Unterstützungssysteme für benachteiligte Jugendliche im Übergang Schule und Beruf


Diplomarbeit, 2008

152 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Theoretischer Teil

1. Benachteiligte Jugendliche – Eine Definition

2. Das Jugendalter als schwierige Entwicklungsphase
2.1. Die Persönlichkeitsentwicklung nach Erikson
2.2. Ökologischer Entwicklungsansatz nach Bronfenbrenner
2.3. Sozialisation im Jugendalter nach Hurrelmann

3. Familie als wichtige Sozialisationsinstanz
3.1. Familie im gesellschaftlichen Wandel
3.2. Stellenwert der Familie
3.3. Familie, „Habitus“ und „kulturelles Kapital“ 21 3.4. Familie und Krisensituationen

4. Die Lebensphase Jugend im gesellschaftlichen Kontext
4.1. Perspektiven der Jugend
4.2. Ausbildung und Partizipation
4.3. Demografischer Wandel

5. Jugendliche Berufsperspektiven im Kontext der Hauptschule
5.1. Schulform und soziale Herkunft
5.2. Die Hauptschule

6. Ausbildungsmarktsituation aus der Sicht von Hauptschüler/innen
6.1. Planungen, Aktivitäten und konkrete Übergänge
6.2. Die Untersuchung des Landkreises Marburg-Biedenkopf
6.3. Berufliche Orientierung und Praktikum Exkurs: Veränderungen im Rahmen der Arbeitsmarktreformen

7. Unterstützungssysteme im Übergang Schule und Beruf
7.1. Berufliche Beratung
7.2. Schulische Angebote
7.2.1. Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb (SchuB)
7.2.2. Zehntes Hauptschuljahr (H 10)
7.2.3. Berufsvorbereitungsjahr (BVJ)
7.2.4. Berufsgrundbildungsjahr (BGJ)
7.2.5. Eingliederung in die Berufs- und Arbeitswelt (EIBE)
7.2.6. Vertiefte Berufsorientierung (VBO)
7.3. Außerschulische Angebote
7.3.1. Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme (BvB)
7.3.2. Qualifizierungsangebote im Rahmen SGB II
7.3.3. Einstiegsqualifizierung (EQ)
7.3.4. Fit für Ausbildung und Beruf (FAuB)

II. Forschungsmethodischer Teil

8. Die Untersuchung der Unterstützungssysteme
8.1. Auswahl der Untersuchungsgruppe und Vorgehensweise
8.2. Untersuchungsmethode
8.2.1. Vorgespräch und Kurzfragebogen
8.2.2. Leitfaden und Leitfragen
8.2.3. Tonbandaufzeichnung
8.2.4. Postskriptum
8.2.5. Transkription der Daten
8.3. Analyseverfahren
8.4. Ergebnisse
8.4.1. Zusammenfassung des Interviews mit „Tamara”
8.4.2. Zusammenfassung des Interviews mit „Florian”
8.4.3. Zusammenfassung des Interviews mit „Steffi”
8.4.4. Zusammenfassung des Interviews mit „Frank”
8.4.5. Zusammenfassung des Interviews mit „Baris”
8.4.6. Zusammenfassung des Interviews mit „Thomas”
8.4.7. Zusammenfassung des Interviews mit „Alex”
8.4.8. Zusammenfassung des Interviews mit „Samuel”
8.5. Analyse der Ergebnisse
8.5.1. Rolle des Betriebspraktikums in der Hauptschule
8.5.2. Konkrete Unterstützung bzw. Vermittlung
8.5.3. Anzahl der Bewerbungen
8.5.4. Unterstützung bei Bewerbungen
8.5.5. Vorpraktikum vor Ausbildungsstart
8.5.6. Unterstützung durch Berufsberatung
8.5.7. Unterstützung durch Eltern
8.6. Interpretation der Ergebnisse und Thesenbildung
8.6.1. Betriebspraktikum
8.6.2. Unterstützung Familie
8.6.3. Professionelle Beratung
8.6.4. Konkrete Vermittlung

III. Theoretischer Teil

9. Berufliche Beratung für benachteiligte Jugendliche
9.1. Der systemische Beratungsansatz
9.2. Kompetenzagentur - Ein ressourcenorientiertes Angebot
9.3. Beruflichen Beratungssituation im Rahmen „Hartz IV“
9.4. Optimierung der beruflichen Beratungsangebotes

Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Einleitung

Der Übergang von der Schule in den Beruf beinhaltet für junge Menschen mehrere identitätsbildenden Etappen und den Eintritt in die Erwachsenen-welt. Für immer mehr Jugendliche bedeutet die Integration in Ausbildung eine Hürde, die sich nur mit viel Mühe und Unterstützung überwinden lässt. Ohne abgeschlossene Berufsausbildung haben viele Jugendliche heute kaum noch Chancen, sich nachhaltig auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren. Demzufolge leiden viele Jugendliche unter den Bedingungen einer sich rasch verändernde Gesellschaft, die ihnen die Partizipation am sozialen Leben erschwert.

Für die Nachkriegsgenerationen war es selbstverständlich, nach dem Hauptschulabschluss mit einer Berufsausbildung zu beginnen. Wie man dem „Bildungsbericht 2008“ der „Kultusministerkonferenz der Länder“ und des „Bundesministeriums für Bildung und Forschung“ entnehmen kann, münden aktuell nur etwa 50 % der Hauptschulabsolventen/innen im Anschluss an die Schule in eine Berufsausbildung (vgl. Autorengruppe Bildungsbericht-erstattung, S. 157).

Der Vorsitzende der „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ (GWE) Ulrich Thöne warnt in Spiegel Online vom 12.06.2008, dass sich die deutsche Gesellschaft keine „verlorene Generation“ leisten darf. In diesem Kontext fordert er „Bundes-, Länder- und Kommunalpolitik“ auf, neue „Bildungshilfen“ für „Risikoschüler/innen“ einzuführen (vgl. Spiegel-Online).

Die vorliegende Arbeit thematisiert den Übergangsprozess von der Schule in den Beruf. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf benachteiligte Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss, welche einen besonderen Unter-stützungsbedarf bei ihrem individuellen Integrationsprozess benötigen. In diesem Kontext untersucht der Verfasser die Nutzung der unterschiedlichen Unterstützungssysteme, welche von Hauptschulabsolventen/innen aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf bei ihrem Übergang ins Berufsleben genutzt werden. Demzufolge lautet die zentrale Fragestellung:

Welche Unterstützungssysteme wurden von Hauptschulabsolventinnen und Hauptschulabsolventen aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf genutzt, die in eine Ausbildungsstelle mündeten?

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird die Beratung als wichtiges Instrument im Übergang Schule und Beruf behandelt. Es wird aufgezeigt, in welcher Form benachteiligte Jugendliche zielorientierter über die vorhandenen Unterstützungssysteme beraten werden können. In diesem Rahmen ergibt sich eine zweite Fragestellung wie folgt:

Wie sollte sich Beratung im Übergang Schule und Beruf gestalten, um benachteiligte Jugendliche effektiver auf den Übergang ins Berufsleben vorzubereiten?

Um die beschriebene Thematik im Rahmen der zwei Fragestellungen erfolgreich zu bearbeiten, stellen sich die folgenden Kapitel wie folgt dar:

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Definition des Begriffs „benachteiligte Jugendliche“. In diesem Kontext wird die Untersuchungs-gruppe herausgestellt, die für den weiteren Verlauf dieser Arbeit von Bedeutung sein wird.

Mit dem zweiten Kapitel werden die Spezifika der Entwicklungsphase des Individuums aus „psychoanalytischer- und sozialwissenschaftlicher“ Perspektive thematisiert. Diese Phase der Identitätsbildung ist von Bedeutung, da sie u.a. den beruflichen Integrationsprozess beeinflusst. In diesem Kontext werden die Beiträge von Erikson, Bronfenbrenner und Hurrelmann herangezogen.

Im dritten Kapitel werden familiäre Bedingungen beschrieben, die für den jungen Menschen im Rahmen seiner Entwicklungsphase von Bedeutung sind. Dabei wird der familiäre Wandlungsprozess vom Hochmittelalter bis in die Gegenwart und das Unterstützungspotential der Familie herausgestellt. Darüber hinaus werden die Fachtermina „Habitus“ und „kulturelles Kapital“ nach Bourdieu in den thematischen Kontext gesetzt. Abschließend runden die Darstellungen von familiären Krisensituationen das Kapitel ab.

Mit dem vierten Kapitel werden die gesellschaftlichen Bedingungen aufgeführt, die ein junger Mensch im Rahmen seines persönlichen Entwicklungsprozesses zu erwarten hat. Demzufolge werden die „Individualisierungstendenzen“ des Einzelnen in den Kontext zum gesellschaftlichen „Modernisierungsprozess“ gestellt. Dabei werden die veränderten Wirtschaftsbedingungen aufgrund der Globalisierung und des demografischen Wandels behandelt. Des Weiteren werden die beruflichen Perspektiven der Jugendlichen aufgrund der beschriebenen Veränderungen und ein Beitrag zum Thema „Ausbildung und Partizipation“ angeführt.

Das fünfte Kapitel beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Hauptschule. Dabei wird die Entwicklung der Schulform beschrieben und in Verbindung zur sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler gestellt. In diesem Kontext werden die Ergebnisse der „PISA-Studie“ der OECD herangeführt.

Die Ausbildungsmarktsituation aus der Perspektive der Hauptschul-absolventinnen und Hauptschulabsolventen wird im sechsten Kapitel aufgezeigt. Dabei werden die Planungsaktivitäten und die konkreten Übergänge der Zielgruppe laut Ergebnissen des „Deutschen Jugendinstitutes (DJI)“ wiedergegeben. Darüber hinaus wird eine Erhebung des Landkreises Marburg-Biedenkopf und der Stadt Marburg zum Thema „Anschlussoptionen von benachteiligten Jugendlichen“ dargestellt. Zum Abschluss des Kapitels wird die Bedeutung der Berufspraktika im Rahmen der beruflichen Orientierungsphase thematisiert.

Im Anschluss an das sechste Kapitel werden in Form eines Exkurses die „Veränderungen im Rahmen der Arbeitsmarktreformen“ präsentiert. In diesem Kontext wird die konkrete Situation für den Landkreis Marburg-Biedenkopf im Rahmen der Arbeitsmarktreform („Hartz I-IV“) vorgestellt.

Das siebte Kapitel beginnt mit der Erläuterung des Begriffs „System“ nach Luhmann. Im Anschluss erfolgt eine Definition der Begriffe „formelle“ und „informelle“ Unterstützungssysteme nach Hurrelmann. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden die unterschiedlichen Unterstützungsangebote exemplarisch für den Landkreis Marburg-Biedenkopf vorgestellt. Diese Aufführung hat nicht den Anspruch, die unterschiedlichen Angebote in ihrer Effektivität miteinander zu vergleichen. Sie möchte ausschließlich das umfangreiche Angebot für „benachteiligte Jugendliche“ im Übergang von der Schule in den Beruf aufzeigen.

Im achten Kapitel steht der „forschungsmethodische Teil“ dieser Arbeit im Focus. In diesem Kontext werden acht Absolventinnen und Absolventen aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf zu der konkreten Nutzung der unter-schiedlichen Unterstützungssysteme interviewt. Im Anschluss werden die Ergebnisse anhand von sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden ermittelt und interpretiert.

Mit dem neunten und letzten Kapitel steht die berufliche Beratung für benachteiligte Jugendliche im Mittelpunkt. Dabei wird mit der „systemischen Beratung“ ein alternativer Beratungsansatz zur herkömmlichen Berufsberatung präsentiert. In diesem Kontext wird das ressourcenorientierte Konzept der Kompetenzagentur vorgestellt. Abschließend wird die zweite zentrale Fragestellung durch die Aufführung von vier Leitlinien für die effektivere Gestaltung von Beratungsangeboten für „benachteiligte Jugendliche“ beantwortet.

Am Ende der Arbeit werden im Fazit die wichtigsten Aussagen und Ergebnisse zusammengefasst.

I. Theoretischer Teil

1. Benachteiligte Jugendliche – Eine Definition

Mit dem Begriff „benachteiligte Jugendliche“ verbindet man in der Fachsprache der Jugendhilfe einen äußerst heterogenen Personenkreis, der jedoch in der entsprechenden Gesetzgebung nicht eindeutig definiert ist.

Im § 13 SGB VIII wird von individuell und „sozial beeinträchtigten“ jungen Menschen gesprochen, die der Zielgruppe der Jugendsozialarbeit zuzuordnen sind. Eine exakte Zielgruppenbestimmung mit einer speziellen Definition für den Personenkreis „benachteiligte Jugendliche“ sucht man im SGB VIII jedoch vergebens (vgl. Sozialgesetzbuch, SGB VIII 2007).

Unter „Benachteiligte“ versteht die Arbeitsverwaltung nach dem Sozialgesetzbuch III (SGB III) eine Randgruppe, die sich durch schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt auszeichnet (vgl. Leeker 2008, S. 22 f). Dazu bemerkt Kutscha, dass nach dem SGB III diejenigen als benachteiligt gelten, die auf Leistungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) angewiesen sind bzw. entsprechende Leistungen erhalten, um ihre Integrationschancen zu verbessern (vgl. Kutscha 2005, S. 71).

Leeker führt eine Differenzierung auf, die sich für den Personenkreis der benachteiligten Jugendlichen wie folgt darstellt (vgl. Leeker 2008, S. 22 f):

- ohne Schulabschluss
- mit einem schlechten Schulabschluss
- mit Verhaltensauffälligkeiten
- mit einer Lernbehinderung
- mit einem Migrationshintergrund
- mit Alkohol- und Drogenproblemen
- aus der Erziehungshilfe
- straffällige und strafentlassene Jugendliche
- Langzeitarbeitslose

Es zeigt sich, dass sich eine Definition des Begriffs „Benachteiligte“ schwierig darstellt, da die aufgeführten Punkte nach Leeker eine heterogene Personengruppe beschreibt, die unter gewissen Bedingungen Benachteiligung erfährt.

Münder bemerkt in seinem „Frankfurter Kommentar zum SGB VIII“, dass man bei jungen Menschen mit einer defizitären Sozialisation in den Bereichen „Familie, Schule, Ausbildung, Berufsleben und sonstige Umwelt“ von einer „sozialen Benachteiligung“ sprechen kann. Bei dieser Personengruppe liegen oft Defizite vor, die aufgrund der ökonomischen Situation, der familiären Rahmenbedingungen, defizitärer Bildung, des Geschlechtes oder ethnischer bzw. kultureller Herkunft begründet sind. In der Regel ist immer dann von einer „sozialen Beeinträchtigung“ auszugehen, sobald die altersgerechte gesellschaftliche Integration „nicht durchschnittlich“ gelungen ist. Dieser Umstand trifft laut Münder für folgende Personen zu (vgl. Münder 2006, S. 245 f):

- Haupt- und Sonderschüler ohne Schulabschluss
- Absolventen eines Berufsvorbereitungsjahres
- Abbrecher von Maßnahmen der Arbeitsverwaltung
- Junge Migranten
- Junge Menschen mit besonders sozialen Defiziten
- Junge Menschen mit misslungener familiärer Sozialisation
- Benachteiligte Mädchen und Frauen

Münder versteht unter „individueller Beeinträchtigung“ insbesondere psychische, physische oder sonstige individuelle Einschränkungen wie z.B. Lernbeeinträchtigungen, Lernstörungen, Lernschwächen, Leistungs-schwächen, Leistungsbeeinträchtigungen und Entwicklungsstörungen (vgl. Münder 2006, S. 246).

Es lässt sich zusammenfassen, dass es bei der Definition nach Münder um junge Menschen geht, die ohne entsprechende Unterstützung keinen Zugang zu Ausbildung und Arbeit finden und daher ihre gesellschaftliche Integration nicht erfolgreich absolvieren können (vgl. Münder 2006, S. 246). In diesem Zusammenhang muss man Hauptschülerinnen und Hauptschüler als „benachteiligte Jugendliche“ verstehen, welche aufgrund von sozialer bzw. individueller Benachteiligung Hilfe bei der beruflichen Integration benötigen.

Hofman-Lun bemerkt dazu, dass noch in den 1950er Jahren etwa 80 % der Siebtklässler eine Haupt- bzw. Volksschule besuchten. Mittlerweile hat eine Verschiebung zugunsten von „mittleren“ und „höheren“ Schulabschlüssen eingesetzt, was zu einer Entwertung des Hauptschulabschlusses führte. Aktuell besuchen nur noch 23 % der Siebtklässler eine Hauptschule. Demzufolge muss man damit rechnen, dass Hauptschülerinnen und Hauptschüler schlechtere Startvorrausetzungen für einen erfolgreichen Einstieg in Ausbildung und Arbeit besitzen (vgl. Hofmann-Lun 2007, S. 156).

Um jugendliche Verhaltensmuster im Übergang zum Berufsleben erklären zu können, ist es zunächst einmal notwendig, sich den Spezifika dieser Lebensphase aus „psychoanalytischer und sozialwissenschaftlicher“ Sicht zu nähern.

2. Das Jugendalter als schwierige Entwicklungsphase

Zur Schaffung eines erfolgreichen Eintritts in das Berufsleben, sind unterschiedliche Lernprozesse nötig. In jedem Lebensabschnitt sollten entwicklungstypische Kompetenzen erworben werden, die eine Voraussetzung für den jeweils folgenden Lebensabschnitt zu Grunde legen. Die Lebensphase Jugend ist eine besondere Zeit der psychischen und sozialen Entwicklung. Einerseits muss in dieser Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter eine persönliche „Ich-Identität“ entwickelt werden, andererseits soll die Integration in die Gesellschaft erfolgen. Dieser Lernprozess wird in der Entwicklungspsychologie als Entwicklungsphase verstanden, in der ein junger Mensch seinem Lebensabschnitt entsprechend psychosoziale Erwartungen und Anforderungen zu erfüllen hat (vgl. Hurrelmann 2007, S. 26 f).

Um die Spezifika der jugendlichen Entwicklungsphase zu entschlüsseln, wurden von anerkannten Wissenschaftlern entsprechende Theorien entwickelt. Demzufolge werden auf den folgenden Seiten die Theorien von Erikson, Bronfenbrenner und Hurrelmann dargestellt.

2.1. Die Persönlichkeitsentwicklung nach Erikson

Erikson prägt den Begriff der „Identität“ als zentrale Kategorie seines psychosozialen Ansatzes, um die Beziehung des Ichs zur Gesellschaft darzustellen. Dabei geht er davon aus, dass der Entwicklungsprozess des Individuums, von der Geburt an bis ins Erwachsenenleben, von gesellschaftlichen Bedingungen abhängt (vgl. Erikson 1981, S. 11).

Das Bewusstsein der eigenen Identität, ergibt sich für Erikson aus der Wechselbeziehung zwischen der Persönlichkeit des Kleinkindes und den Ansprüchen und Erwartungen seiner Umgebung. Der junge Mensch entwickelt sich dadurch immer mehr zu einem festen Bestandteil innerhalb einer sozialen Realität (vgl. Erikson 1981, S. 18). Während dieses Prozesses vollzieht sich eine wechselseitige Beeinflussung der Betroffenen, was sich für beide Parteien als entwicklungsförderlich erweisen kann. Demnach wird nicht nur das Kind durch seine Eltern bewusst geprägt, sondern das Kind beeinflusst aufgrund seiner Identitätsbildung unbewusst auch seine Eltern. In diesem komplementären Verhältnis müssen sich gesellschaftliche Erwartungen und die Persönlichkeitsentwicklung aufeinander einstellen und aneinander orientieren (vgl. Erikson 1980, S. 96).

Kinder stellen fest, dass sie durch eigenes Handeln Aufmerksamkeit in ihrer Umgebung erzeugen, was bei ihnen zu einem positiven Selbstgefühl hinsichtlich einer kollektiven Zukunft führt. Dieses Gefühl wird von Erikson als „Ich-Identität“ bezeichnet (vgl. Erikson 1981, S. 17 f).

Nach Erikson entwickelt sich die Persönlichkeit in acht Abschnitten innerhalb eines Lebenszyklus („epigenetisches Prinzip“), die einerseits von den von Freud entwickelten Phasen der psychosexuellen Entwicklung geprägt sind, und die andererseits von der Familie und der vorhandenen Sozialstruktur abhängen. In diesem Kontext geht er davon aus, dass eine gesunde Persönlichkeit seine Umwelt aktiv meistert und in der Lage ist, sich selbst und seine Umgebung richtig wahrzunehmen. Diese Abschnitte beinhalten innere und äußere Konflikte, die, wenn sie positiv absolviert werden, ein gestärktes Gefühl innerer Einheit produzieren (vgl. Erikson 1981, S. 56 f).

2.2. Ökologischer Entwicklungsansatz nach Bronfenbrenner

Bronfenbrenner definiert das Individuum als einen „sich entwickelten Menschen“, der sich als „dynamische Einheit“ im ständigen Anpassungsprozess mit dem System seiner „unmittelbaren Lebensbereiche“ befindet. Unter „Lebensbereich“ versteht er einen Ort, an dem direkte „Interaktion“ zwischen Menschen stattfindet, der den Entwicklungsprozess des Einzelnen prägt. Diese ökologischen Lebensbereiche findet man z.B. in Familien, in Schulen oder am Arbeitsplatz vor. Dabei steht das Individuum fortlaufend in wechselseitiger Beeinflussung und Veränderung zu seiner Umwelt. Unter dem Umweltbegriff versteht Bronfenbrenner ein „ineinander geschachteltes“ Ökosystem, dass sich wie folgt in unterschiedlichen Systemen („Mikro-, Meso-, Exo-, und Makrosystem“) strukturiert (vgl. Bronfenbrenner 1981, S. 37 f):

„Mikrosysteme“ sind die kleinsten systemischen Netzwerke und stellen die unmittelbare Umgebung des Individuums dar, in der es sich täglich bewegt. Dazu zählt Bronfenbrenner Familien, Schulen und Arbeitsplätze, wo Menschen leicht „direkte Interaktion“ untereinander aufnehmen können (vgl. Bronfenbrenner 1981, S. 38 f).

„Mesosysteme“ spiegeln die Wechselbeziehungen der Interaktionen eines aktiven Menschen wieder. Eine solche Wechselbeziehung kann sich für ein Kind in der Beziehung zwischen Familie, Schule oder Peergroup abspielen und definiert den täglichen Wechsel in diesen unterschiedlichen Lebensbereichen. „Mesosysteme“ werden von den entwickelten Personen „gebildet und erweitert“ und sind somit als übergeordnete Einheit von mehreren „Mikrosystemen“ zu verstehen, wie Bronfenbrenner herausstellt (vgl. Bronfenbrenner 1981, S. 41 f).

„Exosysteme“ beinhalten Lebensbereiche, auf die das Individuum keine Einflussmöglichkeiten hat, da es ihnen nicht direkt angehört. Trotzdem können diese Systeme zukunftsweisende Entscheidungen des Einzelnen beeinflussen. Zu ihnen gehören z.B. die Arbeitsstätten der Eltern, Freundeskreise der Eltern und Geschwister, aber auch Schulgremien, die auf den persönlichen Schulbesuch einwirken (vgl. Bronfenbrenner 1981, S. 42).

„Makrosysteme“ bezeichnen die „formale und inhaltliche Ähnlichkeit der Systeme niedrigerer Ordnung“ der „ganzen Kultur“ und verkörpern die Regeln, Werte, Ideologien ihrer Gesellschaften, wie Bronfenbrenner bemerkt. Beispielsweise können sich zwei öffentliche Behörden in ihrem Aussehen ähneln, obwohl sie sich in ihrer Funktionsweise erheblich unterscheiden (vgl. Bronfenbrenner 1981, S. 42 f).

Mit den „ökologischen Übergängen“ wird der Wechsel des Individuums in eine andere Umwelt bezeichnet. Dadurch werden neue Rollen und Positionen in einer veränderten Umgebung eingenommen. Diese „ökologischen Übergänge“ verlaufen nach Bronfenbrenner während des gesamten Lebens und beschreiben den fortlaufenden Entwicklungsprozess eines Menschen von seiner Geburt an, über den Schuleintritt, den Berufseinstieg, bis hin zum Rentenalter. Diese Übergänge sind die Folgen von „veränderten Umweltbedingungen“, die wie bereits beschrieben, in wechselseitiger Beeinflussung zwischen Individuum und Umwelt verlaufen. Demzufolge findet die „menschliche Entwicklung“ nicht in einem geschlossenen System statt, sondern steht immer im Kontext zu seiner Umwelt, die er durch Interaktion beeinflussen kann, wie Bronfenbrenner verdeutlicht (vgl. Bronfenbrenner 1981, S. 43 f).

Die Entwicklung des Menschen zeichnet sich dadurch aus, dass die sich „entwickelte Person“ während des Entwicklungsprozesses „differenzierte und verlässliche“ Informationen über ihre Umweltbedingungen gewinnt. In diesem Zusammenhang wird sie „motiviert und befähigt“, aktiv an der Erkennung, Erhaltung und Weiterentwicklung der eigenen Umwelt mitzuwirken (vgl. Bronfenbrenner 1981, S. 44).

2.3. Sozialisation im Jugendalter nach Hurrelmann

Hurrelmann geht in Anlehnung an Bronfenbrenner davon aus, dass es einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen „individueller und gesell-schaftlicher Entwicklung“ gibt. Die Persönlichkeitsentwicklung wird von dem gesellschaftlichen Kontext beeinflusst, was sich wiederum direkt auf das Individuum auswirkt (vgl. Bronfenbrenner 1981, S. 37 f; vgl. Hurrelmann 2007, S. 64 f). Für die Jugendphase nennt Hurrelmann folgende „Entwicklungsaufgaben“, welche die Basis der Individuation bilden und als Voraussetzung für die gesellschaftliche Integration, den Eintritt in das Erwachsenenleben, gelten (vgl. Hurrelmann 2007, S 27 f):

- Schulische und berufliche Qualifikation
- Geschlechtsübernahme, Bildung einer Partnerbeziehung und soziales Bindungsverhalten zu Gleichaltrigen
- Umgang mit Finanzmitteln und Organisation der persönlichen Freizeit
- Aufbau eines eigenen Werte- und Normensystems sowie eines ethischen und politischen Bewusstseins

Hurrelmann versteht Jugendliche als Planer und Konstrukteure ihrer eigenen Persönlichkeit. Obwohl sie noch nicht den vollen Umfang an Autonomie und Handlungskompetenzen in allen Lebensanforderungen besitzen, so müssen Jugendliche dennoch als aktiv handelnde Menschen verstanden werden.

Für die Lebensphase Jugend ist ein Suchen und Ausprobieren von Spielräumen und unterschiedlichen Verhaltensmöglichkeiten kennzeichnend, um dadurch aktiv Einfluss auf die gegebenen Bedingungen zu nehmen (vgl. Hurrelmann 2007, S. 65 f). In einem ständigen Austausch mit Gleichaltrigen über Werte, Normen und soziale Strukturen, die mit den eigenen Interessen und Handlungsmöglichkeiten in Verbindung gebracht werden, bietet sich im Jugendalter die Option, ein identitätsförderliches Selbstbild zu entwickeln, welches letztlich die Voraussetzung für die Fähigkeit von flexiblem und angemessenem sozialen Handeln ist (vgl. Hurrelmann 2007, S. 66). „Identität“ bedeutet in diesem Sinn Kontinuität des Selbsterlebens und zwar einerseits durch das Empfinden der Besonderheit der eigenen Person, andererseits mittels Akzeptanz und Anerkennung der sozialen Umwelt. Jugendliche entwickeln eine eigene „Norm- und Wertvorstellung“, sind aber gleichzeitig auf die Anerkennung durch ihre soziale Umwelt angewiesen. Diese können sie nur erfahren, wenn sie sich integrieren und somit anpassen. Das sich hieraus ergebende Spannungsverhältnis wird im Jugendalter zum ersten Mal bewusst erlebt und ausgetragen. Belastbarkeit und Optionen der Persönlichkeitsentwicklung sind abhängig vom Austragen dieses Spannungsverhältnisses. Während dieser Entwicklung der „Ich-Identität“ wird von den Jugendlichen gleichzeitig eine soziale Integrationsleistung in Form von Qualifizierungsanforderung verlangt, die die Basis für soziale Identität und gesellschaftliche Partizipation beinhaltet, wie Hurrelmann herausstellt (vgl. Hurrelmann 2007, S. 66 f).

Das Zusammentreffen von Individuations- und Integrationsprozessen birgt ein hohes Belastungspotential in sich. Dazu bemerkt Hurrelmann treffend:

„Der Sozialisationsprozess im Jugendalter kann krisenhafte Formen annehmen, wenn es Jugendlichen nicht gelingt, die Anforderungen der Individuation und der Integration aufeinander zu beziehen und miteinander zu verbinden“ (Hurrelmann 2007, S. 67).

Das Jugendalter wird durch die Übernahme neuer Rollen (z.B. der Schuleintritt, die Aufnahme einer Berufsausbildung) geprägt. Es entstehen neue Verhaltensanforderungen, die eine Erweiterung der vorhandenen Integrationskompetenzen verlangen. Das soziale Netzwerk vergrößert sich. Der Einzelne muss sich den neuen Rollenanforderungen stellen, da eine erweiterte Kommunikationsbereitschaft notwendig ist, wie Hurrelmann in Anlehnung an Bronfenbrenner feststellt. Für diesen Individuations- und Integrationsprozess sind neue individuelle Problemlösungs- und Bewältigungsstrategien erforderlich (vgl. Hurrelmann 2007, S. 66 f; Bronfenbrenner 1981, S. 43 f).

In diesem Kontext sind die lernenden Jugendlichen auf wirkungsvolle und vielseitige soziale Unterstützung durch die wichtigsten Bezugspersonen angewiesen, die ihnen Hinweise geben, um die situations- und rollenspezifischen Anforderungen zu bewältigen. Hurrelmann stellt heraus, dass die Jugendlichen in dieser Phase einerseits Spielräume für verschiedene Problemlösungsstrategien erwerben und anderseits festgelegte Haltepunkte für die Gestaltung der sozialen Beziehungen finden. Um den Prozess der Identitätsbildung zu fördern, ist es notwendig, die Selbständigkeit anzuregen und dabei die Übernahme von Verantwortung und das Einhalten von gesellschaftlichen Regeln zu fördern (vgl. Hurrelmann 2007, S. 67 f). Demzufolge sind nicht nur die privaten Bezugsgruppen der Jugendlichen verantwortlich, sondern es ist auch Aufgabe der gesellschaftlichen Sozialisationsinstanzen (z.B. Familie, Schule und Peergroup). Der Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung hängt wesentlich von den sozialstrukturellen Vorgaben für die Gestaltung der Jugendphase ab. In diesem Kontext hat die Gesellschaft die Aufgabe für das Nachrücken der Jugendlichen in Erwachsenenpositionen zu sorgen, ihnen aber gleichzeitig auch Raum und Zeit für innovative Lösungswege einzuräumen (vgl. Hurrelmann 2007, S. 68 f).

Obwohl sich mittlerweile Tendenzen für eine Ausdifferenzierung der Lebensphase Jugend entwickeln, so ist sie dennoch als eine eigenständige Phase im Lebenslauf zu identifizieren, mit einer inneren Dynamik, die durch das Spannungsverhältnis von Individuation und Integration beschrieben werden kann, wie Hurrelmann anmerkt (vgl. Hurrelmann 2007, S. 70 f).

Man kann festhalten, dass die Entwicklungsphase im Jugendalter eine wichtige Etappe auf dem Übergang von der Schule in den Beruf einnimmt, da der junge Mensch während dieser Zeit fundamentale Erkenntnisse für sein zukünftiges Leben sammelt. In diesem Rahmen steht das Individuum im engen Austausch zu seiner Umgebung.

Um die Entwicklungsphase im Jugendalter erfolgreich zu absolvieren, benötigt der Jugendliche positive Ausgangsbedingungen. Diese sozialen Rahmenbedingungen werden besonders durch die sozioökonomische Platzierung und Positionierung der Herkunftsfamilie beeinflusst. Diese Umstände bilden das Fundament für einen erfolgreichen Entwicklungsverlauf im Jugendalter (vgl. Erikson 1980, S. 96; Bronfenbrenner 1981, S. 41 f; Hurrelmann 2007, S. 188 f).

3. Familie als wichtige Sozialisationsinstanz

Nach Erikson und Bronfenbrenner kommt der Familie eine wichtige Rolle im individuellen Entwicklungsprozess zu (vgl. Bronfenbrenner 1981, S. 38 f; Hurrelmann 2007, S. 188 f). Ähnlich sieht es Hurrelmann, der den Entwicklungsprozess in Familien als „primäre Sozialisation“ bezeichnet, da sie die früheste und nachhaltigste Prägung der Persönlichkeit eines jungen Menschen beinhaltet (vgl. Hurrelmann 2002, S. 127). Darüber hinaus definiert er die Familie als „informelles Unterstützungssystem“ und zentrale Institution im Sozialisationsprozess. Dort findet soziales Lernen sowie die Vermittlung von grundlegenden sozialen Kompetenzen statt (vgl. Hurrelmann 2002, S. 127).

Es wurde bereits herausgestellt, dass die „sozioökonomische Positionierung der Familie“ den Sozialisationsverlauf im Jugendalter maßgeblich beeinflusst. Eltern erschließen für ihre Kinder das „ökologische Angebot“ der Umwelt, indem sie Erfahrungen filtern, entschlüsseln und weitergeben. In welchem Umfang das geschieht, hängt grundlegend vom „Erziehungsstil“, von der „Qualität“ der Elternbeziehung, vom „Familienklima“ und von der „wirtschaftlichen Situation“ der Eltern ab (vgl. Hurrelmann 2007, S. 107).

3.1. Familie im gesellschaftlichen Wandel

In West- und Mitteleuropa waren vom Hochmittelalter bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert etwa 80 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Die traditionelle Gesellschaft war ganz überwiegend eine Bauerngesellschaft, die sich in Vollbauern, Kleinbauern und Häusler unterteilte. Charakteristisch für das bäuerliche Zusammenleben war die Sozialform des „ganzen Hauses“, in der alle Mitglieder der bäuerlichen Wirtschaft eine soziale Einheit bildeten, wie Lenz und Böhnisch betonen. In dieser Hausgemeinschaft arbeiteten, wohnten und lebten verschiedene Beziehungsformen zusammen, wobei die Blutsverwandtschaft für die Zugehörigkeit eine Nebenrolle spielte (vgl. Böhnisch 1997, S.13; Petzold 1999, S. 5).

Lakemann stellt fest, dass es zur Zeit der „Vor- und Frühindustrialisierung“ üblich war, in einem sicheren Familienverband zu leben, wo die erwerbs- und hauswirtschaftlichen Leistungen durch die Kooperation der beteiligten Personen sichergestellt wurde. Die ökonomischen Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Familienmitgliedern bildeten den notwendigen Zusammenhalt und die Basis des familiären Netzwerkes (vgl. Lakemann 1999, S. 14).

Das Wort „Familie“ ist für diese Form des Zusammenlebens ungeeignet und war zu dieser Zeit gänzlich unbekannt. Lenz und Böhnisch stellen heraus, dass erst im Laufe des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebrauch die Vokabel „Familie“ verwendet wurde, um das Zusammenleben einer Eltern-Kind-Gruppe unter Ausschluss von nichtverwandten Personen zu beschreiben (vgl. Böhnisch 1997, S.13 f).

Laut Lakemann kann man diese Eltern-Kind-Gruppe bzw. Familie im übertragenen Sinne als eine der ältesten menschlichen Sozialformen bezeichnen, die im historischen Verlauf einige strukturelle Veränderungen erlebte (vgl. Lakemann 1999, S. 7).

Noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lebte der größte Teil der Deutschen Bevölkerung in stabilen Familienstrukturen, wie Hurrelmann anmerkt. Damals war die Ehe als partnerschaftliche Lebensform überprozentual verbreitet, 90% aller Erwachsenen heirateten im Laufe ihres Lebens (vgl. Hurrelmann 2007, S. 108). Die Ehe galt als eine selbstverständliche Form des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau. Die Institutionen Ehe und Familie wurden nicht in Frage gestellt, sofern man nicht als gesellschaftlicher Abweichler auffallen wollte. Diese Situation hat sich bis in die Gegenwart stark verändert, wie Lakemann bemerkt (vgl. Lakemann 1999, S. 14).

Seit den 1960er Jahren stagnierte diese Entwicklung in allen Industrieländern, was einen Bedeutungsverlust der Familienform beinhaltete. Aktuell sind es in Deutschland nur noch 60% aller Volljährigen, die den gesetzlichen Bund der Ehe eingehen. Es kommen Mischformen des nichtehelichen Zusammenlebens auf, in denen der Kinderwunsch immer mehr eine Nebenrolle spielt. Mehrkinderfamilien mit drei oder mehr Kindern werden immer seltener (vgl. Hurrelmann 2007, S. 107 f).

Betrachtet man nun die Familienstrukturen der Vorindustrialisierung, die sich durch die Verbreitung der bäuerlichen Großfamilie charakterisierte, oder die familiären Bedingungen, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschte, (stabilen Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und im Durchschnitt zwei Kindern), so kann man aktuell, wo Ein-Elter-Familien keine Ausnahme darstellen, ohne weiteres von einer fundamentalen Veränderung der familiären Struktur sprechen. Dieser Strukturwandel beeinflusst die Entwicklung der gesamten Gesellschaft und die des einzelnen Individuums. Kinder und Jugendliche sind von den Veränderungen am stärksten betroffen, da sie zuverlässige, stabile und berechenbare soziale Beziehungsstrukturen für die Bildung ihrer persönlichen Entwicklung benötigen (vgl. Hurrelmann, 2007, S. 127 f).

Kinder benötigen in ihrer Entwicklungsphase starke emotionale Bindungen. Familien besitzen dafür nicht die alleinigen, aber die besten sozialen Voraussetzungen. Besonders in der frühkindlichen Phase sind die liebende Zuwendung und der enge Körperkontakt der Eltern, und besonders der der Mutter, die Basis für eine gesunde seelische Entwicklung des Kindes. Lakemann hält in diesem Kontext fest, dass die besondere Eltern-Kind-Bindung das Fundament für eine gelungene Sozialisation darstellt, obwohl der Erfolg des gesamten Sozialisationsprozesses nicht automatisch von dieser Bedingung alleine abhängt (vgl. Lakemann 1999, S. 93)

3.2. Stellenwert der Familie

Wie bereits festgestellt, stellen die Familien trotz aller strukturellen Veränderungen der letzten zwei Generationen die wichtigste Säule einer erfolgreichen Sozialisation dar. Im Zuge der ökonomischen Krisenen-twicklung seit den 1980er Jahren nimmt jedoch der Anteil der Familien zu, in denen ungünstige Rahmenbedingungen (schlechtere finanzielle Ressourcen, geringerer Bildungsgrad und fehlende soziale Anerkennung) die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Generation negativ beeinflussen. Dabei muss mit sozialer und ökonomischer Benachteiligung gerechnet werden, was die Sozialisationsbedingungen für Kinder und Jugendliche nachteilig beeinflussen kann (vgl. Hurrelmann 2007, S. 107).

In der 15. Shell Jugendstudie wurde ermittelt, dass sich bei 30 % aller deutschen Familien die „sozioökonomische“ Situation deutlich verschlechtert hat. Anhaltende Arbeitslosigkeit und ein niedriger Bildungsgrad der Eltern behindern die Integration in das soziale Umfeld, was zu negativen Impulsen bei der Entwicklung der jungen Generation führen kann. Gleichzeitig wird auf ein „gut situiertes Drittel“ von Familien verwiesen, in dem gute ökonomische Bedingungen vorliegen, was sich wiederum positiv auf die Startchancen ihrer Kinder auswirkt. Bei dem „mittleren Drittel“ nehmen die unterstützenden Ressourcen merklich ab, obwohl diese Familien ihren Kindern immer noch günstige Voraussetzungen im Verhältnis zu den Familien im „unteren Drittel“ bieten können (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 49 f). Demgemäß hängen die Zukunftschancen der Kinder und Jugendlichen von der Zugehörigkeit zu einer dieser drei Gruppen ab.

„Umgangsformen und Erziehungsstile, Einstellungen zur eigenen Person, zum Körper und zur Gesundheit, Motivation für Bildung und Berufstätigkeit – praktisch die gesamte Lebenseinstellung von Jugendlichen wird von familiären Ausgangsbedingungen geprägt“ (Shell Jugendstudie 2006, S. 50).

Des Weiteren wurde in der 15. Shell Jugendstudie deutlich, dass die Familie für die Jugendlichen einen besonders hohen Stellenwert einnimmt: 70 % der untersuchten Jugendlichen möchte die eigenen Kinder orientiert am Erziehungsstil der Eltern erziehen, so wie sie es in der eigenen Kindheit erfahren haben (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 57 f).

Die eigene Familie wird trotz aller Individualisierungstendenzen als Zufluchtsort und Ruhepol zur Umwelt verstanden, wo man zukunftsförderliche Erkenntnisse einholen kann. Hurrelmann bezeichnet Familie als ein informelles Unterstützungssystem (vgl. Hurrelmann 2007, S. 197), in dem Jugendliche wichtige Ressourcen erhalten, um in der Übergangsphase den wachsenden Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden (vgl. PISA-Konsortium 2005, S. 237; Oelschlägel 1998, S. 126; Shell Jugendstudie 2006, S. 291). Im Einzelnen können Familien für ihre Kinder folgende Unterstützungsangebote anbieten (vgl. Oelschlägel 1998, S. 126):

- Förderung der psychischen, emotionalen und kognitive Entwicklung sowie die Vermittlung von gesellschaftlichen Normen im Rahmen der „Sozialisation“
- Erhalt und Pflege der Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit durch Versorgung und Erziehung im Rahmen der „Reproduktion“
- Entlastung von außerfamiliären Stresssituationen im Rahmen eines „emotionalen Spannungsausgleiches“ (vgl. Oelschlägel 1998, S. 126)
- Erfahrungsvermittlung für den Übergang ins Berufsleben (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 291; Hurrelmann 2007, 110).

Diese umfangreiche Unterstützung, die Jugendliche durch ihre Familien im Rahmen der Sozialisationsphase erhalten, fördert die persönliche Kompetenzentwicklung, schulische Laufbahn sowie die beruflichen Integrationschancen des Einzelnen (vgl. PISA-Konsortium 2005, S. 237).

3.3. Familie, „Habitus“ und „kulturelles Kapital“

Laut Sickendiek wird die „Berufswahl“ die „beruflichen Chancen“ der Jugendlichen maßgeblich durch den „sozialen Status“ der Eltern beeinflusst. Dabei stützt sie sich auf die Theorien von Piere Bourdieu, der die Fachtermina „Habitus“ und „kulturelles Kapital“ geprägt hat (vgl. Sickendiek 2007, S. 68).

Bourdieu versteht unter dem „Habitus“ menschliche Verhaltensmuster, die alle Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. einer Familie aufzeigen. Das Individuum erwirbt über Erziehungs- und Bildungsangebote „kulturelles Kapital“, welche maßgeblich durch die Familie geregelt werden. Die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einem bestimmten „Habitus“ lässt sich durch typische „Sprechweisen“ und „Umgangsformen“ identifizieren. Demzufolge hat ein Individuum mit einem unpassenden „Habitus“ schlechtere Chancen eine qualifizierte Tätigkeit mit einem ansprechenden beruflichen Status zu erreichen, als derjenige, der „schon im Elternhaus“ oder über eine höhere Schulbildung einen besseren „Habitus“ erworben hat. Nach Bourdieu beinhaltet das „kulturelle Kapital“ einer „höheren Bildungsschicht“ eine ausschlaggebende „Ressource“ für die berufliche Karriereplanung (vgl. Sickendiek 2007, S. 68).

3.4. Familie und Krisensituationen

Hurrelmann beschreibt krisenhafte familiäre Faktoren, welche die Persönlichkeitsentwicklung in der Sozialisationsinstanz „Familie“ negativ beeinflussen können.

Heute sind „etwa ein Drittel aller Jugendlichen von Trennung und Scheidung der Eltern betroffen“. Die Gründe für diese Beziehungsstörung der Eltern sind für ihre Kinder oft unbekannt und nicht nachvollziehbar. Sie können die Konsequenzen und Änderungen, die sich nach einer Trennung bzw. Scheidung der Eltern für sie persönlich ergeben, nicht einschätzen. Nicht selten werden sie unfreiwillig in die Streitigkeiten der Eltern eingebunden. Nach der elterlichen Trennung beginnt für die Kinder eine Phase der „Neuordnung ihrer sozialen Beziehung“ zu den Eltern. Oft leidet das Eltern-Kind-Verhältnis zu einem Elternteil massiv. In den meisten Scheidungsfällen wird ein Wohnungswechsel vollzogen, der die Kinder und Jugendliche aus ihrer gewohnten sozialen Umgebung reißt. Bei vielen Scheidungskindern setzt eine psychische Stigmatisierung ein, wie Hurrelmann feststellt (vgl. Hurrelmann 2007, S. 111f).

Des Weiteren führt Hurrelmann die Arbeitslosigkeit der Eltern an, die den Lebensrhythmus der Familien beeinflussen, was besonders von Kindern sensibel wahrgenommen wird. In den westlichen Ländern steigt seit etwa 30 Jahren die Zahl der Familien an, die aufgrund von elterlicher Arbeitslosigkeit mit ökonomischer Armut rechnen müssen. Aktuell leben immer mehr Familien in „relativer Armut“, was zu einer Beschneidung der „materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen“ im Familienkontext führt. Dadurch kann sich der Erziehungsstil der Eltern verändern und sich somit negativ auf den Sozialisationsprozess der Kinder auswirken (vgl. Hurrelmann 2007, S. 114).

Eine gestörte Paarbeziehung, Drogen- und/oder Alkoholprobleme und psychische Erkrankungen der Eltern können „unberechenbare“ Erziehungsstile hervorrufen, was zu Vernachlässigungen und Aggressionen gegenüber den eigenen Kindern führen kann. Die beschriebenen Probleme hebeln die „sozialen Regeln“ eines normalen Familienlebens aus und werden durch gestörte Verhaltensmuster ersetzt. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen erfahren oft „psychische Ablehnung“ und „tiefe Aggression“, was zu Depressionen und psychiatrischen Störungen führen kann. Besonders schwerwiegend stellt sich die sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche dar, die in etwa 10 % aller Familien vorkommt und in der Regel von Männern (Vätern oder anderen Verwandten) verübt wird. Die Ursachen für solche Taten sind laut Hurrelmann in der „gestörten Persönlichkeits- und Sexualentwicklung“ der Täter zu suchen. Die Opfer haben unter den Folgen von sexueller Gewalt nicht selten ein Leben lang zu leiden. Diese Folgen können sich unter anderem darstellen als: Depressionen, körperliche- und sexuelle Entwicklungsdefizite, emotionale Störungen, Sinnesbeein-trächtigungen und Drogenmissbrauch (vgl. Hurrelmann 2007, S. 115 f).

Darüber hinaus beschreibt Hurrelmann Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Jugendlichen, die aufgrund von Veränderungen im Rahmen der „Modernisierung“ auftreten. Die Ursachen dafür sind in den veränderten Verhältnissen zwischen „Familie und Erwerbsarbeit“ sowie „Familie und Staat“ zu suchen. Mittlerweile erwarten Eltern von ihren Kindern eine immer früher einsetzende Selbständigkeit, Kompetenzen und Selbstorganisation. In diesem Kontext wird eine höhere Leistungsbereitschaft (u.a. in der Schule) gefordert, ohne aber mit Sanktionen erzieherisch eingreifen zu wollen (vgl. Fend 2000, S. 291). Bei diesen Erwartungen können junge Menschen leicht überfordert werden. Sie übernehmen zu früh Verantwortung für ihre eigene Entwicklung, erhalten dabei jedoch nicht den erforderlichen psychischen Halt innerhalb der Familie (vgl. Hurrelmann 2007, S. 117 f).

Man kann festhalten, dass die „sozioökonomische Positionierung der Familie“ den Entwicklungsprozess im Jugendalter maßgeblich beeinflusst. Eltern erschließen für ihre Kinder das ökologische Umweltangebot, indem sie Erfahrungen entschlüsseln und vermitteln. In welchem Umfang das geschieht, hängt grundlegend von der „Qualität“ der Elternbeziehung, vom „Erziehungsstil“, von dem „Familienklima“ und von der „wirtschaftlichen Situation“ der Eltern ab (vgl. Hurrelmann 2007, S. 107).

In Kapitel 3 wurden die familiären Spezifika im Entwicklungsprozess eines jungen Menschen thematisiert. Demzufolge werden auf den folgenden Seiten die gesellschaftlichen Bedingungen herausgestellt, auf die sich ein Jugendlicher in seinem individuellen Entwicklungsprozess einstellen muss.

4. Die Lebensphase Jugend im gesellschaftlichen Kontext

Die Jugendzeit ist für jeden Menschen ein bedeutender Entwicklungsprozess und beinhaltet eine lange „formelle, halbformelle und informelle Bildungs- und Ausbildungsphase“, für die immer mehr Zeit in formellen Bildungssystemen aufgebracht werden muss, wie Hafeneger feststellt. Die Jugendphase beginnt im 12. Lebensjahr und endet erst mit der Vollendung des 25. Lebensjahres. Sie wird durch die unterschiedlichen Wandlungsprozesse einer Gesellschaft beeinflusst, was sich auf veränderte Entwicklungsbedingungen der jeweiligen Generationen nach Alter, Geschlecht, sozialer und ethnischer Herkunft auswirkt (vgl. Hafeneger 2007, S. 36 f).

Des Weiteren haben sich in den letzten Jahrzehnten die „Individualisierungstendenzen“ nicht nur unter der jungen Bevölkerung verstärkt, was zu regelrechten Freisetzungen der Subjekte aus traditionellen Netzwerken führte. Dabei handelt es sich um einen noch nicht abgeschlossenen Prozess der „Modernisierung“, der sämtliche traditionelle Strukturen innerhalb der modernen Gesellschaft tangiert und nachhaltig verändert, wie Beck anmerkt (vgl. Beck 1992, S. 206).

Beispielsweise haben sich die Bildungsstrukturen in Deutschland seit der Mitte der 1960er Jahre stark verschoben. In der Zeit der „Bildungsexpansion“ stieg die Bedeutung von höheren Bildungsabschlüssen, wodurch sich die schulische Bildungsphase biographisch verlängerte. Das formale Bildungsniveau unter der deutschen Bevölkerung wurde angehoben und der allgemeine Schulbesuch entwickelte sich zum zentralen Strukturmerkmal der Jugendphase (vgl. Hurrelmann 1989, S. 8).

Aufgrund der „Bildungsexpansion“ müssen die Jugendlichen der Gegenwart im Verhältnis zu ihren Eltern deutlich mehr Zeit für ihre Ausbildung aufwenden und werden demnach später erwerbstätig. Dabei bleiben sie immer länger bei ihren Eltern wohnen, was eine gewisse Abhängigkeit vom Elternhaus beinhaltet (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 64 f).

Begriffe wie „Globalisierung“, „Individualisierung“, „Pluralisierung“, „Flexibilität“ und „Mobilität“ gehören immer mehr zu den Normalbedingungen in unsere Gesellschaft, mit denen sich Jugendliche bei ihrer Lebensplanung zwangsläufig auseinandersetzen müssen (vgl. Keupp 2005, S. 66). Diese sozialen Veränderungen führen zu einer Endstandardisierung von herkömmlichen Lebensverläufen und zu Umbrüchen in der Jugendphase, was die Orientierung und das Handeln der Jugendlichen nachhaltig beeinflusst. Herkömmliche Lebensplanungsmuster entsprechen nicht mehr den aktuellen Anforderungen, wie Hafeneger bemerkt (vgl. Hafeneger 2005, S. 159). Dieser „Modernisierungsprozess“ nimmt der aktuellen Jugend das notwendige Sicherheitsgefühl, was zu einer Steigerung der Risiken bei der individuellen Lebensgestaltung führt (vgl. Beck 1992, S. 206).

Hafeneger bezeichnet dazu die heutige Jugendzeit als „komplex und kompliziert, nicht eindeutig und mit Chancen und Risiken zugleich verbunden (…)“ (Hafeneger 2007, S. 37)

Die Jugendlichen der Gegenwart befinden sich demzufolge im Zwiespalt: Einerseits besitzen sie mehr Freiräume bei der Selbstverwirklichung und können eigenständiger und kreativer ihre Planungen in die Tat umsetzen. Andererseits werden sie immer häufiger angehalten, ihre Lebensplanung selbstständig zu organisieren, ohne dabei zu hinterfragen, ob sie dem Angebot ihrer Umwelt überhaupt gewachsen sind. Dies kann zu unüberlegten bzw. voreiligen Entscheidungen führen, wie Hafeneger herausstellt. Fehlerhafte Entscheidungen werden ihnen in der modernen Gesellschaft direkt angekreidet, ohne dass die gesellschaftlichen Unwägbarkeiten, auf die sie keinen Einfluss haben, bei ihren Handlungen berücksichtigt werden. Jugendliche müssen aktuell, wie bereits bemerkt, immer mehr Zeit für ihre Ausbildung aufbringen. Während dieser Ausbildungszeit bleiben sie in der Regel von ihrem Elternhaus abhängig (vgl. Hafeneger 2005, S. 161).

Die Jugend von heute steht unter einem ernormen Druck. In der 15. Shell Jugendstudie wurde festgestellt, dass sie für sich unter den erschwerten gesellschaftlichen Bedingungen eine positive Zukunftsperspektive entwickeln muss. Dabei sind die Jugendlichen besorgt, „ihren Arbeitsplatz zu verlieren bzw. keine adäquate Beschäftigung finden zu können. Waren es in 2002 noch 55 %, die hier besorgt waren, sind es 2006 bereits 69 %. (….)“ (Shell Jugendstudie 2006, S. 15).

Die verschlechterte wirtschaftliche Situation in Deutschland, mit der Angst keinen Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz zu bekommen, wirkt sich kontraproduktiv auf die Zukunftsplanungen der jungen Generation aus. Laut Shell Jugendstudie haben viele Jugendliche berechtigte Zukunftsängste, in der problematischen Arbeitsmarktsituation ihren Platz im Erwerbsleben zu finden (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 31).

In diesem Kontext wird in der 15. Ausgabe der Shell Jugendstudie auf die bürgerkriegsähnlichen Gewalttätigkeiten aus dem Jahre 2005 verwiesen, wo jene Zukunftsängste der jungen Bevölkerung in den Vorstädten Frankreichs zu Auseinandersetzungen mit der Polizei führten. Im Rahmen der Unruhen wird in Frankreich von einer „Génération précaire“ gesprochen. Ähnlich den Beschäftigten in unsicheren Arbeitsverhältnissen, den „Employés précaires“ (Dieser Begriff beschreibt unsichere und jederzeit kündbare Arbeitsverhältnisse), befindet sich ein Großteil der französischen Jugend in unsicheren Lebensverhältnissen. Der planmäßige Einstieg in das Berufsleben ist nur für eine geringe Gruppe von ihnen möglich. Die anderen müssen sich mit Arbeitslosigkeit und ihren Folgen auseinandersetzen, wie die Shell Jugendstudie herausstellt (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 31 f).

Viele deutsche Jugendliche leiden unter denselben Zukunftsängsten. Ihre beruflichen Perspektiven stellen sich ähnlich unfreundlich dar. Ihre Eltern sind oft mit den Problemen ihrer Kinder überfordert und ratlos, haben sie doch eine reibungslose Fortführung des wirtschaftlichen Aufschwungs und die damit verbundene unproblematische Integration ihrer Kinder in das Berufsleben angenommen. Jetzt müssen sie immer öfter die Realitäten einer unsicheren Zukunft zur Kenntnis nehmen. Unter ihnen verbreitet sich eine begründete Angst vor einem kollektiven Absturz ihrer Kinder aus der Mittelschicht (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 32).

Laut der 15. Shell Jugendstudie leiden sozial benachteiligte Jugendliche besonders unter den schwierigen ökonomischen Veränderungen der Gesellschaft. Sie suchen, genauso wie ihre nicht benachteiligten Altersgenossen, nach ihrer Bestimmung in der Gesellschaft, nach Teilhabe und einem Mindestmaß an Anerkennung. Auch sie haben Ansprüche an Wohlstand und Status. Aber sie besitzen im Gegensatz zu den besser gestellten Jugendlichen der „Ober- und Unterschicht“ ein schlechteres ökonomisches Niveau und haben daher nicht viel an gesellschaftlichem Status zu verlieren. Demzufolge kann sich bei ihnen schneller ein gewalttätiges Protestpotential aufbauen und entladen (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 32).

Die sozial benachteiligten Jugendlichen werden hierzulande von unterstützenden Netzwerken und Projekten aufgefangen, die allenfalls eine Linderung der Symptome, aber keine Lösung des Grundproblems liefern können. Wie die Shell Jugendstudie feststellt, hat man in Deutschland noch kein Patentrezept gefunden, um jedem Jugendlichen den Berufseinstieg, und damit die gesellschaftliche Teilhabe, zu ermöglichen. Allenfalls führen die aktuellen Konzepte gegen Jugendarbeitslosigkeit zu einer temporären Beruhigung der Lage – jedenfalls an der Oberfläche, im Kern brodelt es weiter (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 32).

4.1. Perspektiven der Jugend

Hafeneger stellt fest, dass Jugendliche und junge Erwachsene aktuell immer länger „sozio-ökonomisch“ vom Elternhaus abhängig bleiben, gleichzeitig aber „sozio-kulturell“ frühzeitig die Erwachsenenphase erlangen. Dabei haben sich „Medien, Konsum, Kommerz und Jugendkultur“ mittlerweile zu „relevanten Sozialisationsbereichen“ entwickelt. Besonders bei geschwisterlosem Aufwachsen gewinnt die „Peergroup“ bezüglich den altersbedingten Entwicklungs- und Suchprozessen mehr an Bedeutung (vgl. Hafeneger 2007, S. 36f).

Vergleicht man die letzten beiden Ausgaben der Shell Jugendstudien miteinander so wird deutlich, dass von 2002 (55 %) bis 2006 (69 %) unter den Jugendlichen die Sorge um die berufliche Zukunft erheblich anstieg. Die Angst vor Arbeitslosigkeit bzw. keine Ausbildungsstelle zu finden, wird demnach unter jungen Menschen immer öfter zum Thema. Die junge Generation realisiert, dass sie ihre beruflichen Ziele ohne eigenes Engagement, Leistungs-bereitschaft und Durchhaltevermögen nicht verwirklichen kann (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 74f).

Hafeneger bemerkt dazu, dass Jugendliche immer mehr Lernen, ohne zu wissen, ob ihnen das Erlernte letztlich berufliche Integration und gesellschaftliche Integrität ermöglicht. Die Einmündung in Ausbildung und Arbeit wird zunehmend schwieriger und komplizierter, oft ist sie nur mit Umwegen zu erreichen, oder gelingt vielen erst gar nicht. Diese Faktoren deuten darauf hin, dass sich die heutige Jugendphase durch Unsicherheiten und Umwege auszeichnet. Sie ist komplizierter denn je und beinhaltet Gefahren, Risiken und Chancen gleichermaßen. Demnach sind immer mehr Jugendliche auf spezielle Unterstützungsangebote der Gesellschaft angewiesen, sofern man von ihnen den erfolgreichen Übergang ins Berufsleben erwartet (vgl. Hafeneger 2007, S. 36 f).

Der Übergang von der Schule in den Beruf war für frühere Generationen eine selbstverständlich Station in der persönlichen Biographie, wie Prager und Wieland herausstellen. Nach Beendigung der Schulzeit folgte die qualifizierende Berufsausbildung. Danach konnte man erwarten, aufgrund seiner erworbenen Qualifikationen von einem Betrieb bis ins Rentenalter fest eingestellt zu werden (vgl. Prager, Wieland 2005, S. 57).

Das Anforderungsprofil eines Erwerbstätigen der heutigen Generation verändert sich permanent und setzt von dem Berufstätigen eine ständige Anpassung voraus, sofern man sich nicht von der wachsenden Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt überholen lassen möchte.

Die meisten Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt resultieren aus Phänomenen, die sich unter dem Begriff „Globalisierung“ zusammenfassen lassen. Nationale Unternehmensführungen denken und handeln in globalen Zusammenhängen, da sie ihre Produkte zunehmend auf den Weltmärkten anbieten müssen. Sie unterliegen demnach den Gesetzen der globalen Wirtschaft, wo nur Produkte mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis konkurrenzfähig bleiben. Diese Veränderungen schlagen sich ebenfalls auf die Beschäftigungsbedingungen der gewerblichen Arbeitnehmer nieder, da viele Firmen ihre Fertigungsstandorte in Niedriglohnländer verlegen, um dadurch weiter Lohnkosten zu senken. Diese Praxis führt zu einem stetigen Abbau von westeuropäischen Arbeitsplätzen. Demnach werden die Arbeitsverhältnisse auch in Deutschland unsicherer und der Konkurrenzkampf um die verbliebenen Arbeitsstellen, wird entsprechend härter. Aktuell haben hierzulande nur hochqualifizierte Arbeitnehmer gute Chancen auf eine sichere und gut bezahlte Beschäftigung. Bei den Niedrigqualifizierten erhöht sich die Gefahr, dem globalisierten Arbeitsmarkt zum Opfer zu fallen (vgl. Prager, Wieland 2005, S. 57f).

Demzufolge haben sich die Spezifika im Übergang Schule und Beruf rapide verändert. Schulabgänger des 21. Jahrhunderts müssen bereit sein, im Gegensatz zu der Generation ihrer Eltern, auch über einen beruflichen Abschluss hinaus Lernbereitschaft aufzubringen, um den beruflichen Anschluss nicht zu verlieren. Diese Situation beinhaltet für die Jugendphase mehrere große Herausforderungen und wird besonders von Jugendlichen als sehr bedrohlich empfunden, die aufgrund ihres geringen Bildungsniveaus ohnehin mit großen Problemen auf dem Arbeitsmarkt zu rechnen haben (vgl. Prager, Wieland 2005, S. 57 f).

Prager und Wieland haben in einer von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegebenen repräsentativen Untersuchung Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren zu ihren persönlichen Ausbildungs- und Berufschancen befragt. Demnach blicken 52 % der Befragten skeptisch bzw. pessimistisch in ihre berufliche Zukunft. 39 % der Jugendlichen macht sich große Sorgen, im Anschluss an die Schulzeit keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bekommen (vgl. Prager, Wieland 2005, S. 59). Dieses Ergebnis deckt sich mit den Aussagen der 15. Shell Jugendstudie, die 2006 veröffentlicht wurde und ähnliche Zukunftsängste unter der jungen Bevölkerung feststellte (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 15).

Prager und Wieland verweisen in dem Kontext auf eine schulformspezifische Differenzierung, da 60 % der Gymnasiasten und immerhin noch 47 % der Realschüler ihre beruflichen Chancen positiv sehen. Hingegen äußern sich 66 % der Hauptschüler wenig zuversichtlich bezüglich der Optionen ihrer beruflichen Teilhabe. Dabei empfinden sogar 82 % aller Hauptschüler Nachteile bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche gegenüber den Schulabgängern der höheren Schulformen, was in vielen Fällen zu Motivationsproblemen und Resignation führt. Aufgrund dieser Benachteiligung wächst die Gefahr, dass unter den Hauptschülern die Zahl der „nicht mehr an sich Glaubenden“ anwächst und eine Mentalität des „Aussteigens“ einsetzt. In dem Zusammenhang sprechen Prager und Wieland von 53 % der Hauptschulabsolventen, die nicht mehr bereit sind, ein gewisses Maß an Privatleben und Freizeit für eine unrealistische Karriereplanung zu opfern. Offensichtlich sind diese Jugendlichen verunsichert, aus der aktuellen Perspektivlosigkeit heraus ihre berufliche Zukunft zu gestallten (vgl. Prager, Wieland 2005, S. 59).

4.2. Ausbildung und Partizipation

Für Hafeneger sind die Lebensentwürfe der Menschen in unserer Gesellschaft direkt mit dem Begriff „Erwerbsarbeit“ verbunden. Dieser Begriff beinhaltet die materielle Absicherung, Selbstverwirklichung, strukturiert den Alltag, formt das Wertebewusstsein, ermöglicht gesellschaftliche Integration und Partizipation (vgl. Hafeneger 2007, S. 40).

Der Begriff „Partizipation“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Teilhabe“. Durch gesellschaftliche Partizipation erhält der einzelne die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, mitzureden, sich einzubringen und damit seine Umwelt zu beeinflussen. Eine solche Mitgestaltung dient der allgemeinen Demokratisierung und bezieht sich auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche, so z.B. auf den der Politik, des Vereinswesen, der Arbeitswelt, aber auch auf den Bildungs- und Ausbildungsbereich (vgl. Sturzbacher 2003, S. 13 f).

Bei Jugendlichen, denen der reibungslose Übergang von der Schule in die Arbeitswelt nicht gelingt und sich als Folge eine langfristige Arbeitslosigkeit abzeichnet, ist von einer dauerhaften sozialen Ausgrenzung bzw. von fehlender gesellschaftlicher Teilhabe auszugehen, wie Schäfer anmerkt (vgl. Schäfer 1997, S. 257). Diese Problematik, die mit negativen Folgen für unsere Gesellschaft verbunden ist, bringt Allespach/Novak wie folgt auf den Punkt:

„Eine berufliche Ausbildung mit der Möglichkeit zum Erwerb umfassender beruflicher Kompetenzen gibt Halt und trägt so zur Vermeidung von gesellschaftlicher und sozialer Entwurzelung bei“ (Allespach/Novak 2005, S. 11).

Demzufolge ist für arbeits- und ausbildungsplatzlose Jugendliche nur eine eingeschränkte Partizipation möglich, da sie ohne eine Ausbildungs- bzw. Arbeitsstelle von einem der zentralsten Bereiche der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sind. Sie empfinden eine gewisse Nutzlosigkeit, resignieren und sind nicht in der Lage, ihre persönlichen Lebensentwürfe in die Tat umzusetzen (vgl. Hafeneger 2007, S. 40).

Blickt man auf die Ergebnisse der gegenwärtigen Jugend- und Bildungsforschung, dann kristallisieren sich für die zentrale Fragestellung dieser Arbeit folgende Aspekte heraus (vgl. PISA-Konsortium Deutschland/ Baumert 2003):

- Ein hoher Schulabschluss ist keine Garantie für den gewünschten Ausbildungsplatz
- Je niedriger der Schulabschluss, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit auf eine Hilfstätigkeit oder Langzeitarbeitslosigkeit.

Darüber hinaus wird die Entwicklungsphase der jungen Generation von einer zweiten Erscheinungsform beeinflusst, die auf den folgenden Seiten behandelt wird.

4.3. Demografischer Wandel

Deutschland steht, wie auch andere Staaten der Erde, vor erheblichen demografischen Veränderungen. Vor allem in den Industrieländern Europas, Nordamerikas und Asiens ist dieser Wandlungsprozess der Bevölkerung festzustellen. Steigende Lebenserwartungen und rückläufige Geburtenzahlen führen dazu, dass die Bevölkerung dieser Staaten in den nächsten Jahrzehnten zahlenmäßig schrumpft und dabei gleichzeitig immer älter wird (vgl. Shell Jugendstudie 2006, S. 31). Basierend auf der 10. koordinierten Bevölkerungs-vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2003 stellte Esche, Petersen und Wintermann heraus, dass sich die Deutsche Bevölkerung im Jahre 2050 von aktuell 82,5 Millionen auf etwa 75 Millionen reduzieren wird. Dies entspricht einer Schrumpfung um circa 9%. Parallel zu diesem Bevölkerungsrückgang setzt eine Alterung unter der Gesellschaft ein. Bis 2050 wird sich die Zahl der Menschen dramatisch verringern, die jünger als 60 Jahre sind. Im Gegensatz nimmt die Gruppe der über 60-jährigen zu, sodass ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von gegenwärtig 24,1% auf 36,7% steigt (vgl. Esche, Petersen, Wintermann 2005, S. 42).

Unter dem Strich nimmt die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter im Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern im nicht erwerbsfähigen Alter deutlich ab. Börsch-Supan geht davon aus, dass sich die Zahl der Erwerbstätigen von aktuell 38,5 Millionen im Jahre 2050 auf 23 Millionen verschiebt (vgl. Börsch-Supan 2004, S. 82 f).

Bei einer ersten Betrachtung dieser Entwicklung könnte man davon ausgehen, dass sich der demografische Wandel positiv auf den Arbeitsmarkt auswirkt, da so der Angebotsüberschuss an Arbeitskräften automatisch abgebaut wird. Da aber der Arbeitsmarkt von morgen ein immer besser qualifiziertes und flexibleres Personal benötigt, um die Produktivität trotz des Bevölkerungsrückgangs sicherzustellen, werden sich die Arbeitslosenzahlen nicht von alleine regulieren. Die Anforderungen an den Arbeitnehmer nehmen weiter zu und der allgemeine Fachkräftemangel verschärft sich, wenn die geburtenstarken und gut ausgebildeten Jahrgänge der 1950er und 1960er ihre Rente antreten.

Laut Esche, Petersen und Wintermann werden es gering qualifizierte Personen immer schwerer haben, eine gut bezahlte Beschäftigung zu finden.

Dieser Prozess stellt die Gesellschaft vor umfangreiche Herausforderungen, auf die sich besonders die junge Bevölkerungsgruppe einstellen muss. Denn gerade durch ihre nachhaltige Teilhabe an der Arbeitswelt verbessern sich die Chancen für den Fortbestand von gesamtgesellschaftlichem Wohlstand und sozialem Frieden. Aus diesem Grund sollte die Gesellschaft ein besonderes Interesse an der Förderung dieser Bevölkerungsgruppe haben (vgl. Esche, Petersen, Wintermann 2005, S. 44 ff).

Im Kontext dieser Einschätzung sollte man das folgende Zitat von Deupmann betrachten, der auf eine abstrakte Weise die Förderung der Jugend mit Einzahlungen auf ein Sparkonto vergleicht:

„Jede positive Geste, jede Stunde intensiver Beschäftigung, jeder Tag kreativer Wissensvermittlung mit unseren Kindern wirkt wie die Einzahlung eines kleinen Betrags. Sie erhöht das Guthaben und wirft eines Tages reiche Frucht in Form von Zinsen ab. Umgekehrt macht sich jede Vernachlässigung, jede Abwendung und jede Unterlassung den Kindern gegenüber auf dem Konto der Zukunft bemerkbar: Es wirkt wie die Abhebung eines Betrags, die das Guthaben, die möglichen Zinsen und Zinseszinsen vermindert“ (Deupmann 2005, S. 224).

Jeder einzelne Bereich unseres sozialen Sicherungssystems ist von den demografischen Umwälzungen tangiert. Demnach sollte besonders die Unterstützung der gering qualifizierten Jugendlichen in den Fokus der Gemeinschaft rücken, da auch sie ihren Beitrag bei der Bewältigung der anstehenden Veränderungen leisten müssen. Es darf keine individuelle Ressource ungenutzt bleiben.

Die Jugend von heute sind die Erwerbstätigen von morgen, die zukünftig in unserer Gesellschaft die Leistungen der Sozialgesetzbücher, der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung erwirtschaften müssen, um gesellschaftlichen Wohlstand zu sichern (vgl. Esche, Petersen, Wintermann 2005, S. 43 ff). Demzufolge ist die junge Generation der wichtigste Baustein bei der Zukunftsplanung einer Gesellschaft. Von Investitionen in die Jugend profitiert auch die ältere Generation, da ihre Rente von der Produktivität der zukünftigen Erwerbstätigen abhängt. Eine beruflich integrierte Jugend stellt die Basis für den sozialen Frieden zwischen den Generationen, ohne den eine lebenswerte Gesellschaft nicht denkbar wäre, wie Esche, Petersen und Wintermann herausstellen. Demzufolge sollte „Jugend- und Bildungspolitik“ der jungen Generation ein besonderes Interesse schenken, um den demografischen Wandel und seine Folgen für die Gesellschaft erfolgreich zu bewältigen (vgl. Esche, Petersen, Wintermann 2005, S. 52).

Wie bereits im ersten Kapitel herausgestellt wurde, fallen Hauptschülerinnen und Hauptschüler unter die Kategorie der „benachteiligten Jugendlichen“. In diesem Kontext werden im fünften Kapitel die Rahmenbedingungen der jungen Generation in Anlehnung an die entsprechende Schulform präsentiert.

5. Jugendliche Berufsperspektiven im Kontext der Hauptschule

Wie bereits in der Einleitung bemerkt wurde, haben sich die Bedingungen der Hauptschülerinnen und Hauptschüler seit den 1950er Jahren rapide verändert. Für die Nachkriegsgenerationen war es selbstverständlich, nach dem Hauptschulabschluss mit einer Berufsausbildung zu beginnen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, S. 157). Laut Hofman-Lun besuchten noch in den 1950er Jahren etwa 80 % der Siebtklässler eine Haupt- bzw. Volksschule. Aktuell hat sich eine Verschiebung zugunsten von „mittleren“ und „höheren“ Schulabschlüssen durchgesetzt, was zu einer Entwertung des Hauptschulabschlusses führte. Aktuell besuchen nur noch 23 % der Siebtklässler eine Hauptschule. Man muss davon ausgehen, dass Hauptschülerinnen und Hauptschüler immer schlechtere Chancen für einen erfolgreichen Einstieg ins Berufsleben besitzen (vgl. Hofmann-Lun 2007, S. 156).

5.1. Schulform und soziale Herkunft

Über die Aufgaben, Rolle und Funktion von Schule gibt es in der Wissenschaft differenzierte Meinungen, was man an der Komplexität der Literaturangebote der Bibliotheken feststellen kann. Hafeneger hebt in diesem Kontext die weichenstellende Bedeutung der Schule für die junge Generation hervor, da die zukünftigen Integrationschancen in die Gesellschaft, in Ausbildung und Beruf, von der Qualität des erreichten Schulabschlusses abhängen. Die heutige Schülergeneration ist gut qualifiziert und dennoch gespalten. Dazu benennt Hafeneger folgende Tendenzen (vgl. Hafeneger 2007, S. 38 f):

- Die Hauptschule ist weitgehend zur Restschule geworden
- Der Anteil der Gymnasiasten steigt kontinuierlich
- Die Mädchen haben die Jungen in den Abschlüssen überholt

Hafenegers Aussagen stützen sich auf eine internationale Untersuchung, die mittlerweile einer breiten Öffentlichkeit als „PISA-Studie“ bekannt ist: Seit 2000 wird im dreijährigen Turnus das Leistungsniveau von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern der meisten OECD-Staaten (Organisation for Economic Cooperation and Development) ermittelt. Dabei werden „Lesekompetenz, mathematische sowie naturwissenschaftliche Fähigkeiten“ getestet. Die „PISA-Studie“ (Programm for International Student Assessment) hat sich zu einem internationalen Schulleistungsvergleich etabliert. Im Dezember 2007 präsentierte die OECD die Ergebnisse der dritten und damit aktuellsten „PISA-Studie“. Bereits im Jahre 2001 wurden die Ergebnisse der ersten Studie veröffentlicht. Damals stellten sich 29 Staaten dem internationalen Vergleich, wobei Deutschland einen enttäuschenden 21. Platz einnahm. Im Rahmen dieser Studie wurde für Deutschland eine Koppelung von sozialer Herkunft und dem Kompetenzniveau hergestellt. Die deutsche Öffentlichkeit reagierte entsetzt und Experten bezeichneten dieses Ergebnis als sogenannten „PISA-Schock“ (vgl. Demmer 2007, S. 390).

Des Weiteren stellte sich heraus, dass sich die Leistungen der schulischen Spitzengruppe in Deutschland ebenfalls ernüchternd darstellten. Das „selektive Schulsystem“ mit den unterschiedlichen Leistungsstufen der Förderschulen, Hauptschulen, Realschulen und der Gymnasien kam immer mehr in die Kritik. Die These, dass in Deutschland erfolgreich begabungsgerecht unterrichtet werde, wurde nach Demmer eindrucksvoll widerlegt (vgl. Demmer 2007, S. 391).

„Integrative Schulsysteme“ aus Finnland, Neuseeland, Australien und Kanada bewiesen, dass die schwächeren Schülerinnen und Schüler nicht die Stärkeren in ihrer schulischen Entwicklung behindern, sondern ganz im Gegenteil das gesamte Leistungsniveau eines Klassenverbandes anregen und fördern (vgl. Demmer 2007, S. 391).

Laut Zenke werden die Defizite des gegliederten Schulsystems in Deutschland besonders in den Hauptschulen deutlich, denn dort wird die größte Gruppe der Schülerinnen und Schüler beschult, die nach der „PISA-Studie“ der untersten Kompetenzstufe angehören. Demzufolge kann man die Hauptschülerinnen und Hauptschüler als die größten Verlierer im deutschen Schulsystem bezeichnen, da sie einer rigiden Trennung von angeblich guten und schlechten Schülerinnen und Schülern unterliegen (vgl. Zenke 2007, S. 451).

Hafeneger spricht von einer Spaltung im Deutschen Schulsystem, wenn er sich der Vergleichsstudie der OECD nähert. Mit dem Begriff „herkunftsbedingte Disparitäten“ beschreibt er den Zusammenhang zwischen schulischem Erfolg und sozialer Herkunft, was sich aktuell in Deutschland besonders ausgeprägt darstellt. Das deutsche Bildungssystem zeichnet sich durch eine soziale Benachteiligung aus. Die Ergebnisse der „PISA-Studie“ beweisen, dass an deutschen Schulen die „sozio-ökonomischen“ Ungleichheiten nicht etwa abgebaut, sondern verstärkt werden (vgl. Hafeneger 2007, S. 39).

Bezogen auf sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler aus Deutschland bemerkt Schümer, dass gerade bei ihnen die „selektionsspezifischen Lernmilieus“ zur doppelten Benachteiligung führen, weil sie bereits durch ihre soziale Herkunft Benachteiligung erfahren. Statt begabungsgerecht zu unterrichten und für gerechte Bildungschancen zu sorgen, verstärkt das deutsche Schulsystem bestehende Ungleichheiten und Benachteiligungen (vgl. Schümer 2004, S. 73 ff).

Als Reaktion auf die niederschmetternden Ergebnisse der ersten PISA-Studie von 2000 entwickelte die Kultusministerkonferenz (KMK) im Dezember 2001 sieben Handlungsfelder für den Schulalltag (vgl. Tillmann 2008, S. 91):

- Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz im vorschulischen Bereich
- Bessere Verzahnung von Vor- und Grundschule mit dem Ziel einer früheren Einschulung
- Förderung von Lesekompetenz und des mathematischen und naturwissenschaftlichen Verständnisses
- Förderung der benachteiligten Kinder, insbesondere der mit Migrationshintergrund
- Weiterentwicklung und Sicherung der Qualitätsstandards von Unterricht und Schule
- Fortbildung des Lehrpersonals im Hinblick auf diagnostische und methodische Kompetenz
- Ausbau der außerschulischen Ganztagsangebote

[...]

Ende der Leseprobe aus 152 Seiten

Details

Titel
Unterstützungssysteme für benachteiligte Jugendliche im Übergang Schule und Beruf
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Fachbereich Erziehungswissenschaften)
Note
1
Autor
Jahr
2008
Seiten
152
Katalognummer
V172995
ISBN (eBook)
9783640931170
ISBN (Buch)
9783640931026
Dateigröße
913 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ausbildung, Übergang, Hauptschule, Benachteiligung, Unterstützungssysteme, Arbeitslosigkeit, benachteiligte Jugendliche, Maßnahmen, Berufsvorbereitung, berufliche Integration, Jugendberufshilfe, Berufsberatung
Arbeit zitieren
Andreas Huft (Autor:in), 2008, Unterstützungssysteme für benachteiligte Jugendliche im Übergang Schule und Beruf, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/172995

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