Das Brüllen des Löwen

Das dritte Jahrtausend und die Suche nach der menschlichen Identität


Essay, 2010

16 Seiten


Leseprobe


DAS BRÜLLEN DES LÖWEN

DAS DRITTE JAHRTAUSEND

UND

DIE SUCHE NACH DER MENSCHLICHEN IDENTITÄT

THIRD MILLENNIUM GLOBAL IDENTITY STRUGGLE

Die Frage nach dem „Wer ist der Mensch?“ hallt über die gesamte Menschheits-geschichte hinweg bis in die Ewigkeit fort, denn nur dort wird der Mensch die letzte Antwort auf diese fundamentalste Frage seiner Existenz finden und solange bleibt menschliche Erkenntnis inbezug auf seine letztendliche Natur zeitlich bedingt und unvollkommen. Aus der Bedingtheit seiner Erkenntnis inbezug auf sein wahres Wesen findet er daher nur Zeit-Raum bedingte Antworten, die kultureller Natur sind. Dies ist insofern wichtig, als dass menschliche Denken und Handeln, das von seiner Selbsterkenntnis abhängig ist, daher gleichermaßen zeit-räumlich bedingt und kulturell determiniert ist. Die das Fundament der Kulturen bildende Antwort auf die Frage nach der Natur und dem Wesen des Menschen führt über die zeit-räumliche Relativierung der Antwort zu einem gewissen kulturellen Determinismus. Da die Frage weder wissenschaftlich noch philosophisch mit letzter Klarheit zu beantworten ist, weil der überzeitliche komplementäre Pol, dessen Einbeziehung in eine ganzheitliche Beantwortung der Frage gleichermaßen erforderlich ist, sich seinem Blickfeld und -winkel entzieht, sind die Antworten notwendigerweise zeit-räumlich und somit kulturell bedingt. Und seine relative Antwort auf die Frage nach dem „Wer ist der Mensch?“, läßt ihn seine Welt in Abhängigkeit von der Antwort auf diese Frage sein individuelles und soziales Leben gestalten. Kultur ist also nicht nur durch das äußere Umfeld bedingt, das raum-zeitlich angepasste diverse Problem- und Dilemmalösungen erfordert, sondern auch durch die innere Raum-Zeit bedingte Antwort auf der Frage nach dem „Wer bin ich“?

Da der Mensch keine umfassende Erkenntnis im Hinblick auf diese zentrale Frage seiner Existenz hat und da er ebenso wie eine materielle Kontinuität und Sicherheit auch eine diese ergänzende geistige Gewissheit zur Herstellung der Kontinuität seiner selbst hat, ist er empfänglich für diverse Perspektiven, die ihm die physische und insbesondere psychische Kontinuität und Sicherheit zu bieten scheinen und dies häufig unabhängig von ihrer Wertigkeit inbezug auf das Gesamte. Mit anderen Worten er sucht einen psychologischen und topographischen Ankerplatz für seine ganzheitliche geistig-seelisch-körperliche Wesenheit.

Da diese Frage selbst die scheinbare Unlösbarkeit eines Zen Koans übersteigt und da es keine wissenschaflichen Kriterien für die Richtigkeit einer Antwort zu geben scheint, meidet der Mensch die Frage einfach, weil sie schlicht unlösbar erscheint. Das Nichtwissen oder das Nichtwissenwollen stellen ihm hier eine vage Sicherheit und Kontinuität bereit, weil sie den Geist von möglicherweise eher verunsichernden Spekulationen befreit.

Wo Wissenschaft und Philosophie kapitulieren, wenn sie nicht der Anmaßung und Maßlosigkeit bezichtigt werden wollen, sagen die Offenbarungen, wir glauben das was inbezug auf den Menschen geoffenbart wurde, obwohl wir in diesem Bereich der Erkenntnis nach menschlichen Maßstäben ebensowenig verbindliche Evidenz besitzen. Der gläubige Mensch erlangt sein erforderliches Maß an innerer wie äußerer Sicherheit und Integrität für seine Kontinuität als Mensch über diesen Glauben und die Hoffnung dass er die felsenfeste, Sicherheit bietende Wahrheit ist.

Aufgrund der Unabdingbarkeit einer Antwort auf diese existenziell maßgebliche Frage, springen aber auch andere Anbieter auf dem Markt der Sicherheiten in diese Bresche menschlicher Schwachheit, da er kein ufer- und ankerloses Treibholz auf dem Meer des Lebens sein kann, wenn er nicht untergehen möchte. Er braucht also einen Felsen in der Brandung, ein Bewusstsein seiner selbst, das ihm Zuflucht, Schutz, Sicherheit und Kontinuität gewährt. Deshalb ist sein Geist empfänglich und willens sich in vielfältiger Weise programmieren zu lassen. Denn diese Programmierung verleiht ihm einen Kern im Bewusstsein, um das er sein Gefühls- und Geistesleben organisieren und artikulieren und die Dinge des Lebens sinnstiftend in Bezug setzen kann. Diverse Gruppenzugehörigkeiten, wie zum Beispiel die nationale, religiöse, ethnisch-linguistisch-rassische und die diversen Kulturgruppen, denen er sich im Rahmen seiner Entwicklung als soziales Wesen mehr oder weniger verbunden fühlt, können bei dieser Polbildung für die Herausbildung seiner Identität und seine Orientierung inbezug auf den Erwerb kulturell angemessener Verhaltensmuster eine Rolle spielen. In dem Kaleidoskop des menschlichen Lebens werden diese gespeicherten Programme sich dann situativ artikulieren und manifestieren.

Die Ambivalenz und die Transzendenz der Programmierung:

Der bespeicherbare Bewusstseinsraum ist relativ. Gibt es einen Raum, der sich den kommunikationstechnisch und global verstärkten mächtigen Programmierungs-potentialen entzieht und diese relativiert, statt sie subjektiv fälschlicherweise zu verabsolutisieren? Gibt es einen Bereich, in dem man sich jeder Bevormundung, Konditionierung und Relativierung und Beeinträchtigung des makellosen Zustandes - also einen Bereich der Freiheit - entziehen kann und dies trotz zahlloser konkurrierender eigen- und fremdkulturellen individueller und kollektiver Programme? Kann der Mensch frei sein? Das ist gleichermaßen die Frage aller Fragen, die zusammen mit der nach der Selbsterkenntnis von Pol zu Pol, vom Orient zum Okzident, von Horizont zu Horizont in zahllosen Sprachen und Myriaden von Kulturen erschallt. Und beide Fragen scheinen dahingehend korreliert zu sein, dass die Beantwortung der Frage „wer bin ich?“ eine Voraussetzung für die Erringung der Freiheit und die Beantwortung der Frage „Kann der Mensch frei sein?“ ist.

Und um diese Frage zu beantworten, ist es erforderlich, herauszufinden, ob es einen nichtprogrammierbaren Raum im menschlichen Geist gibt, der sich allen Relativierungsversuchen von innen und außen entzieht. Dies wäre ein nichtrelativierbarer und programmierbarer Bereich und somit ein Bereich des Makellosigkeit, in der seine Freiheit schlummert. Dieser nicht programmierbare Bereich, dessen Vorhandensein man erfahrungsgemäß postulieren kann, wäre ein Fundament für die Errichtung einer universellen transkulturellen Zivilisation.

Dieser Bereich schützt durch seine Reinheit die erforderliche Integrität der Eigenkultur vor korrumpierenden fremdkulturellen Übergriffen und Beeinträchtigungsversuchen und gestattet es auch, sich von diesen eigenen Speicherinhalten bedarfsgerecht zu befreien oder sie gegebenenfalls in einem Lichte höherer und umfassenderer Erkenntnis zu nutzen, während er gleichzeitig eine universelle Kommunikationsebene für alle kulturrelativen Programmierungen bereitstellt.

Betrachtet man das gesamte Feld der Optionen in Bewusstseinsbegriffen, so ergibt sich auf natürliche Weise ein konkomitantes kulturelles und ein das Kulturelle transzendierendes Bewusstsein. Die Positionierung des Subjekts im Bewusstseinsfeld gestattet vielerlei Identitäten, die alle einer Quelle entspringen, dem Bewusstsein an sich, dessen Steuerung über die bewusste Positionierung diesem Feld möglich ist.

Die Lösung der kulturellen Frage ist somit ein Hebel zur Integration der Menschheit und zur Wiedergewinnung der Freiheit, nach dem kulturellen Sündenfall, dessen Konsequenzen die Hölle der Kriege und Kulturkonflikte mit ihrem endlosen Flurschaden im geistig-materiellen Gesamtfeld verursacht haben. Das ist die Schattenseite des Kulturellen, seine unvollendete Erkenntnis im Lichte der rechten Beantwortung der Frage nach dem „Wer bin ich?“ Um die kulturelle Frage nachhaltig konfliktbefreiend zu klären, wird die Frage seit Jahrtausenden unter dem Blickwinkel der Frage nach dem „wer bin ich?“ bislang ohne den gewünschten, ersehnten Erfolg gestellt. Es erhebt sich also die Frage, wie der Schatten, den das durchaus vorhandene kulturelle Licht entsprechend seiner konkomitanten ethischen Durchdringung wirft, integriert werden kann.

In unserer Zeit kann man sie technisch formulieren, denn wir leben im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, einer Zeitenwende von einem kulturellen zu einem universellen Zeitalter. Die Tür der alten Zeit könnte sich schließen, das Tor zur neuen Zeit könnte sich öffnen. Die Bewussteinsräume der alten Zeit waren kompartimentiert und antagonisiert, die Bewusstseinsräume der neuen Zeit haben die Möglichkeit darüber hinaus offen und komplementär zu sein. Doch der Übergang wird wohl einige Zeit in Anspruch nehmen, denn man kann ein physisches Haus, ebenso wie das noch viel umfassendere geistige auch nicht in einem Durchgang voll erkunden. Was erforderlich ist, ist die progressive quantische Intelligenz, die sowohl die Wahrnehmungsmodalitäten und Optiken des alten, wie auch zunehmend die des neuen Hauses kennt. Durch die Integration des Kompartimentierten, Antagonisierenden in der Bewusstseinsweite der neuen Bewusstseinsarchitektur werden die alten Räumlichkeiten und Abgrenzungen in ein Licht gerückt, das ihre Begrenzungen und die damit einhergehenden Antagonismen in einem diese befriedenden Bewusstsein kontextualisiert. Der weitere Bewusstseinsraum schließt den redzierten ein, er bekämpft ihn nicht, sondern verschlingt ihn, so wie das Meer noch soviele Flüsse verschlingt, selbst wenn es sich um ein die Hydra eines tausendarmigen Deltas handelt. Nichts widersteht der gravitationellen Anziehungskraft des weiteren Bewusstseins. Die Kompartimen-tierung der Physik der Materie und der des Geistes ist ohnehin ein kulturell konstruiertes Artefakt eines kompartimentierten Bewusstseins des früheren Bewusstseinsraumes des Dualismus und Rationalismus westlicher Prägung.

Die Bewusstseinsräume des alten Bewusstseinsraums identifizierten sich mit ihren Kompartments, tribal, organisational, national, regional oder kontinental, während der unbegrenzte Bewusstseinsraum des neuen Bewusstseins sich von dieser Enge mit ihrem dialektisch schwingenden Pendel über ganze Zeitalter hinweg befreit, nachdem es über Äonen von der Dualität usurpiert wurde. Nun erkennt es sich selbst, gleich dem jungen Löwen, der von Ziegen aufgezogen wurde und das Leben einer Ziege bis zu dem Tag führte, an dem er seines Spiegelbildes im Flusswasser gewahr wurde, das ihm seine wahre Löwennatur enthüllte. Sogleich beendete er das Meckern und brüllte, wie es seiner ureigenen Löwennatur entsprach. Ebenso wird das Bewusstsein des alten dualistischen Bewusstseinsraumes durch das „Brüllen des Löwen“ des neuen Bewusstseins seine Schranken für immer verlassen und nie mehr in die Versklavung der Dialektik vergangener Zeiten zurückkehren, wenn seine Zeit angebrochen ist. Die wahre Identität der Ziege, die tatsächlich ein Löwe, aber als Ziege sozialisiert war und sich damit identifizierte, wurde dem Löwen durch sein Speigelbild enthüllt.

Kann ein ähnlicher Prozess der Enthüllung und Offenbarung der wahren Natur des Menschen ebenso stattfinden und ihn seine begrenzte Sozialisierung und relativen Identitäten erkennen lassen: kann sich diese Epiphanie im Menschen vollziehen, sodass er sich von seinen begrenzenden Bindungen früherer Zeit löst und mit dem Löwen brüllt statt mit den Wölfen zu heulen und den Ziegen zu meckern. Was vermag es, dem Menschen einen derart klar reflektierenden Spiegel hinzuhalten, der ihm seine ganze wahre Natur enthüllt, seine wahre Identität?

Der Impakt der heutigen Multikulturalität führt bisweilen zu einer zusätzlichen Verzerrung des authentischen Spiegelbildes und ist unter Umständen ineffektiv, weil sie darüber hinaus in der Praxis des konkreten Miteinander zu Nullsummenspielen tendiert. Das Interfacing relativer und verzerrter Spiegelbilder eines bedingten Bewusstseins birgt zusätzliches Konfliktpotential. Und solche mit einem vermeintlich niedrigeren Entwicklungsniveau wirken als Bremsklötze für die nach vorn Preschenden und jene, die aus individual- oder soziokulturellen Gründen, oft bedingt durch Kultur I, bereits auf einer „höheren Ebene“ sind oder weil die Bremsenden jegliche Entwicklung oder Laisser-passer der anderen behindern und nach Ihren Maßstäben steuern wollen, können als im Wege stehend empfunden werden. So entsteht bisweilen Nichtbegegnung durch eine Begegnung auf niedrigstem Niveau. Während sich die einen von den anderen ausgebeutet sehen, sehen sich, im Umkehrschluss die anderen „überfordert“, weil ihre Kultur geringere Leistungs- oder Entwicklungsstandards hat oder weil die Kulturkluft einfach zumindest kurzfristig unüberbrückbar scheint.

[...]

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Das Brüllen des Löwen
Untertitel
Das dritte Jahrtausend und die Suche nach der menschlichen Identität
Veranstaltung
Interkulturelles Management
Autor
Jahr
2010
Seiten
16
Katalognummer
V162950
ISBN (eBook)
9783640804009
ISBN (Buch)
9783640803958
Dateigröße
498 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Identität, Kultur, Bewusstsein
Arbeit zitieren
D.E.A./UNIV. PARIS I Gebhard Deissler (Autor:in), 2010, Das Brüllen des Löwen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162950

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