Völkerrechtliche Immunitäten und die Frage der Entschädigung für Verletzungen des Humanitären Völkerrechts im Kontext des Globalisierungsdiskurses


Fachbuch, 2011

72 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

I. Einleitung

II. Der Distomo-Fall

III. Auswirkungen der Globalisierung auf den völkerrechtlichen Entschädigungsdiskurs

IV. Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

Rechtsprechungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

I. Einleitung

Insbesondere in Postkonfliktsituationen ist die Frage nach einem möglichst gerechten Ausgleich zwischen Tätern und Opfern von Kriegsverbrechen wesentlicher Bestandteil des Fundaments einer zukünftigen Friedensordnung. Dieser Ausgleich darf sich nicht nur in zwischenstaatlichen Ausgleichsleistungen erschöpfen sondern muss den einzelnen Menschen, also auch die einzelnen Opfer von Kriegsverbrechen und gegebenenfalls auch deren Nachkommen, berücksichtigen. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht, hervorgerufen durch den Schock des Jugoslawienkrieges, zu einem Zeitpunkt an dem der große Ost-West-Konflikt beigelegt war, und der damit verbundenen Grausamkeiten, erneute Aufmerksamkeit erfahren. Diese schlug sich nieder in der Schaffung der Kriegsverbrechertribunale für Ruanda und für das ehemalige Jugoslawien, der Strafverfolgung durch besondere, internationalisierte, Mechanismen in Bosnien, Sierra Leone und Kambodscha sowie insbesondere in der Errichtung des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.

Der Schutz von Zivilpersonen[1]ist eine der Hauptanliegen des modernen humanitären Völkerrechts. Diesesius in belloist in seiner Anwendbarkeit unabhängig vomius ad bellum[2], welches die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Gewaltanwendung in zwischenstaatlichen Beziehungen im allgemeinen regelt, also das „Ob“ militärischer Gewaltanwendung, während dasius in bellodas „Wie“ der Gewaltanwendung limitiert.

Die wesentliche Frage, die sich uns stellt ist aber nicht nur die Frage nach dem Schutz durch das Recht sondern nach der Entschädigung für die Fälle, in denen der rechtlich geforderte Schutz nicht gegeben war. Ausgehend von dem Grundsatz, dass eine Verletzung des humanitären Völkerrechts, wie jeder anderen völkerrechtlichen Norm, grundsätzlich zur Haftung führen kann, könnte man durchaus versucht sein anzunehmen, dass aufgrund vergleichbarer Zielrichtung der beiden genannten Völkerrechtsgebiete in gleicher Weise eine grundsätzliche Entschädigungsverpflichtung bestehen müsse[3]. Ein solcher Ansatz wäre jedoch zu simplizistisch, da sichius in belloundius ad bellumgrundsätzlich unterscheiden. Dieratiodes humanitären Völkerrechts ist, die Folgen des Waffeneinsatzes zu reduzieren, während dasius ad bellumdarauf abzielt, den Einsatz von Waffengewalt zwischen Staaten gerade zu verhindern. Des weiteren ist zu beachten, dass es aufgrund der mit der Globalisierung einhergehenden Fragmentierung des Völkerrechts durchaus möglich erscheint, dass spezielle haftungsrechtliche Regelungssysteme entstanden sind, welche sich bereits vom Korpus der allgemeinen völkerrechtlichen Haftungsregeln herausgelöst haben. Dies wird beispielsweise hinsichtlich der völkerrechtlichen Haftung für Umweltschäden diskutiert,[4]dürfte aberde lege latanoch zu verneinen sein[5]. Wir werden also sowohl die allgemeinen als auch eventuelle besondere humanitär-völkerrechtliche Haftungsregeln untersuchen müssen. Zu diesem Zweck werden wir verschiedene Fallgestaltungen betrachten. Im Laufe der vergangenen Jahre haben insbesondere Schadensersatzansprüche gegen Japan im Zusammenhang mit der Besatzung großer Teile Ostasiens[6]und gegen Deutschland die Aufmerksamkeit der Gerichte bzw. einer breiteren Öffentlichkeit erlangt. Es ist schon auf den ersten Blick bezeichnend, dass es insbesondere rechtsstaatlich orientierte Staaten sind, welche in die Verantwortung genommen werden. Wie wir aber noch sehen werden hält das geltende Völkerrecht aber auch schon erste Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung für solche Fälle bereit, in denen die Anspruchsgegner keineswegs gewillt sind, sich ihrer Verantwortung zu stellen.

Nur am Rande erwähnt werden sollen nicht-humanitär-völkerrechtliche Kompensationsmechanismen die im Falle einer Verletzung des humanitären Völkerrechts herangezogen werden können. Hierzu zählen zunächst menschenrechtliche Regelungen wie beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die für Verletzungen der EMRK Schadensersatz vorsieht. Die EMRK kann auch, innerhalb gewisser Grenzen, auf internationale bewaffnete Konflikte Anwendung finden[7]. Ohne an dieser Stelle zu tief in das Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention und in das Verhältnis zwischen dem völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz einerseits und dem humanitären Völkerrecht andererseits einzudringen[8], muss doch festgehalten werden, dass hier insofern eine gewisse Kompensationsmöglichkeit besteht, die aber schon geographisch sehr beschränkt ist und systematisch vollkommen außerhalb des humanitären Völkerrechts steht.

Des weiteren zählen zu den nicht-humanitär-völkerrechtlichen Entschädigungsregelungen solche Konzepte wie diesolatia-Zahlungen, die von U.S. Streitkräften unmittelbar vor Ort im Irak und in Afghanistan geleistet wurden oder auchdiya(umgangssprachlich auch als „Blutgeld“ bezeichnet) im arabischen Raum.

II. Der Distomo-Fall

1953 wurde mit dem Bundesergänzungsgesetz (BErgG) das erste bundesdeutsche Gesetz zur Entschädigung der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung geschaffen. Bereits am 26. April 1949 hatte der Council of Southern German States in der US-amerikanischen Besatzungszone eine Verordnung zur Regelung von Entschädigungsfragen geschaffen, welche dann von den süddeutschen Bundesländern in landesrechtliche Regelungen überführt worden war. Nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (GG) galten diese Regelungen nach Maßgabe des Art. 125 GG als Bundesrecht weiter. Das BErgG wurde 1956 durch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgelöst.

Doch obschon die Rechtslage seit über einem halben Jahrhundert geklärt zu sein scheint, beschäftigen sich deutsche Gerichte noch immer mit der haftungsrechtlichen Aufarbeitungen der Verbrechen der NS-Zeit. Dies liegt nicht zuletzt an der veränderten geopolitischen Situation nach 1989 und an dem seit den Jugoslawien-Kriegen gestiegenen Interessen am humanitären Völkerrecht. Da deutsche Gerichte bislang die Anwendbarkeit des Staatshaftungsrechts auf Kriegssituationen weitestgehend ablehnen, werden wir uns im Folgenden auf den Umgang der Gerichte mit völkerrechtlichen Regelungen konzentrieren.

Am 26. Juni 2003 entschied der 3. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in einem Fall, welcher von Angehörigen und Nachkommen der Opfer eines von SS-Angehörigen verübten Massakers an der Zivilbevölkerung des griechischen Ortes Distomo angestrengt worden war.[9]

Während der deutschen Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg kam es zu Angriffen von griechischen Widerstandskämpfern gegen die Besatzungstruppen. Die Reaktion der Besatzungstruppen bestand darin, auch vollkommen unbeteiligte Dörfer zu zerstören (wobei festzuhalten ist, dass Repressionen gegen die Zivilbevölkerung immer mit dem humanitären Völkerrecht unvereinbar sind, lediglich kommt eine Kriegführung gegen Personen in Betracht, die persönlich ihren Status als Zivilisten dadurch verloren haben, dass sie selbst zu den Waffen gegriffen haben). Am 10. Juni 1944 ermordeten Angehörige der Waffen-SS im Dorf Distomo in der Provinz Böotien 218 Zivilisten auf grausamste Weise, darunter viele Frauen und Kinder. Die SS-Einheiten waren zu diesem Zeitpunkt bereits in die Wehrmacht integriert und nahmen an Kampfhandlungen teil, so dass auf diese die Regeln des humanitären Völkerrechts, welches zum damaligen Zeitpunkt noch als Kriegsvölkerrecht bezeichnet wurde, anwendbar waren. Wie zahlreiche andere Orte im deutsch besetzten Griechenland wurde das Dorf niedergebrannt und zahlreiche Häuser wurden zerstört. Die Kläger verklagten die Bundesrepublik Deutschland sowohl aus abgeleitetem Recht wegen des von ihren Angehörigen erlittenen Unrechts als auch aus eigenem Recht insbesondere wegen der Zerstörung von Wohnhäusern und Familienbetrieben.

Nachdem das Landgericht (LG) Bonn[10]und das Oberlandesgericht (OLG) Köln[11]die Ansprüche in erster und zweiter Instanz abgelehnt hatten, brachten die Kläger den Fall vor den Bundesgerichtshof (BGH). Dieser setzte das Verfahren bis zum Erlass von Entscheidungen in Parallelverfahren in Griechenland aus. Schon 1997 hatte das Bezirksgericht in Livadeia den Klägern umgerechnet rund 29 Mio. € Schadensersatz zugesprochen[12]. Die deutsche Regierung hatte sich im Folgenden auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität[13]berufen und die Aufhebung dieser Entscheidung durch den Areopag, den obersten Gerichtshof Griechenlands, beantragt. Dieser verwarf den deutschen Antrag 1999. Im Rahmen der Durchsetzung des griechischen Urteils gegen die Bundesrepublik Deutschland war es jedoch aufgrund der nationalrechtlichen Vorgaben der griechischen Zivilprozessordnung notwendig, dass der Justizminister der Vollstreckung in Griechenland belegenes Vermögen ausländischer Staaten (konkret geplant war die Vollstreckung in Immobilien des staatlichen deutschen Goetheinstituts in Athen) zustimmen musste[14]. Diese Zustimmung wurde Seitens der griechischen Regierung verweigert, da diese die Ansicht der Bundesrepublik betreffend den Vorrang der Staatenimmunität teilte. Mit dieser Verweigerung stellte sich die griechische Exekutive gegen die Judikative. Die Kläger zogen hiergegen, erfolglos, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg[15]. Aufbauend auf dem FallHornsby gegen Griechenland[16]machten die Kläger dort geltend, dass das Zustimmungserfordernis für die zur Durchsetzung des für sie positiven Urteils notwendigen Zwangsvollstreckung gegen Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie gegen Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK verstoße. Der EGMR lehnte die Beschwerde als unzulässig ab[17]und war darüber hinaus der Ansicht, dass es noch keine Regel des Völkerrechts dahingehend gäbe, dass ein Staat sich zwangsläufig nicht mehr auf seine ihm grundsätzlich zustehende völkerrechtliche Staatenimmunität berufen kann, wenn er wegen Kriegsverbrechen in Anspruch genommen wird[18]. Folglich könnten die Kläger von der griechischen Regierung zumindestde lege latanicht verlangen, dass sie die Staatenimmunität der Bundesrepublik verletze, um ihre von nationalen Gerichten ausgeurteilten Ansprüche durchzusetzen. Hier sieht man deutlich, dass die EMRK in erster Linie ein völkerrechtlicher Vertrag ist, auf welchen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Anwendung finden, auch wenn dieser Vertrag in der subjektiven Wahrnehmung der einzelnen Berechtigten eine besonders hervorgehobene Bedeutung zukommt. Die EMRK ist in die völkerrechtliche Gesamtrechtsordnung eingebunden, was schon daran zu erkennen ist, dass der EGMR nicht nur zur Verwirklichung der Konventionsrechte die allgemeinen Regeln des Völkerrechts als Grenze sieht sondern schon keine Beschwerde zulässt, welche auf ein völkerrechtlich unzulässiges Begehren gerichtet ist. Trotz ihres hohen Entwicklungsgrades ist die EMRK also keineswegs vom sonstigen Völkerrecht losgelöst. Allgemeine Prinzipien des Völkerrechts wirken also auf die EMRK ein und die EMRK hat ihren Platz im Normengefüge des Völkerrechts. Zu bemerken ist hierbei, dass dieser Ansatz die Tür nicht vor zukünftigen Beschwerden verschließt, welche durchaus zulässig sein könnten, sollte sich eine neue Norm des Völkergewohnheitsrechts entwickeln, welches zu der von den Beschwerdeführern geltend gemachten Einschränkung der Staatenimmunität führt.

Des weiteren wurde in Griechenland der Besondere Oberste Gerichtshof des Landes mit Frage der Entschädigung für das Massaker in Distomo befasst. Der Besondere Oberste Gerichtshof keine ständige Einrichtung sondern in seiner Funktion am ehesten dem Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichte des Bundes in der Bundesrepublik vergleichbar und entscheidet über Rechtsfragen, welche zwischen griechischen Obergerichten umstritten sind. Obschon eine derartige Meinungsverschiedenheiten zwischen obersten Gerichten nicht bestand, wurde der Besondere Oberste Gerichtshof von Richter Stephanos Matthias einberufen. Matthias war zuvor Vorsitzender Richter am Areopag gewesen und war in der Entscheidung betreffend die Distomo-Ansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland überstimmt worden. Die Einberufung des Besonderen Obersten Gerichtshofs trotz fehlender Voraussetzungen wurde vom Anwalt der Distomo-Kläger, dem ehemaligen Mitglied des Europäischen Parlaments Ioannis Stamoulis, als Verfassungsbruch kritisiert. Dennoch befasste sich der Besondere Oberste Gerichtshof mit der Angelegenheit und entschied im September 2002, dass die Schadensersatzansprüche der Kläger aufgrund des Grundsatzes der Staatenimmunität innerstaatlich nicht gegen die Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt werden könnte[19].

Der BGH hatte sein Verfahren bis zum Abschluss der Verfahren in Griechenland ausgesetzt und beschäftigte sich nach der Entscheidung des Besonderen Obersten Gerichtshofs erneut mit der Angelegenheit. Die Bundesregierung hielt die von den Klägern eingereichte Feststellungsklage in Ermangelung eines Rechtsschutzsbedürfnisses für unzulässig, da auch die Leistungsklage erhoben werden könne. Der BGH stellte jedoch keine grundsätzliche Subsidiarität der Feststellungs- gegenüber der Leistungsklage fest, sondern erachtete aufgrund der Möglichkeit einer effektiven Lösung des Rechtsstreits nicht nur die Leistungs- sondern auch die Feststellungsklage für zulässig[20]. Diese Möglichkeit schlussfolgerte der BGH aus der öffentlich-rechtlichen Natur der Beklagten, hier der Bundesrepublik Deutschland, da bei öffentlich-rechtlichen Beklagten unterstellt werden könne, dass sie unabhängig davon, ob Leistungs- oder Feststellungsklage erhoben worden ist, grundsätzlich eher bereit seien Schadensersatz für die Folgen rechtswidrigen Verhaltens zu leisten als private Beklagte.

Der BGH musste sich sodann mit der Frage beschäftigen, ob die Entscheidungen der griechischen Gerichte einer Befassung durch den BGH entgegenstanden. Dies wurde vom BGH mit der Begründung verneint, dass die griechischen Gerichte es versäumt hätten, die völkerrechtlichen Grundsätze der Staatenimmunität (§ 30 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)) und despar in parem non habet imperiumzu berücksichtigen, die es verbieten, dass ein Staat über einen anderen für dessen hoheitliches[21]Handeln zu Gericht sitzt[22]. Zwar wird der Grundsatz der Staatenimmunität dahingehend eingeschränkt, dass eine Immunität für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen oder gar Kriegsverbrechen heute nicht mehr in Betracht kommt, jedoch haben die Entscheidungen des EGMR[23]und des Besonderen Obersten Gerichtshofs Griechenlands[24]gezeigt, dassde lege latanoch keine völkergewohnheitsrechtliche Norm des Inhalts existiert, dass der Grundsatz der Staatenimmunität nicht nur bei heute verübten Menschenrechtsverletzungen sondern auch rückwirkend für Altfälle aufgehoben wäre. Allerdings besteht zu recht eine gewisse Erwartungshaltung auf Opferseite dahingehend, dass beispielsweise völkerstrafrechtliche Sanktionen, welche seit langem für Kriegsverbrechen verhängt werden, durch Schadensersatzregelungen ergänzt werden, wie es nunmehr in Art. 75 des Rom-Status über den Internationalen Strafgerichtshof vorgesehen ist. Spätestens seit den beiden Ad hoc-Tribunalen erscheint eine Bewegung hin zu entsprechenden Einschränkungen der Staatenimmunität erkennbar zu sein, was auch durch Beispiele aus der nationalen Rechtsprechung belegt wird[25]. Nach aktuell geltendem Recht aber steht die Staatenimmunität einer Geltendmachung von Ansprüchen noch entgegen, sofern sich keine spezialgesetzliche Ausnahmeregelung findet. Dies wäre von den griechischen Gerichten wegen Art. 28 Abs. 1 der griechischen Verfassung auch zu berücksichtigen gewesen, was jedoch nicht geschehen ist. Im Einklang mit Art. 2 Abs. 2 der griechischen Verfassung hat die Regierung Griechenlands dann zwar die Zustimmung zur Vollstreckung in das in Griechenland belegene Vermögen der Bundesrepublik verweigert, aufgrund der Missachtung des Staatenimmunität durch die griechische Judikative greift derres judicata-Einwand allerdings nicht, weshalb der BGH nicht gehindert war, über denselben Sachverhalt zu entscheiden, mit dem sich die griechischen Gerichte bereits auseinandergesetzt hatten und die griechischen Urteile trotz eines deutsch-griechischen Vertrages zur gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsurteilen nicht anerkennen musste[26].

Nachdem der BGH im Anschluss an die Prüfung der Zulässigkeit der Klage im nationalen Recht keine Anspruchsgrundlage für Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen des Distomo-Massakers finden konnte, beschäftigt er sich mit völkerrechtlichen Anspruchsgrundlagen. Aufgrund des Grundsatzes des intertemporalen Völkerrechts[27]ist grundsätzlich die Regel des Völkerrechts anzuwenden, welche zum Zeitpunkt der fraglichen Handlung galt. Daher hatte der BGH seiner Entscheidung nicht die aktuelle völkerrechtliche Rechtslage sondern die Rechtslage des Jahres 1944 zugrunde zu legen. Dies deckt sich auch mit der Rechtsnatur der staatlichen Verpflichtung, da jede in diesem Zusammenhang festgestellte Verpflichtung eine des Deutschen Reiches[28]wäre, welche zwar ohne weiteres aufgrund der staatspersonalen Identität der Bundesrepublik mit dem Reich[29]von der Bundesrepublik zu bedienen wäre, die aber gerade keine originäre Verpflichtung des Bundes darstellen würde.[30]

Grundsätzlich gilt, dass auf eine völkerrechtliche Frage immer das Recht anzuwenden ist, welches zum entscheidungsrelevanten Zeitpunkt galt, auch wenn dieses Recht heute überholt ist. Dieser Grundsatz gilt für alle Bereiche des Völkerrechts, auch für die Frage nach der Entschädigung für Verletzungen des Humanitären Völkerrechts. Wie noch zu sehen sein wird, wird dieser Grundsatz wegen unbillig erscheinender Ergebnisse heutzutage in Frage gestellt. Dies bringt jedoch erhebliche Rechtsunsicherheiten mit sich, welche die vermeintlichen politischen Vorteile langfristig überwiegen.

Diese Erörterungen zum allgemeinen Haftungsregime im Völkerrecht vorausgeschickt, stellt sich uns nun die Frage, welche Regelungen das humanitäre Völkerrecht bereit hält, um sicherzustellen, dass Opfer von Verletzungen des humanitären Völkerrechts entsprechend entschädigt werden. Vertraglich besteht eine völkerrechtliche Entschädigungspflicht bereits seit langem. Wir werden uns an dieser Stelle zunächst mit den existierenden Vorschriften und der Frage ihrer Reichweite beschäftigen.

Basierend auf der grundsätzlichen Verpflichtung, Schadensersatz für Völkerrechtsverstöße zu leisten kodifizieren Art. 91 S. 1 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen und der wortgleiche Art. 3 S. 1 der 4. Haager Konvention diese Verpflichtung genauer:

„Eine am Konflikt beteiligte Partei, welche die Abkommen oder dieses Protokoll verletzt, ist gegebenenfalls zum Schadenersatz verpflichtet. Sie ist für alle Handlungen verantwortlich, die von den zu ihren Streitkräften gehörenden Personen begangen werden.“

Art. 91 S. 1 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen verlangt ausdrücklich einen Schadenseintritt, welcher aber nicht notwendigerweise materieller Art sein muss.[31]Da aktuell der größte Teil der bewaffneten Konflikte weltweit nicht in Form klassischer zwischenstaatlicher Kriege sondern innerstaatlich stattfindet, stellt sich die Frage nach der Anwendbarkeit dieser Regelungen auf nicht-staatliche Akteure. Inwiefern diese Regelungen Völkergewohnheitsrecht darstellen (welches unabhängig von den genannten Normtexten Geltung für innerstaatliche Akteure beanspruchen könnte), soll an späterer Stelle erörtert werden. Der Anwendungsbereichratione personaedes ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen ist in Art. 1 Abs. 3 und 4 desselben definiert, welche die Anwendbarkeit auf zwischenstaatliche Konflikte und Befreiungskriege beschränkt, wobei Art. 1 Abs. 4 des ersten Zusatzprotokolls, welches in den 1970er Jahren geschaffen wurde, noch stark von den Dekolonialisierungserfahrungen der 1960er Jahre geprägt ist. Ebenso ist natürlich die wesentlich ältere 4. Haager Konvention gemäß ihrem Art. 2 nur auf Konflikte zwischen Staaten anwendbar. Insofern wird das geschriebene Recht der aktuellen Realität, dass die Mehrzahl der bewaffneten Konflikte innerstaatlich ist, nicht mehr gerecht. Für internationale Konflikte jedoch gilt, dass für Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch eine Vertragspartei der beiden genannten Dokumente grundsätzlich Schadensersatz zu leisten ist. Dieser Schadensersatz ist vom Schädigerstaat an den Staat des Geschädigten zu leisten. Auch hier ist weder ein Anspruch des einzelnen Opfers noch eine persönliche Entschädigungspflicht des konkreten Schädigers vorgesehen. Auch wenn Art. 51 des Zweiten Zusatzprotokolls ausdrücklich den Einzelnen schützt, begründet das Protokoll doch nur Rechte und Pflichten zwischen den Staaten (Art. 1 Abs. 1 und 3)[32]. Art. 51 Abs. 2 des Protokolls begründet für den einzelnen Kläger keine Rechte, die er oder sie selbst vor Gericht durchsetzen könnte. Opfer sind also darauf angewiesen, dass ihr jeweiliger Heimatstaat ihre Rechte auf der internationalen Eben durchsetzt. In der Praxis ist es jedoch so, dass dies nie geschieht und dass Staaten untereinander in aller Regel keine Entschädigung für Verletzungen des humanitären Völkerrechts verlangen. Dies ändert sich erst langsam dahingehend, dass einige Staaten ohne Anerkennung einer Rechtspflicht und aus primär politischen oder militärischen Gründen Entschädigungen an zivile Opfer zahlen. An der grundsätzlichen Zurückhaltung bei der völkerrechtlichen Geltendmachung ändert dies jedoch nichts.

Wenn aber in der Praxis zwischenstaatlich keine Entschädigung verlangt oder gewährt wird, so stellt dies einen Mangel der Durchsetzung des humanitären Völkerrechts dar, der nicht mit Art. 1 Abs. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen vereinbar ist. Darüber hinaus wirft diese Staatenpraxis die Frage auf, ob das die entsprechenden vertraglichen Regelungen noch anwendbar sind oder ob bereits neues Völkergewohnheitsrecht entstanden ist, welches den vertraglichen Regelungen nach demlex posterior-Grundsatz vorgeht, wonach neuere Regeln älteren Regeln im selben Regelungsgebiet vorgehen. Zumindest ist kein Völkergewohnheitsrecht entstanden, welches eine Entschädigungsverpflichtung wie sie in Art. 91 S. 1 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen und in Art. 3 S. 1 der Vierten Haager Konvention vorgesehen sind, schaffen würde: Trotz der großen Anzahl der Vertragsparteien beider Dokumente und trotz einer Vielzahl von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht seit deren Inkrafttreten hat sich noch keine entsprechende Staatenpraxis herausgebildet. Im Gegenteil ist eher ein entgegenstehendes Völkergewohnheitsrecht entstanden, demzufolge keine Entschädigung geleistet werden muss. Für die zahlreichen Vertragsparteien stellt sich damit die Frage, ob die jahrzehntelange Verweigerung von Entschädigungen dazu geführt hat, dass die Verpflichtungen aus Art. 3 S. 1 der Vierten Haager Konvention und Art. 91 S. 1 des 1. Zusatzprotokolls auch für Vertragsparteien nicht mehr gelten. Durch die Rechtsfigur desdesuetudo, der dauerhaften Nichtanwendung einer Norm ist dies durchaus möglich.

[...]


*Rechtsanwalt, Antrifttal / Frankfurt am Main (www.humanrightslawyer.eu); wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Göttingen. Der Verf. dankt Frau wiss. Mit. Ref. jur. Katrin König (Universität Göttingen) für technische Unterstützung sowie Prof. Dr. Jose Brunner (Universität Tel Aviv) und Frau wiss. HK Ass. jur. Katarzyna Geler-Noch (Universität Göttingen) für hilfreiche Anmerkungen. Alle vertretenen Ansichten geben allein die Meinung des Verfassers wieder.

[1]Siehe sehr instruktiv Saleh (2006), S. 17 ff. sowie Gardam (1993), S. 398.

[2]Heintschel von Heinegg (2003), S. 24.

[3]Vgl. Heintschel von Heinegg (2003), S. 24.

[4]Heintschel von Heinegg (2004), S. 1059.

[5]Kirchner (2007), S. 226.

[6]Siehe hierzu bspw. Pike (2011), S. 89 ff.

[7]Grabenwarter (2008), S. 105.

[8]Siehe hierzu Provost (2002), S. 133 ff.

[9]BGHZ 155, 279.

[10]LG Bonn, Az.: 1 O 358 / 95, Urteil vom 23.06.1997.

[11]OLG Köln, Az.: 7 U 167 / 97, Urteil vom 27.08.1998.

[12]Bezirksgericht Livadeia, Az.: 137/197, Urteil vom 25.09.1997.

[13]Zu den völkerrechtstheoretischen Grundlagen und der völkerrechtshistorischen Entwicklung des Grundsatzes der Staatenimmunität aus der persönlichen Immunität der Fürsten und Abgesandten siehe Fox (2010), S. 344 ff.; Court of Appeal (England),The Parlement Belge(1979-90), 5 Prob Div 197 (CA); U.S. Supreme Court,The Schooner Exchange v. McFaddon(1812) cranch 116 (U.S.); House of Lords,The Christina[1938] AC 485 (HL), 491 sowie die Brüsseler Konvention über die Staatenimmunität aus dem Jahre 1926 und die UN Convention on Jurisdictional Immunities of States and their Property.

[14]Vergleichend zu deutlich unterschiedlichen Rechtslage in anderen Staaten siehe auch Berufungsgericht Paris,Islamische Republik Iran gegen Eurodif, Urteil vom 21.04.1982, in: 65 International Law Reports 93; Französischer Kassationsgerichtshof,Societé Sonatrach gegen Migeon, Urteil vom 01.10.1985, in: 26 International Legal Materials (1987), S. 998 ff.; United States Court of Appeals for the 2nd Circuit,Letelier v. Republic of Chile, 748 F.2d (2nd Cir 1984) 793.

[15]EGMR,Kalogeropoulous u.a. gegen Griechenland und Deutschland, Beschwerde Nr. 59021/00, Urteil vom 12.12.2002, in: 34 Dike (2003) 291.

[16]EGMR,David and Ada Ann Hornsby gegen Griechenland, Beschwerde Nr. 18357/91, Urteil vom 19.03.1997.

[17]EGMR,Aikaterini Kalogreopoulous u.a. gegen Griechenland und Deutschland, Beschwerde Nr. 59021/00, Urteil vom 12.12.2002, in: 34 Dike (2003) 291..

[18]Ebenda.

[19]BGHZ 155, 279 (281).

[20]Ebenda.

[21]Siehe hierzu BVerfGE 16, 27 (64).

[22]Aus der Rechtsprechung verschiedener Staaten siehe beispielhaft BVerfGE 16, 27 (64);Underhill v. Hernandez, 168 US 250 (1987);Luthor v. Sagor, (1921) 3 KB 532.

[23]EGMR,Kalogreopoulous u.a. gegen Griechenland und Deutschland, Beschwerde Nr. 59021/00, Beschluss vom 12.12.2002, in: 34 Dike (2003) 291.

[24]Besonderer Oberster Gerichtshof, Az.: 6/2002, Urteil vom 17.9.02.

[25]Supreme Court of Aden,Anglo-Iranian Oil Company v. Jaffrate and Others (The Rose Mary), in: 30 International Law Reports 316 (317); House of Lords,Kuwait Airways Corp. v. Iraqi Airways Co., (2002) UKHL 19, Urteil vom 16.05. 2002.

[26]Pittrof (2004), S. 17.

[27]Island of Palmas, Hague Court Reports II, 83 (100);Grisbadarna(1909), in: 4 American Journal of International Law (1910), 226 (231 f.).

[28]vgl. Art. 135a Abs. 1 Nr. 1 GG.

[29]vgl. BVerfGE 36, 1 (15 f.).

[30]BVerfGE 15, 126 (145).

[31]Vgl. Wolfrum (1995), S. 543.

[32]LG Bonn, Az.: 1 O 358 / 95, Urteil vom 23.06.1997, Nr. 127.

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Details

Titel
Völkerrechtliche Immunitäten und die Frage der Entschädigung für Verletzungen des Humanitären Völkerrechts im Kontext des Globalisierungsdiskurses
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Autor
Jahr
2011
Seiten
72
Katalognummer
V178900
ISBN (eBook)
9783656017660
ISBN (Buch)
9783656017615
Dateigröße
625 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Völkerrecht, humanitäres Völkerrecht, Entschädigung, Globalisierung, Menschenrechte
Arbeit zitieren
Rechtsanwalt Stefan Kirchner (Autor:in), 2011, Völkerrechtliche Immunitäten und die Frage der Entschädigung für Verletzungen des Humanitären Völkerrechts im Kontext des Globalisierungsdiskurses , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/178900

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