebd. S. 153f.

[14] Ebd. S. 99f .

[15] Ebd. S. 109

[16] Ebd. S. 275.

[17] Vgl. den Brief an F. Huber vom 5. Okt. 1785.

[18] NA 11, S. 93.

[19] Ebd. S. 151.

[20] Ebd. S. 275.

[21] Ebd. S. 117.

[22] Ebd. S. 246.

[23] Zu denken wäre an Marquis Posa. Demetrius erinnert daran, wenn er vor dem Reichstag auftritt.

[24] NA 11, S. 246.

[25] Vorrede zu den Räubern, NA 3, S. 6.

[26] Schiller hat in Demetrius, in dieser Seite seiner Absichten (zu der entgegengesetzten vgl. unten), die pure Machtpolitik poetisiert. Das ist das Allgemeine, Klassische an diesem Motiv. Wie sehr man hier konkrete historische Bezüge herstellen will, bleibt dem einzelnen Leser überlassen. H.‑G. Thalheim (Schillers Demetrius als klassische Tragödie, in: Weimarer Beiträge, t‑2, t955, S. 22‑86; auch in: H.‑G. Th., Zur Literatur der Goethezeit, Berlin 1969, hier S 213f.) hat wohl mit großem Recht auf die Parallelen zu Napoleon hingewiesen, insgesamt aber dieses Moment in der Absicht, Literatur als Ausdruck ihrer Zeit zu lesen, überakzentuiert, wenn er dem Demetrius, zumutet, eine Vorwegnahme des Schicksals Napoleons in Deutschland (ebd. S. 237) zu sein. Das ist eine zu blanke Widerspiegelung historischer Ereignisse; bei dem Klassiker ist Geschichte auf einer allgemeinen Ebene aktualisiert, ohne daß er damit schon im dichten Staub der breiten Straße der Orts‑ und Zeitlosigkeit verschwände. W. Wittkowski (Fr. Schiller, Ein Literaturbericht 1962‑65, in: JDSG 10, 1966, hier S. 463ff ) hat in einer Besprechung von Szondis Demetrius Aufsatz (Titel s. A. 6t ) auf die Problematik einer richtigen Er­fassung des Demetrius hingewiesen: Szondi ... verkennt, daß der Held sich gerade in diesen Szenen [zu Sambor mit Lodoiska] beileibe nicht als tugendhafter, idealer Jüngling zeigt ... .

[27] NA 11, S. 253. Für die Streichung von Sambor spräche, daß das Stück einfacher und kürzer werde, daß man Personen erspare, daß man mit dem Reichstag eine glänzende Exposition gewinne. Gegen eine Streichung u.a.: daß Lodoiska fällt, die doch sehr interessiert; Demetrius Catasthrophe interessiert weniger, wenn er nicht vorher im Privatstand gesehen worden.

[28] Ebd. S. 287.

[29] Ebd. S. 11

[30] Ebd. S. 12.

[31] Ebd. S. 14.

[32] Ebd. S. 27, unvollendete Verse.

[33] Ebd. S. 10.

[34] Ebd. S. 18.

[35] Ebd. S. 19.

[36] Ebd. S. 17 f.

[37] Ebd. S. 96.

[38] Ebd. S. 245.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Schillers Dramen für uns heute gelesen und interpretiert
Autor
Jahr
2011
Seiten
24
Katalognummer
V184372
ISBN (eBook)
9783656091684
ISBN (Buch)
9783656091813
Dateigröße
553 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Mit einem Literaturverzeichnis
Schlagworte
Schiller Drama Tragödie
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Erwin Leibfried (Autor:in), 2011, Schillers Dramen für uns heute gelesen und interpretiert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/184372

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