Absolute Musik im Gesamtkunstwerk?

Sinfonische Strukturen in Richard Wagners "Parsifal"


Magisterarbeit, 2010

109 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Musik des Parsifal
2. 1 Themen und Motive
2. 2 Expositionen und Reprisen
2. 3 Diatonik und Chromatik
2. 4 Durchführung und musikalische Arbeit
2. 5 Form – Musik, Szene und die Konzeption des Ganzen

3. Das Bühnenweihfestspiel – Musiktheater mit sinfonischen Prinzipien

4. Literaturverzeichnis

Zitat auf dem Titelblatt: Der Ausspruch Richard Wagners findet sich in Band 1 der Cosima-Tagebücher (s. Literaturverzeichnis) und entstammt dem Eintrag vom 13. August 1871.

1. Einleitung

Aus der Stille erhebt sich das Werk und in die Stille entschwebt es wieder – mit jeder Aufführung erneut, wie ein Ritus, der stets auf dieselbe Weise ausgeführt wird. Von Anfang an war es das Kunstwerk als Ritus, das Richard Wagner mit dem Parsifal anstrebte; in Bayreuth sollte der Kult dieses Werks gefeiert werden. Wer sich diesen Hintergrund vor Augen hält, dem mag es problematisch erscheinen, den Parsifal als „Oper“ zu bezeichnen, wie dies im allgemeinen Sprachgebrauch häufig geschieht, wenn von Wagners Werken insgesamt die Rede ist. Das letzte Werk aus der Feder des bedeutenden Dichterkomponisten gibt jedoch schon aus sich selbst heraus genügend Anlass, an einer herkömmlichen Gattungsbezeichnung Zweifel aufkommen zu lassen. Schon die außergewöhnliche Bezeichnung des Werks als Bühnenweihfestspiel illustriert die Intention des Autors nach Einzigartigkeit. Sie deckt jedoch auch einen gewissen Hang zum Pathetisch-Umständlichen im sprachlichen Ausdruck auf, der dem Schreibstil des Prosaautoren Wagner, einige Werke ausgenommen, zeitlebens zu Eigen war. Von kaum einem anderen hätte eine solche aufs Rituelle deutende Bezeichnung stammen können als von ihm, der vieles war – auch passionierter Namensschöpfer – gleichsam bestrebt, unbelebte Dinge durch originelle Benennungen aufzuwerten. Wie alles bei ihm ist auch dieser Name sorgfältig durchdacht und zeugt geradezu von einem unbändigen Willen, das, was im Werk vor sich geht, was das Werk ausmacht und von anderen, vergleichbaren Schöpfungen abhebt, kenntlich zu machen. Vielfältige und verschiedenartige Verflechtungen lassen sich vermuten. Wird die auf den ersten Blick etwas ungelenk wirkende Benennung Bühnenweihfestspiel erst einmal als gerechtfertigt angenommen, so stellt die Frage nach der Legitimität dieser Bezeichnung für ein Kunstwerk wie den Parsifal den Betrachter stets erneut vor die Aufgabe, das Werk für sich zu beurteilen – seine Machart aus einem anderen Blickwinkel als dem der Tradition heraus zu sehen. Alles vorher Dagewesene scheint an mitbestimmender Gestaltungskraft zu verlieren, je mehr ein Kunstprodukt sich autonom zu definieren beginnt. Auch wenn ein Musiktheaterwerk pauschal als „Oper“ benannt und aufgefasst wird – der Parsifal tendiert stark dazu, dem Betrachter ein solches Verständnis zu verleiden. Wagner selbst sträubte sich bekanntlich vor der Benennung seiner Werke als „Musikdramen“ und sprach deshalb im alltäglichen Umgang mit anderen häufig lapidar von „seinen Opern“, schon der Einfachheit halber, die beim Sprechen mehr vonnöten ist als beim Schreiben. Was er aber in der Umgangssprache missachtete, das beachtete er umso penibler in schriftlichen Äußerungen, besonders dann, wenn es sich unmittelbar um seine eigenen Erzeugnisse handelte. So erscheint der Begriff Bühnenweihfestspiel zunächst als eine auffällig exakte Benennung. Dass er aber zudem wie die Gattungsbezeichnung einer im eigentlichen Sinne nicht existenten Gattung daherkommt oder gar als Pseudo-Gattung missverstanden werden kann, ist ein Nebeneffekt, der kaum vom Namensgeber intendiert gewesen sein dürfte. Tatsächlich ging es diesem in erster Linie um eine dem Werk adäquate, es beschreibende Benennung, um sogar hierin seiner Schöpfung gerecht zu werden – und dies ungeachtet jeder sonstigen Konvention. Selbst in der Bezeichnung, jenem Aushängeschild, das ein erstes Verständnis des Werkes ermöglichen sollte, wollte Wagner schöpferisch bleiben, denn dies allein schien seinem von der Idee des Genies beeinflussten Selbstverständnis angemessen zu sein, zumal dieses Selbstverständnis gerade im Bereich der Worte – der Philologie wie der Dichtung – einiges auf sich hielt. Als am wichtigsten ist wohl die gewollte Abgrenzung zum Begriff des Dramas, wie der Namensschöpfer ihn hatte, zu erachten. Dieser Begriff ging vom Ideal der Einmaligkeit der Aufführung des Dramas aus; und für Wagner hatten solcherlei Ideale eine oft bindende Bedeutung. Diese Einmaligkeit, die ihm noch für den Tristan, nachdem er die vier ersten, für ihn mustergültigen Aufführungen mit Ludwig Schnorr von Carolsfeld 1865 erlebt hatte, billig erschienen war, versuchte er schon mit dem Ring des Nibelungen (den er bereits als Bühnenfestspiel bezeichnete) allmählich aufzuweichen. Mit seinem Bühnenweihfestspiel schließlich gab er die Einmaligkeit des Dramas vollends auf. Indem er auf das Mysterienspiel beziehungsweise den Ritus zurückgriff, dessen Kultort Bayreuth werden und bleiben sollte, forderte er die Wiederholung sogar indirekt. Dies muss als der bedeutendste Aspekt bei der Absetzung des Parsifal vom „Musikdrama“ erkannt werden. – In einer Arbeit nun, in der die Intention, sowie die Äußerungen des Autoren nicht exegetisch verwendet, aber durchaus ernst genommen und differenziert widergespiegelt werden sollen, darf auch der Begriff des Bühnenweihfestspiels nicht unkritisch reproduziert, jedoch ebenso wenig schlicht übergangen werden. Dieser wird hier jedenfalls, zusammen mit dem immer noch pauschalen „Musikdrama“ der Bezeichnung „Oper“ vorgezogen. Zudem soll im Folgenden deutlich werden, wodurch sich diese Begriffe gerade in ihrem Anderssein werkimmanent rechtfertigen und begründen lassen, warum sie nicht müßig gewählt wurden und sich durchsetzten – warum sie schließlich den Parsifal besser zu attribuieren vermögen als der verhältnismäßig weitläufige Begriff der Oper dies könnte.

Schon an der großformatigen Anlage des Ganzen wird erkennbar, inwiefern das Alterswerk eine Besonderheit in Wagners Œuvre darstellt. Denn in keinem sonstigen seiner Bühnenwerke finden sich die drei Aufzüge so strukturiert, dass die beiden äußeren Teile den mittleren in einer bedeutungsvollen Hinsicht umklammern: die Schauplätze der Handlung sind im ersten und dritten Aufzug räumlich dieselben – und auch die konkreten, auf der Bühne sichtbaren Szenarien der beiden Rahmenakte dürften in einer Inszenierung nur bezüglich weniger Details voneinander abweichen. Diese Abweichungen wiederum müssten sich darin erschöpfen, lediglich den notwendigen Fortschritt des Dramas beziehungsweise die fortgeschrittene dramatische Zeit erkennbar werden zu lassen, alles andere wäre fremde Zutat. Wagner selbst beschrieb den Schauplatz des ersten und dritten Aufzugs so: „Auf dem Gebiete und in der Burg der Gralshüter Monsalvat; Gegend im Charakter der nördlichen Gebirge des gotischen Spaniens“ (Partitur, IX). Nicht ohne Grund verlegte er die Handlung des Bühnenweihfestspiels in diese Gebiete, denn schon seine Hauptquelle, Wolfram von Eschenbachs Parzival, handelt neben anderem vom Templerorden, einer Gemeinschaft von Rittern, die sonderlich im Norden Spaniens stark vertreten war. Die im Hochmittelalter erbaute Templerburg in Ponferrada, Nordwestspanien, ist eines der in diesem Zusammenhang noch heute erhaltenen Zeugnisse. Den Schauplatz des ‚eingeklammerten’ zweiten Aufzugs charakterisierte Wagner wissend mit den Worten: „Klingsors Zauberschloss, am Südabhange derselben Gebirge, dem arabischen Spanien zugewandt, anzunehmen“ (ebd., IX). Eine Sichtweise, die diese räumliche Einteilung mit etwas Musikalischem assoziieren würde – dass nämlich die drei Aufzüge des Parsifal gemäß der gängigen Art des Kopfsatzes einer Sonate oder Sinfonie angeordnet worden seien (erster Aufzug = Exposition, zweiter Aufzug = Durchführung und dritter Aufzug = Reprise) – lässt sich aber vermutlich nicht durchgängig aufrechterhalten. Denn vergleicht man weitere, über jene Orte des Geschehens hinausgehende Strukturen des Werkes mit den inneren Strukturen des musikalischen Prinzips der Sonatenhauptsatzform, so dürfte sich zeigen, dass die Parallele oberflächlich, allenfalls eine assoziative, bleiben muss. Ob sie dennoch weiter reicht, wird in dieser Arbeit zu untersuchen sein. Jene oberflächliche Parallele der drei Aufzüge mit ihren jeweiligen Schauplätzen und dem bedeutsamen musikalischen Formkonzept vergegenwärtigt aber bereits an dieser Stelle den Gesichtspunkt der musikalischen Form. Auch dieser wird in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Rolle spielen. Weitgehend vernachlässigt werden dabei, soweit nicht für das unmittelbare Verständnis notwendig, biografische Aspekte Wagners, ideengeschichtliche Implikationen des Parsifal, wie sie beispielsweise in Bezügen zur Religionsphilosophie und Religionsästhetik oder der stoffbezogenen Rezeptionsgeschichte zu finden wären, sowie eine eingehende Behandlung der Entstehungsgeschichte des Werkes. All dies wird, wenn überhaupt erwähnt, so doch allenfalls gestreift.

Betrachtet werden dagegen musikalische Werkstrukturen und dafür wichtige Eigenheiten von Wagners Arbeitsweise, die oft bedeutsame Einblicke und Erklärungen ermöglicht. Dass es sich bei einer solchen Betrachtung gelegentlich als notwendig erweisen wird, Einsprengsel der vom Mythos kommenden Handlung oder der Entstehungsgeschichte des Ganzen mit einzubeziehen, ist verständlich. Dennoch wird der Fokus stets auf die musikalische Dramaturgie des Werkes gerichtet bleiben – und zwar nicht fixiert auf das bloße Erkennen und Benennen von Leitmotiven, sondern bezogen auf die „ästhetisch-kompositionstechnische Möglichkeit, tragende Kategorien der absoluten Instrumentalmusik wie Thema, Durchführung und Entwicklung im musikalischen Drama ohne Substanzverlust zu realisieren“ (Dahlhaus 1986, 68), wie sie Carl Dahlhaus und einige andere Autoren für Wagners Musik postuliert haben. Die erwähnte Sonatenhauptsatzform und das speziell Sinfonische an diesem Formprinzip war dem Musiker und Komponisten Wagner seit seiner Jugend gegenwärtig und gut bekannt. Doch auch das Grundsätzlichere, jenes, was Dahlhaus als „Substanz“ der musikalischen Kategorien bezeichnet, beschäftigte ihn lebenslänglich. Diesbezüglich eine konsistente Haltung in Wagners Schriften und Äußerungen herausfiltern zu wollen, wäre unmöglich und würde daher schlichtweg verfälschend wirken. Zu schwanken schien er angesichts der Frage, ob die Musik das Drama hervorbringe, also im musikalischen Drama ihre volle Substanz behalte, oder ob sie sich an einer bereits feststehenden Handlung oder Dichtung zu orientieren habe. Er benötigte einen Mittelweg zwischen beiden Möglichkeiten, betonte er doch in ein und derselben theoretischen Abhandlung (Anwendung der Musik, 185) einerseits die Bedeutung der dramatischen Handlung als Orientierungspunkt für die hervorzubringende Musik, indem für das „Gewebe von Grundthemen, welche sich, ähnlich wie im Symphoniesatze, gegenüber stehen, ergänzen, neu gestalten, trennen und verbinden [...] die ausgeführte und aufgeführte dramatische Handlung die Gesetze der Scheidung und Verbindung giebt“. Andererseits jedoch räumte er der Musik kurz darauf entschieden Autonomie im Werkganzen des Musikdramas ein – und zwar indem er das Verfahren eines seiner „jüngeren Freunde“, gemeint ist Hans von Wolzogen, als unzureichend kritisiert und stattdessen eine eingehende Betrachtung der von ihm selbst als „Grundthemen“ bezeichneten Gebilde in Bezug auf „den musikalischen Satzbau“ fordert. Beide Standpunkte jedoch, ob entweder die Musik im musikalischen Drama tatsächlich selbstständig sei oder doch in gewisser Weise vom Drama abhängig, sind in Wirklichkeit keine gegenseitig sich ausschließenden Positionen! Warum auch immer Wagner selbst den Sachverhalt nicht klar zum Ausdruck brachte und aufklärte, sei dahingestellt – Tatsache ist, dass es sich hierbei um zwei Aussagen auf völlig verschiedenen sprachlichen Ebenen handelt. Dass die Musik das Drama als ihre sichtbar gewordene Tat hervorbringe, ist eine metaphysische Betrachtungsweise, welcher kein reales Pendant im Schaffensprozess Wagners zukommt – es sei denn ein äußerst vages und kaum objektiv fassbares (jenes nämlich, dass Wagner bereits mit weit reichenden musikalischen Hintergedanken dichtete). Der praktische musikalische Arbeitsprozess hingegen ist bis zum Parsifal hauptsächlich geprägt durch die Erfindung von Musik entlang oder mindestens unter Berücksichtigung des Dramenverlaufs, oft sogar entlang des Dichtungstextes, wie dies Wagners eigenen Aussagen zu entnehmen ist. Schon anhand jener Wolzogen kritisierenden Äußerung wird jedoch ersichtlich, dass er als Komponist auf eine gewisse Autonomie der Musik bestand. Diese der praktischen Verwirklichung scheinbar entgegenstehende Haltung lässt sich nur unter Zuhilfenahme des erwähnten Mittelwegs erklären, in welchen auch die von Wagner verinnerlichte ästhetisch-theoretische Idee von Arthur Schopenhauers Musikmetaphysik miteinbezogen erscheint. Danach bestehe die Musik nicht nur für sich selbst, in sich konsistent und sich selbst genügend, sie wirke sogar generierend auf Weiteres, außerhalb ihrer selbst Liegendes. So ließe sich dann potenziell jede poetische Idee innerhalb der ‚allumfassenden’ Grenzen der Musik ausdrücken. Mit dieser geistigen Lehre nun verträgt sich die praktische, am Drama orientierte Verwirklichung der Musik während der Komposition durchaus – beide kommen sich nicht in die Quere, weil keine von beiden über sich selbst hinausreicht. Mithilfe des Mittelwegs also, der sich aus der Einsicht in die grundsätzliche Verschiedenheit beider Positionen begründet (weil diese eben auf zwei semantischen Ebenen angesiedelt sind), werden die zwei Positionen im Denken einer einzigen schöpfenden Persönlichkeit miteinander vereinbar. – Neben Wagners Ansichten und Arbeitsweise erscheint es überdies notwendig, seine außer ihm liegenden musikästhetischen Orientierungspunkte aufzuzeigen, weil daraus zentrale Züge seiner eigenen Kompositionen erst verständlich werden. So war es vor allem Wagners Kenntnis und Bewunderung für die Werke Johann Sebastian Bachs, die in den späten Jahren erheblich zunahm. Das Formprinzip der Fuge wurde ihm erneut bewusst, was sich – wie zu vermuten ist – auch im späten Komponieren niedergeschlagen hat. So dienen uns Wagners die Ästhetik betreffenden Äußerungen als ein Spiegelbild seines neuen Denkens in alten Formen und dem entsprechend hielt Cosima, nachdem einmal vom hoch geschätzten Bach die Rede gewesen war, folgende Aussage des Komponisten fest: „Wie flach und konventionell erscheint die Sonatenform dagegen, dieses italienische Produkt; nur dadurch, daß er das Beiwerk dieser Form so ungeheuer belebte, näherte sich Beethoven wieder Bach“ (CTB, 13. 07. 1872). Dem Sonatenhauptsatz schwor Wagner ab – und sogar von Beethoven entfernte er sich durch die Studien in den ‚Lehren’ des Älteren, doch dazu später mehr.

Die Cosima-Tagebücher sind ein zentrales Dokument von Wagners letztem Lebensabschnitt in Tribschen und Bayreuth, weshalb sie neben anderen Zeugnissen zu einer wichtigen Quelle für diese Arbeit gehören. Sie gewähren einen verhältnismäßig ungefilterten Einblick in Wagners künstlerisches Leben und seine Ansichten, was andere Aufzeichnungen aus dieser Zeit kaum vermögen. So wird beispielsweise deutlich, wie präsent etwa der schopenhauersche Geist im Hause Wagner war – oder sollte man es besser die Idee Wagners von Schopenhauer nennen? Dank Cosimas begleitenden Aufzeichnungen ist jedenfalls der Parsifal das einzige unter den Musikdramen, dessen Beginn, Werden und Abschluss in voller Länge dokumentiert wurde; die Götterdämmerung war zu Beginn der Tagebuchaufzeichnungen am 01. Januar 1869 bereits fertig gedichtet. Für den Parsifal aber bieten die Tagebücher ein beispielloses Dokument, das seinen Wert vor allem aus den vielfältigen Kommentaren Wagners bezieht, aus welchen sein Schaffen wie auch seine Ansichten durchblicken. Seit Ende der 1860er Jahre bis zum Beginn der Dichtung des Bühnenweihfestspiels im Jahre 1877 wurde beispielsweise wiederholt in Wolframs Parzival -Epos, vor allem aber in Wagners eigenem Prosaentwurf gelesen – und dies vor wechselndem Publikum. Schenkt man Cosima Glauben, waren dies stets Momente großer Emotionalität für alle Beteiligten. Auch nahm sich Wagner seit Anfang der 1870er Jahre des Öfteren vor, den Parzival (wie der Werkentwurf damals noch hieß) bald auszuarbeiten. Ebenfalls erkennbar wird beispielsweise, dass die Musik Bachs zweifelsohne auch ideell mit dem Parsifal in Verbindung gebracht werden muss. Für Wagner gehörten diese Musik und sein geplantes Werk gefühlsmäßig stark zusammen, dies geht aus vielen notierten Aussprüchen hervor. Ebenso ist das christliche Abendmahl zu erwähnen, das in Wagner zum wiederholten Male den Eindruck von etwas Besonderem, Unersetzbarem hervorrief. Wie auch immer sein Standpunkt zur Kirche, zum übrigen Christentum, ja zur Religion überhaupt gewesen sein mochte – religiöse Kulte und Riten übten auf den späten Wagner eine überaus hohe Anziehungskraft aus. Aus keinem anderen Zeugnis geht ebenso sicher hervor, dass Wagner zum Ende seines Lebens hin immer wieder den ernsthaften Wunsch hegte, Sinfonien zu komponieren, wie aus den Cosima-Tagebüchern. Sein später sinfonischer Ehrgeiz meldete sich aber bereits im Falle der Parsifal -Komposition stark zu Wort, so eine Behauptung, die in dieser Arbeit untermauert werden soll. Oft schien er jenen Drang zu verspüren, der ihn schon in entscheidendem Maße zur Arbeit an Tristan und Isolde angetrieben hatte – den künstlerischen Freiheitsdrang, sich einmal musikalisch ‚gehen zu lassen’, sich „auszurasen“. Doch auch wenn er sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr davon zu befreien schien, so legte ihm selbst sein Bühnenweihfestspiel noch musikalisch-kompositorische Fesseln an. Zudem war er, trotz einer großen Agilität bis in die späten 1870er Jahre hinein, kein junger Mann mehr, dem alle Kräfte zur vollen Disposition standen – ebenfalls ein Grund dafür, dass der Wunsch nach einem freieren, nicht mehr ans Drama gebundenen musikalischen Schaffen sich immer häufiger in seinen Äußerungen niederschlug.

Wagners Arbeitsweise und musikalisches Schaffen weisen Besonderheiten auf, die im Folgenden zu erörtern sein werden. Exemplarisch sei hier eine Begebenheit aus der Zeit der Komposition des Parsifal herausgegriffen. „In der Frühe sagt mir Richard, er mache jetzt dem Parsifal sein musikalisches Kleid, dem Helden nämlich“ (ebd., 25. 08. 1877), notiert Cosima in ihrem Tagebuch. Interessant erscheint die Tatsache, dass Wagner zum Zeitpunkt der Entwicklung des Parsifal-Themas gerade in der Komposition des Vorspiels begriffen war. Das Thema jedoch kommt darin nicht vor, sondern erscheint erst im Laufe des ersten Aufzugs (Partitur, 1. Aufzug, T. 742ff.). Wagner arbeitete es schließlich Ende November 1877 bestimmend in den musikalischen Gesamtzusammenhang ein, als dieser beziehungsweise das Drama es erforderte. Daraus erwächst die Schlussfolgerung, dass Wagner in Wirklichkeit nicht am gedichteten Text entlang komponierte, sondern bereits im Voraus und unabhängig von der Dichtung Themen entwarf, die später unter anderem mit leitmotivischer Bedeutung belegt wurden. Im konkreten Fall des Parsifal-Themas vollzog der Komponist dann bei der Komposition der entsprechenden Stelle einen Rückgriff auf schon vorhandenes Material – auf musikalisches Material, das bereits länger existierte und nicht ad hoc von ihm entworfen wurde. Diese Verfahrensweise unterstützt die Möglichkeit der musikalischen Geschlossenheit des Ganzen, einer eminent sinfonischen Forderung. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es – wenn schon bei der Erfindung und Verwendung von Themen sinfonische Prinzipien verfolgt wurden – bei der leitmotivisch bestimmten Bedeutung der Themen und Motive bleiben kann; oder sind stattdessen noch weitere, rein musikalische Verfahrensweisen festzustellen, die den Themen im Verlauf des Werks zuteil werden? Wie sieht es im Falle des musikalischen Endprodukts aus – können hier sinfonische Eigenschaften faktisch ausgemacht werden? All dies wird zu überprüfen sein.

In der vorliegenden Arbeit wird also thesenhaft von derjenigen musikdramenästhetischen Voraussetzung ausgegangen, nach welcher die rein musikalische Struktur – ganz nach Wagners metaphysischem Kunstanspruch an die Musik als einem eigenständigem Bestandteil, ja sogar als dem Wesen des Dramas – nicht einzig von der Handlung, also praktischerweise der Dichtung und ihrer Interpretationsweise beeinflusst und bestimmt wird. Es wird vorausgesetzt, dass auch die Musik allein als in sich konsistent zu erachten ist und somit als eine sinnvolle, gesonderte Einheit der Erörterung in Betracht kommt. Als etwas Eigenständiges hat sie im wagnerschen Musikdrama sehr wohl realen Bestand. Sie ist etwas Vollwertiges und bildet dementsprechend berechtigterweise einen Gegenstand der Betrachtung, dessen Art und Form es zu analysieren und zu benennen gilt. – Das zweite Kapitel bildet mit seinen fünf Unterpunkten den Hauptteil der Arbeit, in dessen Mittelpunkt die Ergebnisse einer analytischen Betrachtung, Charakterisierung, Einordnung und Bewertung der Musik des Parsifal stehen. – Das dritte Kapitel beinhaltet ein knappes Fazit, das die Konsequenzen aus dem vorher Behandelten zieht. Es wird sich zeigen, welcher Stellenwert sinfonischen Strukturen in der Musik des Bühnenweihfestspiels eingeräumt werden muss.

2. Die Musik des Parsifal

Zwei Seelen wohnten in Wagners Brust: einerseits war er ein Anhänger der Einheit der Künste, andererseits war er entscheidend von der absoluten Musik, der Sinfonie Beethovens, geprägt. Was er war, das wurde er nicht aus Überzeugung – sein Leben lang strebte er nach dem, was ihm am meisten fehlte, nach Selbstbefreiung. Seine eigene Theorie ist nicht als das Programm für seine Kunst zu verstehen, sondern als deren Legitimierungsversuch vor wechselnden Hintergründen. Seine ästhetische und musikphilosophische Herkunft, Bewertungen seiner Zeit und seiner Vorbilder – all dies erscheint bei Wagner allzu oft vermischt mit eigenen Zielen, Selbsteinschätzungen sowie mit der Legitimierung seines Denkens und seiner Kunst. Wagner auf einen Nenner zu bringen ist unmöglich. Um jedoch seine Werke richtig verstehen und beurteilen zu können, erweist es sich als unabdingbar, die komplexe Persönlichkeit und ihre Bestrebungen ins Urteil mit einzubeziehen. – Ein äußerst multivalentes Problem stellte in Wagners Denken der Begriff des Ausdrucks dar. Dieser hing für ihn mit dem Theater zusammen und ist deshalb in gewisser Weise als unmusikalisch oder zumindest nicht als genuin musikalisch zu bezeichnen. So half das Argument des Ausdrucks Wagner etwa dabei, sich geistig über die traditionelle Form der Sinfonie hinwegzusetzen und zudem das Dramatische, ja sogar das Theatralische im Musikdrama zu rechtfertigen. „Der Entfaltung des Ausdrucks stand vor allem die Form im Wege“ (Voss 1977, 168) – so bringt Egon Voss das Problem auf den Punkt. Die Musik des Dramas durfte und musste für Wagner durch die Notwendigkeit des echten Ausdrucks nicht mehr vollkommen mit jener sinfonischen Musik übereinstimmen, an welcher er sich stets unbewusst mitorientierte. Sie durfte davon abweichen, denn die Form der Sinfonie, ja sogar das rein Instrumentale daran waren es letztlich, die nach jener Ansicht den musikalischen Ausdruck einschränkten. Auch schien er, aus Sicht des Gesamtkunstwerks, der Musik eine selbstständige, geschlossene Gestaltung nicht zuzutrauen – und so entdeckte Wagner eine Möglichkeit, den von ihm selbst errichteten Thron seines Erziehers Beethoven ins Wanken zu bringen oder diesen zum bloßen Vorbereiter zu degradieren: die Instrumentalmusik, noch zu unvollkommen als für sich selbst bestehen zu können, bedurfte der dauerhaften Erlösung. Diese konnte sie wiederum nur in Verbindung mit der Poesie, mit dem Wort, erreichen. Dies beschreibt eine Auffassung Wagners, die den Spagat zwischen der Rechtfertigung seines eigenen bisherigem Kunstschaffens und der Bewunderung für die Sinfonik Beethovens zu vollführen sucht – jener Traum von der Erlösung der Musik durch das Wort – eine Vorstellung, die nirgends deutlicher zutage tritt als in Wagners Jubiläumsschrift Beethoven von 1870. In unmittelbarem Anschluss an Schopenhauer war Wagners philosophisches Musikverständnis von der romantisch-metaphysischen Vorstellung geprägt, dass die Musik die für die Wahrnehmung unmittelbarste, am wenigsten metaphorische aller Künste sei, dass man nur in ihr den direkten Ausdruck des Willens, des treibenden Prinzips alles Seienden, erkennen könne. Diese Unmittelbarkeit gehe aus der Beschaffenheit des Gehörsinns hervor, durch welchen akustische Reize nicht erst (wie etwa optische) wahrgenommen und damit vermittelt werden müssten, sondern sofort im „tiefsten Bewußtsein empfunden“ (Beethoven 2004, 71f.) würden. Die ästhetischen Voraussetzungen also, von denen Wagner ausging, zielten besonders seit seiner Schopenhauer-Lektüre ab 1854 auf eine enorme Bedeutung der Musik als einer für sich bestehenden Einzelkunst, in welcher wiederum alles Übrige und somit auch alle anderen Künste potenziell enthalten sein könnten – schon ein Versuch übrigens, die absolute Musik als eine Art umfassende ‚Gesamtkunst’ zu verstehen und damit die besagten zwei Seelen zu vereinen. Die Lektüre des Philosophen bestärkte den Künstler massiv darin, seinen eigenen praktischen Weg fortzuschreiten, nämlich den der Sinfonisierung des Musiktheaters. Eine von mehreren möglichen Erklärungen Wagners für die Notwendigkeit einer motivisch-thematisch dichten und sinfonisch anspruchsvollen Musik im Musikdrama (bei der vorher exponiertes Material sogar an die Stelle füllender Floskeln treten sollte), liegt in den Erfahrungen begründet, die er mit der Musik Beethovens gemacht hatte. Diese hatte ihn nicht nur in einen zeitweilig rauschhaften Zustand versetzt, sondern ihn ebenso zum rationalen Denken angeregt; und ebendiese Auswirkungen proklamierte Wagner nun für die Musik des Theaters. Denn die „Opernmusik“ schaffe es nicht, das Auge so sehr von den szenischen Vorgängen zu suspendieren und den Menschen damit zum Denken anzuregen, wie es notwendig wäre, um nicht auf einer Ebene oberflächlicher Unterhaltung befangen zu bleiben (ebd., 104). Um jedoch zur dem Kunstwerk angemessenen Andacht beizutragen, müsse die Musik einen gewissen Anspruch verfolgen, der – so wäre zu schlussfolgern – nicht anders als sinfonisch zu bezeichnen ist. Auch hierzu gab Beethovens Musik den entscheidenden Wink. Er allein sei es nach Wagners geistiger ‚Zurechtrückung’ gewesen, der den Fingerzeig für die „vollendetste“ Kunstform der Neuzeit gab – für eine Kunstform, die dem antiken Drama nahe kommen sollte und mit welcher Wagner natürlich sein eigenes musikalisches Drama meinte. Er kokettierte mit sich selbst, als er im Beethoven schrieb, dass diese „neue Kunstform [...] bis jetzt der neueren Welt, im Vergleiche zur antiken Welt, noch fehlt“ (ebd., 112), hatte er doch selbst die Absicht, diese vollkommene Kunstform, deren Weg er durch Beethoven vorgezeichnet sah, neu zu begründen; ansatzweise empfand er sie schon in einigen seiner Werke verwirklicht. Inwieweit er wirklich an eine solch exponierte Stellung glaubte, sei dahingestellt.

Dass Wagner sich besonders in jungen Jahren mit Beethoven identifizierte, geht deutlich aus Eine Pilgerfahrt zu Beethoven, einer der Novellen aus Paris (Wagner 1961, 6ff.), hervor. Hier macht sich ein junger Komponist, „Herr R...“ aus „L...“ auf den Weg nach Wien[1], um seinen musikalischen Leitstern Beethoven kennen zu lernen. Als er ihn dort nach zahlreichen Rückschlägen endlich antrifft, findet er einen Seelenverwandten in dem verehrten Meister: Beethoven sieht die eigenen Kompositionen als durchaus unpopulär an, als unzeitgemäß. Er spricht sogar von einer großen, ernsten Vokalgattung, die sich von der überkommenen Oper unterscheide, die als ein Ideal anzustreben sei, später jedoch beim Publikum keinerlei Resonanz finden werde. Beethoven spricht von nichts anderem als dem musikalischen Drama (ebd., 30f.). Daraus ist abzulesen, wie Wagner sein Vorbild verstand und was Beethoven für ihn war: in einem hohen Maß Projektionsfläche. Bereits in dieser 1840 entstandenen Selbstbespiegelung Wagners wird die von ihm sein gesamtes Leben verfochtene Idee des musikalischen Dramas als einer weiterführenden Fortsetzung der sinfonischen Instrumentalmusik erstaunlich deutlich, eine Ansicht, die Wagner schon vor seinem schopenhauerschen ‚Erweckungserlebnis’ im Jahre 1854 vertrat und welche er bis zu seinem Lebensende im Kern unverändert beibehielt. In der Novelle entpuppt sich der wagnersche Beethoven außerdem als ein Anhänger des romantischen Unsagbarkeitstopos; durch seinen dortigen Autoren weiß Beethoven auch bereits, dass keine Dichtung, und sei sie noch so erhaben, imstande sein würde, das auszudrücken, was die Musik auszudrücken vermag. Schopenhauer setzte anstelle dieser noch recht vagen Ahnung in Wagners Denken den allwaltenden Willen. Auch dreißig Jahre später noch tendierte Wagner in seiner Schrift zu Beethovens hundertstem Geburtstag dazu, seine eigenen Prägungen, Vorgehensweisen und Ideen als die des verehrten Sinfonikers auszugeben und dadurch zu legitimieren, jedoch nicht, weil er seine Leser in die Irre führen oder zu falschen Schlüssen über Beethoven anleiten wollte, sondern weil er auch vor sich selbst ein Sinnsuchender war; und tatsächlich verband er enorm viel mit Beethoven. So liest sich die Jubiläumsschrift abschnittsweise wie ein Teil der Autobiografie, etwa wenn Wagner von Beethoven schreibt: „Galt Haydn als der Leiter des Jünglings, so ward der große Sebastian Bach für das mächtig sich entfaltende Kunstleben des Mannes sein Führer“ (Beethoven 2004, 95). Es wäre eine Mutmaßung, dass Wagner sich deshalb mit zunehmendem Alter mit den Werken Bachs beschäftigte, weil auch Beethoven dies getan hatte – möglicherweise hatte sich auch Beethoven im Nachhinein mit Bach zu beschäftigen, weil Wagner dies für richtig hielt. Wohl wollte Wagner Beethoven in die Nachfolgerschaft Bachs stellen und sich selbst in die Nachfolgerschaft Beethovens, ähnlich wie Schopenhauer sich selbst ausdrücklich als der (einzig legitime) Nachfolger Kants anzusehen gewohnt war. Dass Wagner sich stärker als andere große Künstler und Denker mit seinesgleichen identifizierte, dies zumindest mehr und häufiger als andere zum Ausdruck brachte, ist offenkundig. Woher er kam – besonders in der sein Leben beherrschenden Kunst – das wollte er vor sich selbst restlos aufklärt wissen und als Verfasser seiner Schriften war er sich seiner Herkunft auch sicher, so scheint es. Inwieweit Wagner aber tatsächlich als ein, vielleicht der musikalische Nachfolger Beethovens bezeichnet werden kann, wird im Folgenden zu untersuchen sein.

Die Idee, welche in der Novelle lediglich vorgeprägt, aber noch nicht ausgesprochen erscheint, dass schon Beethoven – besonders in seinen Sinfonien – im Grunde ein dramatischer Komponist gewesen sei, wird in der Schrift von 1870 schließlich frei postuliert: „Die Musik [...] schließt das Drama ganz von selbst in sich, da das Drama wiederum selbst die einzige der Musik adäquate Idee der Welt ausdrückt“ (ebd., 105). Schopenhauer war es also, der Wagner die nötige Kühnheit verlieh, die beethovensche Musik als dramatisch und seine eigene Musik als sinfonisch zu bezeichnen – und letztere dies auch mehr und mehr werden zu lassen! Insofern hatte Wagner nicht Unrecht mit seinen programmatischen Aussagen über Beethoven. Zwar ist seine Idee von der Erlösung der Instrumentalmusik durch das Wort in Beethovens Neunter Sinfonie tatsächlich eher als ein Teil von Wagners eigenem Programm und Lebensentwurf zu werten denn als eine kunsthistorische Beobachtung zu bezeichnen, doch wird diese Idee durch ihre enorme Nachwirkung, schon in Form von Wagners eigenem Werk, im Nachhinein legitimiert. – Überdeutlich in Wagners Leben und Schriften ist sein emphatisches Bestreben nach Legitimation und Rechtfertigung bezüglich der eigenen Abgrenzung von der gängigen Opernästhetik, der Mode seiner Zeit, und im Gegenzug die Hinwendung zu etwas Neuem, in Schopenhauers Sinne Unpopulärem sowie nach dieser Auffassung wahrhaft Künstlerischem. So proklamierte Wagner selbstverständlich für Beethoven die Emanzipation der Melodie von der allgemein herrschenden Mode und sieht sich auch diesbezüglich in dessen Nachfolge, denn seit den großen Sinfonien habe sich die Melodie (wie übrigens seit Wagner die Gesangsmelodie!) nicht mehr an die beschränkenden Regeln der Gefälligkeit gehalten, sondern konnte gar unendlich werden (ebd., 102). Zwar wird nun nicht mehr, wie noch in der Pilgerfahrt zu Beethoven von 1840, dem Sinfoniker das Wort des musikalischen Dramas in den Mund gelegt – als dessen entschiedenen Vorreiter aber behält und verteidigt ihn Wagner nach wie vor. Beethoven habe die Vokalmusik in neue Bahnen gelenkt und damit eine neue Gattung der Vokalmusik erst möglich gemacht. Das Musikdrama war es, das Wagner in der Neunten Sinfonie real vorgeprägt sah und dessen ideeller Erbe und wirklicher Schöpfer nur er allein sein konnte. Im Bereich des Praktischen schlug dieser geistige Sachverhalt sich darin nieder, dass Wagner, wie schon Beethoven in seinem „rein symphonische[n] Werk“ (ebd., 103) der Missa solemnis, die menschliche Stimme als ein, immerhin das wichtigste, Instrument – und damit absolutmusikalisch auffasste! Aus dem Zwang, sich von der traditionellen Stimmbehandlung der Oper zu lösen, entstand für Wagner die Notwendigkeit, mit der Gesangsstimme anders zu verfahren als dies in der Tradition der Fall war. Dies sei deshalb notwendig gewesen, weil die Dichtkunst vollständig in der Musik aufgehe, es auch nicht mehr auf die Verständlichkeit des konkreten Wortes ankomme (ebd., 103), die Wagner schließlich im Parsifal zugunsten des sinfonischen Gedankens vollends aufgab. Der Verzicht auf Verständlichkeit nun entpuppt sich als eine absolutmusikalische Forderung, die sich bereits früh angekündigt hatte und welcher Wagner in seinem letzten Werk etwa durch den Verzicht auf seinen Stabreim nachgab! Ohnehin fände der poetische Gedanke in der Musik einen viel adäquateren Ausdruck als in der bloßen Dichtung. Wieder dient Beethoven als Autorität; er habe im Schlusschor seiner Neunten Sinfonie ebenso keinen Wert auf die richtige Deklamation der Worte gelegt, sondern diese der Melodie, der reinen Musik entschieden untergeordnet (ebd., 122) – und auch wenn Beethoven Wagners Kunstideale in Wirklichkeit nur sehr rudimentär geteilt haben mochte, wie auch die wagnersche Betrachtungsweise alles andere als eine auch nur annähernd objektive ist, so leitet Wagner dennoch, fast schon selbstsuggestiv, aus Beethovens Werken und Ideen das eigene Idealmuster für die Stimmbehandlung ab: jene Verfahrensweise nämlich, die menschliche Stimme wie ein Instrument in den sinfonischen Instrumentalzusammenhang eines Werkes einzuweben. Dies kam denn auch im Parsifal extensiv zur Anwendung. Diese sinfonische Behandlungsweise der Gesangsstimme, eine im wahren Wortsinne zusammenklingende Art, Vokalmusik zu schaffen, die Wagner nirgends so konsequent verfolgte wie in seinem Bühnenweihfestspiel, sollte nicht unerwähnt bleiben.

Unzweifelhaft ist es, dass nach Wagners Selbstverständnis das Musikdrama nicht auf der Oper fußte, sondern vielmehr auf der Sinfonie Beethovens (vgl. Voss 1977, 39). Es stellt seiner Idee gemäß die wahre Vollendung der Sinfonie dar. Dies wird sogar daran deutlich, dass die Form seiner Musik nicht willkürlich gewählt sei (wie etwa bei instrumentalen Formen), sondern folgerichtig (auch) durch die Dichtung bestimmt und ästhetisch legitimiert werde, wie Voss (ebd., 179) bemerkt. Wie steht es aber mit der wagnerschen Ideologie – ist ihre Diagnose an so vielen Stellen des Lebenswerks nicht auch eine massive Vereinfachung der Wirklichkeit? Wie viel Wirklichkeit steckt in den wagnerschen Ideen? Ist vielleicht die Herleitung des Musikdramas von der Sinfonie tatsächlich nichts anderes als ein „großangelegter Legitimationsversuch“ des eigenen Lebenswerks, wie Egon Voss (ebd., 181) unterstellt, oder wurde die Musikphilosophie des Dichterkomponisten doch nach und nach zu einer Realität, die sich in den künstlerischen Arbeiten mehr als nur ansatzweise verwirklicht findet? Dem ist zweifelsohne so, denn die reale Auswirkung des sinfonischen Gedankens ist in fast allen Musikdramen Wagners wiederzuentdecken – in jeweils verschiedenem Maße und umso ausgeprägter, je älter Wagner wurde, je mehr ihm die Entfernung von der Operntradition nur allzu selbstverständlich vorkam. „Daß Wagner Techniken verwendete, die denen der beethovenschen Sonaten- und Symphoniedurchführungen zumindest verwandt sind, ist nicht zu leugnen [...]. Allgemein gesprochen werden also Themen und Motive durchgeführt, und – wie Carl Dahlhaus zeigt – lässt sich sogar bisweilen von »entwickelnder Variation« sprechen“ (Voss 1977, 157). Diese Gegebenheit der variativen Durchführung von motivisch-thematischem Material, die sich im Parsifal wie in keinem anderen Musikdrama vorfindet, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit näher beleuchtet werden.

Die Auswirkungen der beethovenschen Instrumentalmusik erstrecken sich jedoch ebenso auf Fragen der Gesamtkonzeption des Musikdramas. In keinen Fall zu gering veranschlagt werden darf die Tatsache, dass Wagner in einer Zeit, als dies noch lange nicht bindende Konvention zu werden schien, seine musiktheatralischen Werke strikt durchkomponierte, also über die zunehmende Überwindung beziehungsweise Verwischung der Grenzen jener konventionellen ‚Versatzstücke’ der Oper hinaus auch keinerlei gesprochenen Text mehr verwendete – und dies von seinen frühesten Opern an. (Eine Ausnahme bildet Das Liebesverbot, wobei selbst hier gesprochene Teile der Handlung bemerkenswert unbedeutend für das Ganze ausfallen – erstaunlich, zumal es sich um eine komische Oper handelt). Grundsätzlich erscheint bei Wagner jede einzelne Szene durchkomponiert. Wie in einer Sinfonie beherrscht die Musik das ganze Werk, sie bestimmt es – das gesamte Werk ist von der ersten bis zur letzten Minute Musik und selbst wenn einen Augenblick lang Stille herrscht, so ist dies eine genuin musikalische Stille, eine zum Werk gehörende und nicht eine jener Unterbrechungen der Musik, wie sie zwischen einer Applausarie und dem nächsten Abschnitt der Oper herrschen. Die Durchkomposition seiner Werke muss also bereits als ein deutliches Indiz dafür erkannt werden, dass Wagner eher sinfonisch als opernhaft dachte und zu komponieren strebte. – Schließlich war es auch nicht die Oper gewesen, die ihn von Jugend an begeistert und entscheidend beeinflusst hatte. Obgleich Wagner ein enormes Talent zum Theater besaß und, wie sich im Laufe seines Lebens immer wieder bewies, gerade die Wirkung von Bühnenstücken meisterlich beherrschte, so tendierte seine Haltung gegenüber der Oper oft gar zu einer dezidierten Verachtung. Dass er dennoch von der Operntradition seiner Zeit, der romantischen wie auch der französischen Grand Opéra, prägende Eindrücke erhielt, die sich natürlich vor allem in seinen frühen Werken, niederschlugen, ist bekannt. Wagners stets wertende Auffassung von Musik wurde jedoch nicht durch die häufig von ihm als „frivol“ abgetane Opernmusik bestimmt, sondern durch die Instrumentalmusik der Wiener Klassik und Beethovens (vgl. ebd., 13). Die enorme Bewunderung dafür und die Bekanntschaft mit Beethovens Sinfonien waren es gewesen, die Wagner in jungen Jahren entscheidend dazu bewegt hatten, Musiker, und zwar Komponist, werden zu wollen. Nicht mit Opernpartituren beschäftigte er sich freiwillig und enthusiastisch, denn in ihnen sah er vor allem das Theater präsent, die Musik aber nur zu einem dienenden Bestandteil degradiert. Opernmusik erschien Wagner deshalb als weniger wertvoll und künstlerisch erstrebenswert als die Art Musik, welche keiner visuellen Darstellung, keiner Bühne bedurfte, sondern für sich selbst stand, sich geheimnisvoll vor einem allzu schnellen Verständnis verschließend. Dass allerdings selbst Beethoven eine Oper komponiert hatte, dürfte in Wagners Denken eine eminent wichtige Rolle gespielt haben, besonders zu jener Zeit, als er es für angebracht hielt, sich selbst ernsthaft auf dem Gebiet des Musiktheaters zu betätigen. Die Werke der reinen Instrumentalmusik hatten jedoch schon denjenigen Zauber auf ihn ausgeübt, den ein begabter und anspruchsvoller junger Mensch empfindet, wenn er sich auf der Suche nach Werten zur Selbstdefinition befindet und plötzlich von etwas als wundervoll Erachtetem mit großer Begeisterung ergriffen wird. Anhänger und Verfechter dieses Bewunderten zu sein, galt auch dem sensiblen, musikalisch begabten jugendlichen Wagner als das höchste erstrebenswerte Gut. Die Vorstellung, vielleicht selbst einmal etwas Ähnliches wie das große Vorbild zu schaffen, mochte ihm als das vorerst noch lediglich im Traum zu erreichende Ziel erschienen sein. In einer Phase, die sich aus vielerlei Hinsicht prägend auf das ganze Leben auswirkte, trat der Sinfoniker Beethoven als der Heros, dessen musikalischem Wirken es entschieden nachzustreben galt, in das Leben des jungen Wagner. Dieser aber träumte nicht länger, sondern begann, den Traum vom Komponistendasein nun auch in der Realität zu verwirklichen und ihn beharrlich, schließlich auch mehr und mehr systematisch zu verfolgen. Die kalligrafisch angefertigten Partiturabschriften und der Klavierauszug der Neunten Sinfonie sind Zeugnisse für Wagners Wertschätzung dieser Musik – an Beethovens sinfonischen Instrumentalwerken bildete sich der zeitlebens beibehaltene Kern von Wagners Musikgeschmack aus. Seine musikästhetische Auffassungsweise übernahm er in weiten Teilen von E. T. A. Hoffmann. So dachte und empfand er in romantischen Kategorien, in die sich sein damaliges Idealbild von Beethoven und dessen Schöpfungen ausgesprochen passgenau einzufügen vermochte. Die Prägung war tiefgehend. Daher blieben es denn auch Beethovens Sinfonien, denen Wagner, nachdem er es aufgegeben hatte, Ähnliches schaffen zu wollen, immer wieder auf verschiedene Weise nachstrebte. Als seine eigene Veranlagung ihn aber auf das Gebiet des Musiktheaters geführt hatte, sich hier ein erster Erfolg einstellte und er sich mehr und mehr damit abfand, kein reiner Instrumentalkomponist sein zu können (was ihn bis zu seinem Lebensende nie vollends losließ), trat zu dem Streben, Beethoven und dem sinfonischen Stil in eigenen Werken nachzueifern, die Vorstellung hinzu, an das Verehrte anzuknüpfen, es fortzusetzen. Mithilfe seiner bereits vorhandenen, genauen Kenntnis dieses Vorbilds waren nun Kunstwerke zu schaffen, die – als würdige Erben – das von Beethoven Begonnene fortsetzen und künstlerisch vollenden sollten! Gerne wäre Wagner selbst Sinfoniker gewesen, doch hatte er in vielen Einzelkünsten und Einzeldisziplinen ein enormes Talent, zu keinem aber ein absolut überragendes. Wagner selbst bemerkte mit der Erfahrung des Alters einmal zu Cosima, dass zwar Beethoven ihn entscheidend beeinflusst habe, dass er jedoch auch „vereinzelte geniale Züge bei dramatischen Vorgängern wie selbst Auber, indem ich an etwas andrem mich hielt als die Oper“ (CTB, 09. 12. 1880), verwendet und erweitert habe. Woran aber orientierte er sich in diesen Fällen? – an nichts anderem als am echt Dramatischen und Instrumentalmusikalischen bei diesen Komponisten, hierunter fällt übrigens auch Weber. Wagners Veranlagung zu vielen verschiedenen Dingen und nicht zuletzt sein allgemeiner Enthusiasmus trieben ihn dazu, sich auf mehreren Gebieten gleichzeitig zu betätigen. Unter anderem deshalb schuf er nur wenig reine Instrumentalmusik. Er schätzte sich selbst realistischer ein als zu vermuten wäre: als die ideale Kombination aus Dichter und Musiker – nur in der Verbindung von beidem sah er sich selbst als bedeutend an. Wer im Schöpfer der Musikdramen lediglich den Komponisten sehen will, dem muss entgegengehalten werden, dass Wagner oft genug das Verlangen zum talentierten Dichten hegte, wie auch zuweilen musikalische Selbstzweifel durchschimmerten[2]. Fast schon ‚kompensatorisch’ möchte man es nennen, wenn aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet wird, dass Wagner stattdessen danach strebte, seine Musiktheaterwerke sinfonisch zu gestalten. Seine spezifische Stärke erkannte Wagner ganz richtig in einem Konglomerat aus jenen zwei Tätigkeiten: „Die Hauptsache ist, daß man außerordentlich sei. Bei mir ist der Akzent auf die Vereinigung des Dichters und des Musikers zu legen, als bloßer Musiker hätte ich nicht viel zu bedeuten“ (ebd., 16. 08. 1869), brachte er sich selbst auf den Punkt. Doch nicht nur auf die Verbindung von Einzelkünsten legte der überreich theoretisierende Kunstschöpfer Wert, sondern auch auf das Umfassende seiner Bestrebungen; und dementsprechend versuchte er sich zu definieren: als Dramatiker nämlich. „Darum muß das Drama eintreten; ich bin kein Dichter, und ist es mir ganz gleich, ob man meiner Diktion Vorwürfe macht, bei mir ist alles Aktion [...]. Der Dichter ist neben Musiker, Maler, Plastiker ein Unding, nur der Dramatiker kann da aufkommen“ (ebd., 22. 01. 1871). Das Drama als Gesamtkunstwerk verstanden war es, was Wagner, wie bereits bemerkt, von Grund auf anstrebte. Auch wenn er in erster Linie auf die Musik Wert gelegt haben mochte, so war es bei der Verwirklichung seiner Anlagen doch nur die Kombination, in der er sich selbst realistischerweise als außerordentlich einschätzte. – Die Frage nun, warum Wagner von Beginn an plante, Vokalmusik zu schaffen und andere Bestrebungen relativ schnell aufgab beziehungsweise ihnen kaum Raum ließ, ist nur unter Berücksichtigung seiner ästhetischen Prägungen während der Sozialisation zu beantworten. Grundsätzlich war seine Auffassung von Musik stark am Gesang orientiert. Das lag zum einen an den Tätigkeiten einiger seiner Geschwister, zum anderen auch daran, nie über einen längeren Zeitraum eine geregelte Instrumentalausbildung genossen zu haben. Wichtiger jedoch ist zu veranschlagen, dass seine Idee vom Gesang ihm gefühlsmäßig als ein zentrales Beurteilungskriterium für fast jede Art Musik galt. Die potenzielle Verwendbarkeit einer an exponierter Stelle gebrauchten Melodie für den Gesang erschien ihm überaus bedeutsam, woraus er sogar eine allgemeine Forderung nach Sangbarkeit formulierte: „Überall in der Musik muß man nach dem Gesang sehen, wo keiner zu finden ist, ist die Musik schlecht“ (ebd., 13. 11. 1873). Die besagten zwei Seelen schien Beethoven in seiner Neunten Sinfonie vereint zu haben – oder waren sie umgekehrt für Wagner daraus entstanden? Der Gesang – verbunden mit sinfonischer Instrumentalmusik – das war es, was Wagner bewunderte und selbst anstrebte. So war er auch dank Beethoven nicht vorwiegend Instrumentalkomponist und ebenso kein reiner Opernkomponist geworden, denn in seinem Denken blieb es die Sinfonie, die den Höhepunkt der reinen Instrumentalmusik darstellte, das ästhetische Vorbild wie auch die historische Vorstufe seines musikalischen Dramas (Voss 1977, 154). Als weitere Wurzel aber ist der Gesang nicht zu unterschätzen; und dies war für ihn nicht in erster Linie der opernhafte. – Als ein reiner Instrumentalkomponist wäre Wagner zuletzt auch deshalb nicht denkbar gewesen, weil ihn seine charakterliche Veranlagung und sein weit gefächertes Interesse stets an diversen Dingen teilhaben und in fast alles eingreifen ließen. Genial war Wagner letztlich in einem: dem Zusammenfügen von Verschiedenem – darin brachte er es zu einer Meisterschaft, die bis heute ihresgleichen sucht. Das Ergebnis waren Kunstwerke, die tatsächlich mehrere Einzelkünste, wenn auch nicht in der jeweils möglichen, edelsten Ausbildung, so doch in einer erstaunlichen Qualität miteinander verbanden. Das Gesamtkunstwerk ist nicht bloß ein leerer, von Wagner zu Zwecken der Selbstlegitimierung benutzter Begriff, sondern erhält seine eigene Berechtigung sowohl im Nachhinein vom fertigen Kunstprodukt, wie auch durch dessen geistige und ästhetische Entstehungsumstände.

Aus der Vereinigung von Einzelkünsten also entstand das Musikdrama. Eine Abkehr Wagners davon konnte folglich nur eine Hinwendung zur wiederholten Vereinzelung der Künste bedeuten; und diese äußerte sich im erneuten Aufkommen des Sinfonienwunsches. – Geht man nur vom Namen „Musikdrama“ aus, wäre zu schlussfolgern, dass der Musik darin ein gewisses Übergewicht zukommen müsse. Die Frage nach der Gewichtung der einzelnen Künste im Gesamtkunstwerk war für Wagner eine bedeutende, denn was im Schaffensprozess zuerst entstand, musste bei ihm nicht das sein, woran er sich im Weiteren orientierte. Welchem Bestandteil schließlich im fertigen Kunstwerk die größte Bedeutung zukam, war eine andere Frage. Schopenhauer half in letzterem Punkt weiter, denn dessen Metaphysik der Kunst lässt keinen Zweifel, dass die Musik jene Kunst sei, die alle anderen in sich einschließe. Das war es, was Wagner unbewusst gesucht hatte und wodurch er sich deshalb im Nachhinein bestätigt fühlte. Als er später Oper und Drama (das ja noch vor der Kenntnis von Schopenhauers Werk entstanden war) für die Gesamtausgabe seiner Schriften redigierte, bemerkte er zu Cosima: „Ich weiß, was Nietzsche darin nicht paßte, das ist auch das, was Kossak aufnahm und Schopenhauer gegen mich aufbrachte, was ich über das Wort sagte; damals wagte ich noch nicht zu sagen, daß die Musik das Drama produziert habe, obgleich ich es in mir wußte“ (CTB, 11. 02. 1872). Diese zentrale Aussage, dass Wagner schon zur Zeit der Entstehung von Oper und Drama die Ansicht vom Primat der Musik über das Wort gehabt, dies jedoch noch nicht auszusprechen gewagt habe, zeigt, was ihm zumindest ab 1854 auch theoretisch bedeutsam erschien und sein ästhetisches Denken prägte. Dass die Musik dem Wort Untertan sei, war seitdem eine für Wagner absolut unzulässige Ansicht. In der gedanklichen Gewichtung kam der Musik im Gesamtkunstwerk nun eindeutig die Hauptrolle zu. Davon geprägt erscheinen auch die spätere Auffassungsweise und alle Aussagen Wagners über der Ästhetik des musikalischen Dramas.

„Ich glaube erklären zu dürfen, daß mit dem vollen Ernste in der Erfassung der Tragödie und der Verwirklichung des Drama’s durchaus neue Nothwendigkeiten für die Musik hervorgetreten sind [...]“ (Anwendung der Musik, 179). Als Wagner diese Worte 1879 – im Jahr des Abschlusses der Kompositionsarbeiten am Parsifal und des Beginns mit der Partitur – schrieb, hatte er jene selbst beschworenen „neuen Nothwendigkeiten“, darüber war er sich im Klaren, auf die mittleren seiner musikalischen Dramen bereits angewandt. Er fasste in gewisser Weise zusammen, was sich über eine lange Zeit bei ihm als Komponist entwickelt hatte. Schon sieben Jahre zuvor hatte er im Epilogischen Bericht zum Ring des Nibelungen (Epilogischer Bericht, 266) geschrieben:

„Mit dem »Rheingold« beschritt ich sofort die neue Bahn, auf welcher ich zunächst die plastischen Natur-Motive zu finden hatte, welche in immer individuellerer Entwickelung zu den Trägern der Leidenschafts-Tendenzen der weitgegliederten Handlung und der in ihr sich aussprechenden Charaktere sich zu gestalten hatten.“

Was genau aber bezeichnet Wagner mit dem Ausdruck der „plastischen Natur-Motive“? Einen möglichen Hinweis zur Antwort gibt er selbst und Cosima hält diesen fest: „mit Freude an Marke [gemeint ist hier Wagners Hund], den er ein >Ur-Thema der Natur< nennt, >ohne jede Verzierung<“ (CTB, 25. 08. 1881). Aus diesem Vergleich ist zu schließen, dass Wagner auch in seiner Hauptbeschäftigung, der Musik, archaische, also ganz ursprüngliche und somit unverzierte sowie noch nicht entwickelte „Ur-Themen“ kannte. ‚Themen’, die im wahren Wortsinne einfach nur hingesetzt wurden, jedoch zu dem gehörten, was man als musikalische Vorgeschichte des Werks bezeichnen könnte. Mit den Natur-Motiven sind daher auch jene Ur-Motive gemeint, die er zu Beginn beziehungsweise noch vor der eigentlichen Kompositionsphase erfand und aus welchen sich alle weiteren Themen und Motive für die Musik des Dramas speisten – sich ableiten oder entwickeln ließen. Dieses zu Anfang festgesetzte musikalische Material oder zumindest die Idee davon musste sich vor allem durch Ursprünglichkeit, das heißt Einfachheit, auszeichnen, damit es den wechselnden Anforderungen im nach und nach entstehenden Entwicklungsdrama gewachsen sein würde. Es bildete für Wagner eine Art musikalische Grundlage des Werks, daher „hat es entsprechend elementar zu sein“ (Roch 2004, 244), seine Beschaffenheit war von möglichst simpler Struktur (um das Paradebeispiel zu nennen: wie die Dreiklangsbrechungen des Rheingold -Vorspiels, in welchem Wagner über die gesamte Länge nicht einmal das Es-Dur verlässt) – denn je weniger charakteristisch, je weniger bereits in eine spezifische Richtung vorgeprägt, festgelegt und je kürzer eine musikalische Figur gehalten ist, als desto größer erweist sich ihr Potenzial zu einer vielfältigen weiteren Entwicklung, was den musikalischen Verlauf im Ganzen nur unterstützt. – Zu untersuchen ist nun im Weiteren, ob sich die von Eckhard Roch für den Ring des Nibelungen geäußerte These, dass motivisch-thematische Arbeit mit jenen Ur-Motiven bei Wagner abstrakt und als Vorarbeit stattfinde – mit Hinblick auf das später folgende Komponieren, auch für die Musik des Parsifal bestätigen lässt. Wie Wagners motivisch-thematische Vorarbeit in Gestalt eines Albumblatts aus dem Umkreis des Großen Festmarschs aus dem Jahre 1876 aussah, das einen Teil der Blumenmädchenszene vorwegnahm, und wie Wagner etwa mit wichtigen Themen schon vor der Komposition der Meistersinger umging, wird diesbezüglich entscheidende Hinweise geben. Es bleibt weiterhin zu untersuchen, ob sich auch werkimmanent Spuren von Ur-Motiven in den ‚fertig’ entwickelten Themen identifizieren lassen.

Trotzdem nun Wagner das Musikdrama als den legitimen Nachfolger der Sinfonie (Beethovens) propagierte und seiner Theorie gemäß mit dem Erreichten hätte zufrieden sein müssen, blieb bei ihm jener Wunsch nach Sinfonien bestehen beziehungsweise tauchte am Ende seines Lebens verstärkt wieder auf – und dies, obwohl er die Sinfonie durch Beethoven ‚offiziell’ als erschöpft ansah. Gerade in den letzten Jahren seines Lebens tendierte Wagner erneut zur Gattung der Sinfonie, das schlägt sich in seinen Schriften, in seinen Äußerungen aber auch in seinen musikalischen Einfällen nieder. War es nun aber tatsächlich die Sinfonie selbst, die Wagner als nicht mehr ‚komponierbar’ erachtete? Die Frage muss eher verneint werden; was er wirklich als ausgereizt betrachtete, war stattdessen die Sonatenhauptsatzform. Diese konnte für ihn demnach nicht mehr das Wesen zukünftiger Sinfonien ausmachen, sein Verständnis vom Sinfonischen zielte auf andere Aspekte der Musik ab. Dieses Verständnis aber war geleitet und geprägt von Wagners Art der Anwendung der Musik auf das Musikdrama – und hier war es das Gewebe von musikalischen Themen, etwas noch Ursprünglicheres also als die Sonatenhauptsatzform, das nicht nur die Einheit des gesamten Kunstwerks verbürgte, sondern auch einen Teil des Sinfonischen in der Musik des Musikdramas ausmachte. Es wäre jedoch ein Fehlschluss, daraus ableiten zu wollen, dass wiederum ein solches musikalisches Geflecht mit allen seinen vom Drama mitmotivierten Modulationen und Motivkombinationen auf die Sinfonien, wie Wagner sie sich vorstellte und zu komponieren wünschte, einfach hätte übertragen werden können. Vor einer solchen Übertragung schreckte Wagner im Gegenteil sogar zurück (vgl. Anwendung der Musik, 190f.). Doch sei nun zunächst benannt, warum Wagner den Sonatenhauptsatz für Sinfonien seiner Gegenwart als unzulässig erachtete und ebenso für etwaige Sinfonien der Zukunft verwarf. Er sah dieses Konzept nicht nur sachlich als ein überkommenes und veraltetes Formmodell an, sondern polemisierte wie so oft auch dagegen: die Sonatenhauptsatzform wurde auf diese Weise zu einer jesuitischen, die Freiheit des Komponisten beschränkenden Konvention, deren Überwinder natürlich kein Geringerer als Beethoven gewesen sei. „Ja, die anderen Meister waren in der Konvention noch befangen; der jesuitische Stil, der sich auf die Architektur ausprägte, hat auch die Sonatenform gegeben, und Mozart war zu leichtsinnig, um die Konvention gänzlich zu brechen“ (CTB, 11. 03. 1873), bemerkte er einmal im Gespräch. Wagners Vorstellung von Sinfonien tendierte stattdessen zu etwas Ursprünglicherem, das von der Idee her freilich auch im Sonatensatz enthalten war, diesen jedoch nicht entscheidend bestimmte. Es war viel mehr etwas archaisches, nur vom dramatischen Gedanken geprägtes Sinfonisches, worauf es Wagner ankam: „»Symphonische Dialoge« würde er seine Symphonien nennen, denn die vier Sätze im alten Stil würde er nicht komponieren, aber ein Thema und Gegenthema müsse man haben, miteinander reden lassen. Die ganze Symphonie von Brahms habe das nicht“ (ebd., 22. 09. 1878). Bei der Gelegenheit eines Kanons zwischen Parsifal und Kundry trug Wagner sich mit solcherlei Gedanken. Mit Gedanken an Sinfonien, die lediglich noch aus zwei Elementen, Kopf- und Seitenthema bestehen sollten, was er ganz dramatisch als ‚dialogisch’ bezeichnet. Gerade die oft noch vom Dramatischen mitdeterminierte musikalische Arbeit am Parsifal ließ ihn auch in der Folgezeit (vgl. auch ebd., 17. 10. 1878) immer wieder den Wunsch nach schlicht strukturierten, heiteren Sinfonien hegen, in denen er einige seiner zahlreichen musikalischen Einfälle hätte verarbeiten können. Jedoch verwarf er das überkommene Formmodell noch nicht ganz – eine Art Rückkehr zum Sonatenhauptsatz, der jedoch nicht mehr das bestimmende Prinzip gewesen wäre, bildete eine weitere Option innerhalb Wagners Sinfonienästhetik. So sprach er sich auch für einsätzige Sinfonien aus, die nunmehr aus einem ideellen Sonatenhauptsatz bestehen und dessen Bestandteile dann die Sätze der neuen Sinfonie werden sollten (ebd., 18. 10. 1878). Auch auf diese Weise versuchte Wagner, die Gattung der Sinfonie erneut zu legitimieren: er suchte sie von ihrem überkommenen Formschema zu befreien, indem er zwar darauf zurückgriff, es jedoch neuartig zu behandeln gedachte. Als zentral muss dabei bemerkt werden, dass die Keimzelle solcher Sinfonien nicht etwa in überkommenen Gattungen wie dem Marsch oder gewissen Tänzen zu suchen gewesen wäre, sondern lediglich in einem oder zwei musikalischen Themen beziehungsweise Motiven. Aus solchen Überlegungen Wagners tritt deutlich sein ausgeprägter musikalischer Freiheitsdrang zutage, der vom Drama, das ihn zwar entscheidend zur Komposition inspirierte, allzu oft eingeschränkt wurde. Häufig beklagte er es, dass der durch eine Dichtung zu verfolgende Plan ihn zu schaffen mache. Lieber wolle er frei schaffen, lediglich nach seinen Einfällen komponieren und nicht fortwährend musikalisch-dramatisch arbeiten, was ihm nicht selten Mühe bereitete. „Ich möchte Symphonien schreiben, wo ich schreiben könnte, was mir einfällt, denn an Einfällen fehlt es mir nicht. [...] Ich würde zur alten Form der Symphonie zurückkehren, in einem Teil mit einem Andante als Mittelsatz; die viersätzige Symphonie kann man nach Beeth. nicht mehr schreiben, alles scheint ihm dann nachgemacht, z. B. wenn man so ein großes Scherzo schreibt“ (ebd., 19. 11. 1878). Offenbar fielen ihm gerade während der Komposition am Bühnenweihfestspiel immer wieder jene melodischen Wendungen ein, die er als Sinfoniethemen zu bezeichnen pflegte und die er nach Abschluss seines letzten Musikdramas auch dementsprechend zu verwenden gedachte. Egon Voss bemerkt zu den zahlreichen Skizzen von einzelnen Themen und Motiven aus den letzten zehn Jahren von Wagners Leben, dass es durchaus plausibel erscheine, einige davon als Material für geplante Sinfonien zu identifizieren (Voss 1977, 114). Dies unterstützen Wagners eigene Äußerungen gegenüber seiner Vertrauten Cosima nachhaltig. Intensiv beschäftigte er sich mit dem Gedanken einer ‚Sinfonie der Zukunft’ und fest stand für ihn dabei, dass all jenes, das zu sehr an sein großes Vorbild Beethoven erinnern würde, dabei nicht in Betracht kommen konnte. Zudem ging sein Verlangen in eine andere Richtung, bei der vielmehr das Musikalische an sich im Vordergrund stehen sollte, das an keinerlei Schema oder Konvention mehr gebunden gewesen wäre. Etwas wie eine anspruchsvolle musikalische Freiheit war es, die Wagner als Traumbild vorschwebte. Eine Freiheit beim Komponieren, deren Ergebnis eine gewisse Komplexität – ein sinfonischer Anspruch gewesen wäre, den er etwa beim bloßen Phantasieren unmöglich zu realisieren vermochte. Aus dieser ästhetischen Motivation heraus wollte er Sinfonien komponieren – auf eine Weise, die unter wenig Arbeitsaufwand für ihn selbst dennoch sein ‚Genie’ zum Vorschein kommen und seinen Nachruhm mitbegründen können würde. Eine letzte Entwicklungsstufe in Wagners Vorstellung von zu komponierenden Sinfonien bildete dementsprechend eine Form, in welcher er – vom Sonatenhauptsatz ganz zu schweigen – nicht einmal mehr den Dualismus zweier Themen verarbeiten wollte. Nachdem er 1878 noch von (bereits einsätzigen) Sinfonien gesprochen hatte, bei denen die klassische Viersätzigkeit aufgegeben worden wäre, die aber wenigstens Thema und Gegenthema enthalten hätten, findet man 1882 und 1883 Aussagen darüber, dass er nun sogar monothematische Sinfonien plane, die sich auf lediglich ein Thema, eine einzige Melodie beschränken sollten. In ihnen wäre der melodische Faden dann ausgesponnen worden, bis er tatsächlich erschöpft gewesen wäre. Zu Franz Liszt bemerkte er: „Wenn wir Symphonien schreiben, Franz, nur keine Gegenüberstellungen von Themen, das hat Beeth. erschöpft, sondern einen melodischen Faden spinnen, bis er ausgesponnen ist; nur nichts vom Drama“ (CTB, 17. 12. 1882). Alles Dramatische schien ihm lästig geworden zu sein und so sehnte sich Wagner nach der ultimativen musikalischen Freiheit, bei der ihn keine Konvention und keine Regel mehr einzuschränken vermochte – in der nur noch das hätte verwirklicht werden müssen, was ihm leicht und freudvoll von der Hand ging. Die eine Melodie, die er in einer solchen einsätzigen Sinfonie ausspinnen wollte, war für ihn das rein Musikalische – und ihre Verarbeitung das Sinfonische. In solchen einsätzigen Sinfonien hätte der letztlich dennoch bewunderten freien Improvisation ein ungleich größeres Gewicht zufallen können als in allen Gattungen, die Beethoven oder Wagner kompositorisch bedienten. Der bloß musikalische, unmittelbar verständliche Ausdruck wäre ins Unermessliche gesteigert worden. Dies war zweifellos einer der späten Träume Wagners – ein Traum, der nicht nur wegen der Kürze eines Menschenlebens, sondern auch aufgrund seiner Idealität Traum bleiben musste. Das wohl letzte Zeugnis dazu vertraut Cosima genau einen Monat vor Wagners Tod in Venedig ihrem Tagebuch an (ebd., 13. 01. 1883):

„Und dann später, wie er in seiner Stube ist, höre ich ihn auf dem Klavier sanft spielen, die schwankenden Gestalten nahen wieder, er sagte gestern, seine Symphonien würden eine Melodie, in einem Satz ausgesponnen, und er spielt des öfteren heute eine eigne Melodie im englischen Volkston, welche ihm durch den Sinn gekommen.“

Wohl aber spürte und wusste Wagner für sich, dass dieses Ausspinnen melodischer Fäden nirgends so gut und legitim zu verwirklichen war wie in seinem Musikdrama, wo er dies bereits angewandt hatte. Besonders im Werkverlauf des Parsifal findet sich diese Art der Themenbehandlung – und dies nicht nur auf eine einzige Melodie beschränkt[3].

Grundlegend für seine späten ästhetischen Ansichten, besonders zu Zeiten des Parsifal, war das bereits erwähnte Religiös-Kultische. In ihm lag für den alten Wagner nicht nur das mystisch Bedeutungsvolle, von dem er sich zeitlebens stark angezogen fühlte, sondern nichts weniger als die Wurzel des Kunstwerks. Direkt und unmittelbar vom Menschen gesungene, nichts Weiteres darstellende Klänge waren für ihn die eigentliche, echte Musik – im Übrigen auch ein Grund dafür, dass er sich später Bach von allen Komponisten vor ihm am ehesten verbunden fühlte. Sehr deutlich tritt die Hochschätzung der unmittelbaren, kultischen Musik bei einem Erlebnis der Familie Wagner in Neapel zutage. Man hörte ein Chorwerk von Leonardo Leo, das eine „[f]urchtbar erhabene Wirkung“ gehabt habe (ebd., 25. 03. 1880); dazu bemerkte Wager: „Es ist dies die eigentliche Musik, neben welcher alles Spielerei ist“ und er fühlte sich durch sie an den Parsifal erinnert. Die Idee des Naiven, Echten und Direkten war in seinem Denken zentral verankert und gewann zunehmend an Bedeutung. Nachdrücklich zog er es der Konvention, Etikette und dem unnötig Komplizierten vor. Im Einfachen, teils Volkstümlichen, lag für Wagner das Wertvolle und die Weisheit. Er bewunderte das Naive weit mehr, als er es selbst in seinen Kunstprodukten erreichen konnte. Wichtig aber war ihm die Abgrenzung zu etwas; schon immer zuwider gewesen waren ihm „ekelhafte Konvention, Hofetiquette usw.“ (ebd., 07. 02. 1870) – und je älter er wurde, desto mehr störte ihn all dies in erster Linie auf der Ebene des künstlerischen Stils. Mozart schätze er für dessen einfach konstruierte Sinfonien und die „unendlich frei“ erscheinende Melodik (ebd., 08. 02. 1870), nicht aber für sein Virtuosentum. Auch seine eigenen Sinfonien hätten schlicht werden sollen (vgl. ebd., 04. 02. 1879), hauptsächlich was die Struktur anbetraf. Keine unmotivierten Kühnheiten konnte sich Wagner in einer eigenen späten Sinfonie vorstellen und tatsächlich erweisen sich seine Instrumentalwerke, so gut gemacht etwa das Siegfried-Idyll oder selbst die Märsche auch sein mögen, als nicht besonders innovativ. Höchst bedeutsam wäre es gewesen, inwiefern sich dies in späten Sinfonien verändert hätte oder ob tatsächlich das Drama es war, das Wagner zu seinem Können angemessenen, originellen Kompositionen inspirierte. – Die Einfachheit nun fand auch im Parsifal ihren Niederschlag, auf signifikante Weise etwa in der Instrumentierung, die Wagner bewusst schlicht, naiv und weihevoll gestaltete. Aus der im Vergleich zum Ring -Orchester deutlich kleineren Besetzung wurden alle Entlegenheiten oder gar Absonderlichkeiten getilgt. Überhaupt unterscheidet sich das Alterswerk in vielen musikalischen Aspekten stark vom vermeintlichen Hauptwerk. Mehr denn je strebte Wagner eine heilige Naivität anstatt einer gewissen Sentimentalität an, ebenso eine Reinheit, die dem Ritus, wie er ihn vor Augen hatte, Not tat. Ein großes Selbstkompliment machte er sich, indem er über den Parsifal bemerkte: „Alles ist direkt! “ (ebd., 27. 04. 1879). Auch was die Tonarten betraf, ging es Wagner nie um das Prinzip „Variatio delectat“, sondern auf die Echtheit und Einheit im Musikalisch-Dramatischen kam es ihm an, was aus vielen Äußerungen auch aus der Zeit des Parsifal hervorgeht (etwa ebd., 07. 10. 1877, kurz nach der Komposition Vorspiels). Wo keine Modulation erforderlich war, da modulierte Wagner auch nicht, er tat nichts Unmotiviertes. Einen umso größeren Wert dagegen legte er auf Modulationen und Übergänge, wenn sie sich im Kunstwerk als notwendig erwiesen[4]. Dass es ihm dabei offenbar darauf ankam, besonders die Spuren der kompositorischen Arbeit zu verwischen, zeugt nicht nur von einer hohen Gewissenhaftigkeit, sondern auch von einem äußerst treffsicheren Geschmack. Die Einheit des Ganzen, auch die qualitative, nahm bei Wagners Tätigkeiten stets eine zentrale Stellung ein. – Signifikant bei der Komposition des Parsifal ist nun, dass Wagners die musikalische Formenlehre betreffenden Einfälle mehr denn je auf Bach hinweisen. So war im Rahmen der Komposition beispielsweise auffällig oft von Kanons die Rede, so im zweiten Aufzug von einem zwischen Parsifal und Kundry (ebd., 04. 07. 1878), aber auch im dritten Aufzug. Eine Aufzeichnung der Chronistin während der Arbeit an der Instrumentationsskizze lautet: „R. hatte eine gute Nacht und arbeitet (von Bleistift in Tinte), er sagt, ich würde mich über seinen Kanon wundern“ (ebd., 02. 02. 1879).

[...]


[1] Wobei es nicht sicher erscheint, ob Wagner in dieser autobiografischen Schrift tatsächlich (nur) auf sich selbst anspielte! Gerade angesichts des „R“ als offenbarem Anfangsbuchstaben eines Familien namens, erscheint die Annahme begründet, dass es ihm wichtig war, lediglich bei der Andeutung zu bleiben. Auf die mögliche weitere Bedeutung weist eine Anmerkung in den Cosima-Tagebüchern zum 02. 10. 1878 (S. 1163) hin, wo die These vertreten wird, dass Johann Friedrich Reichardt (1752-1814) gemeint sei, deutscher Kapellmeister und Verfasser von Vertraute Briefe, geschrieben auf einer Reise nach Wien und den österreichischen Staaten zu Ende des Jahres 1808 und zu Anfang 1809 – darin finden sich Erinnerungen an Beethoven.

[2] „Ach! Ich bin kein Komponist“, sagte Wagner einmal zu Cosima (CTB, 31. 01. 1870), „nur so viel wollt ich erlernen, um Leubald und Adelaïde zu komponieren; und so ist es geblieben, nur die Sujets sind anders geworden.“ – Besonders was das Modulieren und Transponieren bei der Komposition anlangte, zweifelte Wagner immer wieder, oft jedoch auch mit sich kokettierend, an seinem musiktheoretischen Können (vgl. ebd., 13. 01. 1878), so auch während der Komposition am ersten Aufzug des Parsifal. Cosima hielt fest: „Ich frug ihn (gestern), ob er die Federskizze des ersten Aktes P. brauche: »Nein, denn ich bin so ein Schafskopf, ich kann nicht transponieren, ich gehe immer nach dem Klang, niemals nach einem abstrakten Wissen. [...]“ (ebd., 11. 03. 1878); und wirklich komponierte Wagner ausschließlich am Klavier.

[3] Solcherlei Vorstellungen ist im Übrigen auch Wagners eigene Erfindung der unendlichen Melodie gedanklich verwandt, die er als Einheit stiftendes Moment im Musikdrama betrachtete. Nicht das Klingen vom Beginn bis zum Schluss ist damit vordringlich gemeint, nicht das durchkomponierte Kunstwerk, sondern die Kunst des feinen Übergangs, Wagners Sequenzierungs- und Trugschlusstechnik. Ebenfalls dadurch berührt wird die Idee, dass alles motivisch-thematische Material aus nur einem einzigen Ursprungsthema entkeimt, was Wagner gedanklich von Beethoven ableitete. Es handelt sich also um die Vorstellung eines in hohem Maße Einheit stiftenden Prinzips, das in der Wagnerschen Arbeitsweise und Komposition, wenn auch nicht vollkommen verwirklicht, so doch zumindest in Ansätzen wiedergefunden werden kann.

[4] Dies illustriert eine Äußerung aus der Zeit der Komposition am dritten Aufzug des Parsifal: „Ein paar Takte sind es manchmal, die einen furchtbar aufhalten, bis die Tonart, die man braucht, eingeführt ist, so daß sie nichts Auffallendes hat, denn immer mehr scheue ich mich vor allem, was als Seltsamkeit und Grelles wirkt; nun stellen sich gleich vier bis fünf Möglichkeiten vor, bis ich die gefunden habe, welche sanft überleitet! Da richte ich eine Falle, gebe mich mit Dummheiten ab, bis es gefunden“ (CTB, 29. 11. 1878). Es wird deutlich, dass Wagner gerade auf das, worin er sich nicht am sichersten fühlte (aber dennoch beherrschte!), besonders großen Wert legte, was zweifellos die konstant hohe Qualität seiner Werke mitbegründet.

Ende der Leseprobe aus 109 Seiten

Details

Titel
Absolute Musik im Gesamtkunstwerk?
Untertitel
Sinfonische Strukturen in Richard Wagners "Parsifal"
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Institut für Musikforschung)
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
109
Katalognummer
V169902
ISBN (eBook)
9783640883868
ISBN (Buch)
9783640883493
Dateigröße
871 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Richard Wagner, absolute Musik, Gesamtkunstwerk, sinfonische Strukturen, Parsifal, Bühnenweihfestspiel, Musikwissenschaft, Komposition, Drama, Leitmotiv, Sinfonie, musikalische Analye, autonome Musik, Musikdrama, Oper, Durchführung, Theatermusik, Johann Sebastian Bach, Kontrapunkt, Harmonik, Instrumentation, Arbeitsweise, Schaffensprozess, Chromatik, Diatonik, Tonartencharakteristik, Hans von Wolzogen, Cosima-Tagebücher, musikalische Textur, Instrumentalmusik
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Hans Gebhardt (Autor:in), 2010, Absolute Musik im Gesamtkunstwerk?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169902

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