Alkohol, eine anerkannte Volksdroge und ihre Widersprüche


Bachelorarbeit, 2010

65 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Methode und Ziele
1.1.1 Definition Drogenmissbrauch/Abhängigkeit nach ICD 10
1.1.2 Empfehlungen zum Alkoholkonsum
1.1.3 Sicht eines Alkoholtherapeuten
1.1.4 Diagnose „Alkoholismus“ in einer Trinkerkultur
1.2 Zur Historie des Alkohols
1.2.1 Alkohol − Krisen im Zuge „des Fortschritts“
1.2.2 Alkoholabhängigkeit − ein Problem der Moderne?
1.2.3 Alkoholkulturen im Vergleich
1.3 Erklärungsansätze für Suchtverhalten und Drogenkonsum
1.3.1 Neurobiologische Grundlagen der Drogensucht
1.3.2 Neurophysiologische Wirkung des Alkohols im Gehirn
1.3.3 Entstehungsprozess von Entzugssymptomen und Toleranzentwicklung

2 Deutschland − eine gestörte Alkoholkultur und ihre Früchte
2.1 Klassifikationen der Drogen im politischen und sozialen Kontext
2.1.1 Folgen einer ambivalenten Drogenklassifikation
2.1.2 Co-Faktoren, die eine ambivalente Drogenklassifikation begünstigen
2.2 Alkoholexzesse ohne Altersgrenzen
2.2.1 Alkoholexzesse als gesamtgesellschaftliches Problem
2.2.2 Motive und Ursachen für Alkoholexzesse Jugendlicher
2.2.3 Rauschtrinken unter Jugendlichen − ein soziologisches Phänomen
2.3 Modifizierte Präventionsmaßnahmen
2.3.1 Prävention in Zusammenarbeit mit der Alkoholindustrie
2.3.2 Ambivalente Verstrickung zwischen Regierung und Alkoholwirtschaft
2.3.3 Beurteilung der Präventionsmaßnahmen im politischen und sozialen Kontext

3 Interpretation eines volksumfassenden Alkoholkonsums/ -missbrauchs
3.1 Neurobiologische Perspektive
3.1.1 Funktion „körpereigener Drogen“ vs. Funktion „exogener Drogen“
3.1.2 Psychologische Perspektive
3.1.3 Soziologische Perspektive
3.2 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Internetverzeichnis

1 Einleitung

Die Volksdroge Alkohol ist wohl mit keiner anderen legalen oder illegalen Droge in Bezug auf die Verbreitung ihres Konsums, ihrer Beliebtheit und ihren Folgen vergleichbar, aber auch in Bezug auf gesellschaftliche und politische Widersprüche stellt sie ein singuläres und in dieser Arbeit genauer zu untersuchendes Phänomen dar (vgl. Kapitel 2.1). Vor allem der moderate Konsum alkoholischer Getränke (der am weitesten verbreitet ist) wird in der Bundesrepublik Deutschland nicht als ein Drogenmissbrauch, gesundheitsschädigender Einfluss oder als eine vermeidbare Gewohnheit betrachtet, sondern als ein legaler und unerlässlicher Bestandteil gesellschaftlichen Lebens mit harmloser bzw. sogar positiver Wirkung bei geringen Mengen (vgl. Kapitel 1.1.4 u. 2.1.1 u. 2.1.2 u. 3.2).

Alkohol gilt als die beliebteste Droge unter Jugendlichen (vgl. Bätzing 2009: 12), aber auch unter Erwachsenen in allen Altersklassen. Dieser Fakt spiegelt sich u.a. in den statistischen Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums sowie denen des Statistischen Bundesamtes wider, welche die Folgen dieser beliebten Volksdroge dokumentieren (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2009).

Dabei werden 9,5 Millionen Deutsche genannt, die einen riskanten Alkoholkonsum aufweisen. Die Zahl der Alkoholiker in Deutschland wird auf ca. 2 Millionen geschätzt (vgl. Mann 2008: 41). Jährlich werden ca. 330.000 vollstationäre Behandlungen in Kliniken wegen der F10-Diagnose durchgeführt, die für „Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“ bedingt steht − was übrigens auch als der häufigste Grund dafür angegeben wird, warum Männer in einer Klinik behandelt werden müssen. Etwa 280.00 Straftaten werden jährlich unter dem Einfluss der Droge Alkohol verübt (vgl. Lindenmeyer 2010: 37). In diesem Kontext sei auf den brutalen Totschlag Dominik Brunners an einer Münchner S-Bahn-Station durch Gewaltüberschreitungen Jugendlicher hingewiesen − der lange Zeit in den Medien viel Aufsehen erregte und ebenfalls mit einem erhöhten Alkoholkonsum in Zusammenhang stand (vgl. Welt 2010). Des Weiteren sterben bis zu 73.000 Menschen jährlich (nach neusten Berechnungen) an den direkten Folgen des Alkohols, 10.000 Kinder jährlich kommen mit Behinderungen und Störungen zur Welt, die durch Alkohol bedingt sind. Besonders schwerwiegend ist dabei das fetale Alkoholsyndrom (FAS).

Die Liste an Folgen und Volksschäden, die durch Alkohol verursacht werden oder eng mit Alkohol in Verbindung gebracht werden und auch ökonomisch betrachtet die Einnahmen durch Alkoholsteuern um ein Vielfaches (ca. das Achtfache) übersteigen, hört hier noch lange nicht auf (vgl. DHS 2010). Davon abgesehen lässt sich ohnehin kein individuelles oder soziales Elend, das durch Alkohol verursacht wurde, in einem materiellen Gegenwert berechnen.

Es stellt sich die utopische Frage, wie eine Welt oder eine Nation aussehen würde, die Alkohol als eine vermeidbare Angewohnheit betrachten würde. Solch eine Denkweise würde u.a. implizieren, Alkoholabstinenz als Norm oder gar als „normal“ zu verstehen, was vom Bild der deutschen Gesellschaft mit 3 % Abstinenzlern (vgl. Kraus 2008: 39) und durchschnittlich 9,9 Litern reinen Alkoholkonsums jährlich pro Bürger („Kind und Greis mitgerechnet“) im Jahr 2008 (vgl. DHS 2010) weit entfernt ist.

1.1 Methode und Ziele

Welche Widersprüche und Graubereiche entstehen, wenn Alkoholabstinenz sich nicht als eine Norm in der Gesellschaft etabliert, soll in dieser Arbeit näher beleuchtet werden. Ebenfalls sollen die Auswirkungen eines volksumfassenden Alkoholkonsums und - missbrauchs interpretiert und verständlich gemacht werden.

In der Arbeit wird auf eigene empirische Erhebungen verzichtet, da bereits etliche empirische Daten vorliegen und darauf warten, ausgewertet und in einen Zusammenhang gebracht zu werden. Die Methodik besteht daher in einer qualitativen Literaturanalyse und in einer Überblicksarbeit, die verschiedene Aspekte zu den beiden o.g. Schwerpunkten eröffnen möchte, diese jedoch nicht weitergehend vertiefen kann. Das Thema der Arbeit steht im allgemeineren Kontext des Drogenkonsum-Missbrauchs und des Suchtverhaltens. Dies setzt eine disziplinübergreifende Betrachtungsweise voraus. Das Betrachtungsfeld wechselt daher von biologischen zu soziologischen, psychologischen, politischen und auch philologischen Perspektiven.

1.1.1 Definition Drogenmissbrauch/Abhängigkeit nach ICD 10

Alkohol zählt u.a. neben seiner Funktion als Nahrungsmittel − was früher einmal von existenzieller Bedeutung war (vgl. Rosta 2008: 10) − und Genussmittel (heute überwiegende Funktion) nach der WHO-ICD 10- Katalog auch zu den Drogen bzw. zu den „psychotropen Substanzen“, die einen bewusstseinsverändernden Zustand bewirken, Abhängigkeitspotential aufweisen und verschiedene psychophysiologische Störungen hervorrufen können.

In diesem Kontext soll eine allgemeine Definition des Drogenmissbrauchs bzw. der Drogenabhängigkeit aufgestellt werden, die auf Alkohol und ebenfalls auf alle anderen Drogen übertragbar ist. Die universelle Übertragbarkeit hängt u.a. auch damit zusammen, dass der Verlauf einer Sucht bei allen Drogen bzw. psychotropen Substanzen in den grundlegenden Phasen (von der Gewöhnung zur Sucht bzw. in den Symptomen der Abhängigkeit) gleich abläuft, unabhängig davon, ob es sich „um Alkohol, Nikotin, Heroin, Amphetamine etc.“ handelt (vgl. Gesundheitsforschung BMBF 2002: 3).

Die Grenze vom Genussmittel zum Suchtmittel ist dabei meistens fließend. Nach der ICD 10 kann von einer (psychischen oder physischen stoffgebundenen) Abhängigkeit ausgegangen werden, wenn mehrere der folgenden Kriterien zutreffen, die im Zusammenhang mit dem Konsum einer Droge stehen:

1. Es bestehen ein zwanghafter Konsum und unstillbares Verlangen nach dem Stoff („craving“).
2. Der Konsum geschieht unkontrolliert. Der Zeitpunkt des Konsums und die Dosis des Stoffes unterliegen immer weniger der willentlichen Steuerung.
3. Eine Reduzierung der Dosis oder eine Phase der Abstinenz verursachen Entzugssymptome.
4. Eine biologische Anpassung des Körpers an den Drogenkonsum in Form einer Toleranzentwicklung hat stattgefunden. Um die positive Wirkung der Droge zu erzielen, müssen immer höhere Dosierungen konsumiert werden.
5. Es werden mehr Zeit und Energie auf den Drogenkonsum verwendet als auf alle anderen Aktivitäten. Es kommt dabei auch zur Vernachlässigung von Beziehungen, Freundschaften, sozialen Aktivitäten und persönlichen Interessen.
6. Der Drogenkonsum wird weiter fortgesetzt, auch wenn offensichtliche negative Konsequenzen auftreten (Leberschäden, Depressionen, Verlust von Beziehungen etc.) (vgl. Singer 2005: 33).

An dieser Stelle sollen die Begriffe Drogenmissbrauch und Abhängigkeit erneut reflektiert werden. Es stellen sich hierbei die Fragen, ob ein Drogenmissbrauch unweigerlich zur Abhängigkeit führt und ob der Begriff Drogenmissbrauch dialektisch interpretiert werden kann, was bedeuten würde, dass Drogen auch richtig gebraucht werden können − oder stellt jeder Gebrauch einer Droge einen Drogenmissbrauch dar?

Diese beiden Fragen sollen hierbei den Leser für die Problematik der legalen und illegalen Drogendebatte einerseits sensibilisieren und andererseits nochmals darauf aufmerksam machen, dass die Grenzen vom Genuss- zum Suchtmittel fließend sind und die Forschung noch lange nicht alle Faktoren und Mechanismen im gesamten Zusammenspiel für eine Suchtentwicklung eindeutig entschlüsselt hat, um endgültige Aussagen und valide Vorhersagen treffen zu können. Zudem wird auch deutlich, dass Sucht oder Drogenabhängigkeit nicht allein von der konsumierten Menge des Stoffes abhängt, sondern sich eher durch einen „Freiheitsverlust“ charakterisiert (vgl. BMBF Suchtforschung 2004: 9).

Die WHO unterscheidet seit dem 1964 überarbeiteten Suchtkonzept zwischen den Begriffen Abhängigkeit, Drogenmissbrauch (wenn „nur“ eine psychische Abhängigkeit vorliegt, vgl. Doubek 1999: 49) und riskantem Konsum. Da nicht jeder Drogenmissbrauch oder riskante Konsum in einer physischen Abhängigkeit endet, aber trotzdem dieselben körperlichen Schäden und Krankheitsbilder verursacht, wurde diese begriffliche Differenzierung notwendig. Dadurch soll aber auch deutlich gemacht werden, dass die „Suchtproblematik“ nicht mit der Abhängigkeit anfängt, sondern endet (BMBF Suchtforschung 2004: 12).

1.1.2 Empfehlungen zum Alkoholkonsum

Im Umgang mit Alkohol wurden Grenzwerte durch das deutsche wissenschaftliche Kuratorium der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen angegeben. Ein risikoarmer bzw. ein unbedenklicher Alkoholkonsum bei erwachsenen Männern liegt demnach bei ca. 24 g Alkohol pro Tag (entspricht ca. 0,5 l Bier oder 0,25 l Wein mit 12 %) und bei Freuen bei ca. 12 g pro Tag, sofern kein genetisches oder erworbenes Risiko vorliegt (vgl. DHS 2008: 1−4). Ergänzt wird diese Empfehlung dadurch, dass mindestens zwei abstinente Tage in der Woche bestehen sollten und völlige „Punktabstinenz in der Schwangerschaft, Laktationszeit, am Arbeitsplatz, im Straßenverkehr, beim Sport, beim Bedienen von Maschinen und bei einer Alkoholabhängigkeit“ eingehalten werden sollte. Trinkraten, die diesen Empfehlungen nicht entsprechen, werden demnach als riskante Konsummuster oder als Alkohol-Missbrauch eingestuft. Der Missbrauch von Alkohol in Form von Alkoholexzessen wird neuerdings auch als „binge drinking“ (engl. to binge on something = sich mit etwas vollstopfen) oder „Rauschtrinken“ bezeichnet − was etwa 1,25 l Bier bzw. 0,6 l Wein pro Trinkgelegenheit entsprechen würde (vgl. Thomasius 2009: 7).

An dieser Stelle sei angemerkt, dass einzig der Droge Alkohol eine wissenschaftliche Empfehlung vorbehalten wird. Richtlinien für andere Drogen, die einen risikoarmen oder unbedenklichen Konsum aufzeigen, existieren nicht. Eine derart einseitige „wissenschaftliche Empfehlung“ bestätigt wiederum die breite Akzeptanz der Volksdroge Alkohol, die vom Ziel der gesellschaftlichen Abstinenz im Umgang mit diesem psychotropen Stoff weit weggerückt ist.

Ob die o.g. Empfehlung tatsächlich als unbedenklich eingestuft werden kann, mag wissenschaftlich hinterfragt werden. Der Mediziner Kornhuber zeigt die Risiken auf, die selbst bei einem geringfügigen Alkoholkonsum bestehen (vgl. Kornhuber 2001).

Solche Empfehlungen, die einen risikoarmen Alkoholkonsum aufzeigen, hängen jeweils vom Stand der Wissenschaft oder auch von der jeweiligen Organisation ab. Singer sagt dazu: „Die Angaben schwanken […] je nach Institution (Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, Deutschen Initiative zur Förderung eines verantwortungsvollen Umganges mit alkoholhaltigen Genussmitteln) um mehr als 100 Prozent […]“ (vgl. Singer 2002).

Letztendlich wird einzig bei der Droge Alkohol die paradoxe Anstrengung unternommen, ihre Gefahren und Risiken für die Gesellschaft kalkulierbar zu machen (vgl. Kapitel 1.1.2).

1.1.3 Sicht eines Alkoholtherapeuten

Der berühmte Psychologe und anerkannte Alkoholtherapeut Lindenmeyer (2010) macht darauf aufmerksam, dass die Gefahr einer Alkoholabhängigkeit mit dem ersten Probieren des Alkohols in der Pubertät und der langzeitigen Gewöhnung sowie der positiven Bewertung des Alkohols über Jahre hinweg bis ins Erwachsenenalter beginnt. Zudem gilt die Korrelation zwischen einem riskanten Alkoholkonsum im Jugendalter und dem Risiko, in eine Abhängigkeit im Erwachsenenalter zu geraten, bereits als erwiesen (vgl. Englund 2008: 23−24).

Der Alkohol ist für viele Menschen im Lebenszyklus wie ein dauerhafter Wegbegleiter, auf den in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zeiten immer wieder vermehrt oder auch mal weniger oder gar nicht zurückgegriffen wird. In diesem Sinne werden auch verschiedene Abhängigkeitstypen und Formen der Trinkabhängigkeit nach E.M. Jellinek unterschieden: Konflikt-, Periodischer sowie Gelegenheitstrinker, Quartalssäufer und Spiegel-Trinker.

Entscheidend ist, dass die langzeitige Gewöhnung an den Alkohol sich derart ausprägt, dass ein Leben ohne die Droge Alkohol und der komplette Verzicht auf Alkohol mit der Zeit unwahrscheinlicher werden oder keine Alternative für die meisten Konsumierenden und langzeitigen „Genusstrinker“ mehr darstellen (vgl. auch Kapitel 1.3.3). Demnach gibt es allein die Entscheidung zwischen der Alkohol-Abstinenz von Anfang an oder das ungewisse Risiko, Jahre später in eine Alkoholabhängigkeit zu geraten.

Lindenmeyer macht ebenfalls deutlich, dass die Patienten aus allen Gesellschaftsschichten kommen und keinesfalls dem Vorurteil von schwachen oder erfolglosen Persönlichkeiten entsprechen (wie dies im Vorurteil vom Alkoholiker als „Penner“ auf der Straße bei vielen fest verankert ist). Die deutsche Suchthilfestatistik hat bei Alkoholikern, die 2008 in Behandlung waren, die höchste Rate für einen Hochschulabschluss und die niedrigste Rate für keinen Schulabschluss dokumentiert (vgl. IFT 2010: 27). In diesem Sinne fallen viele Alkoholiker in unserer Gesellschaft gar nicht erst auf, weil sie gesellschaftlich integriert sind, eventuell sogar guten sozialen Status genießen und ihre Leistungsfähigkeit noch nicht eingebüßt haben. Man spricht in diesem Fall dann auch vom „funktionierenden Alkoholiker“ (vgl. Knapp 2006: 23).

1.1.4 Diagnose „Alkoholismus“ in einer Trinkerkultur

Sobald eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert und nach den in Deutschland anerkannten ICD-10-Schlüsseln kodiert wird, gilt dies seit 1968 in Deutschland als eine Krankheit (Alkoholismus), die durch die gesetzlichen Krankenkassen erstattungsfähig ist. Dies sollte einerseits die Behandlung für Alkoholiker erleichtern sowie die Reintegration in ein und Rehabilitation der Alkoholiker für ein „normales“ Leben ermöglichen und andererseits Vorurteile wie „Alkoholiker sind willensschwache Menschen“ abbauen (vgl. Rosta 2008: 52).

Dennoch änderte die juristische Auslegung, Alkoholismus als eine fremd gesteuerte Krankheit zu definieren, die einen Menschen unwillkürlich treffen kann und ihm die Willensfreiheit raubt, nicht viel daran, dass unter vielen Ärzten Alkoholpatienten bis heute noch zu den unbeliebtesten Patienten zählen. Dies liegt nicht allein daran, dass viele durch aggressives und unbeherrschtes Verhalten unangenehm auffallen und 6 % der Patienten vorzeitig aus der Therapie wegen Disziplinierungsproblemen entlassen werden müssen, sondern auch daran, dass sie die Krankheit als unnötig und vermeidbar bzw. als selbstverschuldet ansehen (vgl. Meyer 2008: 10). Auch sehen viele andere Menschen in der Gesellschaft die Krankheit Alkoholismus nicht als fremd gesteuert, sondern als selbstverschuldet an (vgl. Treeck 2004: 588). Dieses Denken äußert sich u.a. auch in der hohen Zahl unbehandelter Alkoholiker (man geht dabei von 90−99 % Prozent aus), die bis jetzt eine vielversprechende stationäre Langzeittherapie vermieden haben, u.a. aus Angst vor „Ablehnung“ oder „Entwertung“ (vgl. Lippert 2008: 3).

Hier spielt die Frage, ob Alkoholabstinenz sich als Norm in Deutschland etablieren soll oder nicht, eine ausschlaggebende Rolle. Einmal weil das Bewusstsein für die Gefahr der Droge Alkohol in der Bevölkerung anders wahrgenommen wird, wenn Alkoholabstinenz als normal gilt. Zweitens kann einzig und allein ein Alkoholabstinenzler das Risiko einer Alkoholabhängigkeit völlig bewusst ausschließen, während bei vielen „moderaten“ Alkoholtrinkern die Diagnose F10 schon eher zufällig oder fremd gesteuert erscheinen mag denn als selbst verschuldet, da schließlich nicht jeder alkoholkonsumierende Mensch zum Alkoholiker wird.

Auf diesen bestehenden Widerspruch in der Öffentlichkeit machte auch schon der Mediziner und Begründer der Alkoholismus-Forschung C. v. Brühl-Cramer zur Zeit der grassierenden „Branntweinpest“ Anfang des 19. Jahrhunderts in Russland aufmerksam:

„Wenn der Branntwein nicht grundsätzlich für unmoralisch gehalten werde, könne bei der Trunksucht1 nicht die Moralität in Anspruch genommen werden“ (vgl. Kielhorn 1990: 432) … und trotzdem wird auch heute noch beim Alkoholismus oder bei Alkoholexzessen Jugendlicher, die bis zum Koma ausarten, die Moral in Anspruch genommen, nicht jedoch beim „kontrollierten“ Konsum (vgl. Kapitel 2.2).

Fakt bleibt, dass der trockene Alkoholiker nach seiner Therapie für die Zeit seines Lebens (wegen der Rückfallgefährdung) abstinent leben muss. Das bedeutet, dass der trockene Alkoholiker (sekundäre Abstinenzler) und auch der primäre Abstinenzler (der Alkohol von Anfang an vermieden hat) in einer fest verankerten Trinkerkultur eine Minderheit darstellen und damit bei vielen sozialen Aktivitäten und öffentlichen Anlässen einem „Mainstream“-Druck ausgesetzt sind oder sogar als „Außenseiter“ abgestempelt werden (vgl. Rosta 2008: 52).

Solidarität für sekundäre Abstinenzler, die wegen ihrer Abhängigkeit als krank eingestuft werden, oder für „gefährdete Trinker“ (z.B. aufgrund eines genetisch erworbenen Risikos), die auf Alkohol ganz verzichten wollen, kann in solch einem Umfeld − solange der kontrollierte Alkoholkonsum als das „Normale“ und gesellschaftlich Gewollte dargestellt wird − nicht existieren (vgl. Kapitel 1.2.3). Der Autor Sebastian Stranz kommentiert diesen paradoxen Sachverhalt in unserer Gesellschaft folgendermaßen: „Die Idee, eine Heilung bestünde erst dann, wenn man wieder ‚normal‘ trinken könne, geht von der unbewiesenen Auffassung aus, der Alkoholkonsum wäre das ‚Normale‘, nicht die Abstinenz“ (vgl. Stranz 2009).

1.2 Zur Historie des Alkohols

Alkohol (der Begriff geht auf das arabische Wort „al-Kuhl“ zurück und bedeutet: „das Feinste“, vgl. Krüskemper 2010: 7) stellt heute nicht nur die beliebteste Droge dar, sondern gilt auch als die älteste Droge der Menschheit (vgl. Singer 2005: 2). Diese Droge lässt sich sehr wahrscheinlich auf eine zufällige Entdeckung zurückführen, die im Übergang vom Nomadentum zum Ackerbau durch das vermehrte Sammeln von Früchten mit dem Zusatz von Wasser und durch den Vergärungsprozess − ohne gezielte Intention − natürlich entstehen konnte (vgl. Lindenmeyer 2010: 24). Alkohol entsteht so gesehen auf natürliche Weise durch den Katabolismus von in der Natur vorkommenden Hefepilzen, die zur Alkoholgärung in der Lage sind und auf den Zucker in Frucht- oder Getreideprodukten zugreifen können. Diese Fähigkeit der Mikroorganismen hat evolutive und biologische Bedeutung. Die Spaltung von Zucker (Glykolyse) zur biochemischen Energiegewinnung (ATP-Bildung) läuft bei Gärungsprozessen ausschließlich unter sauerstofffreien (anaeroben) Bedingungen ab, was auf ihre evolutive Bedeutung für die Prokaryoten rückschließen lässt, als die Erdatmosphäre noch keinen Sauerstoff enthielt. Bei der alkoholischen Gärung wird das Endprodukt der Glykolyse, Pyruvat, durch Kohlendioxidabspaltung (CO2) zu Acetaldehyd umgewandelt und dieses wiederum zu Ethanol (Campbell 2006: 201−203).

Diese in der Natur vorkommenden Gärungsprozesse machten sich die Menschen früh zur Herstellung von Bier- und Weinprodukten zunutze. Jedoch enthielten diese Getränke in der Antike nicht mehr als 15−18 % Alkoholgehalt, da mehr Alkoholgehalt wiederum wegen seiner „toxischen Wirkung“ zur Tötung der Hefezellen führt (vgl. Soyka 2007: 2). Es lassen sich Hinweise in den ältesten Kulturkreisen finden, die auf den Konsum alkoholischer Getränke deuten und die Verbreitung dokumentieren. U.a. wird Noah als erster Weinbauer genannt, der wegen eines Alkoholrausches im Genesisbericht Erwähnung findet (vgl. Singer 2005: 5). Funde von Wein- und Bierkrügen aus neolithischer Zeit 6000 v. Chr. − 2000 v. Chr. sowie Wandmalereien im alten Ägypten, welche von der Herstellung von Bier zeugen, dokumentieren die frühe Beliebtheit dieser „berauschenden Getränke“ (vgl. Kupfer 2006: 14).

Der Alkohol in Form des Weines gehörte auch bei den Griechen zu den wichtigsten Rauschmitteln, fand in der griechischen Literatur und bei den Adeligen viel Beachtung und galt als Marker für den „Dionysoskult“.

[...]


1 Der Begriff Trunksucht bezeichnete von der Antike bis ca. Mitte des 20. Jahrhunderts ein moralisches Versagen des Individuums. In diesem Sinne wurden Alkoholabhängige von der Gesellschaft geächtet oder gering geschätzt (vgl. auch Kapitel 1.2).

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Alkohol, eine anerkannte Volksdroge und ihre Widersprüche
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)
Veranstaltung
Drogen und Suchtprävention
Autor
Jahr
2010
Seiten
65
Katalognummer
V167158
ISBN (eBook)
9783640835409
ISBN (Buch)
9783640835287
Dateigröße
751 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
alkohol, volksdroge, widersprüche
Arbeit zitieren
Steffen Schulze (Autor:in), 2010, Alkohol, eine anerkannte Volksdroge und ihre Widersprüche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/167158

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