Strategien und Realisierung im Wiederaufbau erdbebenzerstörter Gemeinden in Kampanien


Diplomarbeit, 1998

129 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Problemstellung

2. Hinweise zur Methodik

3. Geographische Charakteristik
3.1 Physiogeographische Ubersicht
3.1.1 Geologische Struktur und Dynamik
3.1.2 Geologische Gliederung
3.1.3 Lokalklima und -Vegetation
3.2 Anthropogeographische Ubersicht
3.2.1 Wirtschaftliche Entwicklung
3.2.2 Soziookonomische Raumanalyse
3.2.3 Siedlungsgeographische Merkmale
3.2.3.1 Topographische Lage
3.2.3.2 Siedlungsentwicklung
3.2.3.3 Lokale Gebaudetypen
3.2.3.4 Entwicklung des Wohnstandards

4. EntwicklungundVerlaufder Katastrophe
4.1 Geologische Struktur und Dynamik des Bebens
4.1.1 Geomorphologische Folgeprozesse
4.2 Die soziale Katastrophe
4.2.1 Schadensumfang und Verteilung

5. Die Aufbauphasen
5.1 SoforthilfemaBnahmen
5.2 Aufbau provisorischer Siedlungen
5.3 Aufbau der endgultigen Siedlungen
5.3.1 Auftragserteilung und - Durchfuhrung
5.4 Wiederaufbau und regionale Entwicklung

6. Analyse der Wiederaufbaustrategien anhand der Beispielgemeinden
6.1 Sant' Angelo dei Lombardi
6.1.1 Siedlungsgenese bis 1980
6.1.2 Gestaltelemente im Aufriss des „centro storico"
6.1.3 AusmaR und Verteilung der Erdbebenschaden
6.1.4 Wiederaufbau-und Entwicklungskonzepte
6.1.5 Realisation der Konzepte
6.1.5.1 Die Konzeption der Notunterkunfte
6.1.5.2 Durchfuhrung des Baukonzeptes
6.1.5.3 Verbesserung des Wohnniveaus
6.1.5.4 Realisierung des funktionalen Konzeptes
6.2 Bisaccia
6.2.1 Stadtgeschichte und Stadtentwicklung
6.2.2 SchadensausmaR und Verteilung im Raum
6.2.3 Geologische und geomorphologische Zusammenhange
6.2.4 Strategiendiskussion
6.2.5 Realisation des Wiederaufbauplanes
6.2.5.1 Realisation der neuen Wohn- und Siedlungsstrukturen
6.2.5.2 Architekturinterpretation Aldo Rossis
6.2.5.3 Wohnniveau-Entwicklung
6.2.5.4 Funktions- und Flachennutzungsgefuge
6.3 Conza della Campania
6.3.1 Siedlungsentwicklung
6.3.2 Erdbebenschaden im alten Ortskerne
6.3.3 Geologische Struktur des alten Siedlungsgebietes
6.3.4 Konzept und Realisation des Wiederaufbaus
6.3.4.1 Die Siedlungsstruktur des neuen Conza della Campania
6.3.4.2 Planung und Entwicklung des Wohnstandards
6.3.4.3 Flachennutzung und Funktionsstandorte der neuen Siedlung

7. Vergleich der Strategien-und Realisationserfolge
7.1 Demographische Entwicklung der Beispielgemeinden
7.2 Okonomische Entwicklung

8. Schlussbetrachtung

9. Literaturverzeichnis

1. Problemstellung

In Suditalien zerstorte ein Erdbeben der Starke 6,7 Grad der Richterskala am 23. November 1980 313 von 678 betroffenen Gemeinden. Allein in der Provinz Avellino wurden 1.762 Menschen getotet und 3.993 verletzt (CICCONE, 1980, S. 51 f.). Fur den Wiederaufbau und die regionale Entwicklung wurden 66.113 Mrd. Lire aus der Staatskasse bereitgestellt (DI SOPRA, 1992, S. 7). Der Wiederaufbau wurde jedoch auch nahezu 18 Jahre nach dem Beben nicht vollstandig abgeschlossen und die damals errichteten Notunterkunfte werden zum Teil noch heute bewohnt. Das Untersuchungsgebiet Irpinien war schon vor dem Beben durch eine Strukturschwache gekennzeichnet. Trotz der hohen finanziellen Hilfen, leiden die lokalen Gemeinden immer noch an starken Bevolkerungsverlusten durch die ungebrochene Abwanderungsbewegung aus der Region heraus. Daruber hinaus fand wahrend des Wiederaufbaus ein unkontrollierter, uberdimensionaler Bauvolumenzuwachs statt. Auf der anderen Seite liegen seit Jahren Rohbauten unvollendet in Form von Bauruinen brach.

Auch nach dem irpinischen Erdbeben findet in Italien die Pravention zum Schutz vor Katastrophen keine praktische Anwendung. In den vergangenen 10 Monaten sind zwei weitere Katastrophen erlitten worden, wie z. B. das Erdbeben1 in Umbrien und den Marken im September 1997 mit 11 Toten, 250 Verletzte, 48 betroffenen Gemeinden, 130.000 Obdachlosen (LA REPUBBLICA, 29.9.1997 und LA NAZIONE, 27.9.1997) und der rezenten Katastrophe vom 6. Mai 1998, die erneut in einem Teil des ehemaligen irpinischen Bebengebietes stattfand. Zerstorerische Schlammmassen rutschten durch Brandrodung geglatteter Hange in besiedelte Gebiete hinab, was 147 Todesopfer und eine Zahl von 2.000 Obdachlosen forderte. Einige Container der Erdbebenzeit, welche seit 18 Jahren von Menschen bewohnt wurden, die auf ein neues Haus warteten, wurden ebenfalls von der Schlammflut zerstort (LA REPUBBLICA, 7.5. und 15.5.1998). Die Berichterstattung der Medien uber die Katastrophen gleicht erschreckend der des Jahres 1980. Die Berichte handeln von zu spat und zu unzureichend geleisteter Hilfe, von Korrumpierbarkeit der verantwortlichen Verwalter und Politiker und letztlich von der schleichenden Annaherung an den ersehnten Normalzustand. Der aktuelle Bezug des Themas ist also ohne weiteres gegeben. Der Zeitpunkt, 18 Jahre nach dem irpinischen Beben, scheint fur eine Untersuchung der Wiederaufbaurealisation gut geeignet, da die Bauarbeiten in groBen Teilen abgeschlossen sind und die okonomische Situation nicht mehr unmittelbar mit Folgen des Erdbebens im Zusammenhang stehen muss.

Die Katastrophenforschung ist fur die Geographie ein bedeutendes wissenschaftliches Feld, da auBere Strukturen teilweise oder vollstandig zerstort werden und „Raum“ erst wieder ganz neu geordnet und gestaltet werden muss. Durch das Erdbeben in Irpinien entstanden durch die verheerenden Zerstorungen „Stadte der Erinnerung“, da das Bild einer betroffenen Stadt, also dessen Mauern, Gebaude, die soziale Vergangenheit der Bewohner usw. in den Kopfen der Uberlebenden weiterlebte. Die Funktionen, die die zerstorten Gemeinden innehatten, sind durch die furchtbare Katastrophe auf eine unbestimmte Zeit aufgehoben worden. Auch die beruflichen Stellungen und Tatigkeiten mussten zunachst unter den Trummern begraben werden. Eine „Stadt ohne Raum“ ist entstanden und dessen heimatlos2 gewordene Menschen fordern diesen Raum mit allen seinen Funktionen und auBeren und materiellen bzw. inneren und sozialen Werten zuruck. Stadt- und Regionalplaner setzten diesen Forderungen noch ihren personlichen Ehrgeiz hinzu, die neu zu errichtenden Stadte „besser“ und „funktionaler“ aus der Asche wiederauferstehen zu lassen, mit dem Endziel, die Stadt imposanter und dessen Bewohner wohlhabender zu machen. Die Planung und Organisation des Wiederaufbaus bewegt sich demnach auf zwei parallel verlaufenden, hypothetischen Gleisen:

1. Ziel des Wieder- bzw. Neuaufbaus der Siedlung ist, den alten baulichen Zustand so bald wie moglich wiederzuerlangen oder gar zu verbessern. Der Erfolg des Endproduktes kann unabhangig von der ehemaligen Qualitat und Quantitat der Bausubstanz gesehen werden. Fur das Ergebnis werden vielmehr die Auswahl der Wiederaufbaustrategie, dessen Planung, Organisation und der Durchfuhrungsprozess verantwortlich gemacht. Eine weitere Bedeutung wird der regionalpolitischen Konstante zugeschrieben, die schon kurz nach dem Bebenereignis ihren Zustand preisgibt.

2. Die okonomischen Entwicklungschancen einer Gemeinde hangen dagegen ganz eng mit der wirtschaftlichen Vorbebenstruktur und dessen Potentiale der Siedlung, der gesamten Region sowie mit der VerfUgbarkeit staatlicher Finanzhilfen zusammen. Ein adaquat durchgefuhrter Wiederaufbau kann nur kurzfristig durch die erhohte Bauaktivitat auf die gesamtwirtschaftliche Situation Einfluss nehmen.

Die vorliegende Arbeit soll in Bezug auf die Hypothese 1 untersuchen, wie erfolgreich der Wiederaufbau in drei ausgewahlten irpinischen Gemeinden durchgefuhrt wurde und welche Kriterien die Qualitat des Wiederaufbauproduktes signifikant beeinflusst haben. Chronologisch beginnt diese Untersuchung mit der Darstellung der Siedlungsentwicklung, um den Ortscharakter mit seinem historischen Wert einst und heute vergleichen und bewerten zu konnen.

Um aus der Hypothese 2 GesetzmaBigkeiten ableiten zu konnen, kann nicht auf eine ausfuhrliche Darstellung der geographischen Vorbebensituation und deren Entwicklung bis heute verzichtet werden. Um den Einfluss des Wiederaufbaus bzw. einer bestimmten Wiederaufbaustrategie an der sozialwirtschaftlichen Situation abmessen zu konnen, sollen Entwicklungsfaktoren aus den beiden Bereichen vergleichend gegenubergestellt werden.

GEIPEL (1992) stellt fest, dass italienische Erdbebengebiete3, trotz gleicher Nation, gleichem Wirtschaftssystem, Krisenmanagement und Zeitraum jeweils vollig unterschiedliche Wiederaufbauerfolge und wirtschaftliche Entwicklungen durchmachten. Er kommt zum Schluss, dass die uber die regionale physio- und sozialgeographische Ausgangslage vor dem Erdbeben des jeweiligen Gebietes hinaus, auch die „Arbeitsethik“ der Bevolkerung eine einschneidende Rolle fur die zukunftige Entwicklung spielt:

„...Aber selbst dann, wenn die im Falle Friauls geschaffenen neuen Entschadigungsgesetzte im Mezzogiorno voll angewendet worden waren, ware ihr Effekt wahrscheinlich weitaus geringer als im Friaul. Denn diese Entschadigungen waren an „ Untertanen“ gegangen (oder an ihnen vorbeigeleitet worden), wahrend sie im Fall von Friaul auf „ Burger “ trafen, die mit diesem Pfund zu wuchern verstanden. Gesetzgeber mussen sich deshalb im Klaren daruber sein, dass Entschadigungsgesetzte - im gleichen Staate angewandt - dennoch zu sehr unterschiedlichen Wiederaufbauleistungen fuhren konnen...“ (GEIPEL, 1992, S. 37)

Diese Auffassung hat jedoch nur hypothetischen Charakter, solange ein suditalienisches Bebengebiet nicht eingehend auf diesen „Verdacht“ hin uberpruft wird.

Die vorliegende Arbeit soll also:

- Signifikante Faktoren der Wiederaufbaustrategien und dessen Realisation ermitteln, die die urbane und soziookonomische Zukunft dreier Beispielgemeinden mitbestimmten, um daraufhin
- Losungs- und Verbesserungsmoglichkeiten fur vergleichbare Raume anzubieten, die die ermittelten Faktoren lenken, umgehen oder ausschalten.

2. Hinweise zur Methodik

Die Arbeit legt im ersten Abschnitt die geographische Charakteristik des Untersuchungsgebietes dar, um einen tieferen Einstieg in die physische und anthropologische Problematik zu ermoglichen. Die physiogeographischen Hinweise erlautern hauptsachlich die geologisch-geomorphologischen Faktoren, die in Irpinien eine Rolle im Zusammenhang mit tektonischen Erdbeben spielen. Bereits an dieser Stelle soll auf die potentielle seismische Gefahr aufmerksam gemacht werden, die diese Region standig in sich birgt. Die anthropogeographische Ubersicht stellt die soziookonomische Entwicklungsgeschichte bis zum heutigen Stand dar. Die Bedeutung dieses Faktors in Zusammenhang mit der Bewertung des Wiederaufbaus im Rahmen der Entwicklungsplanung wurde bereits oben erwahnt. Wahrend des Vergleiches der okonomischen Entwicklung der Beispielgemeinden wird auf diese Darstellung zuruckgegriffen. Ein weiterer Teil widmet sich der siedlungsgeographischen Aspekte, die fur die Bewertung des baulichen Zustandes bzw. des architektonischen Charakters eine groBe Rolle spielen.

Die Entwicklung und der Verlauf der irpinischen Katastrophe gibt zunachst Einblick in die individuelle geologische Struktur und Dynamik des Bebens und die dadurch ausgelosten geomorphologischen Folgeprozesse, die die Schaden in den Gemeinden unmittelbar mitbestimmten. Hauptziel des Abschnittes „Die soziale Katastrophe“ soll die Verantwortung der Menschen fur die durchlittene Katastrophe betonen, um gleichzeitig Moglichkeiten aufzuzeigen, vergleichbare Bebenablaufe in eine andere Richtung mit geringeren personlichen und materiellen Opfern zu lenken.

Die Hinweise auf den Schadensumfang und dessen Verteilung im Raum sind sehr wichtig fur den Vergleich mit anderen Erdbeben. Desweiteren wird hier auf die Problematik des Abschatzens der Schaden verdeutlicht, und die genauen Kosten fur den Wiederaufbau und die regionale Entwicklung werden aufgefuhrt.

Eine Erdbebenkatastrophe lost fur eine zerstorte Siedlung einen langwierigen Prozess aus, der mit dem Erlangen des „Normalzustandes“ abschlieBt. Der Punkt 5. unterscheidet diverse Aufbauphasen, die den genannten Prozess gliedern: die Phase der Sofort-maBnahmen, der Aufbau der provisorischen Siedlungen und letztlich der Aufbau der endgultigen Siedlungssubstanz. Der Punkt 5.3.1 soll auf den fur den irpinischen Wiederaufbau so bedeutenden Hemmfaktor der kriminalistische Organisation „Camorra“ aufmerksam machen. Die vorliegende Arbeit setzt ihren Schwerpunkt auf die dritte und letzte Phase des Aufbaus.

Demnach konzentriert sich der Hauptteil der Arbeit auf die Aufbauprozesse der drei Beispielgemeinden. Die Beispielgemeinden Sant’ Angelo dei Lombardi, Bisaccia und Conza della Campania wurden nach dem nomothetischen Prinzip untersucht. Die Orte sind durch unten aufgelistete Punkte vergleichbar, sollen aber auch auf ihre individuellen Unterschiede hin analysiert werden, um so ein Erklarungsmodell fur siedlungs- und wirtschaftsentwickelnde Faktoren herleiten zu konnen. Sie unterscheiden sich partiell durch:

— Die SiedlungsgroBe;
— Die Bevolkerungsdichte;
— Das AusmaB der Zerstorungen infolge des Erdbebens und Erdrutschungen;

— Das Konzept der Wiederaufbaustrategie;
— Ihre soziologische Vergangenheit;
— Ihre Gebaudetypologie.

Vergleichbar sind die Gemeinden durch:

— Ihre okonomische Strukturschwache;
— Ihre hohe Abwanderungsrate;
— Ihre politische Vertretung durch die D.C.4 ;
— Ihre topographische Ausgangslage (vor 1980).

Uber die jeweils korrespondierenden stadtgeographischen Untersuchungszweige hinaus hat jede der drei Gemeinden individuelle Bezugspunkte, die sich nach der Diversitat der Wiederaufbaustrategie richten. Bei der Darstellung der siedlungsbezogenen Entwicklungen von Sant’ Angelo dei Lombardi wurde die Bedeutung der Gestaltelemente im Aufriss des „centro storico“ besonders hervorgehoben, da hier das Ziel die Bewahrung des historischen Stadtcharakters war. Bisaccia hingegen sticht durch sein Konzept der Verbindung zwischen alter und neuer Siedlung durch die moderne und imposante Architektur Nuova Bisaccias hervor. Aus diesem Grund wird der Architekt ALDO ROSSI mit seiner Dialektik und seinen Zielen vorgestellt. Conza della Campania, die kleinste Siedlung der drei, setzte alle Hoffnungen auf eine positive wirtschaftliche Entwicklung durch Tourismus. Der Wiederaufbauplan mit dem Konzept der Aufgabe der alten Siedlung als Wohnort befasst sich hauptsachlich mit der Planung des archaologischen Parks auf den Fundamenten der historischen Stadt „Compsa Romana“.

SchlieBlich soll im folgenden Abschnitt eine Grundlage fur die Verifizierung der zweiten Hypothese geschaffen, indem die demographische und okonomische Entwicklung der Untersuchungsgemeinden im Hinblick auf Zusammenhange mit der Phase des „dopoterremoto“, also der Nachbebenzeit, analysiert werden.

Die Ergebnisse und Antworten auf die Fragestellungen der durchgefuhrten Untersuchungen werden unter dem Punkt „Schlussbetrachtung“ zusammengefasst und auf einen Ausblick in die Zukunft abgestimmt.

3. Geographische Charakteristik

Irpinien bezeichnet ein von Irpiniern fruh besiedeltes Gebiet im suditalienischen Kampanien. Es handelt sich um eine Region des meridionalen Apennins zwischen Mt. Taburno und der Taler des Calore und Sabato. Administrativ wird Irpinien durch die Provinz Avellino definiert. Irpinien soll in dieser Arbeit als Untersuchungsschwerpunkt dienen, da sich das Epizentrum und die gravierendsten Schaden an Personen und Gutern in diesem Gebiet befanden. Diese Charakteristik macht die Gesamtheit der Gemeinden zu einem mehr oder weniger homogenen Untersuchungsraum. Nahezu alle Gemeinden sind vom Wiederaufbau betroffen und mussten die Zeit des „dopoterremoto“, d. h. die Zeit nach dem Beben, im provisorischen Zustand uberdauern.

Das irpinische Erdbeben 1980 und der bis heute nicht vollstandig abgeschlossene Wiederaufbau kann nur uberzeugend untersucht werden, wenn im Vorfeld ein komprimierter Einblick in die verschiedenen geographischen Zweige mit deren dichten und weniger dichten Verflechtungen gegeben wird. So wie ohne eine Untersuchung der geologischen und physiogeographischen Bedingungen eine Erklarung des Erdbebens nicht moglich ist, so ist eine Katastrophe, fur welche immer ein MindestmaB an menschlicher Betroffenheit in einem Raum Voraussetzung ist, nicht ohne anthropogeographische Zusammenhange denkbar.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Lage des Untersuchungsraumes Irpinien im italienischen Kampanien (Entwurf und Kartographie: BEIM GRABEN).

3.1 Physiogeographische Ubersicht

Die folgende Darstellung der physiogeographischen Ubersicht enthalt nicht alle Zweige dieser geographischen Richtung. Bewusst soll eine enzyklopadische Aneinanderreihung der einzelnen Spezialgebiete vermieden werden, da sie nicht alle eine gleichstarke Bedeutung fur das zu behandelnde Thema haben. Die Geologie und Geomorphologie haben eine dominante Bedeutung fur das AusmaB der Katastrophe. Eingehende geologische und geomorphologische Studien sind daruber hinaus Voraussetzung fur einen funktionierenden Wiederaufbau bzw. ein langfristiges Erhalten der wiedererbauten Siedlungen.

Da das lokale Klima fur die geomorphologischen Folgeprozesse und fur den Wiederaufbau eine Rolle spielt, soll kurz auf die klimatischen Bedingungen eingegangen werden. Eine eingehende Behandlung der Bodengeographie Irpiniens hingegen wurde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und soll daher erst spater bei der Untersuchung der Beispielgemeinden eine gewisse Rolle spielen. Auf diese Weise kann ggf. ein Zusammenhang zwischen dem AusmaB der Zerstorungen und den lokalen Boden festgestellt werden.

3.1.1 Geologische Struktur und Dynamik

Die Erdbeben bestimmenden Prozesse haben ihren Ursprung in der Struktur und Dynamik eines weit ausgedehnten Raumes. Es reicht daher nicht, nur die lokale Situation auf seismische Tatigkeit zu untersuchen, um so auf kleinraumige Gliederungseinheiten zu schlieBen. Um die Verbindung zwischen der Dynamik Italiens mit der des kampanischen Apennins herzustellen, soll ein kurzer Einblick auf den GroBraum und folgend auf das lokale Gebiet gewahrleistet werden.

Italien ist aus geologischem Blickwinkel gesehen ein junges Land. AuBerlich gibt sich das geringe Alter durch das hohe und gewaltige Gebirgssystem der Alpen, die lange Gebirgskette des Apennins sowie deren unreife Formen, das Vorkommen aktiver Vulkane und schlieBlich durch die seismischen Bewegungen zu erkennen (vgl. GIULIANI/ RUOCCO, 1985, S. 11 f.).

Die Lage Italiens entlang der Grenzlinie zwischen der Afrikanischen und der Eurasischen Platte erklart seine hohe seismische Aktivitat5. Der Einfluss der Afrikanischen Platte ist sehr groB, da die Bewegungen in der Erdkruste ein standiges Naherkommen des afrikanischen Kontinentalbeckens in Richtung Europa provozieren (vgl. FUNICIELLO, 1980, S. 15). Die Nahtstelle zwischen den Platten konnte bis heute jedoch nicht exakt festgelegt werden. Zu dieser Problematik gibt es zwei voneinander abweichende Theorien. Zum einen wird vermutet, dass Italien ein Auslaufer der Afrikanischen Platte sei, welche sich in die Eurasische Platte eingekeilt hatte, und daraufhin mit ihr verbunden wurde.

Die zweite Annahme ist, dass das Ruckgrat des Apennins den Grenzbereich der beiden Platten bildet (vgl. SOLBIATI/ MARCELLINI, 1983, S. 210).

Die verhaltnismaBig hohe seismische Aktivitat im Mezzogiorno im Vergleich zum Settentrione beruht auf den dort ablaufenden starkeren geodynamischen Prozessen. Vor ca. 40 Mio. Jahren begann Italien sich langsam gegen den Uhrzeigersinn zu drehen. Diese Bewegung, die bis heute anhalt, provozierte vor 6 Mio. Jahren einen Riss in der Lithosphare und Deformationen im Gebirgssystem des sudlichen Apennins (vgl. SOLBIATI/ MARCELLINI, 1983, S. 212). Entlang der Vulkanachse Vesuv-Stromboli-Atna haufen sich die heftigsten Beben, da hier das Tiefengestein einer Drehung unterliegt, und unter das Tyrrhenische Meer abtaucht (vgl. LOMNITZ, 1974, S. 265).

3.1.2 Geologische Gliederung

Die im Folgenden aufgezeigten erdgeschichtlichen Prozesse des Untersuchungsgebietes haben einen groBen Einfluss auf das AusmaB und die Verteilung der Erdbebenstarke, der geomorphologischen Folgeprozesse und der verursachten Schaden an menschlichen Leben und Gutern. Im Rahmen der Untersuchung der Beispielgemeinden soll dieser Zusammenhang noch deutlicher dargestellt werden. Nur durch eine genaue Kenntnis der lokalen geologisch- geomorphologischen Situation kann der Mensch der Erdbebengefahr und damit potentiellen Katastrophen entgegentreten.

Im Mesozoikum bzw. im mittleren und oberen Trias (Muschelkalk u. Keuper) beginnen die Lattariberge, der lukanische Apennin und einige Teile Kalabriens in Form groBer Kalk- und Dolomitmassive aufzutauchen. Fur die Entstehung groBer Teile Suditaliens spielt die bedeutendste Rolle die Kreide, in dessen jungster Periode das weite Kalkriff des kampanischen Apennins, die Murgekette und der Gargano auftauchten. Das Kanozoikum ist das fur die Reliefformung wichtigste Zeitalter. Die groBen Hebungs- und Faltungsprozesse des Apennins lassen sich in vier Abschnitte einteilen: in das Eozan, Oligozan, Miozan und Pliozan.

Die Faltung des Apennins setzt etwas spater ein, als die der Alpen. Die in der Kreide aufgetauchten Massive sanken zunachst wieder ab, um dann im Eozan und Oligozan mit aller Macht wieder zum Vorschein zu treten. Ende des Oligozans und durch das gesamte Miozan hindurch formte sich das Gebirgssystem des Apennins aus. Die Faltung und Hebung des Apennins hat starke Bruche und Verwerfungen, in Richtung NW-SE verlaufend, verursacht. An der Reliefbasis hat die Verdunstung stehenden Wassers die Bildung und Ablagerung von Gips, Mergel und vereinzelt Salzstein verursacht.

Mit den sich abwechselnden Trans- und Regressionen werden die Kalkschollen wieder zugedeckt. Mit der letzten Periode der Kreide beginnend, bildet sich auf dem Kalk eine Schicht von Buntsandstein, gefolgt von Mergel und Tonschiefer, welche zusammen den sogenannten „Flysch“ bilden. Die Flyschbildung hat besonders im kampanischen und lukano- kalabrischen Apennin eine weite Ausdehnung gefunden.

Der miozanen Regression folgt eine lange Periode der Transgression im Pliozan. Die in den vorigen Zeitabschnitten emporgehobenen Landesteile werden vom Meer uberflutet. Aus dem pliozanen Meer ragen in Suditalien einige Inseln heraus: die Kalkschollen des kampanischen Apennins und einige andere Teile der Gebirgskette.

Im Pleistozan kommt es erneut zu energischen Hebungen bis uber 1.000 m. Die vulkanische Aktivitat erfahrt in dieser Phase ihren Hohepunkt. Das Relief wird durch Verwitterung, Vertiefung und Verbreiterung der Taler und Schotterakkumulationen uberformt. Vergletscherungen spielen in Suditalien nur eine sehr untergeordnete Rolle. Die Flussschotter der Interglaziale haben jedoch die Flusstaler in erheblichem MaBe aufgefullt (vgl. FONDI, 1961, S. 10-15).

3.1.3 Lokalklima und -Vegetation

Von der geographischen Breite aus gesehen, kann von einem mediterranen, d.h. einem subtropischen Klima, mit milden, regenreichen Wintern und warmen, trockenen Sommern ausgegangen werden. In der Region des meridionalen Apennins hangt das Klima jedoch sehr stark von der Disposition und der Hohe des Reliefs ab. Aus diesem Grund ist das Klima hier sehr kontrastreich mit niedrigem jahrlichem Temperaturdurchschnitt im Jahr und hohen Niederschlagsaufkommen (vgl. FONDI, 1961, S. 58 u. 71).

Das antike Irpinien, welches sich nur teilweise mit der Flache der Provinz Avellino deckt, weist im Westen rauhe Reliefformen auf6, worauf das lokale Klima mit kalten, regenreichen Wintern antwortet. Die Vegetation wird hier von Eichenwaldern, Nussbaum- und Kastanienwaldern in mittlerer Hohe und in den hohen Regionen von Buchenwaldern bestimmt. Ostirpinien zeigt sich hingegen als weite Hochebene in 800 bis 850 m Hohe mit welligen Reliefformen in welche sich kleine Bache eingeschnitten haben. Die Vegetation dieses ostlichen Teil Irpiniens zeigt sich wesentlich karger mit Weideflachen und nur vereinzelt vorkommenden Buchen und Kastanien (vgl. FRANCIOSA, 1964, S. 379).

Das Klima spielt im Zusammenhang mit den lokalen Boden und Gesteinsschichten, mit deren Struktur, Machtigkeit und Disposition eine groBe Rolle in Bezug auf geomorphologische Folgeprozesse nach einem Erdbeben. Der Monat November wurde mit seinen starken Niederschlagen auf die lokalen tonigen Boden fur viele erdbebenbetroffene Siedlungen zum Verhangnis. Die Beispielgemeinde Bisaccia verlor infolge von Hangrutschungen an drei verschiedenen Seiten eine groBe Anzahl von Gebauden, die dem Erdbeben an sich gut standgehalten hatten. Weite Agrarflachen wurden durch Furchen zerrissen und leiden noch heute unaufhaltsam unter der Erosionsform der Badlandbildung.

3.2 Anthropogeographische Ubersicht

Die anthropogeographische Ubersicht soil zunachst die wirtschaftliche und bevolkerungs- geographische Entwicklung darstellen, um spater den Einfluss bzw. die Wechselwirkungen, die das irpinische Erdbeben mit diesen Bereichen verbindet, zu untersuchen. Im Folgenden soll die Siedlungsgeographie Auskunft uber die topographische Lage, den historischen Siedlungsgrundriss und deren Entwicklung, insbesondere mit Blick auf die Bebenvergangenheit, geben.

3.2.1 Wirtschaftliche Entwicklung

Italiens Wirtschaftsstruktur leidet unter sich immer weiter verscharfenden Disparitaten zwischen dem Norden und Suden des Landes (vgl. CINANNI, 1975, S. 270). Der Beginn dieser Problematik, welche unter dem Begriff „Meridionale Frage“ diskutiert wird, fallt mit der Grundung des einheitlichen Nationalstaates Italien im Jahr 1861 zusammen. Unter dem italienischen „Meridione“ bzw. „Mezzogiorno“ verstehen sich die Regionen Abruzzen, Molise, Kampanien, Apulien, Basilicata, Kalabrien, Sizilien und Sardinien (vgl. ROTHER, 1982, S. 154). Die Strukturschwache des Sudens kann zunachst nicht durch die Vernachlassigung durch den Norden erklart werden, denn schon im 17. Jh., also noch vor der Grundung des neuen Staates, hatte die Landwirtschaft in der Poebene bereits einen starken Vorsprung infolge ihres hohen Modernisierungsgrades. Der von Spanien beherrschte Suden hingegen hatte die Funktion, Soldaten und Steuergelder fur koloniale Kriegstatigkeiten zu stellen. Mitte des 17. Jh. kam es durch die sich zuspitzende Belastung der Bauern zu einen Aufstand gegen die spanischen „Baroni“, der aber nach einem Jahr niedergeschlagen werden konnte. Durch den verlorenen Spanischen Erbfolgekrieg 1713 ging die Herrschaft Spaniens uber Sizilien, Neapel und die Lombardei zu Ende. Eine erhoffte Landreform kam aber immer noch nicht zustande, da die Konige Neapels den Landadel ungebremst weiterwalten lieBen. Die Reform von 1806 machte mit der feudalen Rechtshoheit ein Ende. Der Machtentzug der „Baroni“ bewirkte aber entgegen allen Erwartungen nur sehr wenig.

Nach der Einheit 1861 begann die Ara des freien Marktes fur den Im- und Export der Waren. Die Industrie des Landes erfahrt einen positiven Aufstieg. In der intensiven Agrarbranche erfahrt jedoch nur der Weinhandel einen Konjunkturaufschwung (vgl. SCHLITTER, 1977, S.14 ff.).

Eine weitere Phase in der Wirtschaftsentwicklung und im Rahmen der „Meridionalen Frage“ wurde nach dem II. Weltkrieg mit der Grundung der „Cassa per il Mezzogiorno“7 eingeleitet. Die geleistete Hilfe nutzte aber oft nur dem Norden, da beispielsweise Bauunternehmer zum Ausbau der Infrastruktur herangezogen oder Traktoren aus Turin aufgekauft wurden, anstatt Industrien im Suden anzusiedeln. Die wenigen Industrien, die sich im Suden niederlieBen, wie Werke der chemischen, petrochemischen und der Stahlindustrie, brachten wenige Arbeitsplatze, schafften dafur aber groBe Umweltprobleme. Die Landwirtschaft hatte noch immer feudalahnliche Zuge, da die Grundbesitzer kein Interesse an Investitionstatigkeiten hegten (vgl. SCHLITTER, 1977, S. 39).

Unter dem Druck der landlosen Pachter und Halbpachter wurde das Landreformgesetz von 1950 eingefordert. Dieses Gesetz sah uber eine groBe Flurzerteilung hinaus auch Enteignungen und Investitionsverpflichtungen vor8. Diese MaBnahmen waren aber nur unzureichend und schufen eine groBe Anzahl von Klein- und Mittelbauern9, welche den harten Marktanforderungen nur ungenugend gerecht werden konnten. Da die Produktion eines einzelnen Betriebes nicht alle Familienmitglieder beschaftigen und ernahren konnte, begann eine Exodus gleiche Flucht aus den landlichen Gebieten in die Stadte der Kustenbereiche, des Nordens oder ins Ausland, um dort in der Industrie oder im Dienstleistungssektor eine Anstellung zu finden. Der Ausbau des europaischen Binnenmarktes zwang die Landwirte ihre arbeitsintensiven zu mechanisierten Anbautechniken umzustrukturieren. Immer weitere Arbeitskrafte wurden freigesetzt. Von 1950 bis 1970 gingen auf diesem Wege 5 Millionen Arbeitsplatze verloren. Die darauffolgende, zweite Mechanisierungsphase nach 1970 hatte einen Verlust von einer weiteren Million von Arbeitsplatzen zur Folge (vgl. DRUKE, 1986, S. 28). Die „Cassa per il Mezzogiorno“ wurde beauftragt, bauerliche Genossenschaften zu finanzieren. Die initiierten Reformen griffen aber nur wenig und kamen uber den Rand der Gunstzonen nicht hinaus (vgl. ROTHER, 1982, S. 155 ff.). Der Ruf der „Cassa per il Mezzogiorno“ verschlechterte sich mit der Zeit zunehmend. Von vielen Seiten wurde eine Auflosung gefordert, da die Gewinner dieser Institution hauptsachlich in den Reihen
kriminalistischer Vereinigungen, wie der Mafia, Camorra und N‘drangheta10, zu suchen sind (vgl. DRUKE, 1986, S. 58). GroBe Summen der Finanzhilfen aus der Sudkasse fur den Wiederaufbau nach dem irpinischen Erdbeben erreichten ihren Bestimmungszweck nicht (vgl. DRUKE, 1986, S. 169 f.).

3.2.2 Soziookonomische Raumanalyse

In der soziookonomischen Raumanalyse soll mit Hilfe von Graphiken und thematischen Karten die oben nachgezogene wirtschaftliche Entwicklung Suditaliens auf die Provinz Avellino analysiert und verglichen werden. Der Schwerpunkt dieser Analyse fallt in den Zeitraum von 1951 bis 1991 und kann so Entwicklungen, die in die Zeit des Erdbebens von 1980 fallen, darstellen. Bei der Untersuchung wurden Bevolkerungs- und Wirtschaftsdaten des ISTAT11 herangezogen und ausgewertet.

Das Diagramm 1 macht die Bevolkerungsdichteentwicklung der Provinz Avellino deutlich. Nach dem II. Weltkrieg und der partiellen Durchfuhrung der Agrarreformen zeichnet sich ein starker Bevolkerungsdichteverlust in der Bergregion ab. Die Abnahme von einem Dichtewert 1951 von 177 bis 152 Einwohner pro km2 im Jahre 1971 zeigt die Auswirkungen des italienischen „Wirtschaftswunders“ und der damit verbundenen verstarkten okonomischen Dualisierung sehr anschaulich.

Die regionalen Disparitaten verscharften sich zunehmend und erklarten Irpinien zum Abwanderungsgebiet. Nach dem „Krisenpunkt“ 1971 machte sich jedoch ein bedachtiger Bevolkerungsdichteanstieg auf 157 E/km2 1991 bemerkbar. Die Ursache fur diese Entwicklung ist vor allem durch die Wiederkehr einst Abgewanderter zu erklaren. Diesen Standpunkt illustriert das folgende Diagramm (Diagramm 2). Sehr auffallig ist der stete Anstieg der Bevolkerungsteile der um die 65-jahrigen. Diejenigen, die die Bergregion bis 1971 oder auch spater, hauptsachlich 20- bis 45-jahrig verlassen haben, kehren heute, oft im Rentenalter, wieder in ihre Heimatorte zuruck.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diagramm 1: Bev dike rung sdichteentwicklung der Provinz Avellino 1951­1991 (Datenquelle: ISTAT 1956, 1966, 1974, 1984, 1994. Graphik: BEIM GRABEN).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diagramm 2: Altersstrukturentwicklung in der Provinz Avellino 1951-1991 (Datenquelle: ISTAT 1956, 1964, 1974, 1984, 1994. Graphik: BEIM GRABEN).

Aber auch jungere Menschen ziehen in die Provinz Avellino, da sich in der Wirtschaft eine Umstrukturierung vollzogen hat und in den Sektoren der Industrie und Dienstleistungen der Bedarf an Personal angestiegen ist (s. Diagramm 3). Die Anzahl der Personen unter 15 Jahre ist die einzige Altersgruppe, die bis in die 90er Jahre stark abnimmt. Diese Negativtendenz ist mit dem Ruckgang der Geburten zu erklaren. Die durchschnittliche Anzahl der Familienmitglieder ist in den Jahren 1961-91 von nahezu 4 auf 3 Personen zuruckgegangen (ISTAT, 1994, S. 50).

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Diagramm 3: Entwicklung der Beschaftigtenzahl innerhalb des Baugewerbes 1971-1991 (Datenquelle: ISTAT 1994. Graphik: BEIM GRABEN).

Ein Zusammenhang mit der Altersstrukturentwicklung und dem Erdbeben kann nicht festgestellt werden. Nur in der Altersgruppe der 35-44 jahrigen sind eine Abnahme im Bebenjahr und eine folgende, leichte Zunahme bis 1991 zu registrieren. Einen Zusammenhang zwischen dem Erdbeben und dieser Entwicklung zu sehen, ist jedoch zu gewagt.

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Abb. 2: Einwohnerdichte der Gemeinden der Provinz Avellino 1991 (E/km2) (Kartographie: BEIM GRABEN. Datenquelle: ISTAT, 1994).

Im Folgenden soil die Bevolkerungsdichteentwicklung anhand zweier thematischer Karten der Provinz Avellino untersucht werden. Die raumliche Verteilung der Einwohnerdichte (s. Abb. 2) sowie der Altersanteil (s. ISTAT, 1994, S. 51) ist durch ein West-Ost-Gefalle gepragt. Die hochsten Dichtewerte finden sich um und in der Gemeinde Avellino wieder.

Die Abb. 3 macht die Einwohnerdichteentwicklung von 1951-1991 deutlich. Auch hier tritt die Gemeinde Avellino mit einem starken Dichtegewinn in den Vordergrund. Viele Einwohner aus den umliegenden Gebieten haben sich entschlossen, in die nahe Provinzhauptstadt umzusiedeln, um so einen groBeren Arbeitsmarkt und eine hohere Zentralitat fur sich nutzen zu konnen. Die positiven Werte, also eine Zunahme der Bevolkerungsdichte, sind fast ausschlieBlich in den westlichen Gemeinden anzutreffen. Diese Entwicklung weist einerseits auf einen Strukturwandel in den Wirtschaftssektoren der gesamten Provinz und eine schwache Infrastruktur und geringe Zentralitat der ostlichen Gemeinden andererseits.

Da es kaum Hinweise auf die Abwanderungsmotive der Migranten gibt, konnen nur schwer Schlusse in Bezug auf Zusammenhange mit dem Beben und einer verstarkten und langfristigen Abwanderung gezogen werden. Ein Pushfaktor stellte das Beben fur ohnehin Abwanderungswillige sicherlich dar und kann bei einigen Bevolkerungsteilen als Motivation fur eine Migration vorausgesetzt werden.

Die Bauwirtschaft ist mit dem Erdbeben naturlich stark angekurbelt worden, so dass in diesem Bereich ein groBer Anteil von Personal aufgenommen werden konnte (s. Diagramm 3). Der Industrie- und Dienstleistungssektor haben insgesamt in den Jahren der letzten drei Zahlungen (1971-1991) einen starken Zuwachs an Arbeitsplatzen erfahren (Diagramm 4). Dabei muss aber im Auge behalten werden, dass sich bis in die 50er Jahre hinein fast nichts in diesen Sektoren getan hatte und daher ein relativ schwaches Wachstum pragnant auffallt.

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Abb. 3: Einwohnerdichteentwicklung avelliner Gemeinden 1951-1991 (E/km2). Gekennzeichnet wurde die Provinzhauptstadt Avellino und die drei Beispielgemeinden (Kartographie und Datenberechnung: BEIM GRABEN. Datenquelle: ISTAT, 1994 und 1956).

Um diese Situation deutlich zu machen, wird im nachstehenden Diagramm das Jahr 1951, in welchem die Auswirkungen der Landwirtschaftsreform noch nicht zu spuren waren, mit in die Untersuchung eingeschlossen. Eine kongruent steigende Wachstumstendenz ist bei der Anzahl der Betriebe des Sekundar- und Tertiarsektors zu beobachten (s. Diagramm 5). Bemerkenswert ist die Abnahme Zahl der Agrarbetriebe und der in ihnen Beschaftigten. Innerhalb von wenigen Jahren ist die Landwirtschaft bis zur Bedeutungslosigkeit herabgewirtschaftet worden. Aufgrund der Betriebsaufgaben liegen heute groBe Teile der ehemals bewirtschafteten Flachen brach. Dieses Phanomen hat im November 1980 eine weite Angriffsflache fur Erdrutschungen geboten und Siedlungen sowie Boden in groBen Teilen zerstort.

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Diagramm 4: Entwicklung der Beschaftigtenzahl der verschiedenen Wirtschaftssektoren 1951-1991 (Datenquelle: ISTAT 1956, 1994. Datenbearbeitung u. Graphik: BEIM GRABEN).

Die Zahl der Arbeitsuchenden, welche das ISTAT in Arbeitslose und in Arbeitsuchende Berufsanfanger aufspaltet, betrug in der Provinz Avellino im Jahre 1991 3,2 % bzw. 7,5 % (ISTAT, 1994, S. 55). Der Gesamtwert von 10,7 % liegt unterhalb der heutigen nationalen Arbeitslosenrate von 12,2 % und weitaus niedriger als jene Kampaniens mit 24,9 % (aus: LA REPUBBLICA, 27. Marz 1998)11.

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Diagramm 5: Anzahl der Betriebe 1971-199: Agrarsektor, Industriesektor, Dienstleistungssektor und Insgesamt (Datenquelle: ISTAT 1994a. Graphik: BEIM GRABEN).

3.2.3 Siedlungsgeographische Merkmale

Die irpinischen Siedlungen haben sich bis zum Erdbeben 1980 erstaunlich wenig an die Erdbebengefahren angepasst, sich durch sie verandert oder weiterentwickelt. Oft wurden nach einem Beben die Trummer auf gleicher Stelle oder nur wenige Meter davon entfernt wiedererrichtet. Nur alte Behelfssiedlungen vergangener Erdbeben, die heute in die Gesamtsiedlung integriert sind, geben einen Hinweis auf die historische Bebentatigkeit der Region. Die ehemaligen Bewohner passten sich vielmehr der politischen und gesellschaftlichen Situation, als den ab und zu wiederkehrenden Erdbeben an.

In den folgenden Abschnitten soll zunachst die irpinische Siedlungslage und Entwicklung im Allgemeinen behandelt werden. Zur architektonischen Entwicklung und der Veranderung der Gebaudeausstattung werden spater allgemeine Tendenzen anhand der Beispielgemeinden offengelegt.

3.2.3.1 Topographische Lage

Traditionell wurden die irpinischen Siedlungen auf Bergkuppen, Rucken und Spornen oder an steilen Hangen gegrundet. Diese Lage stellte eine hervorragende Verteidigungs- und Zufluchtsposition vor Feinden dar. Die geschlossene mittelalterliche Bauweise hatte daruber hinaus Warmefunktion im Winter und die des Schutzes vor zu starker Sonneneinstrahlung im Sommer (vgl. FAZIO, 1980, S. 31). Die Feudalherren und der historische Mangel an Landbesitz der auf den Latifundien beschaftigten Bauern verwehrte ihnen daruber hinaus ein Niederlassen nahe den Anbauflachen. Aus diesen Grunden siedelten die Bauernfamilien in dichten Siedlungskernen, oft weit von der Feldflur entfernt.

3.2.3.2 Siedlungsentwicklung

Aufgrund der topographischen Lage entstanden dichte Agrarsiedlungen, welche weite Distanzen voneinander aufweisen (vgl. TRICHY, 1985, S. 377). Eine Agrostadt ist eine Mischung aus Stadt und Dorf. Die dorflichen Merkmale sind die landwirtschaftliche Funktion, Produktion und Sozialordnung und das Fehlen zentraler Funktionen. Die Hinweise auf eine stadtische Situation sind die hohen Einwohnerzahlen (ca. 12.000-40.000), die innere Differenzierung der Gebaude und Funktionen, sowie ein gewisses urbanes Leben (vgl. TRICHY, 1985, S. 377). Die Definition einer Agrostadt traf in Irpinien bis zum jungeren Funktionswandel nur auf die Provinzhauptstadt Avellino zu. Die irpinischen Siedlungen sind zwar konzentrierte dichte Kerne, weisen und wiesen aber keine allzu hohen Einwohnerzahlen auf. Es handelt sich also eher um groBe Dorfer, welche innerhalb dieses Jahrhunderts schrittweise ihre landwirtschaftlichen Tatigkeiten mit denen anderer Sektoren eingetauscht haben. WAGNER betitelt die irpinischen Siedlungen daher treffender als „Agro- GroBsiedlungen“ in Akropolislage, die zur Sonne exponiert, auf soliden Kalksteinschollen errichtet wurden (vgl. WAGNER, 1978, S. 287).

Die bereits erwahnte Bodenreform hat eine Dekonzentration der bewohnten Gebaude verursacht, da die Bauern, die nun zu Landeigentumern geworden waren, ihren Wohnstandort auf eigenem Grund, und somit aus dem Siedlungskern heraus verlegt haben (vgl. TRICHY, 1985, S. 409). Zu der Form des Haufendorfes ist somit jene der Streusiedlung und des StraBendorfes hinzugekommen. Anhand der Ausschnitte topographischer Karten (s. Abb. 4 u. 5) Sant’ Angelos12 der 50er und 80er Jahre ist die oben beschriebene Entwicklung gut zu erkennen. Die Siedlung hat sich trotz abnehmender Bevolkerungsdichte (vgl. Abb. 3) baulich beachtlich ausgedehnt. Die auf einer Bergkuppe gelegene Siedlung hatte aufgrund der angeschlossenen steilen Hange bald nur noch die Moglichkeit gehabt, sich etwas auBerhalb in Mulden, Talern und anderen halbwegs ebenen Flachen auszudehnen, wie beispielsweise nordostlich des alten Siedlungskerns, innerhalb eines Hochtales entlang der StraBe.

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Abb. 4 u. 5: Ausdehnung Sant’ Angelo dei Lombardi innerhalb von 30 Jahren (1954/55-1985) (Ausschnitte aus der Carta d‘Italia, Foglio 186 u. 450).

An dieser Stelle mussen die Barackenfelder, die nach dem Erdbeben auch in Sant’ Angelo angelegt wurden, mit der Ausdehnungsentwicklung in Zusammenhang gebracht werden. Die Baracken in Sant’ Angelo konnen auf der Abb. 6 gut erkannt werden, sie sind meist in regelmaBigen Abstanden und sehr geringer Flachenbemessung errichtet worden. Auch sie wurden nordostlich des alten Stadtkerns angelegt, unterscheiden sich aber eben durch die geringe GroBe von den aus Stein errichteten Wohneinheiten13.

Der Ursprung der Dezentralisation liegt aber in dem oben bereits angesprochenen Wunsch vieler Landwirte, sich nach der Durchfuhrung der Bodenreform auf eigenem Grund niederzulassen und somit ihrer Flur naher zu sein, und dem Bedurfnis nachzugehen, ein groBeres und besser ausgestattetes Haus zu bauen.

Diese Entwicklung gilt fur die meisten irpinischen Siedlungen in Akropolislage. Die ungeplanten und daher unregelmaBig gewachsenen Siedlungskerne konnten sich, wie auch Sant’ Angelo, erst auf einem anderen Hohenniveau ausbreiten. Die Lage auf der Bergkuppe hat keine Ausdehnung direkt an die historische Agglomeration erlaubt. Es handelt sich also nicht um Neugrundungen von Gemeinden, sondern um Siedlungserweiterungen mit topographisch bedingter Ablosung von der Hauptsiedlung. Insgesamt kann von Dezentralisierung gesprochen werden, da vermehrt Gebaude in relativ weiten Abstanden voneinander gebaut und bewohnt werden. Die Tradition der Agrarbevolkerung, dicht in Reihenhausern und in enger Nachbarschaft zu leben, ist damit gebrochen worden. Gemessen an der gesamten Einwohnerzahl der Provinz Avellino hat sich die Zahl der im Ortszentrum Lebenden im Vergleich zu 1951 jedoch erhoht (von 66, 5 % auf 74, 5 %), genauso wie die im Ortskern lebenden Personen (von 5, 9 % auf 7 %). Die Anzahl der Menschen, die in einzeln gelegenen Gebauden leben, ist von 27, 6 % 1951 auf 18, 5 % abgesunken. Diese Zahlen widersprechen jedoch nicht der oben angefuhrten raumlichen Dekonzentration der Gebaudeeinheiten. Einerseits herrscht die Tendenz eines nach auBen gerichteten Wachstums der Gebaudezahl, welches insbesondere durch das Beben verursacht wurde, und andererseits ein gestiegenes Einwohnerdefizit in den Gemeinden infolge intraregionaler Wanderung in die groBeren Zentren, insbesondere Avellino hinein (vgl. Abb. 3).

Nach dem Erdbeben 1980 kreierte die Siedlungsform in Akropolislage groBe Probleme bei dem Bau von Barackensiedlungen. Durch den Landmangel nahe der zerstorten Orte und der lokalen Erdrutschgefahr war das Bauland in den Akropolissiedlungen extrem knapp, da sich der zu bebauende Raum in der Siedlung auf eine geringe Flache auf der Bergkuppe beschrankte und damit eine Ortserweiterung nahezu unmoglich machte. Nach dem Beben musste daher privates Land enteignet werden, um die notigen Behelfssiedlungen schaffen zu konnen (vgl. GEIPEL, 1992, S. 79).

Bereits SABELBERG hat in seiner Arbeit uber die „suditalienische Stadt“ uber ein zweigeteiltes „Strukturschema“ in Grundriss und Bausubstanz berichtet, welches ebenfalls fur die „irpinische Stadt“ bzw. Siedlung gilt. Zum einen bestehen die Akropolissiedlungen aus einem alteren Kern mit unregelmaBigem Sackgassengrundriss, der auf sarazenische Einflusse zuruckzufuhren ist, und zum anderen aus einem regelmaBig angelegten neuen Teil. Interessant ist SABELBERGs Hinweis, dass sich generell seit 1950 der Grundriss der suditalienischen Stadte mehr als verdoppelt hat, trotz stagnierender oder abnehmender Einwohnerzahlen (SABELBERG, 1985, S. 19). Diese Tendenz, die oben bereits fur die Provinz Avellino festgestellt wurde, hangt also nicht ausschlieBlich mit dem Bauaufschwung bzw. einer „Bauwut“ nach einem Erdbeben zusammen, sondern mit der geanderten Bautradition infolge der Landreform.

3.2.3.3 Lokale Gebaudetypen

Die Siedlungen mit kleinen Zentren und Kernen und relativ hoher Bevolkerungsdichte innerhalb von Streusiedlungen differenzieren sich regional von denen hoherer Konzentration der groBeren Zentren. Die Streusiedlungsform ist, wie oben bereits erlautert wurde, jungeren Datums. Die Gebaude innerhalb der Zentren weisen also ein hoheres Alter auf und waren vor dem Erdbeben 1980 in sehr schlechter baulicher Verfassung. Sie waren selten mit sanitaren Anlagen ausgestattet, in ihnen fanden sowohl Mensch und Nutztier gleichermaBen Unterschlupf. Die Gebaude der Streusiedlungen verfugten meist uber einen Stall und eine Kuche im ErdgeschoB und 1-2 Wohnraume in der daruber liegenden Etage. Wohlhabendere Bewohner wohnten hingegen in Gebauden mit 2 bis 4 Raumen. Meist wurde einer dieser Wohnraume im ErdgeschoB angelegt und weitere Raume in der ersten Etage, welche uber Treppen auBerhalb des Hauses betreten wurden (vgl. FRANCIOSA, 1964, S. 381 f.). In den kompakten Zentren befanden sich die altesten, meist nur ein- bis zweiraumigen Gebaude. Die Kuche war bei diesem Gebaudetyp noch in der ersten Etage anzufinden. Im ErdgeschoB befand sich der Schlaf- bzw. Wohnraum, welcher teilweise auch zur Unterbringung des Viehs verwendet wurde.

Das in dieser Arbeit behandelte Untersuchungsgebiet liegt vornehmlich im Osten Irpiniens, wo zwei verschiedene landliche Gebaudetypen der Vorbebenzeit, also bis 1980 besonders charakteristisch waren. Zum einen der Einheitstyp der Bergregionen mit zwei und mehr Raumen im ErdgeschoB, wie er in Sant’ Angelo dei Lombardi und Conza della Campania vertreten war. Die zweite Bauform fand Ausdruck im elementaren Einraumtyp, welcher in hochgelegenen Regionen und in kompakten Siedlungen, wie beispielsweise Bisaccia verbreitet war (vgl. FRANCIOSA, 1964, S. 408 ff.). Iacini beschreibt im Rahmen einer Untersuchung den Gebaudezustand im ostlichen Teil Irpiniens (in: FRANCIOSA, 1964, S. 394):

„ Generell sind die Raume dieser Hauser schlecht beleuchtet, schlecht beluftbar und eng. Sie sind nur karg eingerichtet, alles ist eingerauchert und verkommen. Oft wird das Haus in der Nacht mit den Huhnern und Schweinen bruderlich geteilt. Den bessergestellten Bauern stehen 2 Raume, d.h. ein Schlafraum und die Kuche zur Verfugung.“

3.2.3.4 Entwicklung des Wohnstandards

Die Entwicklung des Wohnstandards der Provinz Avellino lasst sich mittels folgender Graphiken veranschaulichen. Das Diagramm 6 zeigt die Entwicklung der Wohneinheitenanzahl von 1961 bis 1991, der Wohneinheitenzahl insgesamt und jener der tatsachlich bewohnten Einheiten. Aus den Zahlen des ISTAT wird allerdings keine Definition uber die Form des Wohnraumes gegeben. Es wird also nicht klar herausgestellt, ob die „provisorischen“ Baracken zu den Wohngebauden mit dazugezahlt werden, oder nur jene, die fur eine permanente Nutzung errichtet wurden.

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Diagramm 6: Entwicklung der Zahlen genutzter Wohneinheiten und des gesamten Bestandes 1961-1991 der Provinz Avellino (Datenquelle: ISTAT 1994. Graphik: BEIM GRABEN).

Die Anzahl der Wohneinheiten steigt trotz starker Abwanderung in den Jahren 1961-71 leicht an, um infolge des Erdbebens Ende 1980 wieder abzusinken und daraufhin unverhaltnismaBig stark anzusteigen. Die Kurve der bewohnten Einheiten nimmt einen ahnlichen Verlauf, befindet sich aber auf einem niedrigeren Niveau. 1961 ist nur ein geringer Uberschuss an Wohneinheiten zu verzeichnen. Zu deuten ist dieses Phanomen mit dem Verbleiben von Familienangehorigen der Abgewanderten in den Heimatorten und geringer Wohnraumschaffungsaktivitat. Bis 1971 sind einige Wohneinheiten hinzugekommen, die Anzahl der bewohnten Gebaude aber weiter gesunken. Die Migranten haben ihre Verbindungen zu ihren Gemeinden nie ganz abgebrochen. Wie oben bereits angesprochen wurde (s. 3.2.2), kehren viele Einwohner wieder an ihre Geburtsorte zuruck, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. 1971 ist das Jahr der geringsten Einwohnerdichte und die bewohnten Einheiten sind aufgrund des ausgedehnten Verlassens der Gemeinden weiter gesunken. Wahrscheinlich sind Familienangehorige den Abgewanderten nachgereist, nachdem diese ihre Stellung in einer anderen Stadt bzw. Land festigen konnten. Der geringe Wohnraumanstieg ist der naturliche Grad an Erneuerung und Modernisierung, oft mitfinanziert durch Gelder Abgewanderter. Die GebaudeeinbuBen im Jahr 1981 sind auf das kurz zuvor erlittene Erdbeben zuruckzufuhren. Ein betrachtlicher Anteil an Wohnungen wurde zerstort und eine erhebliche Zahl an Menschen wurde obdachlos, da sie keine Bleibe mehr oder Angst in diese zuruckzukehren hatten. Bis 1991 hat der Wiederaufbau eine groBe Menge an unbewohnten Wohngebauden geschaffen. Dieses Phanomen soll aber erst spater anhand der Beispielgemeinden untersucht werden, um so mehr uber die Hintergrunde zu erfahren.

Da die Abwanderungskrise seit den 70er Jahren uberwunden war und die Tendenz einer steigenden Einwohnerdichtezahl bestand, ist ebenfalls die Anzahl der bewohnten Wohneinheiten gewachsen. Nicht nur die Schaffung neuer Arbeitsplatze in Industrie und Dienstleistung, sondern auch die Verbesserung und Modernisierung des Wohnraumes kann einen positiven Pull-Effekt fur Ruckkehrer oder andere Personengruppen bedeuten.

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Diagramm 7: Entwicklung der Zimmeranzahl 1961-1991 (Datenquelle: ISTAT, 1994, S. 56. Graphik: BEIM GRABEN).

[...]


1 Die seismischen StoBe betrugen eine Starke zwischen dem 8. und 9. Grad auf der Mercalli-Skala.

2 „Heimat“ wird hier als ein standortungebundener Zustand definiert, der sich vielmehr auf eine bestimmte, gewohnte Anordnung von Bauwerken und anderen Elementen bezieht.

3 GEIPEL (1992) untersuchte sehr ausfuhrlich die Auswirkungen des Erdbebens (1976) auf die betroffene Region Friaul und verglich seine Ergebnisse mit denen der Entwicklungen in den suditalienischen Erbebengebieten des Belice (1968) und Irpiniens (1980).

4 D.C. = Democrazia Cristiana bzw. christdemokratische Partei Italiens. Heute tragt die Partei das Kurzel P.P.I. = Partito Popolare Italiano. Viele der Politiker der D.C. mussten sich in den letzten Jahren wegen Korruption und Verbindungen zu kriminellen Organisationen vor Gericht verantworten.

5 Von den jahrlich 3.000 Erdbeben des gesamten Erdballs im Durchschnitt (vgl. ALEXANDER, 1990, S. 13) kommen auf Italien 23-25 StoBe (vgl. SOLBIATI/MARCELLINI, 1983, S. 206).

6 Das Relief wird vom Partenio (1.480 m), dem Terminio (1786 m) und dem Mai (1.618 m) charakterisiert.

7 „Cassa per il Mezzogiorno“ ist eine Sudkasse, welche der Strukturentwicklung im Suden dienen soll. Sie wurde 1950 gegrundet und kam u.a. auch bei HilfsmaBnahmen nach dem Erdbeben Irpiniens zum Einsatz.

8 Nach dem II. Weltkrieg kamen soziale Konflikte offen zum Ausbruch. Die blutig beendete Landbesetzung bei Melissa fuhrte 1950 zur „Opera Valorizzazione Sila“ und zum sog. Siziliengesetz. Durch die mit dem Gesetz verbundene Bodenreform, dem „legge stralcio“ (Teilungsgesetz) und der Grundung der Sudkasse wurde eine einschneidende Wende in der Landwirtschaft hervorgerufen. Die Bodenreform sah eine Enteignung von ca. 1,5 Mio. ha und eine Ansiedlung von 250.000 Bauern vor (s. TICHY, 1985, S. 297).

9 113.000 Bauernfamilien kamen zu Landbesitz (DRUKE, 1986, S. 27 f.).

10 Die genannten kriminalischen Vereinigungen unterscheiden sich u.a. durch ihren Entstehungsort. Die Mafia hat ihren Ursprung in Sizilien, die Camorra in Kampanien bzw. Neapel und die N‘drangheta in Kalabrien.

11 Zum Vergleich der genannten Arbeitslosenrate sollen hier einige Zahlen anderer Regionen genannt werden. Der geringste Wert (3,4 %) ist in Sudtirol (Trentino A. A.) zu verzeichnen, der hochste hingegen in Kalabrien mit 25 %. Die 1976 von einem Beben betroffene Region des Friaul hat eine mittlere Rate von 6 % (LA REPUBBLICA, 27. Marz 1998). Die durchschnittlichen Jahreswerte durften wegen der Saisonschwankungen jedoch unterhalb der rezenten Werte liegen.

12 Es handelt sich um zwei Blatter des italienischen Kartenwerkes 1 : 25.000, „della Carta d‘Italia“, erstellt mittels Luftbildaufnahmen von 1954-55 und 1985 (Foglio 186 u. 450 „Sant‘Angelo dei Lombardi“)

13 Die Barackopolen Sant’ Angelos bestehen zum groBten Teil und sind teilweise noch bewohnt.

Ende der Leseprobe aus 129 Seiten

Details

Titel
Strategien und Realisierung im Wiederaufbau erdbebenzerstörter Gemeinden in Kampanien
Hochschule
Universität Hamburg  (Geographie)
Note
1,0
Autor
Jahr
1998
Seiten
129
Katalognummer
V155797
ISBN (eBook)
9783640684939
ISBN (Buch)
9783640684786
Dateigröße
22860 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erdbeben, Wiederaufbau, Italien, Kampanien, Geographie, Stadtplanung, Raumplanung, Camorra, Strategien, Realisierung
Arbeit zitieren
Helga beim Graben (Autor:in), 1998, Strategien und Realisierung im Wiederaufbau erdbebenzerstörter Gemeinden in Kampanien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/155797

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