Was geht und was bleibt?

Eine vergleichende Betrachtung der "Gregorius"-Legende Hartmanns von Aue mit Thomas Manns "Der Erwählte"


Hausarbeit, 2010

13 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorbemerkung

2. Vergleich der Textstellen
2.1. Das Direktheitsproblem
2.2. Gebrochene Frömmigkeit
2.3. Was an Werten übrig bleibt

3. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Vorbemerkung

Eine Beschäftigung mit dem Gregorius Hartmanns von Aue und dem Erwählten Thomas Manns, also eine Beschäftigung mit Werken, deren Entstehungszeiträume über 750 Jahre aus- einander liegen, ist ohne Zweifel eine große Herausforderung und vermag in ihrer Gesamtheit und Vielschichtigkeit ganze Bücher zu füllen. Zunächst also eine wichtige Einschränkung: Der Schwerpunkt der folgenden Arbeit liegt auf dem Vergleich zweier kurzer Textauszüge, nämlich den Schlussworten der Erzählungen, wobei zur näheren Erläuterung auch vorange- hende Passage Berücksichtigung finden werden. Ausgehend von diesen Betrachtungen werden dann, soweit möglich, Schlussfolgerungen für einen Gesamtvergleich gezogen.

Eine Zuwendung zu Literatur, verstanden als „wertende Verständigung über Werte“,1 legt nahe, ins Zentrum dieser Betrachtung das Wertungsgeschehen zu rücken, auf das wir durch die Betrachtung der Schlussworte, wie zu zeigen sein wird, einen besonders direkten Zugriff haben. In diesem Zusammenhang wird die Frage gestellt, wo (bei aller Unterschiedlichkeit in Sprache, Entstehungszeit und Form) sich einerseits Gemeinsamkeiten herausarbeiten lassen und wo uns andererseits unhintergehbarer Wandel entgegenschlägt. Oder anders gefragt: Was ist gegangen und was ist geblieben an Werten über die Jahrhunderte und in welcher Form zeigt sich das in der Literatur derer, die heute Klassiker sind?A

2. Vergleich der Textstellen

Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich beide Textpassagen in 4 Abschnitte gegliedert (I - IV). Während die Ausschnitte aus Der Erwählte dabei chronologisch angeordnet sind, wurden drei Verse Hartmanns aus ihrer eigentlichen Reihenfolge herausgenommen und an den Beginn gestellt, um die Parallelität der Passagen deutlicher werden zu lassen. Die sich anschließenden Ausführungen leiten sich aus dem Vergleich der sprachlichen Form, des Inhalts und literaturtheoretischen Betrachtungen (Willems) ab. Sprachliche Betrachtungen, die sich aus dem naheliegenden Vergleich der mittel- und neuhochdeutschen Sprachstufe ergeben, werden aufgrund der Beschäftigung in einem literaturwissenschaftlichen Rahmen weitestge- hend außer Acht gelassen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten2

Die Parallelität der Passagen ist erstaunlich und zeigt eindrücklich, wie stark Thomas Mann sich zum Teil an der Vorlage Hartmanns orientiert hat. Der namentlichen Nennung der jeweiligen Erzählerfigur und der Erwähnung der Mühe, welche die Arbeit gemacht hat (I), folgt die Ausführung, wie die Geschichte ausdrücklich nicht zu verstehen sei, nämlich als pau- schale Garantie für die Gnade Gottes (II), worauf die eigentliche Moral folgt (III). Den Abschluss bildet jeweils die Bitte an den Leser3, den Erzähler in die eigenen Gebete einzu- schließen, sowie die Aussicht auf ein Wiedersehen im Paradies bzw. dem himelr î che (IV).4

Der augenfälligste Unterschied, neben den verschiedenen Sprachstufen, liegt im Kontrast der Reimpaarverse Hartmanns mit den Prosazeilen Thomas Manns. Dass moderne Romane nicht mehr in Versen abgefasst werden, mag man bedauerlich finden, ist aber einem wohl unhintergehbaren ästhetischen Wandel geschuldet. Gleich im ersten Kapitel des Erwählten finden wir eine Anspielung darauf, die im direkten Vergleich mit Hartmann den humoristischneckenden Ton des Erzählers deutlich werden lässt:

Ich höre zwar sagen, daß erst Metrum und Reim eine strenge Form abgeben, aber ich möchte wohl wissen, warum das Gehüpf auf drei, vier jambischen Füßen, wobei es obendrein alle Augenblicke zu allerlei daktylischem Gestolper kommt, und ein bißchen spaßige Assonanz der Endwörter die strengere Form darstellen sollten gegen eine wohlgefügte Prosa mit ihren so viel feineren und geheimeren rhythmischen Verpflichtungen […]. (S. 423)

Die humoristische Haltung der Erzählerfigur Clemens wird jedoch dort problematisch, wo es uns um die Essenz, um das Wertungsgeschehen im Roman geht, da es die Interpretation deutlich verkompliziert. Dem werden sich die folgenden Überlegungen widmen.

2.1. Das Direktheitsproblem

Die beiden Passagen lassen sich unter dem Schlagwort Reflexion fassen; wir treten jeweils den Erzählern gegenüber, die sich aus der Geschichte heraus - meta-narrativ - direkt an den Leser wenden. Clemens auf der einen, Hartmann auf der anderen Seite, wobei sofort ins Auge fällt, dass wir es mit einem unterschiedlichen Grad der Direktheit zu tun haben: im Falle Hart- manns scheint es der Verfasser selbst zu sein, der spricht.5 Rückblickend entwirft Hartmann eine Art Moral von der Geschicht, wobei der Gestus des bescheidenen Dichters deutlich wird, als er auch für sein eigenes Schicksal bittet (IV) und den Leser mit einem jovialen wir in seine Ausführungen einschließt. Man weiß also unmittelbar, wie man die Legende nach dem Ver- ständnis des Erzählers zu deuten hat. Diese Eindeutigkeit ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass wir es mit der Darstellung einer Gestalt des Mythos zu tun haben, die als Tugendexempel dient.6 An der Aufrichtigkeit und Vorbildlichkeit des Helden besteht zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel, vor allem weil der Erzähler sich so eindeutig zu seinem Helden positioniert und ihn gleich zu Anfang als den guten Sünder bezeichnet (vgl. Prolog, V. 176). Wolfgang Dittmann formuliert: „Gregorius ist auf jeder Stufe vorbildlich und Hartmann gibt jeder seiner Daseinsform ihr relatives Recht.“7

Bei Thomas Mann gestaltet sich die Sache, milde gesagt, etwas schwieriger: Zwar gleicht sich das Gesagte in den vorliegenden Abschnitten nahezu vollständig, doch ist eine ähnliche Verhandlung durch den Leser beinahe ausgeschlossen. Es spricht Clemens der Ire, eine fiktive Erzählinstanz, der seinerseits wiederum angibt, einen „Geist der Erzählung“8 zu verkörpern.

[...]


1 Willems, Gottfried: [Art.] Literatur. In: Fischer Lexikon Literatur. Hg. v. Ulfert Ricklefs. Frankfurt a.M.: Fischer 2002. S. 1006-1029.

A Anmerkung: Ich möchte die Aktualität der im Gregorius und Erwählten verhandelten Problematik nicht auf Biegen und Brechen beschwören, im Angesicht der Schlagzeilen dieser Tage kann ein Verweis jedoch nicht ausbleiben. Zeit-Online titelt am 2. März 2011: „Hoffen auf ein Guttenberg-Comeback. Vertreter von CDU und CSU hoffen auf baldige Rückkehr Guttenbergs. Dem "Bußgang" könne ein neues "Hochamt" folgen, heißt es.“ (Quelle: <http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-03/guttenberg-comeback-ruecktritt>; Zugriff am 2. März 2011, 14.13. Hervorhebung durch mich, F.H.) Zugegeben: Die Erwählung zum Papst im Falle des ehemaligen Bundesverteidigungsministers muss als unwahrscheinlich gewertet werden.

2 Zitiert werden folgende Ausgaben: Hartmann von Aue. Gregorius. Hrsg. von Herrmann Paul. 15., durchgese- hene und erweiterte Auflage. Tübingen: Niemeyer 2004, sowie Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Bd. 8. Berlin [u.a.]: Aufbau-Verl. 1975. Hier: S. 673.

3 Im Falle Hartmanns wäre es womöglich sinnvoll, von einem Leser oder Hörer zu sprechen, da ausdrücklich jene, die ez h œ ren oder lesen, angesprochen werden. Aus pragmatischen Gründen soll darauf verzichtet werden.

4 Mit dem Blick auf die schon angesprochene politische Affäre um den ehemaligen Bundesverteidigungsmi - nister muss man Thomas Manns Äußerungen zu seiner Arbeit mit Montagen dieser Art, denen er gegenüber Theodor W. Adorno einen „unverfrorenen Diebstahl-Charakter“ zugestanden hat, wiederum mit großem Schmunzeln zur Kenntnis nehmen (Thomas Mann. Briefe. Hrsg. von Erika Mann. Berlin [u.a.]: Aufbau-Verl. 1968. S. 502).

5 Ich will den Erzähler Hartmann nicht mit dem realen Autor Hartmann von Aue gleichsetzen, allein um der Stilisierung, die vom Autor vorgenommen wird, Rechnung zu tragen. Ich kennzeichne diese Unterscheidung durch die Schreibweise: Hartmann meint den Erzähler, Hartmann den Autor. Das Konzept des impliziten Autors (nach Tom Kindt und Hans-Harald Müller, The Implied Author, De Gruyter 2006) soll dabei unberücksichtigt bleiben. Natürlich entsprechen alle Aussagen über Hartmann, die aufgrund von Werkinterpretation vorgenommen werden, immer nur einem bestimmten Bild von ihm. Diese Selbstverständlichkeit braucht in meinen Augen keinen eigenständigen Terminus.

6 Vgl. Willems, G.: Literatur. S. 1019: „Charakteristisch für die Art und Weise, wie die ältere Literatur Werte als Normen verhandelt, ist die Darstellung von Gestalten des Mythos oder der Historie als Tugend- oder Lasterexempel.“ Der guote sünd æ re Gregorius ist natürlich insofern ein Sonderfall, als dass er trotz seiner herausragenden Tugendhaftigkeit in Sünde fällt. Allerdings nicht absichtlich, weshalb die Funktion als Tugendexempel sicherlich im Vordergrund steht.

7 Dittmann, Wolfgang: Hartmanns Gregorius. Untersuchungen zur Überlieferung, zum Aufbau und Gehalt. Berlin: Schmidt 1966. S. 239.

8 Dieser Geist der Erzählung tritt uns gleich zu Beginn der Geschichte entgegen, als er ausführt, dass er es ist, der verantwortlich ist für „Glockenschall, Glockenschwall supra urbem, über der ganzen Stadt, in ihren von Klang überfüllten Lüften“ (S. 417; die Formulierung wird später aufgegriffen, als Gregoriß nach Rom einreitet, S. 647). Ein Spiel mit Fiktionalität, das Wysling bezeichnet als „Thomas Manns Prospero-Gebärde, die Gebärde des Zauberers, der mit allem Faktischen spielt und es der Kunst, das heißt der Macht des Geistes, unterstellt“ (Wysling, Hans und Paul Scherrer: Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. ThomasMann-Studien. Bd. 1. Frankfurt a.M.: Klostermann 1967. S. 281). Bei Hartmann ist das Glockengeläut noch ein Gnadenzeichen Gottes: „Von einen gnâden ich iu sage“ (V. 3753 f.).

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Was geht und was bleibt?
Untertitel
Eine vergleichende Betrachtung der "Gregorius"-Legende Hartmanns von Aue mit Thomas Manns "Der Erwählte"
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
13
Katalognummer
V176960
ISBN (eBook)
9783640983667
ISBN (Buch)
9783656040811
Dateigröße
522 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Thomas Mann, Der Erwählte, Hartmann von Aue, Gregorius, Gregorius-Legende, Vergleich
Arbeit zitieren
Friedrich Herrmann (Autor:in), 2010, Was geht und was bleibt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176960

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