Formen der Unruhe: Einblick

Das Problem der Unruhe als Problem kommunikativ produzierten Überschuss-Sinns


Essay, 2011

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Einleitung

Im Zuge dieses Essays, soll der Begriff der „Unruhe“ reflektiert und funktionalisiert werden. Da eine eindimensionale Auseinandersetzung mit „Unruhe“ im Sinne einer klaren Definition, die Hinterfragung per definitionem erschweren würde, orientieren wir uns an der Auseinandersetzung der Merkmale des Zu-Viel, Zu-Breit, Zu-Anders und letztlich auch Zu-Schnell der Information und Interaktion auf Mikro- und Makroebene, am Maßstab des aktuellen Übergangproblems von der Moderne in die „nächste Gesellschaft“.

Dabei widmen wir uns einem Versuch der Kausalisierung von „Epochenzäsur“, „Nächster Gesellschaft“, dem „evolutionären Moment“ dabei, der „informierten Verwirrtheit“ und zuletzt der „Beschleunigung“. Die „nächste Gesellschaft“ kennzeichnet eine Zäsur der Epoche „Buchdruck“ aus der evolutionären Fortentwicklung über technologische Fortschritte. Computerisierung geht mit rekursiver Selbstreferenz einher und wird systemführend für Entwicklungsmaßstäbe der Eigen- und Fremdabhängigkeit. Verstärkte Informierung bei verbreitertem Informationsangebot (potenziell) übermittelt den Begriff der Informationslast vor dem Kontext der Verwirrung als fehlende Möglichkeit zur stabilisierenden Aufbereitung.

Zunächst aber soll ein Verständnis von „Sinn“, in der Lumann'schen Abrenzung von innerer Welt und äußerer Ordnung, ermöglicht werden. Dieses Verständnis muss für die kommenden Abschnitte vorausgesetzt werden.

Luhmann & Sinn

Zu-Viel; Zu-Breit

Nach Luhmann liegt die Erfordernis zur Sinnbildung in einer Überbrückung von Diskrepanzen zwischen Ä u ß erer Welt und Innerer Ordnung.[1] Die Äußere Welt, die in ihrer uneingeschränkten Komplexität (zumindest in ihrer Über-Komplexität bezüglich strukturierter Aufnahme durch den Organismus[2] ) nicht aufnehmbar ist, kann durch eine konsistente innere Ordnung erklärbar werden. Der Sinnbegriff nimmt im Zuge dessen Funktion der Ordnungsform menschlichen Erlebens, in der Abgrenzung zur äußeren Welt, ein und ist passiv konsistenzkontingent. Die innere Ordnung ist hierbei ein subjektiver Weltentwurf, in dem die Welt hin zum zugänglichen Maß reduziert wird.[3]

Das zugängliche Maß ist unter Annahme eines Organismus, der sich an wahrgenommenen inneren Resultaten orientiert und ausrichtet, Zugang zur Möglichkeit von Handlung aus Erleben. Es handelt sich also um eine Frage der Kapazität zur Anschlußverarbeitung von einem Zu-Viel an Information, und einem unverarbeitbaren Zu-Breit an Nicht-Spezifikation im Ursprung wie in der Anschlußkommunikation. Damit wird Sinn zur Prämisse der Erlebnisverarbeitung, die Selektion und damit das Gewählte ex ante, sowie der Verweis über das Nicht-Gewählte in die Potentialität, ermöglicht. Die Trennung von Äußerer Welt und Innerer Ordnung, unterliegt der Prämisse einer Trennbarkeit von sozialen und psychischen Systemen. Beide Systeme sind in sich selbstreferenziell, zugleich aber Sinn-generierend in ihrer übergreifenden (und im Falle der Sinnfrage überbrückenden) Referenzialität. Diesbezüglich liegt der Sinn von psychischen und sozialen Systemen in der „Form ihrer Komplexität und ihrer Selbstreferenz“[4] und „erscheint in Form eines Überschusses von Verweisungen auf andere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns“[5]. Dem Überschuss ist die Möglichkeit bereits über den potenziellen Zugang inhärent (bzw. dem „potenziellen“ Zugang immanent), während der Verweis ein Resultat der Fremdreferenz (sowie die Fremdreferenz) in eine innere Ordnung integriert, in dem er an die Intention gebunden ist. So kann einiges „im Zentrum der Intention“[6] liegen, während Anderes „marginal angedeutet“[7] wird, um als „Horizont für ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns“[8] zu fungieren. Somit hält sich die Welt in ihrer Möglichkeit offen und garantiert die Aktualität in der Zugänglichkeit. Die Zugänglichkeit wird maßgeblich von einem Verweis auf Wirklichkeit geleitet, während diese Wirklichkeit in ihrer präsumtiven (also der als Wahrscheinlich angenommenen) oder der konditionalen (und damit Wirklichem als Mögliches interpretierten) Form besteht.[9] Damit einher gehen auch Bedarf und Funktion des Negativs, also des Unwirklichen/Unmöglichen in der Gegenreferenz. Vor diesem Hintergrund stattet Sinn „das je aktuell vollzogene Erleben oder Handeln mit redundanten Möglichkeiten aus“[10], die in ihrer potenziellen Redundanz (und dem Verweis) faktische Stabilisation zur Folge haben. Unter der Prämisse der Andeutung als (formalisierte) Form der Aktualisierung, handelt es sich also um einen Prozess bei bestehendem Möglichen (konditional Wirklichen) unter Relativierung des präsumtiv Möglichen. Die Redundanz der Möglichkeiten übernimmt in ihrer Beliebigkeit Sicherheitsfunktion (und damit auch Stabilisierung s.o.), indem sie Fehler mit Verweis auf den non-finalen Charakter der Entscheidung relativiert. Wichtig ist hierbei vorallem, dass der Anschlussverweis von Sinn auf Sinn erfolgt. Sinn ist im Zuge dessen schon regenerativ, weil er den „Unsinn“ anschlussunfähig voraussetzt. Sinn präsentiert also Komplexität in generalisierter Form, bei Verweis auf Redundanzen, die letztlich erst durch die Überkomplexitätsgebundene Unmöglichkeit der nicht-redundanten Aufnahme bestätigt wird. Die Komplexität, ist derart überkomplex, dass sie unfassbar wird und damit nichterschöpflich ist, aber im Verweis regenerativ ist.[11] Dem muss vorausgesetzt werden, dass das zuvor über ein Negativ als Unwirklich Ausgeschlossene, trotz des Ausschlusses potenziell sinnfähig sein kann. Entscheidend ist hierbei die tatsächliche Aktualisierung, und damit auch im Sinne Seydels das „Update“[12] als Entscheidungskriterium der Selektion (und Segmentierung!). Dabei ist das Wirkliche aktualisiert, während das Mögliche Aktualitätsanspruch hat und das Negativ potenziell aktualisierbar ist (und somit im potenziellen Kontext des Potenziellen steht).

Dieser Gedanke leitet über zur grundsätzlichen Unruhe der Luhmann'schen Begrifflichkeit.

Sinnvolle Unruhe?

Ein „Moment der Unruhe“[13] ist „Grundtatbestand“[14] des Erlebens sowie der interpretativen Reflektion von Sinn. Dabei zwingt sich der Sinn selbst zum Wechsel.

So besteht ein Maß vorausgesetzter Überforderung durch die Generalisierung von Möglichkeit, sowie die ständige Selbstaktualisierung des Sinns im Verweis auf Möglichkeit oder andere Sinnsysteme. Dabei liegt die Komponente der Unruhe des Sinnsystems in ihrer Offenheit durch den Verweis auf fremreferenzielles Mögliches, sowie durch seine daraus resultierende Relativierung in der Selbstreferenz - die Erklärung der eigenen Sinnstruktur als Entwurf nebst fremdreferenziell entdeckten, weiteren möglichen Entwürfen. Diesbezüglich übernimmt der Sinn provisorischen, abgleichenden und rekonstitutiven Charakter. Dabei ist diese Annahme der Offenheit nur in der Bedeutung der Selbstreferenz erklärbar. Das Innere Sinnsystem verweist auf die Äußere Umwelt, um sich selbst als offen beschreiben zu können und einen Anlass zur erneuten Aktualisierung im regenerativen Sinne zu setzen. Dem Prinzip liegt also die latente Überalterung des inneren Sinnsystems zu Grunde, die den Wert des Sinns über die latente Suche nach Aktualität generiert. Dabei können Informationen der Äußeren Umwelt insofern internalisiert interpretiert werden, sobald Sinnstrukturen bestehen, die eine Interpretation ermöglichen.

Aktueller Sinn und potenzieller Sinnhorizont divergieren zwangsläufig. Das heißt aber auch, dass die Äußere Umwelt, in ihrer Divergenz zur Inneren Welt, das Sinnsystem permanent in Frage stellt. Da die Frage unbeantwortbar ist, müssen Informationen der Äußeren Umwelt das Innere Sinnsystem beunruhigen, um es gemäß seiner Voraussetzung am Leben zu erhalten. Der aktuelle Sinn konstituiert sich durchgehend neu, da er irritierend ist. Die Äußere Umwelt erfährt für das Innere Sinnsystem ständig neuen Kontextualisierungswert. Aktuelles inneres Sinnsystem und Verweisungshorizont befinden sich dabei in ständiger, gegenbedingter Restrukturierung, Rekontextuierung und Varietät - und damit in der Unruhe.

In diesem Falle ist die Unruhe Entwicklungs- wie Erhaltungsform systemischer Evolution.

Im Zuge dessen, möchte ich die Unruhe im Sinne Luhmanns zunächst als systemführend, dergestalt stabilisierend und unabdingbar, voraussetzen.

Epochenzäsur

Die Zäsur setzt einen elementaren Bruch vorhandener Struktur voraus, der den nächsten Schritt überhaupt erst aus dem Abbruch des Vorangehenden begreift. So soll es „vom Buchdruck zum Computer (…) keine Verbindung“[15] geben und mit den Worten Bäckers:

„ Die nächste Gesellschaft unterscheidet sich von der modernen Gesellschaft wie die Elektrizität von der Mechanik “ [16]

Dieser Gedanke leitet zur Annahme, dass existenzielle (im Sinne von funktionsrelevanten) Elemente in der Kopplung von der modernen, zur nächsten Gesellschaft aufgelöst werden/ restrukturiert werden/ anderen Funktionen integriert werden. Die Epochenzäsur ist neben dem Selbstverständnis des Bruches, Anlass zur Brücke zur nächsten Gesellschaft, und somit der überbrückte Graben in die nächste Instanz. Im Folgenden wollen wir uns neben der strukturellen Neuordnung auch dem Brückenproblem widmen. Die „Brücke“ ist hierbei weniger als Modifikation zur Anschlussbindung zu verstehen, sondern als eigentliches „evolutionäres Moment“, das den Anschluss linearisiert einem Abbruch gleichkommen lässt.

Zielführend ist sicher, zu betrachten inwiefern Seydel die Epochenzäsur aus dem Schritt vom Buchdruck ins computerisierte Zeitalter erklärt.

Unruhe

Einleitend soll sich mit dem Seydel'schen Verständnis von „Unruhe“ als strukturelles Problem auseinandergesetzt werden. Wir werden dabei Kernbegriffe erwähnen, die im Zuge dieser Arbeit hinterfragt/erneut kontextualisiert werden. Seydel erläutert die beunruhigende Veränderung vor dem Hintergrund eines Zwangsdeterminismus des Zukünftigen, der der Betrachtung vorausgesetzt wird. Demzufolge obliegt eine zeitgenössische gesellschaftliche Veränderung der aktiven Partizipation, sowie der passiven Selbst- und Fremdorganisation vor dem Hintergrund ihrer Unausweichbarkeit.[17] Die Veränderung ist durch aktive Teilnahme potent für den aktiv Teilnehmenden, wie auch passiv Eingreifend in die Lebenswelt des passiv Teilnehmenden. Untersuchungsführend ist für Seydel zum Einen ein zunehmender Überhang des „Contents“[18]. Überhang, weil der Content zunächst in einer unverarbeitbar großen Menge die Kapazität des potenziell Verarbeitbaren überfordert. Die daraus resultierende Irritation äußert sich neben der Überforderung, durch ein trivialisiertes Verständnis des tatsächlich verarbeitbaren Contents durch das Zu-Viel der Möglichkeit. Content wird „beliebig und belanglos“[19]. Während die Archivierung der Information die Folie in der potenziellen Zugänglichkeit verbreitert, wird der tatsächliche Zugang über die Frage nach der Kanalisierung erklärt.

Die Veränderung folgt dabei folgender Kausalität:

„ technischer Wandel führt zu sozialem Wandel. Sozialer Wandel führt zu technischem Wandel “ [20]

Die Verbreiterung der Folie aus ihrer technischen Möglichkeit heraus, wird hier zunächst als das Zu-Breit der Entwicklung von Unruhe gekennzeichnet. Seydel führt also eine Kausalität der Gegenbedingtheit und Gegenbezüglichkeit heran. Während die Konstellation der Kanäle, sowie ihre innere (und in Kombination mit der Konstellation ihre äußere) Struktur entscheidend von der technischen Voraussetzung bestimmt ist, ist die Zielsetzung über die Kanäle stark sozialisiert. Dabei werden jedoch Fragen zur Vorselektion der Kanäle über ihre Zugänglichkeit relevant.

Woher kommt sie...

Seydel orientiert sich bei seiner Untersuchung der Unruhe an zwei elementaren Schritten. Zum Einen an dem historischen Moment des Übergangs von der Schrift zum Buchdruck, zum Anderen vom Buchdruck zum Computer. Der Schreibmaschine attestiert er den inkorporierten Übergang vom Impliziten zum Expliziten. So ermöglicht die mechanische Zusammenarbeit einzelner, sichtbarer und prinzipiell nachvollziehbarer Elemente einer Mechanik, die Fixierung und Isolierung von impliziter Information auf die explizite Publikation des bedruckten Papiers. Die Mechanik bleibt im Zuge dessen körperlich erfahrbar (direkt nachvollziehbar/betastbar, physisch manipulierbar). Die Schreibmaschine als Instrument ist insofern bezüglich ihrer Eigendynamik überschaubar instrumentalisiert, und in der Form des Instrumentes sinnvoll (in der Lösung von implizit gebundenen „Sinn“ auf die explizite Pointe).[21] Obgleich diese Voraussetzung der direkten Erfahrbarkeit im Zuge der Digitalisierung aufgelöst wird, sind weitere Kennzeichnen des Schreibmaschinenphänomens schon nahe der aktuellen Situation. So ist es unmöglich, das einmal getippt Fixierte, nachträglich unsichtbar zu modifizieren. Nach Seydel ist das in der Kant Rezeption Kennzeichen „der selbstverschuldeten Unmündigkeit“[22]. Gleichzeitig verschiebt sich die Diskurskultur, aus dem unmittelbaren Kontext in den Mittelbaren, aus dem „stillen Kämmerlein“[23] heraus. Die Veränderung ist hier Verlust materieller Konsequenz und damit eine Form der Unverbindlichkeit materialisierter Reflektion auf die Prothese hinaus. Es findet also nicht nur eine Instrumentalisierung von Prothesen zur Kanalisierung statt, sondern auch ein Verlust materieller Selbstreferenz aus dem Instrument an sich. Damit geht ein Verlust des, von Seydel als subversiv apostrophierten, Anlasses zur Selbst- und Fremdreferenz, der körperlichen Nähe, einher.[24] Der Betrachtung liegt also eine grundlegende Sterilisierung von Interaktionsstruktur zu Grunde, die neben ihrer Ursächlichkeit, entscheidenden Einfluss auf die Form der Unruhe des Übergangs zur „nächsten Gesellschaft“ haben wird. Der Mensch erhebt sich „mit Maschinenkraft (…) aus der Masse der Gesellschaft in den aufrechten Gang“[25] und ist Urheber eines evolutionären Moments der Übersteigerung aus der Prothese heraus, über sich selbst. Der entscheidende Konflikt erfolgt über die Publikation, indem das Trägermedium die Zurechenbarkeit auf ein Trägermedium fixiert und die Unmittelbarkeit auf ein Minimum reduziert.

...und wie ist sie?

Der Übergang vom Buchdruck zum Computer spitzt das Verhältnis von Ort und Raum bei Bezugnahme auf Flächendeckung, Zugang und Kapazität zu. Während Orte divergieren, werden Räume verallgemeinert. Das Internet könnte zum realistischen Raum werden, während analoge, örtlich getrennte Räume in den digitalen Raum überführt und formalisiert werden. Im Zuge dessen würde sich die Information in ihrer Ausrichtung und Struktur anpassen. Seydel nennt die „Hierarchie von Informationen“[26] als Merkmal des Übergangs zur computerisierten Information. Dabei wird von einem Optionenüberschuss ausgegangen, der zur tatsächlichen Nichtauflösbarkeit von Beobachtungen führt (da jede aufnehmende und berichtende Funktion vor dem Hintergrund unzähliger anderer potenzieller Lösungsvorschläge relativiert wird.). Der Rückschluß, dass jede Nachricht im Zuge der Nichtpopularität zur „Phantasie“[27] wird, ermöglicht die Relativierung der Interpretation „mit (…) Verlust an Glaubwürdigkeit“[28]. Die Zugänglichkeit in Einheit mit der Relevanzsetzung von scheinbarer Irrelevanz jeglicher Information als potenziell relativ, hebelt zuvor geltende Selektionsmechanismen und -regulatoren aus. Das Selektionsmaß vergrößert sich und Kommunikation verlangt nach Individualselektion am Schnittpunkt der Überleitung. Das Vorhandensein neuer Kanäle wertet primär nicht, sondern überlässt die Wertung der Eigendynamik aller individueller (und im Anschluss kollektivierter) Ansprüche auf der Folie Internet. In der Folge werden Segmentierungen des Interessanten (und der Interessanten) bewirkt, die wiederum Anlass zur Informationsleitung aus hierarchisierten Segmenten bieten. Das aus diesem Kommunikations- und Informationsanlass resultierende Screening ist also eine Schichtung von Mehrheitsmeinung. Diese Mehrheitsmeinung generiert sich jedoch nicht aus dem klassisch-regulierten analogen Gesellschaftssystem, sondern aus der bereits bezeichneten sterilisierten Form, die das substanzielle Feedback auf ein relativ-informationelles überleitet. Es ist also (zumindest im Anachronismus der Übertragung) per se „unmenschlich“ hierarchisiert und in seiner Auswirkung omnipotent. Hiermit kommen wir zur unserem Ausgangs-kanalisierungsproblem zurück. Die Orientierung an der Abbildung dessen, was für den Großteil interessant ist, bestimmt, was für das Individuum zugänglich und relevant ist. Werden nun einzelne Informationssegmente durch ihre starke Frequentierung als relevant hervorgehoben, bewirkt die ständige mögliche Aktualisierbarkeit (durch die Potenz der Möglichkeit) faktisch ständige Aktualisierung in technisch gestützten Frequenzen, die derart eng gestaffelt sind, dass die Aufnahme neuer Updates das Individuum gar nicht mehr von der Plattform lösen lassen kann.[29] Die Anforderung liegt also nicht in der Selektion relevanter Updates, sondern in der Selektion relevanter Cluster, die dann konsequent in ihren Updates nachvollzogen werden müssen, damit sie relevant bleiben.

Die Unruhe nimmt ihren Lauf.

Interessant ist hierbei zu hinterfragen, wie ein derart formalisiertes Zeichensystem der Bits und Anschlussbits, das zwangsläufig komplexitätsreduktiv ist und Phänomene bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert, zu derart exakten Ergebnissen kommt, und wieso diese Darstellungen als exakt wahrgenommen werden.

Die Antwort liegt in der Kongruenz der inneren Selbstschlüssigkeit. Diese Fragen brechen die Möglichkeit der Fixierung von Phänomenen in eine formalisierte Sinnstruktur auf. Die formalisierte Sinnstruktur übernimmt Funktion der Beruhigung ebenjener Unruhe der gegebenen Unendlichkeit und Unerklärbarkeit des Meisten. Sobald ein System über die innere Logik schlüssig sein kann, und sobald dieses System informationelle Kompetenz übernimmt, muss jede Form der endogenen Inkongruenz ausgeklammert werden. Diese Klammer umgreift irritierende Momente und trivialisiert unschlüssige Phänomene mit Lösungsverweis auf das schlüssige System.

Massenmedium als Voraussetzung

Bei Betrachtung von Seydels Klassifizierung des „Substraktionskonzept“[30] es, das mit einer Reduktion von massenmedial vermittelten, nicht direkt, und allerhöchstens indirekt, zielgruppenrelevanten Informationen einhergeht, lässt sich eine Veränderung in der Mittelbarkeitsstruktur von medial aufbereiteten, zugeschnittenen und adressierten Informationen unterstellen. Damit ist zum Einen ein effizient zugeschnittenes Medium beobachtbar, das Neues vermittelt, solange es als neu vermittelt werden will, nachdem der Wille nach Neuem aus Unkenntnis des Alten folgt.

Der das Medium zuschneidende Prinzipal folgt dabei der mittelbaren Auseinandersetzung mit Rezipientenbedürfnis, und spiegelt das Neue im Rezipienten insofern selektiv, dass der Rezipient unmittelbar screent was er konsumiert, und durch sein Konsumverhalten Indikatoren zur Anschlussausstrahlung setzt. Potenzielle Irritation als Folge von nicht erwartbarer Information, wird so bis zu einem gewissen Maß via Ausschlussprinzip aussortiert. Die Folie verkleinert sich auf das erwartbare Maß des unmittelbar entscheidenden Konsumenten. Die Information wird zur Kommunikationspointe hin ausgedünnt, und dann aus dem Übriggebliebenen in den Kanal hinein verdichtet. Das im Zuge dessen eng gewordene Selektionsmaß an der Anschlussstelle bedingt, dass Optionen, die alle „irgendwie“ passen, erst gar nicht mehr gegeneinander abgewogen werden müssen, geht man davon aus, dass sie das Aufnahmekontigent des Rezeptoren nicht übersteigen. Das Aufgenommene scheint also in seiner Struktur konsistent, und in der Rezeption durchaus schlüssig, während das Unschlüssige in Form von Widersprüchen Inkongruente, schlichtweg unsichtbar wird. Der Umgang mit Irritation aus der mittelbaren Entscheidung des Rezipienten wird negiert, das unsichtbar inkongruente besteht bis zur „plötzlichen“ (und damit unmittelbaren) Sichtbarkeit im Verborgenen. Ein weiteres Kennzeichen dieser Struktur der Epochenzäsur ist, dass die tatsächliche Vorselektion nicht nur effektiv, sondern auch prozessual verborgen bleibt. Die vorselektierten Optionen werden von ihrem Vorselektionscharakter unabhängig, sobald sie vom nächsten Rezeptor unabhängig (da unbekannt) ihres relativen Charakters interpretiert und zur Informationsweiterleitung im Organismus genutzt werden. Damit pragmatisiert der Anspruch an die Selbsterleichterung von Instanz zu Instanz, von Frequenz zu Frequenz, den eigentlichen Prozess zu einer gespitzten, aber höchst relativen faktischen Pointe (die das „konditional Mögliche“ aus dem Sichtbarkeitsspektrum vertreibt und seine eigene Relativität vergisst). Dem Ganzen muss die Prämisse vorausgesetzt werden, dass es eine gelöste Gegenreferenz zum Bedarf aus zugeschnittener Vorlage gibt (da die Vorlage Sozialzusammenhänge ex ante über eine Annahme von Bedarf abstrahiert und sie ex post zu einer erneuten Vorlage hin korrigiert), um ganz im Sinne Luhmanns den Sinn durch Verweis auf Möglichkeit zu erhalten.

[...]


[1] Vgl. Luhmann (1987), S. 95

[2] Sinnesorgane überführen äußere Reize in den Organismus; der Organismus macht Reize erst wahrnehmbar, während dieser Wahrnehmungsprozess durch ständige Aktualisierung gekennzeichnet ist; der Organismus orientiert sich an den wahrnehmbar gewordenen inneren Resultaten; dabei ist ein Grundvemögen des Organismus zur Wahrnehmbarkeit vorausgesetzt; der Organismus ist kein geschlossenes System (sondern Teil eines Systems)

[3] Vgl. Luhmann (1987), S. 92 f.

[4] Ebd., S. 92

[5] Ebd., S. 93

[6] Ebd., S. 93

[7] Ebd., S. 93

[8] Ebd., S. 93

[9] Vgl. Ebd., S. 93

[10] Ebd., S. 94

[11] Vgl. Ebd., S. 94 f.

[12] Piazzi; Seydel (2010), S. 57

[13] Luhmann (1987), S. 98

[14] Ebd., S. 98

[15] Piazzi; Seydel (2010), S. 22

[16] Baecker (2011), S. 1

[17] Vgl. Piazzi; Seydel (2010), S. 13 f.

[18] Ebd., S. 16

[19] Ebd., S. 16

[20] Ebd., S. 17

[21] Vgl. Piazzi; Seydel (2010), S. 27 f.

[22] Ebd., S. 29

[23] Ebd., S. 29

[24] Vgl. Ebd., S. 29

[25] Ebd., S. 29

[26] Ebd., S. 38

[27] Ebd., S. 38

[28] Ebd., S. 38

[29] Dazu mehr im Abschnitt zur „Informierten Verwirrtheit“

[30] Vgl. Piazzi; Seydel (2010), S. 45 f.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Formen der Unruhe: Einblick
Untertitel
Das Problem der Unruhe als Problem kommunikativ produzierten Überschuss-Sinns
Hochschule
Zeppelin University Friedrichshafen
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
23
Katalognummer
V177118
ISBN (eBook)
9783640985944
ISBN (Buch)
9783640985999
Dateigröße
571 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Luhmann, Piazzi, Seydel, Stichweh, Unruhe, Baecker, Lehmann, Sinn, Soziologie, Systemtheorie
Arbeit zitieren
Henning Mayer (Autor:in), 2011, Formen der Unruhe: Einblick, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177118

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