Charlotta Falkman - Neujahrsabend

Aus dem Finnlandschwedischen übersetzt von Nadine Erler


Klassiker, 2011

51 Seiten


Leseprobe


1. Die Fremde

An einem dunklen, regnerischen Abend Mitte November 183* hielt eine Kutsche an der Treppe eines der vornehmsten Häuser in der Stadt ***. Mit Hilfe des Kutschers stieg eine Frau aus dem unbequemen Fahrzeug, und beide - der Mann trug eine kleine Reisetasche und den durchnäßten Regenschirm - betraten das niedrige Vorzimmer. Mit ängstlicher Verlegenheit sah sich die Frau dort um, unsicher, wo sie jemanden finden sollte, der ihr behilflich sein und ihr ihre Sachen abnehmen konnte, vor allem, da ihr Begleiter große Sorge um sein Pferd und seine Kutsche äußerte, die beide draußen standen.

Das klare Licht einer Lampe beleuchtete die breite, mit ausländischen Teppichen belegte Treppe, die in das obere Stockwerk führte, aber sie wagte nicht, hinaufzugehen. Alle Türen schienen abgeschlossen zu sein, bis auf eine, hinter der laute Männerstimmen zu hören waren. Schließlich aber bemerkte sie noch eine Tür, nahe bei der Treppe, deren Schlüssel im Schloß steckte. Auf ihr zaghaftes Klopfen hin erschien ein schläfriger Diener und antwortete mit Ja, als sie fragte, ob Oberleutnant Wermell in diesem Haus wohne. Er glotzte sie unverschämt an und fügte hinzu: „Sie ist wohl die Näherin aus E., die hier erwartet wird, darf ich annehmen - “ Sie antwortete: „Ich komme aus E.“, holte ihren Geldbeutel heraus und entlohnte den Kutscher, von dem sie sich freundlich verabschiedete. Dann folgte sie dem Diener, der ihre Sachen trug, die Treppe hinauf und durch eine Seitentür, die zu einem langen Korridor führte, der von einer Laterne an der Decke beleuchtet wurde. Ihr Begleiter legte die Sachen in einer Fensternische ab und wollte eine Tür auf der anderen Seite öffnen, als unsere Reisende, der ihr nasser Umhang lästig war, ihn bat, den Umhang an einen der Kleiderständer zu hängen. Daraufhin nahm sie ihre Haube ab und schüttelte die Regentropfen ab. Währenddessen kam ein junger Mann in Schwarz, mit einem Trauerflor am Hut, aus einem nahegelegenen Zimmer. Er blieb stehen, sichtlich überrascht von dem schönen Wesen, das sich in diesem Moment aus der unvorteilhaften Reisekleidung befreite und ihn jetzt erst bemerkte. Auch der Diener sah erstaunt aus. Er hatte sicher ein älteres Gesicht hinter dem Schleier vermutet, sah jetzt jedoch ein ausgesprochen hübsches Mädchen von höchstens achtzehn Jahren.

Errötend beantwortete sie den ungezwungenen, aber ausdrucksvollen Gruß des Unbekannten und setzte hastig die Haube wieder auf, wobei sie den Diener unruhig ansah, als wolle sie fragen: Wo führen Sie mich hin?

Als er den Blick sah, befahl der junge Mann dem Diener, die Dame durch den Salon hineinzuführen.

„Das wage ich nicht“, antwortete der, „die Herrschaft hat heute abend Besuch, und die Mamsell hier bleibt, nach dem, was ich gehört habe, nur über Nacht.

Der andere entfernte sich, als sei seine Erwartung enttäuscht worden.

Sie wurde nun in eine Art Domestikenzimmer geführt, wo eine Jungfer saß und nähte. Der Mann ging, um ihre Ankunft „Ihrer Gnaden“ zu melden.

Das unangenehme Warten dauerte eine Weile, dann traten zwei andere Frauen ein. Die eine von den beiden, die schon das mittlere Lebensalter überschritten hatte, trug ihr lockiges Haar offen und war bekleidet mit einem Morgenrock, gehalten von einem schwarzen Seidentuch; eine Küchenschürze und ein großer Schlüsselbund verrieten sofort die Haushälterin. Die andere war eine junge Kammerzofe von dreistem Aussehen. Beide musterten unsere Reisende von Kopf bis Fuß, und schließlich bemerkte die jüngere: „Sie hat die Herrschaften lange warten lassen; wir anderen sind schon seit Allerheiligen hier.“

Sichtlich gekränkt durch diese naseweise Bemerkung, antwortete die Angesprochene dennoch gelassen: „Das muß ein Mißverständnis sein, kleine Jungfrau. Ich bin nicht als Dienstbotin hier, sondern wurde freundlicherweise von Ihrer Herrschaft eingeladen. Ich hatte zwar vor, eher zu kommen, aber meine Reise wurde durch ein Ereignis verzögert.“

Die Näherin murmelte etwas von „Sie kommt früh genug und wird ewig bleiben“, und nachdem sie einige Blicke gewechselt hatten, sagte die Frau lächelnd: „Aha, die Dame beruft sich also darauf, daß sie entfernt mit Ihrer Gnaden verwandt ist.“

„Ich bin Frau Wermells Nichte, die Tochter ihres Bruders. Aber warum wird sie ‚Ihre Gnaden‘ genannt? Die Wermells sind nicht von Adel.“

„Das weiß ich nur zu gut, meine kleine Mamsell!“ antwortete die Haushälterin. „Aber als unser Hausherr plötzlich vom Kapitän zum Oberleutnant befördert wurde, da stieg ihnen der Hochmut zu Kopf, und die Frau rief alle Hausbewohner zusammen und befahl uns, sie fortan ‚Ihre Gnaden‘ zu nennen - der Kürze halber, bewahre! Uns kann es ja egal sein, aber die feinen Leute und sogar ihre eigenen Bekannten lachen sich darüber tot. Um der guten Sache willen nennen wir auch die Töchter ‚Fräulein‘, und das wurde recht gnädig aufgenommen. Aber Herrgott, was rede ich da! Ich vergesse ganz, daß ich mit der Nichte Ihrer Gnaden spreche - ich müßte…“

„Haben Sie keine Angst, meinetwegen wird die Frau keinen Ärger bekommen.“

„Um so besser, meine kleine Mamsell! Leute, die mit Tratsch hausieren gehen, hasse ich wie die Pest. Man sollte seine Worte nicht immer auf die Goldwaage legen, sondern ab und zu mal offen seine Meinung sagen.“

Wer weiß, wie viele unbedachte Worte der Haushälterin noch herausgerutscht wären, wenn nicht der Diener gekommen wäre, um auf Befehl Ihrer Gnaden die fremde Mamsell in das Zimmer zu führen, in dem der Tee serviert wurde.

Mit einem stummen Stoßgebet um Geduld in seien neuen Verhältnissen ging das junge Mädchen, um eine nahe Verwandte zu begrüßen, die ihr noch völlig unbekannt war. Wir müssen der Geschichte mit einigen Worten vorgreifen.

Frau Wermell hatte nach dem Tod ihrer Eltern als Mädchen einige Jahre im Haus ihres Bruders gelebt, als dieser jung verheiratet gewesen war. Aber wie die meisten Schwägerinnen hatten sie und die junge Ehefrau sich nicht verstanden. Sie hatte daher das Haus verlassen und einige Zeit bei einem entfernten Verwandten in St. Petersburg verbracht, wo sie Wermell kennengelernt hatte, der damals noch Fähnrich bei einem Infanterieregiment gewesen war. Sie heirateten und lebten viele Jahre von seinem knappen Leutnantsgehalt, bis er schließlich nach Finnland versetzt wurde und in ein Regiment eintrat, in dem er in kurzer Zeit zu der Position aufstieg, die er jetzt innehatte.

Nun lebte die Familie, wie man so sagt, „auf großem Fuß“, und Frau Wermell hatte seit ihrer Rückkehr in ihr Vaterland keinerlei Notiz von ihren Angehörigen genommen. Aus der Zeitung erfuhr sie, daß ihr Bruder gestorben war und sein Besitz den Gläubigern gehörte - Grund genug für gewisse Leute, nicht mehr an arme Verwandte oder Kindheitsfreunde zu denken. Vor einiger Zeit war sie mit ein paar Damen aus einer angesehenen Familie - aus ihrem Geburtsort, wo ihr Bruder gewohnt hatte - zusammengetroffen, die die Frau und die Töchter des Verstorbenen kannten und sich offenbar sehr für sie interessierten. Sie hatten diese beachtenswerten Personen in E. besucht, wo sie hingezogen waren, um sich mit Handarbeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die älteste der Töchter, die das Unglück gehabt hatte, nach einer schweren Krankheit ihr Gehör zu verlieren, trug durch ihre Geschicklichkeit beim Nähen am meisten zum Unterhalt der Familie bei, die mittlere war als Gouvernante auf dem Land tätig, und die jüngste konnten sie nicht genug loben, sowohl wegen ihrer liebenswürdigen Wesens als auch wegen ihrer Intelligenz. Sie bedauerten nur, daß sie in einer kleinen Stadt wie E. keinen Nutzen aus ihren vielen Talenten ziehen konnte.

Diese lobenden Worte schmeichelten Frau Wermells Eitelkeit. Wäre das Gegenteil nicht hinlänglich bekannt gewesen, hätte sie vielleicht einen Nutzen aus ihren erworbenen Kenntnissen gezogen, nun ging das nicht an. Ihre jüngere Tochter, die anwesend war, flüsterte der Mutter etwas ins Ohr, und nun bekam die gute Frau einen „Raptus“ von verwandtschaftlicher Liebe, wandte sich an ihren Mann und fragte, ob er ihr erlaube, an das jüngste Mädchen, Ida, zu schreiben, damit sie in ihrem Haus die Bildung für das gesellschaftliche Leben bekommen könne, die die bescheidenen Mittel der Mutter und die Abgeschiedenheit des Ortes an sich ihr nicht ermöglichen konnten.

Die Reisenden verzogen wohl etwas den Mund angesichts dieser Meinung der Frau über E. und dessen Einwohner, aber sie fanden den Vorschlag doch vorteilhaft. Auf ihrer Rückreise besuchten sie wieder Frau Hedrén, die nach etwas Bedenkzeit das Angebot annahm. So glücklich Ida auch zu Hause war, war sie doch nicht abgeneigt, sich ein bißchen in der Welt umzusehen, und erwartete einen recht angenehmen Winter bei ihren fast gleichaltrigen Cousinen. Als Ida das Zimmer betrat, in dem eine andere Dienerin die schon geleerten Teetassen abtrocknete, kam ihr Frau Wermell aus dem Gesellschaftszimmer entgegen. Das Bild, das Idas Phantasie sich nach der Beschreibung ihrer Mutter von der Tante gemacht hatte, wurde sofort zerstört. Statt sie mager und dunkelhäutig vorzufinden, sah sie nun sie eine füllige Matrone mit einem gelblichen, aufgedunsenen Gesicht, dessen platte Züge nur Unzufriedenheit ausdrückten - oder richtiger, gekünstelte Vornehmheit.

Ihr Gang war schwerfällig und die Bewegungen steif. Über ihrer Art, sich zu kleiden, lag eine Art affektierter Ungepflegtheit, ein nicht zugebundener Blusenrock aus Musselin flatterte um die recht füllige Gestalt herum, das rosa Band in einer eleganten Spitzenhaube paßte nicht zu ihren Jahren, geschweige denn zu ihrem Aussehen.

Idas herzliche, aber respektvolle Begrüßung beantwortete die Tante mit einem kühlen Kuß auf die Wange; der Ton, in dem sie sie willkommenhieß, war nichtssagend, und ohne sich auf ein Gespräch einzulassen, befahl sie der Dienerin, der Mamsell Tee zu servieren. Dann sollte die Dienerin, die immer noch in der Tür stand und auf Befehle wartete, die Mamsell in das Arbeitszimmer der Fräulein führen, wo ein Bett für sie aufgestellt werden sollte. Nach diesen Anordnungen wandte sich die Tante wieder an Ida und sagte, daß sie nun verhindert sei, daß sie sich aber am nächsten Tag beim Frühstück wiedersehen würden.

Mit dem schon kaltgewordenen Tee schluckte Ida die Tränen, die unwillkürlich hervorbrechen wollten - denn wie wenig hatte sie, gewohnt an ungekünstelte Herzlichkeit und Wohlwollen, einen solchen Empfang ahnen oder sich denken können. Sie folgte der Dienerin in das angewiesene Zimmer.

Dort sich selbst überlassen, sah sie sich um. Mit Fug und Recht konnte dies ein Arbeitszimmer genannt werden, denn ein halbes Dutzend Stickrahmen mit halbfertigen oder nur angefangenen Arbeiten in Tapisserie und Stickerei, ebenso wie Muster, Stickstoffe in unterschiedlichen Farben und Berge von verheddertem Zephirgarn nahmen Tische, Stühle und anderes ein. Das und einige Perl- und Knüpfarbeiten zeigten, daß Weihnachten im Anzug war, aber um bis dahin alles fertigzubekommen, war ein Dutzend hilfsbereiter Hände nötig.

An Tätigkeit und Ordnung gewöhnt, begann Ida, das verhedderte Garn zu entwirren und dem übrigen ein netteres Aussehen zu geben, während sie ganz nebenbei lauschte, ob sich nicht eine ihrer Cousinen einfinden würde, aber darauf wartete sie vergeblich. Schließlich kam ein Hausmädchen mit ihrem Abendbrot, das aus kaltem Essen bestand, machte ihr Bett, zeigte ihr, daß man die Tür mit einem Riegel von innen schließen konnte und entfernte sich. Jetzt brachen die lange zurückgehaltenen Tränen hervor.

„Ach!“ seufzte sie, „warum bin ich hergekommen, warum habe ich mein geliebtes und gemütliches Zuhause verlassen, um mit Kälte und Gleichgültigkeit behandelt zu werden! Daß meine Cousinen meinetwegen weder ihre Gäste verlassen noch mich diesen vorstellen, weil ich von einer beschwerlichen Reise komme, das wundert mich nicht mehr, denn alles um mich herum bezeugt, daß unsere Verhältnisse sehr ungleich sind. Aber mir ein paar Augenblicke für eine freundliche Begrüßung zu widmen oder mir ein paar herzliche Worte ausrichten zu lassen, wenn sich das nicht hätte einrichten lassen, wäre wohl nicht zuviel gewesen. Aber - vielleicht tue ich ihnen unrecht, vielleicht hat ihnen keiner etwas von meiner Ankunft gesagt. Der morgige Tag wird wieder gutmachen, was meine eigene Ungeduld und fehlende Erfahrung mit der ‚großen Welt‘ sofort für geringe Gastfreundlichkeit gehalten hat.“

Unter diesen und ähnlichen Gedanken schlief Ida schließlich ein und wachte auf, als ein Wecker im Nebenzimmer sieben schlug. Aus Angst, verschlafen zu haben, stand sie auf und zog sich an, obwohl es im Zimmer dunkel war, denn sie dachte: Wenn die Cousinen mich überraschen wollen, sollen sie mich nicht unbekleidet vorfinden. Vorsichtig schob sie den Riegel beiseite und nahm ihr Licht, um es im Vorzimmer anzuzünden, aber auch dort war es dunkel.

Ich muß mich bei dem Wecker verhört haben, dachte sie und wollte umkehren, aber da bemerkte sie Feuerschein durch das Glasfenster der Tür, die zur Küche führte. Dort begegnete sie der Haushälterin, die sich sehr wunderte, daß Mamsell schon aufgestanden und fertig angezogen war, obwohl sie sich nach ihrer Reise hätte ausruhen müssen.

„Hier im Haus steht keiner von der Herrschaft früher als zwischen acht und neun auf, denn selten geht einer vor Mitternacht ins Bett, aber ungeachtet dessen, daß ich abends die allerletzte sein muß, muß ich doch die erste sein, die aufsteht. Da ich unmöglich auf deren Kaffee warten kann, mache ich mir für gewöhnlich meinen Morgenkaffee selbst, und wenn Mamsell gewohnt ist, früh aufzustehen, kann sie immer eine Tasse mit mir trinken. Fürs erste will der Bezirksrichter immer Kaffee um Punkt bei sich haben - und ‚Der Kaffeesatz ist nie so dürftig, daß nicht etwas abtropft‘, sagt das Sprichwort - gehen Sie nun wieder hinein, meine kleine Mamsell, sobald ich das Service beim Bezirksrichter abgeliefert habe, hole ich die Pfanne und das Zubehör, und wir trinken dann zusammen.“

Es dauerte lange, bis sie kam, und während sie tranken, schüttete die Alte ihr Herz aus: „So leid es mir auch tat, daß Mamsell den ganzen langen Abend allein zubringen mußte, ich war ‚inkapabel‘, vorbeizukommen, um eine Weile zu reden. Es schnitt mir in die Seele, zu sehen, wie sie von ihrer nächsten Verwandten wie eine Wildfremde empfangen wurde, obwohl ich vorher geahnt habe, daß es so gehen würde. Sie ist gut und unerfahren und denkt daher das Beste von allen Menschen, aber unsere Frau ist - eine Schande, es zu sagen - vor lauter Vornehmheit eine eingebildete Gans. Der Rang der Oberstleutnantin hat ihren schwachen Kopf verdreht. Würde es jemand glauben? Sie versucht, ihren Mann dazu zu überreden, sich einen Adelstitel anzuschaffen, aber das soll nicht so leicht sein und kostet, wie ich vermute, auch eine hübsche Summe Geld, und das schmilzt wie Butter in der Sonne.“

„Aber ihre Töchter?“

„Der Apfel fällt selten weit vom Stamm, und das bestätigt sich auch hier, denn die Älteste ist ‚justament‘ das Ebenbild ihrer Mutter. Stolz und eingebildet, glaubt sie vermutlich, irgendwann Gräfin zu werden. Die jüngere Schwester ist etwas besser, aber ein Brausekopf, der gerne ‚Spektakel‘ mit allen Leuten macht, sie ist flink wie ein Wiesel, hat aber keine Geduld für etwas ‚Regelmäßiges‘. Sie hat all diese Arbeiten angefangen, die sicher an Mamsell hängenbleiben werden, denn sie bekommt sie bis zum St. Nimmerleinstag nicht fertig.“

„Ist der Bezirksrichter, den die Frau erwähnt hat, der Sohn des Hauses?“

„Nein, bewahre! Er ist der Neffe des Oberstleutnants, der sicher nichts dagegen hätte, ihn als Schwiegersohn zu bekommen, denn der junge Herr hat sein gutes Auskommen und ist außerdem ein recht angenehmer junger Mann, der…“

Die Frau wurde nun gerufen und ließ Ida allein, um über das nachzusinnen, was sie gehört hatte, bis fast zehn Uhr, als der Diener kam, um sie zum Frühstück zu führen.

Anstatt ihr den kürzesten Weg durch die Küche zum Speisesaal zu zeigen, hatte er die Anweisung, sie durch den Korridor, die Halle und den Salon zu führen. Wahrscheinlich wollte man der armen Verwandten mit den vielen, für sie fremden Luxusartikeln imponieren. Vor einer Säulenwand im Salon saß eine junge Dame in einem eleganten Morgenkleid. Sie spielte nachlässig mit einer Hand und sprach mit einem neben ihr stehenden jungen Mann, der zerstreut in einem Heft mit Noten blätterte. Ida erkannte in ihm denselben, den sie am Abend zuvor im Korridor getroffen hatte. Er verbeugte sich artig, und freudige Überraschung malte sich auf seinem Gesicht, während die Dame sich nur ein paar Zentimeter vom Stuhl erhob und mit der Hand auf eine Tür links vom Kamin zeigte.

Ida folgte der Anweisung und dachte: Das ist sicher der Bezirksrichter, aber sie ist bestimmt eine fremde Person hier im Haus.

In dem Zimmer, in dem das Frühstück wartete, befanden sich drei Personen. An einem Fenster saß der Oberstleutnant, eingehüllt in einem bunten Schlafrock, rauchte eine Zigarre und las eine Zeitung; am anderen Fenster stand ein junges Mädchen mit einem fröhlichen und lebhaften Gesicht, das man schön hätte nennen können, wenn es nicht so sommersprossig gewesen wäre und die blonden Locken nicht allzu rötlich gewesen wären.

„Ihre Gnaden“ saß in einem mit Tapisserie bezogenen Schaukelstuhl aus Mahagoni und streichelte einen weißen Spitz, der laut bellend von ihrem Schoß sprang und auf Ida zuraste. Der Oberstleutnant legte seine Zeitung und die Zigarre beiseite, stand aber nicht auf und hob auch nicht die Rauchmütze. Er reichte er dem jungen Mädchen die Hand und zog es näher zu sich, fixierte es und sagte: „Hab keine Angst vor dem Hund, mein schönes Kind, der ist längst nicht so gefährlich, wie sich sein Gebell anhört!“ Und nun drückte er einen schmatzenden Kuß auf Idas rosige Wange, deren zarte Haut ein sichtbares Zeichen von seinen buschigen rötlichen Schnurrbart erhielt. Aber diese Begrüßung schien eher dem hübschen Mädchen als der nahen Verwandten seiner Ehefrau zu gelten.

Die junge Dame hatte in der Zwischenzeit den Hund beruhigt und nahm nun Idas Hand und sagte: „Willkommen bei uns, liebe Ida - so heißt du doch, wenn ich mich richtig erinnere? Und da mich keiner vorstellen will, mache ich es selbst. Ich bin die jüngere Tochter des Hauses und heiße in der Schriftsprache Natalia, in der Umgangssprache Natinka.“

Herzlich erwiderte Ida ihren Händedruck. Die Freude über diese vielversprechende Begrüßung hielt jedoch nicht lange an, denn während dieser kleinen Szene war die Tante langsam von ihrem Schaukelstuhl aufgestanden, begrüßte sie mit einem gnädigen Nicken, aber ohne ihr die Hand zu geben. Dann begann sie, die Nichte auszufragen - nach ihrem Alter und dem ihrer Schwestern, wie lange es her war, daß ihr Vater gestorben war, wovon ihre Mutter jetzt lebte und dergleichen mehr.

So unbehaglich und wenig passend Ida dieses Verhör auch fand, antwortete sie doch aufrichtig und ungekünstelt auf alle Fragen der Tante: Sie sagte, daß ihre liebe Mutter nur von ihrem eigenen Geld lebte und besonders von der Arbeit ihrer ältesten Schwester. „Aber das gibt sicher keinen fetten Braten!“ wandte Frau Wermell ironisch ein, „denn das Leben kostet viel! Sieh nicht so überrascht aus, Kind. Du weißt vielleicht nicht, wie sehr die Verschwendung und die schlechte Haushaltsführung deiner Mutter zum Ruin deines Vaters beigetragen hat.“

„Verzeihung, wenn ich frage, worin die bestand“, unterbrach Ida sie, dreist geworden dadurch, daß sie hörte, wie ihre Eltern, vor allem ihre geliebte Mutter, schlechtgemacht wurden. „Soweit meine kindliche Erinnerung zurückreicht, erinnere ich mich nicht an einen aufwendigen Lebensstil, weder in bezug auf Kleider noch auf Möbel oder Feste.“

„Darin hast du in gewisser Weise recht - aber im Alltagsleben haben sie über die Verhältnisse eines Bürgerhauses gelebt. Deine Mutter war seit ihrer Kindheit an einen reichgedeckten Tisch gewöhnt und dachte nicht daran, daß so etwas das Vermögen ihrer Eltern aufgezehrt hatte und daß sie nichts in das Haus meines Bruders mitbrachte. Die junge Frau führte dort die gleiche Lebensart ein und legte ihre Ehre darein, nur gutes Essen zuzubereiten, wahrhaftig! Der Botengänger und sogar die Diener bekamen das gleiche Essen wie die Herrschaft selbst.“

„Mama hatte ja auch gute Tage, als sie bei ihrem Bruder zu Besuch war“, fiel Natinka ein. „Mama ist ja auch keine Kostverächterin.“

Wermell, der seiner Frau ab und zu einen unzufriedenen Blick zugeworfen hatte, was sie aber nicht bemerkt zu haben schien, stand nun auf, nahm sie beim Arm und näherte sich dem Frühstückstisch, wodurch er das unangenehme Gespräch unterbrach, und Ida wandte sich ab, um die Träne wegzuwischen, die ihr diese peinlichen Minuten abgepreßt hatten. Da sah sie denjenigen, den sie zu Recht für den Bezirksrichter hielt, vor sich stehen, und begriff, daß er ein Zeuge des vorangegangenen Gesprächs geworden war. Das Blut schoß ihr in die Wangen, aber sein Blick ruhte mit solcher Teilnahme auf ihr, daß sie sich allmählich beruhigte und, zumindest dem äußeren Schein nach, gelassen am Frühstück teilnahm, nachdem Wermell die ältere Tochter vorgestellt hatte, deren Begrüßung ziemlich knapp ausfiel. Es war dieselbe Dame, die sie vor kurzem im Salon gesehen hatte.

Vierzehn Tage später schrieb Ida folgendes an ihre älteste Schwester:

Warum bin ich hergekommen? Warum habe ich ein geliebtes Heim verlassen, um hier ein trauriges Leben unter fremden, gleichgültigen Leuten zu führen, fremd sowohl in der Denkweise als auch in den Gewohnheiten - keine Spur wärmerer Teilnahme für die Fremde, bis auf eine Ausnahme … aber davon ein anderes Mal …

Mein erstes Urteil war nicht soübereilt und ungerecht, wie Du und Mama offenbar dachtet. Nachdem mich der Onkel zunächst so herzlich empfangen hat, scheint er mich kaum noch zu bemerken, außerdem sehe ich ihn recht selten, nur um die Frühstückszeit, die einzige Zeit des Tages, zu der Deine Ida die Ehre hat, ein unbedeutendes Mitglied der Familie zu sein, denn angesichts der immer kürzeren Tage und damit ich nicht vergesse, wer ich bin, wird mir das Mittagessen aufs Zimmer gebracht. Abends sind sie meistens fort, oder es sind Gäste da, und keiner hat den Wunsch geäußert, mich dabeizuhaben. Ich sitze fast wie eine Gefangene in meinem Zimmer,überhäuft mit Arbeit.

Die kurze Zeit, die ich täglich mit der Tante zusammentreffe, quält sie mich mit ihren ewigen Fragenüber jede Kleinigkeit bei uns zu Hause. Das geschieht keineswegs aus Teilnahme, sondern nur, um ihre eigene Ü berlegenheit zu zeigen. Auf diese täglich wiederholten Fragen gebe ich auch immer die gleiche Antwort. M üß te sie der Sache nicht langsam müde werden! Zwischen ihren Töchtern besteht keine Sympathie; sie sindäußerlich ebenso verschieden wie charakterlich. Aurora ist großund dünn, aber nicht gut gewachsen, ein etwas dunkler Typ mit zusammengewachsenen Augenbrauen. Haben wir nicht einmal gelesen, daßdas ein Zeichen für eine despotische, egoistische Gesinnung sei? Zumindest hier trifft das offenbar zu. Meistens kommt sie einmal am Tag, selten zweimal, um die Arbeiten, die Natinka und ich in den Händen haben, zu sehen, zu beurteilen und zu korrigieren. Selbst beschäftigt sie sich nur mit Romanlesen und Musik, ich glaube, sie beansprucht sogar, ein Schöngeist zu sein. Jedenfalls bildet sie sich ein, eine kompetente Richterinüber Schönliteratur und Poesie zu sein. Sie ist durchaus nicht unfreundlich zu mir, aber in ihrem Wesen liegt eine Kühle, die alle Vertraulichkeit behindert. Aber wie soll ich dir eine Schilderung von Natinka geben? Dieses lebhafte, flatterhafte Geschöpf, das keine zwei Minuten an etwas Ernstes denken kann! Sie begreift alles leicht und beginnt alles, ohne etwas zu vollenden. Sie ist leicht gerührt und hat immer sofort Mitgefühl mit einem unglücklichen Menschen, aber im nächsten Augenblick ist sie imstande, ihn auszulachen, denn ihre launische Phantasie findet immer etwas zum Lächerlichmachen. Am schlimmsten ist, daßdie Tante sie für ein Genie hält, und sie selbst ist nicht selten der gleichen Meinung. Sie hat all diese Arbeiten angefangen und hat jeden Tag eine neue Idee. Wenn Du ein Verzeichnis der Arbeiten haben willst, die ich vollenden muß, dann sieh her: Zwei Sofakissen für die Tante, eine Reisetasche für den Onkel, einen Lampenschirm für den Salon und eine Reisetasche für Cousin Ferdinand, den Bezirksrichter; all diese Sachen sind noch nicht einmal annähernd halb fertig. Außerdem gäbe es noch vieles andere, aber man beginnt die Unmöglichkeit einzusehen, es fertigzubekommen. Gleichwohl hat Natinka gestern mit einer Börse angefangen, genäht mit Perlen auf Spitze, die sie für den Bezirksrichter bestimmt hat, aber heute hatte sie die Sache schon wieder satt. Bei mir habe ich jedoch beschlossen, daß, wenn auch etwas anderes liegenbleiben muß, so soll doch diese Börse fertigwerden, sollte ich auch eine ganze Nacht keine Ruhe finden: Denn weißt Du, er ist die einzige Person, deren Gegenwart das Leben hier im Haus manchmal erträglich macht. Ich sehe ihn zwar nur beim Frühstück, und da spricht er mich nie an, aber wenn er der Konversation eine solche Wendung gibt, daßsie für mich interessant wird, verschwindet viel von dem Unbehagen, das die unerträglichen Fragen und Bemerkungen der Tante mir immer verursachen.

Da ich Zeit und Papier habe, will ich Dir eine kleine Szene beim Frühstück von vorgestern mitteilen, während wir auf die Tante warteten.

Als ich das Zimmer betrat, saßen die Mädchen und lasen jede in ihrem Roman, ich näherte mich Natinka. „ Hast du Cousinerna 1 gelesen? “ fragte sie und zeigte mir den Titel. „ Nein “ , antwortete ich, „ kurz nachdem das Buch erschienen ist, habe ich in einem Zeitungsartikel gelesen, daßes keine geeignete Lektüre für junge Mädchen sei. “

Natinka lachte schallend, und Aurora sagte mit mitleidigem Kopfschütteln: „ Du bist doch reichlich einfältig und kleinstädtisch, liebe Ida! Begreifst du nicht, daßder Artikel nur deshalb geschrieben wurde, um das Buch erst recht interessant zu machen? Jedenfalls hat gerade dieser Artikel uns neugierig auf das Buch gemacht. “

Ich schwieg wie ein braves Kind. Da rief Natinka den Bezirksrichter zu uns, der eine Weile auf der anderen Seite des Zimmers gestanden und ein paar Goldfische betrachtet hatte, offenbar, ohne uns die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.

„ Hat Cousin Ferdinand Cousinerna gelesen? “ fragte sie lachend. „ Ich studiere sie gründlich “ , sagte er ganz ernst.

„ Das klingt ja unglaublich “ , bemerkte Aurora. „ Der Cousin ist doch ein Romanverächter! “

„ Wer hat das behauptet? “ fragte er. „ Das bin ich mit Sicherheit nicht, im Gegenteil. Ich mag Darstellungen des Alltagslebens in seinen vielfältigen Wechseln - sie bringen Veredelung für die Seele und das Herz mit sich - und wahrhaftig gemalte Charaktere. Aber daßjunge Damen, die entweder zum Vergnügen lesen, oder, was besser wäre, um ihre Begriffe zu pflegen und etwas Menschenkenntnis zu sammeln, die Werke eines Victor Hugo oder Balzac lesen, das begreife ich nicht! Ihr dürftet euch erinnern, daßes meine Bemerkungen gegen diese Verfasser war, die mir die Beschuldigung, ein Romanverächter zu sein, eingebracht hat. In meinen Gedanken bringt diese Lektüre nur einen Nutzen. “

„ Und welchen, wenn ich fragen darf? “

„ Den, daßjunge Damen, die diese Art Lektüre lieben, nie an schwachen Nerven leiden werden, weil die Gewöhnung an die Gruselszenen dieser Verfasser sie abhärten muß. “ Alle lachten, nannten ihn einen Eulenspiegel, einen Satiriker und …

Aber wozu dient diese Erzählung? fragt meineälteste Schwester. Ja, liebe Anna, ich wünschte, Du hättest den Blick gesehen, mit dem er sagte: ‚ Ich studiere die Cousinen ‘ , denn der drückte deutlicher aus als Worte: Ich durchschaue euch alle drei. Und - halt mich nicht für eitel, liebe Schwester! - ich glaube, daßsein Urteil zum Vorteil Deiner Ida war.

Einen Tag später.

Ein Ereignis hat die gewohnte Eintönigkeit unterbrochen: Die Haushälterin, die ich in meinem letzten Brief erwähnte - Frau Lundström - trat morgens froh und munter bei mir ein und brachte mir meinen Kaffee - und ein kleines Billett von einerälteren Frau, die einige Zimmer im dritten Stock des Hauses bewohnt. Ich habe sie ein paar Mal im Treppenhaus getroffen, und da hat sie mich immer so freundlich gegrüßt und mich mit einem so mütterlichen Blick angesehen, daß ich von ihrer Person ganz eingenommen war.

[...]


1 Cousinerna (‚Die Cousinen’): Debütroman der schwedischen Schriftstellerin Sofia Margareta „Sophie“ von Knorring (1797 - 1848), erschienen 1834, behandelt den Konflikt zwischen Liebe und Pflicht (Anm. d. Ü.).

Ende der Leseprobe aus 51 Seiten

Details

Titel
Charlotta Falkman - Neujahrsabend
Untertitel
Aus dem Finnlandschwedischen übersetzt von Nadine Erler
Autor
Jahr
2011
Seiten
51
Katalognummer
V183247
ISBN (eBook)
9783656077336
ISBN (Buch)
9783656077510
Dateigröße
705 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Charlotta Falkman (1795 - 1882) war eine der ersten Autorinnen Finnlands, die (in schwedischer Sprache) Romane veröffentlichte. Sie schildert in ihren Werken das Leben der finnlandschwedischen Oberschicht, oft in ironischer Form.
Schlagworte
charlotta, falkman, neujahrsabend, finnlandschwedischen, nadine, erler
Arbeit zitieren
Nadine Erler (Autor:in), 2011, Charlotta Falkman - Neujahrsabend, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/183247

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