Als Fischverarbeiter vor Labrador


Essay, 2010

19 Seiten


Leseprobe


Am Anfang eines Buches darf der Leser zu recht erwarten, das er in angenehmer Weise vom Inhalt einen ersten Eindruck über den Autor gewinnen kann. Abenteuerlichkeit und Spannung sind in diesem Ebook die Paten der Weisheit. Als Fischverarbeiter auf einem Fang- und Verarbeitungsschiff in der orkanaufgewühlten See des Nordatlantik vor Labrador, Windstärke Zwölf droht das Schiff zu kentern, leben im „Portugiesendeck“, vierzehn Tage am Limit seekrank, übersetzen im Schlauchboot auf einen vereisten Trawler, drei Tage hilflos mit gebrochener Antriebswelle im Ozean treiben, den Trawler mehrere hundert Seemeilen selbst steuern, wen interessieren solche Abenteuer nicht? Hier erfahren Sie alles über mein aufregendes Seeabenteuer in der Jahrewende 1974/75.

Ich ordnete alte Briefe, als mir ein lange aus dem Sinne gekommener, datiert im März 1975, wieder in die Hände fiel. Ein Mitstreiter meines Seeabenteuers hatte ihn mir geschrie­ben. Eigentlich waren es zwei Briefe. Der Kontakt brach jedoch aus persönlichen Veränderungen ab. Ich las also mit erwachendem Interesse die Zeilen auf dem bereits vergilbten und einfach linierten Papier, welche Bezug nahmen auf den Unfall des Absenders auf See. Aus meinen Unterlagen kramte ich einige Fotografien hervor, die ich damals gemacht hatte. Die Erinnerung kam in Fluss und es war mir, als hätte diese Reise erst vor kurzer Zeit stattgefunden. So schrieb ich also auf was ich erlebte.

Seit meiner Kindheit träumte ich von der, Seefahrt und verschlang die Bücher von Stevenson, Melville und Defoe. Doch wie das Leben so geht, man kann sich den Ort und die Zeit seines Wirkens nicht immer unbeeinflusst von anderen Umständen aussuchen. Die Jahre vergehen und die Angelegenheit bleibt ein Traum bis, ja bis seine Verwirklichung doch noch möglich wird. Eines Tages las ich in der Presse, dass ein großer Fischfang-Betrieb in Rostock Elektro-Assistenten für den Einsatz auf hoher See suchte. Ich bewarb mich und wurde angenommen. Es war ein grauer und regnerischer Tag, als ich nach einer mehrstündigen Bahnfahrt im Haus der Hochseefischer ankam. Ich fühlte ein wenig die Beklommenheit die jeden überfällt, der einen Schritt ins Unbekannte wagt. Meine Stimmung besserte sich, als ich mich im Kreis mehrerer lustiger Männer verschiedenen Alters wiederfand, die gleich mir das Abenteuer der Seefahrt gewählt hatte Nach der Einweisung in unsere Quartiere beschlossen wir uns im Restaurant des Hauses zu treffen. Wir wollten uns kennen lernen, denn nichts ist im Leben wichtiger, als zu wissen auf wen bei Gefahr Verlass ist. Aus meiner Erfahrung wusste ich jedoch, dass sich ein genaues Bild über solch edle Eigenschaften wie Kameradschaft, Mut und Selbstlosigkeit erst in der konkreten Situation selbst ausreichend darstellten. Wir wohnten also im Haus der Hochseefischer und arbeiteten zunächst im Rostocker Hafen des Fischkombinates. Am Anfang stand eine Gesundheitsprüfung, danach Schulungen und Einweisungen an das Leben an Bord eines Hochseeschiffes. Was ist zu tun bei einem Brand? Was ist zu tun, wenn das Schiff sinkt? Wo befinden sich die Rettungsmittel auf den Schiff, welchen Platz muss jeder bei einer Notsituation einnehmen usw.. Nach dem Dienst wiesen uns die alten Fahrensleute an Land in das Seemannsleben und das Seemannsgarn ein. Bevorzugte Gaststätten der Seeleute waren in Rostock die „Storchenbar“ und die „Kogge“ am „Alten Strom“. Dort soffen viele Seeleute bis zum umfallen und kamen frühmorgens, oder im Laufe des Tages leichenblass im „Haus der Hochseefischer“ (HdH) an. Dann schliefen sie ihren Rausch aus. Ich kam einmal von der Arbeit im Hafen in mein Zimmer, wo zwei Betten standen, als auf einem davon ein mir fremder Seemann lag und seinen Rausch ausschlief. An der Kopfkissenseite schauten Geldscheine heraus und als ich daran zog kam ein ganzes Briefkuvert voll Hundertmarkscheine heraus: seine gesamte Heuer, etwas über 3.000 Mark. Ich nahm das Kuvert an mich bis er wieder munter wurde und gab es ihm dann, denn die Zimmer waren meist unverschlossen. Er wollte mir 100 Mark geben und bedankte sich, aber ich nahm das Geld nicht an, denn es war mir selbstverständlich. Abends saßen wir zusammen an Vierertischen im HdH und lauschten dem Seemannsgarn der Alten, von furchtbaren Stürmen und großen Fangergebnissen 1968 mit sagenhaften Entlohnungen. Sie erzählten uns auch von Wilhelm, dem „Stier von Labrador“, denn ich auf der „Jungen Garde“, der ROS 317 selbst als Chef bekam. Bei Pilsner und Korn tauten die Schweigsamen auf, die Ängstlichen bekamen Mut und die Prahler wurden laut. Die Fahrensleute spulten ihr Seemannsgarn vor uns Landratten in wahrhaft gräulichen Ausschmückungen ab. Wir lauschten mit blanken Augen und waren, zumindest in diesem Moment, alle sehr mutig. Denn es ist eine bekannte Tatsache, dass die geringsten Gefahren von einer erzählten Geschichte ausgehen. Im Hintergrund des Restaurants hatte sich inzwischen eine kleine Kapelle eingerichtet und spielte eine leise Schlagermusik. Urplötzlich jedoch wurden wir hellwach, als der Ansager die damals sehr populäre Sängerin Ina Martell mit dem Lied "La Paloma" ankündigte. Wir stürzten uns an die freien Tische und da inzwischen auch einige Damen den Raum betreten hatten, auch auf die Damen, um diese zum Tanze aufzufordern. Das heißt, wir hatten die Absicht dies zu tun, aber die Pranken der alten Fahrensleute drückten uns unsanft auf die Stühle zurück. „Bei Paloma tanzt keen Seemann nich, min Jung, merk dir dat.“ Wir lernten sehr schnell und der Abend blieb ein gemütlicher. Einwenig nachdenklich wurden wir doch, als die Rede auf die gefürchtete Seekrankheit kam. Die Seebären schilderten uns diese Qualen in anschaulichen Bildern, die darin gipfelten, dass schon viele der neu angeheuerten Landratten aus Verzweiflung und Qual ins Meer gesprungen seien. Andere musste man in den Kojen festbinden, um sie wieder heil nach Hause bringen zu können. Und das Meer gab keinen zurück, sagten sie abschließend. Ja, eine grässliche Zukunft schien uns Landratten da zu erwarten. Die Ernüchterung schmerzte. “Spuckst du nach Lee, da bleibt es in der See. Spuckst du nach Luv, da kommst es wieder ruf “, so trieben die Alten mit uns ihre Scherze. Und in der Tat, es ist wirklich ein großer Unterschied, ob man zuhause in der Nähe eines warmen Ofens Abenteuer liest, oder plötzlich mit seinem Seesack vor so einem Rostpott steht, der nach verfaulten Fischen stinkt und die Gangway hinauf klettert, um in eine unbekannte Arbeitswelt einzutauchen und hinaus in den schier endlosen Ozean zu schippern. Das Seemannsleben begann. Noch nicht an Bord, denn wir Neulinge mussten erst einmal die notwendigsten Dinge für die Bewältigung eines Seemannsalltages lernen. Die Erledigung von Formalitäten, medizinische Untersuchungen, Impfungen und einen Kurzlehrgang für Brandsicherheit an Bord, Überlebenstraining bei Schiffskatastrophen auf dem „Floßboden“ usw. wechselten einander ab. Aber in der Hauptsache arbeiteten wir im Fischereihafen, das heißt, wer noch kein geeignetes und auslaufendes Schiff gefunden hatte. Es war eine Knochenarbeit. Wer kein Bargeld mehr hatte, dem war die tägliche Ernährung aus eigener Kraft eine zwingende Notwendigkeit geworden, den es gab kein Geld im voraus, Der Lohn hieß Heuer und den bekam man nur, wenn man auf dem Meer schwamm. Ansonsten gab es 15 Mark Grundheuer an Land plus eines geringen Zuschlages pro Tag. Ich arbeitete nachts am Entlade-Pier und trug, die auf See steinhart gewordenen 75 kg schweren Fischmehlsäcke in Eisenbahnwaggons. Nach hundert Säcken verfärbte sich die Schulter unter der Wattejacke leicht bläulich. Nach vierhundert Säcken wurde es morgen. Ich hatte dreißig Tonnen getragen. Es schneite. Unter diesen Umständen war es verständlich, dass ein jeder so schnell wie möglich auf einem Schiff anheuern wollte, wo es gutes Essen gab und man auf See kein Geld brauchte. Für die Neulinge gab es pro Seetag eine Grundheuer von etwa 35 Mark plus Fangprämie und zusätzlich 2,35 Mark Valutageld. Die bereits längere Zeit zur See fuhren teilten uns ihre Ratschläge mit: „Mensch, passt bloß auf, dass ihr auf keine Schiffsnummer mit der 200 kommst. Das sind alles Seitenfänger. Die fangen nur Schollen in den Lofoten. Du stehst das nicht durch, mein Junge. Sechsundfünfzig Stunden geht es da durch, ohne Pause. Die duchten (schlafen) auf einen Brett und weißt du wie die Ostsee bei Windstärke 8 plattert?“ Jetzt brauchten wir „Neuen“ nur noch ein Schiff und das Abenteuer Seefahrt konnte beginnen. So dachten viele und manche bekamen auch mächtige Zweifel, als sie die mit Rost überzogenen Schiffe, die aus dem Atlantik, dem Pazifik oder den Lofoten zurückkommend anlegten, einmal aus der Nähe sehen konnten. Ich sagte mir auch: „Verdammt, wie kamst du auf eine solche Idee hier arbeiten zu wollen? Hast du nicht schon genug Probleme in deinem Leben gehabt?“ Eine andere Stimme in mir sagte: „Mensch, du kommst mal raus aus der DDR und siehst die Welt. Probiere es wenigstens mal aus!“ Jedenfalls waren wir alle nicht mehr so lustig wie am Anfang, vor allem, da unser Haufen täglich kleiner wurde. Einige kündigten noch bevor sie sich Gott und dem Meer anvertrauten. Ich wollte dies auch schon tun, aber dann hätte ich nie erfahren wie es einem Seemann geht. Also blieb ich. Angeheuert wurde man in einer Baracke direkt am Kai, dort wurde der Seefahrtswillige in ein sogenanntes Rollenbuch eingeschrieben. Früher war das wirklich eine große Pergamentrolle, in welcher die Namen der Seeleute einschrieben wurden die hinaus auf das Meer fuhren. Wenn das Schiff unterging, so kannte man wenigstens die Personen die auf dem Schiff waren und konnte die Angehörigen benachrichtigen. Mit jedem Tag schmolz unser Häuflein weiter zusammen. Täglich stiegen einige auf die auslaufenden Schiffe auf und verschwanden für mehrere Monate oder Wochen am Horizont, dort wo das Meer mit dem Himmel bleigrau verschmolz. Die einen fuhren an die Westbank die anderen zur Georges-Bank, einige wurden nach Cuba geflogen, als Austauschbesatzung. In alle Winde zerstreut. Meine Nachtschicht war zu Ende. Ich zog mich um und fuhr mit der Straßenbahn in die Unterkunft zurück. Da ich in dem Dreck des Hafenpiers nicht duschen wollte, gedachte ich dies in der Unterkunft zu tun. Das Wasser lief nur kalt. Ich aber musste meine Haare waschen, die mit stinkendem Fischmehl gepudert waren. Am Nachmittag ging ich hinunter zu der alten Holzbaracke am Brackwasser und ließ mich in das Rollenbuch eines ausfahrenden Schiffes eintragen. Ich wurde auf das Fang- und Verarbeitungsschiff ROS 317 „Junge Garde“, als Produktionsarbeiter angeheuert, obwohl man mich als Elektroassistent geworben eingestellt hatte. Durch meine Unterschrift auf dem Arbeitsvertrag hatte ich mich für 70 Tage Kündigungsfrist festgelegt und wenn man kein Geld mehr hat, da bleibt eben nur noch ein Weg übrig. Vorwärts, komme was da wollte ! Ich teilte mein Los und das Schiff mit eben jenem Briefschreiber und war sehr froh darüber, denn er war ein anständiger Mensch. So zerrten er und ich anderntags unsere schweren Seesäcke das Fallreep hoch und betrachteten, oben ange­kommen interessiert das Beladen des Schiffes mit Proviant und Ausrüstung, bis uns die barsche Stimme des Bootsmannes anzeigte zu welchem Zwecke wir hier aufgestiegen waren. Das Leben vermittelt Weisheit, das Bücherwissen Gelehrsamkeit. Dennoch entschied ich mich im Leben zumeist für das Risiko und das Abenteuer. Den Mut, sich selbst zu erproben sollte man sich ab und an einmal stellen, solange man sich gesund fühlt. Nachdem noch einige Dutzend Neue auf diesem 10.000-Tonner angekommen waren, verteilte man uns mit Gebrüll auf die Kajüten. Ich wurde mit meinem Freund im sogenannten Portugiesendeck untergebracht, das ist der mieseste Platz, den man auf einem Schiff beziehen kann. Ganz vorn im Bug und unmittelbar über der Wasserlinie des Schiffes. Mir fielen dort alle die schönen Seemannsgeschichten ein, wo der wettergestählte und gebräunte Seemann trotzig seine Brust dem Wind entgegen hält. Aber hier war keine Handelsmarine und auch kein Südsee-Atoll, sondern ein stinkender Fischhafen, ein stinkendes Fischfang- und Verarbeitungsschiff, es war Anfang November 1974 und ich war zum arbeiten hier. Die Bäume an Land waren kahlgefegt, alles grau in grau und so war auch meine Stimmung. Ich war gerade 30 Jahre alt und hatte fast acht Jahre untertage, als Hauer, hinter mir. Statt sonnengebräunte Männer sah ich leichenblasse Gesichter mit großen dunklen Augenringen und dicken Bäuchen. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, dass die Seeleute, bedingt durch die extreme Arbeit mit dem Fisch und dem schweren Seegang mehrere Monate keine Sonne sahen und kaum Bewegung hatten, da die Arbeit auf engstem Raum unter Deck stattfand. Den Rest der Zeit lebten sie ungesund: mit rauchen und trinken. Ein Schiff stellt einen zweiseitigen Hebel dar, wobei der Schwerpunkt etwa im hinteren Drittel liegt. Hier war der ruhigste Punkt und die besten Kajüten, aber auch nur für den Kapitän mit den Offizieren. Ja, die Welt ist eingeteilt in Obrigkeiten und Kompetenzen. Unsere Kajüte war etwa vier Quadratmeter groß. Darin waren zwei Schlafkojen, zwei schmale Schränke sowie ein Tischlein festgeschraubt. Das einzige Bullauge aus dickem Glas ließ sich öffnen und konnte noch zusätzlich von Innen mit einer Messing-Panzerblende verschlossen werden. Bei schwerer See benutzte man diese Blende ohne besondere Aufforderung. Nachdem wir unsere Sachen verstaut hatten hörten wir die Pfeife des Bootsmannes laut und vernehmlich. Wir rannten hinauf auf das Deck, denn die Art der Pfiffe sagte uns das Kommando „Sammeln“ an. Wir bekamen dann eine sehr erbauliche Rede zu hören und wurden in Arbeits-Gangs eingeteilt. Am späten Nachmittag, so gegen 17 Uhr, es dunkelte bereits, legte das Schiff von der Kaimauer ab. Die Festmacher lifteten die armstarken Haltetrossen und zwei Bugsierschlepper zogen das Schiff hinaus auf die Reede. Wir Landratten standen an der Reling und blickten traurig, aber auch wenig trotzig auf die sich mehr und mehr entfernenden Lichterketten der Hafensilhouette, die langsam im Herbstnebel versank. Ein Jugendtraum wurde Wirklichkeit. Einige Meilen vor dem Hafenbecken drehten die Schlepper um und das Schiff ließ seine eigenen, zwei gewaltigen Dieselmotore anlaufen. Ein ungewohntes Vibrieren ging durch den stählernen Rumpf und blieb als ständiges Dröhnen in den Ohren hängen. Das Wasser hinten am Heck, dort wo die Slip steil ins Wasser hinunter fiel, wurde gewaltig aufgewühlt. Vierundzwanzig Stunden Probefahrt auf Reede, und dann nahm das Schiff Kurs auf, hinaus in die unendlich erscheinenden Weiten des Atlantischen Ozeans. Das Fernziel unseres Schiffes war der Fangplatz vor Labrador. Labrador, eine Halbinsel kanadischer Hoheit, an Alaska anschließend. Eine unruhige Nacht in einer ungewohnten Umgebung begann. Das in der aufgewühlten See stampfende Schiff bahnte sich einen Weg durch die Wellen des Sund, vorbei an der Küste Dänemarks. Als der Morgen graute kreuzten uns die großen Fähren von Hamburg nach Trelleborg und Gedser. Neben der Fahrrinne lauerten Wracks und Sandbänke auf unvorsichtige Schiffer. Im Skagerrak sah ich die Leuchtfeuer mit den ewigen Fackeln der Erdölplattformen. Der schrille Pfiff der Bootspfeife riss uns aus dem wohligen Dämmern. „Reise, reise alles aufstehen!“ Das Arbeitsleben an Bord begann. Mit einigen anderen stieg ich über drei Decksetagen hinunter in den dunklen, stinkenden Schiffsbauch, in den Laderaum. Es stank bestialisch nach verfaulten Fischen. Wir sammelten die liegengebliebenen Kadaver der letzten Entladung in große Papiersäcke ein und stellten die Schotts für die Lagerung des zukünftigen Fanges auf. Seit einiger Zeit befanden wir uns in den stürmischen Gewässern des Nordatlantik. Die Wellen wurden höher und länger. Das Essen in der Mannschaftsmesse wollte nicht mehr so recht schmecken. Von den Neuen fehlten bereits eine stattliche Anzahl. Die Alten lächelten gütig und aßen doppelte Portionen. Das erste mal in meinem Leben sah ich grüngraue Gesichter, die sich schmerzlich verzerrten. An Bord hatte das „große Kotzen“ begonnen und die Alten hatte ihre Freude an uns. Statt Seebeine hatten wir schwammige Glieder bekommen. Unten im Portugiesendeck krümmten sich die See­kranken über ihrer Pütz (Eimer). Das Schiff machte etwa siebzehn Knoten Fahrt. Dann kam Sturm auf. Orkanartige Winterstürme mit Windstärke Zwölf brachten drei Tage das Schiff vom Kurs ab. Der Alte auf der Brücke änderte diesen ab und stellte das Schiff genau gegen den Sturm. Das war die einzige Möglichkeit in der Gischt speienden See nicht zu kentern. Der Erste Offizier, den ich nach der Krängung (Seitenneigung) des Schiffes fragte, antwortete „52 Grad“. Bei 62 Grad läge der kritische Punkt des Schiffes. Wir befanden uns inzwischen in der Nähe des 72. Breitengrades, zwischen Island und Grönland. Man konnte später, als sich der Sturm legte, die Küsten erkennen. Die Wassermassen stiegen zu zwanzig Meter hohen Bergen auf. Das Schiff wurde ausgehoben und knarrte auf dem Wellenkamm in seinen Spanten gefährlich. Dann stürzte es in ein endlos scheinendes Wellental hinab. Die Geräusche der Wassermassen an unserer Bordwand waren fürchterlich und wir hatten zu tun, uns in unseren Kojen zu halten. Mich hatte die Seekrankheit ebenfalls ereilt und ich gedachte zu sterben. Alle lieben Menschen fallen einem mit ihren guten Ratschlägen ein „Bleibe an Land und nähre dich redlich“, „Wer die Gefahr sucht, kommt darin um“ usw.. Ich hatte zu Gott gebeten, dass er mich wieder gesund nach Hause kommen lässt. Die Fahrt ging auf vier Knoten Geschwindigkeit herunter. Mein Zimmerkamerad war auf dem Weg zur Toilette bei diesen ungestümen Schiffsbewegungen einige Treppenstufen hinuntergestürzt und bewusstlos liegengeblieben. Bei solchem Wetter hörten auch die Sticheleien der Alten auf und sie begannen uns zumindest als anwesend zu betrachten. Nur die liebevoll vorgehaltene Pfanne Rühreier mit Speck war zuviel für meinen strapazierten Magen. Sechzig mal pro Tag Erbrechen war normal, allerdings kam nur noch Galle hervor. Der Durst machte wahnsinnig. Nach einundzwanzig Tagen erreichten wir den Fangplatz, wo sich schon mehrere Schiffe der unterschiedlichsten Nationen eingefunden hatten. Einige waren schnelle Fangschiffe aus Rostock. Man nannte sie „Graue Wölfe“. Sie hatten zumeist eine 400-erter Nummer. Diese Schiffe fingen in der Nähe des Mutterfangschiffes den Fisch und ließen die vollen Hols mit Markierungsbojen auf dem Wasser schwimmen. Das Mutterschiff holte sich dann diese und zog sie an Bord. Danach wurde der Fisch sofort verarbeitet. Die großen Schleppnetze wurden am Heck des Schiffes mittels Winden in das Wasser gleiten lassen, wobei das Netz von den riesigen Scherbrettern offen gehalten wurde. So ein Netz hat schon leer ein Gewicht von mehreren Tonnen, aber gefüllt kann es bis zu hundert Tonnen aufnehmen. Es hängt an starken Stahltrossen, die mittels Umlenk- und Führungsrollen über einen A-förmigen Mast laufen und in einer oder zwei starken Winden enden. An diesem A-Mast wird der volle Hol hochgezogen und in eine mächtige Luke entleert. Wenn Unfälle passieren, dann sind diese auch meist entsprechend der robusten Technik sehr schwer. Zerquetschte Füße, abgerissene Finger oder tödliche Unfälle passieren doch relativ häufig, auch wenn man wenig darüber schrieb und hörte. Die Gewässer in Küstennähe, es waren etwa 60 Seemeilen bis zum Land sind zumeist ruhiger als auf offener See. Wir erholten uns daher allmählich wieder. Meinen Zimmerkameraden hatte man nach einem mehrtägigen Aufenthalt in der Krankenstation des Schiffes einem, in die Heimat fahrenden Trawler übergeben. Bis zu seinem Brief an mich hatte ich daher keine Ahnung, wie es ihm ergangen war. Man hatte mich den Fischverarbeitern unter Deck zugeteilt, wo ich an der Filetieranlage arbeiten musste. Unablässig wanderten, in einem schier endlosen Strom Kabeljaue, Grenadierfische, Makrelen und Barsche hinunter in den gefräßigen Bauch des Verarbeitungsschiffes. Es wurde filetiert, gefrostet und verpackt. Innereien, Köpfe und Flossen wurden entweder zu Tran zerkocht oder zu Fischmehl verarbeitet. Der Geruch dort war unerträglich. Die Amerikaner kamen mit leeren Schiffen, sogenannten Leichtern längsseits und holten sich gleich für bare Dollars die Fertigwaren ab. So brauchten sie keine eigene Fangflotte. Ein Sack Fischmehl kostete etwa 50 $. Die ehemalige DDR-Führung hatte sich auch hier sehr gute Valuta-Einnahme-Quellen erschlossen. Weinachten 1974 verbrachte ich auf See. In der Messe hatte man einen Tannenbaum aufgestellt, der Schnaps floss reichlich. Einige, der sonst so harten Jungs fingen an zu heulen wie Kinder. Wahrscheinlich waren sie schon zulange auf See und in Verbindung mit dem Alkohol seelisch ziemlich angeschlagen. Ich schaute mir abends den japanischen Film „Onibaba“, einen für die damalige Zeit recht brutalen Film, an. Der Seegang war jedoch wieder sehr heftig, so dass ich in meine Koje ging und meinen eigenen Gedanken nachhing. Der Dienst verlief im 6-Stundenrhythmus und war zermürbend. Ich hatte inzwischen einen neuen Kajütenbewohner bekommen, so dass ich nicht mehr allein war. Auf der Jungen Garde gab es, nachdem ich mich auf der Rückreise befand einen Toten. In einem der Kühlräume war ein Hauptschlauch für das Kühlmittel Ammoniak geplatzt und ein Produktions­arbeiter erstickte. Ich war froh, als meine Austauschzeit kam. Es war morgens 3 Uhr. In Ölzeug und Südwester stiegen wir zu dritt in das Transportschlauchboot ein, welches dann außer Bord geschwenkt und etwa acht Meter hinunter auf die dunklen Wellenkämme zutaumelte, bis es laut aufklatschte. Die rostige Bordwand erschien endlos. In etwa dreihundert Meter Entfernung schaukelte ein stark vereister Seitenfänger, es war die ROS 207 (ein ausrangiertes Fangschiff), in den Wellen. Wir hatten Windstärke sechs. Der Motor des Schlauchbootes heulte auf. Als wir im Lichtkegel der starken Suchscheinwerfer des Transporters auftauchten, sah ich die Jacobsleiter total vereist in Hecknähe herunterhängen. Das Schiff selbst rollte tüchtig in der See, denn es ankerte mit Treibankern. Ich musste sehr aufpassen, um im richtigen Momente die Leiter zu fassen. Sie schwang vor mir hin und her. Einmal war sie etwa einen Meter über mir und dann tauchte sie für einige Sekunden ins Wasser ein. Ich sprang aus dem schlingernden Schlauchboot an die glatte Leiter und hielt mich wie ein Affe daran fest. Einige Sprossen kletterte ich hoch, dann zogen mich kräftige Arme über die Reling. Ich hatte zwar ein Sicherheitsseil um, aber in das Wasser hätte ich nicht fallen wollen. Es betrug minus zwei Grad. Auf so einem ausrangierten Trawler, der nur noch Besatzungsmitglieder im Austausch transportierte mitzufahren war schon ein Abenteuer. Alle nannten das Schiff nur den Bus. Mit seinem richtigen Namen hieß es aber die „Erfurt“ und sein damaliger Kapitän hieß Ernst. Aber wie gesagt, wir waren insgesamt vielleicht sechzehn Mann auf dem Schiff, wovon einige von den unterschiedlichsten Schiffen stammten und nach Hause fuhren. Die Schiffs-bewegungen des wesentlich kleineren Trawlers waren viel heftiger, so dass die Seekrankheit erneut aufkam. Mir ging es dort sehr schlecht. Der Alte, der sein Häufchen gut übersehen konnte, kam nachdem ich mehrmals nicht zu den Mahlzeiten in der Pentry (Küche) erschien, zu mir und holte mich auf die Brücke. Er war mitfühlend, was man nicht oft dort fand. Er drückte mir einen Feldstecher in die Hände und sagte ich sollte das Meer beobachten, das lenkte ab. Und in der Tat, die Worte der Zuwendung und der Anblick des Meeres, verbunden mit einem klaren Himmel ließen mein Gefühl für die Freiheit des Seefahrerberufes und die Unendlichkeit des Ozeans anwachsen. Jetzt erst, außerhalb der stinkenden Fischluken und der Dunkelheit begriff ich, warum Menschen diesen Beruf liebten. Das Meer schimmerte grün-blau, wie eine gigantische Glasschmelze mit weißen Kronen. Die großen Raubmöwen schauten neugierig aus weniger als zwei Meter Entfernung zu uns herein. Und ich bewunderte diese großen Vögel, die sich fast nie auf die Wellen setzen, und die in einer derart unwirtlichen Umwelt leben konnten. Unser Schiff tauchte mit seinem Bug oftmals tief in die Wellenberge hinein, so dass die Gischt bis zu uns auf die Brücke spritzte. Die Möwen stießen ihre klagenden, kehligen Rufe aus und aus dem Meer stieg der Duft von Salz, Tang und Plankton herauf. Ich hatte den Eindruck, dass hier der Sauerstoff der ganzen Welt erzeugt wird. Das Gefühl, einmal weit weg von der Betriebsamkeit der Welt, den menschen­vollen Straßen und dem Lärm einer Stadt zu sein ist sehr schön, aber es fehlt dem Auge die gewohnte Buntheit der herbstlichen Natur, das Zwitschern der Singvögel und auch das Bellen eines Hundes. Horizont und Meer verschwimmen in der Feme zu einer unauflöslichen Linie, die keine realen Schätzungen des Wohin zulässt, wären da nicht die Navigations-Instrumente. In einer solch besinnlichen Situation erwacht im Inneren der Seefahrer ein Gefühl der Trostlosigkeit und das Heimweh meldete sich mächtig. Man möchte ein fliegendes Schiff, um seine Sehnsucht nach den Menschen und der Natur des Festlandes baldigst stillen zu können. Aber das Schiff brauchte seine Zeit und die Gefahren lauerten überall auf See. Eines nachts, ich glaube es war unser elfter Rückreisetag mit dem Bus, erwachte ich durch ein ungewohnt starkes Rollen des Schiffes und ich vermisste das ständige Stampfen der Schiffsmaschine. Es war sehr still. Ich sprang hinaus und sah die Besatzung schwitzend hin und her eilen. Die Antriebswelle der einen Schiffschraube war abgeschert und es kam Sturm auf. Das Schiff war sehr hilflos. Trotz der ausgeworfenen beiden Treibanker wurde es in den sturmgepeitschten Wellen wie eine Nussschale herumgeworfen. Da sich das Schiff, kraftlos, stets quer zu den Wellen legte, war die Gefahr des Kenterns groß, wenn einer der Treibanker reißen würde. Besonders unangenehm ist das beständige rollen in der See dem Hirn und dem Magen. Wenn man dazu fast drei Tage kaum schläft, nur erbricht, nichts isst, dann sieht man entsprechend herunter gekommen aus. Da wir etliche Meilen vom Kurs abtrieben, dauerte unsere Fahrt nun 23 Tage. Nach zwei Tagen war die Welle getauscht und das gewohnte Brummen der Maschinen erschien uns nun wie die Verkündung des ewigen Lebens. Der Sturm verging so plötzlich, wie er gekommen war und wir erholten uns wieder nach einigen Tagen. Auf der Brücke waren wir zumeist zu Dritt oder zu Viert. Wir füllten unsere Mucken (Tassen) mit heißen Kaffee und erzählten aus unseren Lebensläufen. Der Alte trug mir auf, dass ich das Schiffsruder übernehmen sollte, da er so einem Matrosen etwas mehr Schlaf verschaffen konnte und ich etwas Arbeit verrichten konnte. „Kurs 210 Grad“ befahl er mir. Ich quittierte das Kommando und versuchte die Kompassnadel, die inzwischen mehr als 3 Strich aus dem Kurs war, wieder durch Verstellen des Ruders auf diesen zu bringen. Da ich noch keine Erfahrung mit der Trägheit des Ruders hatte, drückte ich zulange und das Ruder lief über 5 Grad des Kurses in anderer Richtung hinaus. Das hatte zur Folge, dass sich das Schiff gewaltig auf die Seite legte und sich meine Kaffeetrinker sämtlich in einer Ecke zusammengepfercht wiederfanden. Um meinen Fehler wieder zu korrigieren drückte ich die Taste des Steuerbordruders, wobei sich das ungute Spiel wiederholte. Ich sah, wie sich das Schiff mit seiner Bordwand bündig im Einklang mit dem Meer befand und wir einige Tonnen Seewasser aufnahmen. Nach einiger Zeit war alles wieder im Lot und dann setzen die Vorwürfe ein. Ich schwieg schuldbewusst und den Gequälten ging die Luft aus. Später haben wir alle herzlich gelacht. Es waren nur noch wenige Tage bis das Schiff im Heimathafen einlaufen sollte und Landgangsstimmung machte sich breit. Man hörte hier und da ein gepfiffenem oder geträllertes Liedchen von Leuten, die sonst nur fluchten oder schwiegen. Andere schnitten sich gegenseitig ihre Mähnen und rasierten die ungepflegten Barte ab. Das ganze Schiff duftete nach Rasierwasser, Seife und Deo. Es wurde gebügelt und Knöpfe an Hemden genäht, und man musste zweimal hinsehen, wenn man die wilden Gesellen nun in ziviler Pracht wiedererkennen wollte. Am Pier, nach 23 Tagen Fahrt und acht Wochen auf See endlich eingelaufen, konnte man die richtigen, aber auch die falschen Bräute warten sehen. Nachdem die Heuer ausbezahlt war fuhren die Junggesellen zu dritt im Taxi in ihre Stammkneipen. Manche sah man erst nach einer Woche wieder im Haus der Hochseefischer. Sie sahen mitgenommen aus, manche hatten ihre ganze Heuer versoffen und vertan und nahmen dann wieder das erste beste Schiff und fuhren davon. Das Meer ließ sie nicht mehr los und sie kamen an Land nicht mehr zurecht. „Ja, so is dat, min Jung, up de See !“ Damit endete dieses Abenteuer, aber ich möchte es nicht in meinem Lebenslauf missen. Und der beste Rat, den ich jemanden gegen Seekrankheit geben möchte ist: „Bleiben Sie an Land!“ „ Denn man tau!“

[...]

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Details

Titel
Als Fischverarbeiter vor Labrador
Autor
Jahr
2010
Seiten
19
Katalognummer
V160630
ISBN (eBook)
9783640770700
ISBN (Buch)
9783640771165
Dateigröße
503 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Für Interessenten im Fachgebiet Ozeanografie und Fischfang geeignet.
Schlagworte
Fischfang, Labrador, ROS 317 Junge Garde, bernd staudte, Seefahrt, Fischkombinat Rostock, Hochseefischerei, Kabeljauverarbeitung
Arbeit zitieren
Diplom-Ingenieur Bernd Staudte (Autor:in), 2010, Als Fischverarbeiter vor Labrador , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/160630

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