Fausts Streben und seine Folgen

"Hast du die Sorge nie gekannt?"


Magisterarbeit, 2010

69 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2 Das Streben
2.1 curiositas und superbia als Elemente des faustischen Strebens
2.2 Von der Schau zur Tat
2.3 „[Der Sonne] nach und immer nach zu streben“ – Fausts Sehnsucht nach Leben und Genuss
2.4 Bekenntnis zur Rastlosigkeit
2.5 „Doch hast du [...]“ – Die Wette auf Genussverzicht
2.6 „Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen“ – Beginn der Weltfahrt
2.7 Der Blick in die Sonne als Station auf dem Weg zur Gottwerdung
2.8 Schöpfung eines eigenen Paradieses
2.9 Exkurs: Die Bedeutung des Sehens und Schauens für die Beurteilung des faustischen Strebens

3 Die Folgen des Strebens
3.1 Schuld, Reue und Gewissen
3.1.1 „Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen / Und sie mit mir zugrunde gehen!“
3.1.2 Das Problem des Schuldbewusstseins
3.2 Die Sorge und der Tod
3.2.1 „Hast du die Sorge nie gekannt?“
3.2.2 Der blinde Faust

4 Der himmlische Rahmen
4.1 Der Irrtum und der rechte Weg
4.2 Beurteilung der Erlösung

5 Schlussbemerkung

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Johann Wolfgang von Goethe, der schon in frühen Kinderjahren bei einem Puppenspiel mit dem Thema des Teufelsbündners in Berührung gekommen ist, hat sich über sechs Jahrzehnte hinweg der Tragödie um Faust gewidmet. Resultat dieser Lebensaufgabe ist eines der großen Meisterwerke deutscher Literatur, das vor allem nachfolgende Autoren und die Politik maßgeblich beeinflusst hat.[1]

Die Faustforschung hat sowohl Gesamtdeutungen als auch Einzelaspekte der Dichtung hervorgebracht. Jedoch war und ist in allen Darstellungen das Streben ein nicht unberücksichtigt zu lassender Gesichtspunkt. Streben führt die Tat mit sich, Handlungen implizieren Folgen. Goethe selbst nannte eine dieser Folgen Sorge („Handeln [ist] mit Sorge unlösbar verbunden“[2] ). Konsequenterweise muss an dieser Stelle, spricht man über Faust, noch die Schuld erwähnt werden. Diese Bedingung von Streben und Schuld und Sorge als für Faust unausweichliche Konsequenzen gilt es in der vorliegenden Arbeit zu untersuchen.

Das faustische Streben wurde sowohl als Merkmal seines Genies, Übermenschentums und prometheischen Wesens, als auch seiner Torheit und seines allzu menschlichen Charakters beschrieben. Es ist nicht verwunderlich, dass aus diesem Grund auch seine aus seinem Streben nach Tätigkeit resultierenden Verbrechen unterschiedlich bewertet wurden. Fausts Strebensausrichtung impliziert zwar unbestreitbare Fehlhandlungen, die Bildung eines Werturteils der Zuschauer, der Leser[3] und Interpreten bleibt jedoch, vor allem aufgrund des vorangestellten Prologs, unvermindert problematisch. Besondere Aufmerksamkeit schenkt diese Arbeit der theologischen, perfektibilistischen und antiperfektibilistischen Forschungsrichtung. Aufgrund ihrer vornehmlich kontradiktorischen Thesen eignen sie sich gut, um einen exemplarischen Überblick über die unzähligen Ansichten zu Fausts Streben darzubieten. Während die theologische Faustinterpretation, wie die Pinsks und Stöckleins, von Sünde mit verbundener Erlösbarkeit spricht, stellen die Antiperfektibilisten, zu denen unter anderem Böhm und Gaier gehören, eine individuelle Schuld fest. Die Perfektibilisten, wie zum Beispiel Rickert und Emrich, gehen auf der anderen Seite von einem unabwendbaren Schicksal des Titanen aus. Da sein Anspruch an überirdisches Wissen auf dem tradierten Wege nicht zu erlangen sei, folge aus seinem Streben notwendig die Anwendung von Magie und der Pakt mit dem Teufel.

Der erste Teil dieser Arbeit illustriert anhand einer exemplarischen Übersicht verschiedener Interpretationsrichtungen das faustische Streben, die Veränderungen dessen und seine Folgen. Diese Darstellung bemüht sich, unter anderem mittels der Veranschaulichung der christlichen Einstellung zum Erkenntnisdrang wider die von Gott gesetzten Grenzen und der Merkmale des faustischen Hochmuts, darum die Schwierigkeit der Bewertung von Fausts Handlungen aufzuzeigen. Infolgedessen ist es außerdem erforderlich die Fremdcharakterisierung aus der Szene Prolog im Himmel und auch Fausts Beweggründe für ein Bündnis mit Mephistopheles anhand seiner eigenen Aussagen hervorzuheben. Die Wünsche, die Faust an seinen Paktpartner heranträgt, bieten dem Zuschauer darüber hinaus ein detailliertes, aber problematisches Bild seiner Ansprüche und verlangen nach einer umfassenden Betrachtung.

Die Schuld und die Sorge als unabwendbare Folgen des Strebens sind das Thema des zweiten Teils dieser Arbeit. Die Konsequenzen, die sein Handeln für die anderen Figuren der Tragödie hat, werden vorzugsweise unter Einbeziehung seiner eigenen Aussagen, aber auch jener betroffener Charaktere aufgezeigt. Bedeutsam für ein Urteil des faustischen Strebens ist vor allem seine Haltung zu den begangenen Verbrechen. Kann anhand des Textes ein Eingeständnis Fausts hinsichtlich seiner Vergehen behauptet werden? Zeigt er Anzeichen eines Schuldbewusstseins, der Reue oder eines schlechten Gewissens? Insbesondere die ihn im fortgeschrittenen Alter aufsuchenden allegorischen Gestalten der Schuld und der Sorge geben Hinweise darauf, ob oder in welchem Maße Faust sein Leben auf dem Pfad der Magie bereut und seiner Fehler einsichtig wird. Aufgegriffen werden, zur Lösung dieser Streitthemen, mehrere in der Faustforschung viel diskutierte Themen, namentlich das Unvermögen der Schuld in Fausts Palast einzudringen und das Problem des Wesens und der Intention der Sorge. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Untersuchung eines Zusammenhanges von Magie, Sorge und Tod. Es gilt die Frage zu beantworten, warum die Sorge erst zu diesem späten Zeitpunkt seines Lebens an ihn herantritt, obwohl sich Faust ihre Macht über ihn schon vor seiner ausdrücklichen Bekundung zur Magie eingestehen musste.

Der dritte, abschließende Teil dieser Darstellung widmet sich der himmlischen Rahmenhandlung. Anhand der gezogenen Schlussfolgerungen zu seinem Streben und seiner moralischen Schuld wird der scheinbare Widerspruch seiner Erlösung diskutiert. Der Betrachtung der Szene Bergschluchten werden die Aussagen des Herrn im Prolog im Himmel vorausgestellt. Der darin beschriebene unlösbare Zusammenhang von Irren und Streben und der Hinweis auf Fausts vermeintliches Bewusstsein des rechten Weges werden in die Ausführung miteinbezogen in Verbindung mit der Erlösung gebracht. Daraus entwickelt sich die Frage, ob die christlichen Rettung Fausts angesichts seiner sittlichen Fehlhandlungen gerechtfertigt ist oder, ob eine alternative Lesart der Himmelfahrt Fausts Seele besteht.

Grundlage dieser Arbeit ist sowohl der erste als auch der zweite Teil der Tragödie um Faust. Die Szenenauswahl ist bedingt durch die Dichte der darin relevanten Aspekte zum Gegenstand dieser Darstellung. Sie umfasst die ersten magischen Beschwörungen in der nächtlichen Szene und den folgenden Selbstmordversuch, den Erhebungswunsch Fausts Vor dem Tor, den paradoxen Wunschkatalog und die Wette, den Beginn der Weltfahrt in Auerbachs Keller und die Selbstreflexion in Wald und Höhle. In Faust. Der Tragödie zweiter Teil[4] liegt der Schwerpunkt auf dem Vergessen der Geschehnisse in der Anmutigen Gegend, auf Fausts Motiven zur Zurückdrängung des Meeres mit seinen Konsequenzen für Philemon und Baucis und auf den an Faust herantretenden allegorischen Gestalten Schuld und Sorge. Die in den Szenen Weiter Ziergarten und Tiefe Nacht gewonnenen Erkenntnisse zu Goethes differenziertem Gebrauch der Begriffe schauen und sehen und die damit einhergehende Kontrastierung der Figuren Faust und Lynkeus dienen einem Exkurs sowohl zur Darstellung von Fausts Hybris als auch zur Bewertung seines Strebens. Der Prolog im Himmel und die Szene Bergschluchten illustrieren das Problem Erlösungsgedanken.

Weniger Berücksichtigung erhält hingegen das Problem des Ausgangs der Wette. Diese Arbeit beansprucht nicht eine Lösung des Tragödienschlusses zu finden, der eines der meist diskutierten Fragen der Faustdichtung ist. Stattdessen soll, in Anbetracht der erworbenen Einsichten zu seinem Streben, lediglich eine Bewertung der Erlösung erfolgen. Weiterhin ist es nicht Ziel dieser Darstellung jedes einzelne Problem des Schuldigwerdens zu veranschaulichen. Das Interesse ist vor allem auf Fausts Einstellung zu seinen Vergehen gerichtet, welche durch ihn selbst und durch das Verhalten anderer Personen dargelegt wird. Viele weitere Gesichtspunkte, wie die Szenen Hexenküche, Walpurgisnacht und andere, sowie große Teile aus Faust II, mitsamt der Einführung in den Kaiserhof oder der Verbindung mit Helena, können, auch wenn darin das Motiv des Strebens und seiner Folgen angesprochen werden, nicht mit einbezogen werden, da diese Arbeit keine Gesamtdarstellung zu sein beabsichtigt, sondern das gewählte Thema exemplarisch zu beleuchten versucht.

Vornehmlich orientiert sich der Aufbau an der Szenenfolge der beiden Teile der Tragödie. In einigen Fällen jedoch wurde diese chronologische Gliederung, zugunsten einer zusammenhängenden Argumentation, aufgegeben.

Angesichts der unüberschaubaren Menge an Literatur zu Goethes Faust kann nur eine beispielhafte Darstellung der Forschungsmeinungen erfolgen. Wie schon anfangs erwähnt illustriert diese Arbeit das Thema Fausts Streben und seine Folgen mitunter anhand der drei Hauptrichtungen der Faustinterpretation. In einigen Fällen, darauf wird nachfolgend nicht detailliert hingewiesen, können sich die theologischen, perfektibilistischen und antiperfektibilistischen Orientierungen überschneiden. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung unterschiedlicher Thesen zu den Themen Streben, Sorge, Schuld und Erlösung und beabsichtigt kein umfassender Forschungsbericht zu sein. Aus diesem Grund erübrigt sich auch eine eingehende Untersuchung der Interpretationsrichtungen an sich.

Vorrangig wird zur Darstellung des vorliegenden Sujets zwar auf neuere Forschung verwiesen, hinreichende Berücksichtigung findet jedoch auch die Literatur älterer Jahrgänge.

Zitate aus Goethes Faust I, Faust II und dem Urfaust folgen der Hamburger Ausgabe, herausgegeben und kommentiert von Erich Trunz.

2 Das Streben

2.1 curiositas und superbia als Elemente des faustischen Strebens

Sie kennen ihn nicht, diesen Weg, auf dem sie von ihrem Ich zu Ihm hinabsteigen und durch Ihn hinaufsteigen sollten zu Ihm. Sie kennen diesen Weg nicht und dünken sich erhaben und leuchtend wie die Sterne, und siehe, sie sind herabgestürzt auf die Erde, und ‚verfinstert’ ward ihr törichtes Herz’. Viel Wahres sagen sie über die Schöpfung, aber die Wahrheit selbst, den Meister der Schöpfung, suchen sie nicht, ihm zugetan, und darum finden sie ihn nicht, oder wenn sie ihn finden, so ‚erkennen sie zwar Gott, ehren ihn aber nicht als Gott, noch danken sie ihm’. Und sie werden ‚hohl in ihren Gedanken und sagen, sie seien weise’, und schreiben sich selber zu, was Dein ist.[5]

Wäre Goethe Augustinus’ Aussagen über den Neugierigen gefolgt, wäre Fausts Schicksal von Anfang an besiegelt gewesen: „Nicht irdisch ist des Toren Trank noch Speise“ (V. 301), teilt Mephistopheles, Fausts Charakter einführend, dem Zuschauer mit. Doch Goethe modernisiert das Bild des verächtlichen Teufelsbündners und kreiert mit seiner Faustfigur eine kunstvolle Zusammenführung zweier Traditionen: Er verbindet das Drama des genialen und schwärmerischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts, der aus Verzweiflung über die gesetzten Wissensgrenzen der Wissenschaft sich der Magie ergibt, mit dem Warndrama[6] des 16. Jahrhunderts, welches „vor Neugier, Hochmut des Wissens und Wissenswollens sowie dem Ausbruch des Wissenschaftlers aus den Schranken des Menschlichen“[7] mahnt. Gewollte Konsequenz dieser Synthese ist unter anderem eine erschwerte Beurteilung des faustischen Charakters. Nicht mehr eindeutig sündhaft, wie noch bei Augustinus ist der Pakt mit dem Teufel, vielmehr wird das Streben, das sein Ungenügen an den Wissensgrenzen begründet, im himmlischen Kontext des Prologs mit positiven Attributen gekennzeichnet. Und auch die gesellschaftliche Anerkennung, die Faust als Wissenschaftler vom Volk in der Szene Vor dem Tor entgegengebracht wird, demonstriert, dass das Erkenntnisstreben im Gegensatz zur früheren Fausttradition nicht mehr offenkundig verdammenswert und Tabu überschreitend ist.[8] Dementsprechend liegt das spezifisch Faustische laut Pinsk auch nicht im bloßen Unbefriedigtsein mit den Grenzen der menschlichen Erfahrungsmöglichkeit, sondern in der sich daraus entwickelnden Verzweiflung und der Hingabe zum Zauberwesen.[9] Und dennoch ist die Hybris in Fausts Worten und Taten unleugbar. Im Folgenden soll Fausts Streben untersucht werden, das von großer Bedeutung für das Erkennen der Veränderung als auch der Folgen des Strebens ist. Zudem beleuchtet diese Betrachtung das Dilemma der Bewertung der Handlungen Fausts.

Im himmlischen Prolog wird Fausts Streben als ein dem gewöhnlichen Menschen überlegenes Streben dargestellt. Vor allem der Ort, an dem die Charakterisierung stattfindet und die Personen, die sie abgeben, weisen dem Protagonisten einen besonderen Stellenwert zu. Nicht zufällig erinnert es an den alttestamentlichen Hiob, wenn Gott in himmlischer Sphäre diesen außerordentlichen Knecht zum Objekt seiner Machtdarstellung erwählt[10] („Kennst du den Faust?“, V. 299). Ziel dieser Intertextualität ist einerseits die Illustration der Ausnahmestellung Fausts in der Rolle des neuen Hiob. Darüber hinaus soll an ihm, als Auserwählter Gottes, die Möglichkeit der Erlösbarkeit der Menschheit bewiesen werden.[11] In der Urfaust -Fassung hingegen, in welcher der himmlische Rahmen noch fehlte, war Faust ausnahmslos titanischer Übermensch. Mit der Voranstellung des Prolog im Himmel hat Goethe aus dem Stürmer und Dränger jedoch eine klassische Figur entwickelt, die immer noch Ausnahmeerscheinung, aber gleichzeitig Menschheitsrepräsentant ist.[12]

Mit dem Bestreben nach sowohl göttlichen als auch irdischen Genüssen (vgl. V. 301-307) macht Mephistopheles auf die Doppelnatur des faustischen Wesens aufmerksam.[13] Für den Teufel ist dieses Merkmal die Bestätigung, dass dieser zugegebenermaßen besondere Diener Gottes (vgl. V. 300) sich dennoch nicht von der Menschenmasse absondert und ebenso die ihm gegebene Vernunft nicht richtig zu gebrauchen weiß[14] (vgl. V. 285-292, 312). Der Zuschauer erfährt hier erstmals von der Zerrissenheit Fausts, die sein Ungenügen an der Welt und seine ewige Rastlosigkeit begründet. Eben jene Zerrissenheit ist auch für den Teufelsbund ausschlaggebend und fügt den ersten und den zweiten Teil der Tragödie motivisch zusammen.[15]

Das „Zwitterwesen“,[16] das Mephistopheles charakterisierte, erhält durch Fausts hoch pathetische Selbstexposition „ad spectatores“ in der ersten Szene des Binnengeschehens, zusätzlich zur himmlischen Bewertung, eine persönliche Komponente seines Strebens.[17] Wird auf der einen Seite sein Streben nach „Gut und Geld“ (V. 374) und „Ehr und Herrlichkeit der Welt“ (V. 375) offenbar – materielle und sinnliche Güter,[18] die ihm ausnahmslos, trotz immenser Bemühungen, bisher verwehrt geblieben sind, so ist es auf der anderen Seite vor allem eine allumfassende Erkenntnis der Schöpfung, die er begehrt. Feststellend, dass das traditionelle Bücherwissen aufgrund der rein rationalistisch analytischen Methodik und implizierten Irrationalität[19] seinen göttlichen Wissensanspruch nicht zu befriedigen vermag, verwirft er seine Hoffnung an die klassische Wissenschaft.[20] Er begibt sich auf den Pfad der Magie, der ihn von den unerträglichen irdischen Erkenntnisschranken freimachen soll.[21] Die christliche Religion brandmarkt dieses Streben als Hybris.[22] Faust wird zum Sünder.[23] Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Auslegung der curiositas durch Augustinus.[24] Dieser unterscheidet das als durchaus positiv zu beurteilende Bildungsstreben,[25] das die „Ergründung von Glaubenswahrheiten in rechter Gesinnung“[26] impliziert und den „Ausgangspunkt möglicher Wahrheits- und Gotteserkenntnis“[27] darstellt, von der verwerflichen Wissensgier, die ein eindeutiges Merkmal der superbia sei[28] - vornehmlich, „weil ihr wahres Ziel nicht in der Erkenntnis der Schöpfung, sondern in der Selbstüberhebung des Menschen besteh[e].“[29]

2.2 Von der Schau zur Tat

Den Weg, den Faust in Folge des Unbefriedigsteins an die traditionelle Wissenschaft zur Befriedigung seines Strebens nun einschlägt, impliziert auch eine Vorgehensweise anderer Art und illustriert eine erste Verschiebung seines Interesses.[30] An dieser Stelle soll einerseits die neue Vorgehensweise des Erkenntnisgewinns dargestellt werden. Darüber hinaus werden die Forschungsmeinungen über den Erfolg Fausts diskutiert. Zudem gilt es auf die sich schon hier andeutenden Folgen seines Strebens hinzuweisen.

Nicht mehr nur theoretisch will er Wissen erlangen, sondern es schauen und vor allem selbst daran teilhaben.[31] Faust verlangt also nach einer Erkenntnis, die Theorie und Wissen auf eine Weise in sich vereinigt, wie es nur Gott zukommt[32] und im Sinne der augustinischen Augenlust, der „concupiscentia oculorum“[33] ein Ausdruck größten Hochmuts ist. Bei der Betrachtung der geheimnisvollen Zeichen der ganzheitlichen Harmonie im Buch des Nostradamus handelt es sich jedoch lediglich um eine externe Schau.[34] Er beobachtet das Ersehnte zwar, fühlt sich selbst aber davon ausgeschlossen, weil er die unendliche Natur, die unmittelbar vor ihm liegt, nicht zu fassen vermag[35] („Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur! / Wo fass’ ich dich, unendliche Natur?“, V.454f.). Rickert zufolge bedeute schon die reine Schau dessen, die erwünschte höchste Erkenntnis – Faust könne endlich begreifen, was die Welt im Innersten zusammenhält (vgl. V. 382f.) und sei für einen Moment von seinem Wissensdurst geheilt.[36] Im Text finden sich für diese Annahme jedoch keinerlei Indizien. Requadt stellt hingegen konsequenterweise fest, dass für Faust ein Zustand der bloßen Betrachtung nicht vollständig befriedigend bleiben kann.[37] Dass Faust in Folge seiner zauberischen Erfahrung einem Gefühl der Gottwerdung verfällt (vgl. V. 439), ist für Schonlau dementsprechend kein Merkmal einer ausgezeichneten Qualität der Erkenntnis,[38] sondern beschreibe lediglich die „Intensität des Erkenntnisrausches“.[39] Arens stellt in diesem Sinne kurz und bündig fest: „Von Erkenntnis [kann] keine Rede sein“.[40] Indes diskriminiert er Fausts Hochgefühle als Halluzination.[41] Gaiers Interpretation bezieht ebenfalls den Aspekt der Täuschung mit ein, ausgehend davon, dass Faust nur „zu erkennen meint, was der Weise spricht.“[42] Gleichzeitig gibt Gaier, dem an dieser Stelle zuzustimmen ist, einen Grund für das Scheitern dieser ersten zauberischen Beschwörung an. Er spricht von einer dilettantischen Vorgehensweise und beschuldigt Faust der falschen Einschätzung des Mediums des magischen Buches. Denn statt Magie als „Gesamthaltung“[43] und die Zauberzeichen allein als Hilfestellung zu betrachten, behandele er diese, scheinbar ohne durch die Abkehr von der akademischen Lehre an Einsicht gewonnen zu haben, als wissenschaftliche Disziplin, die er sich durch Bücher aneignen könne[44] und „[ergebe] sich der Magie, statt sie zu beherrschen“.[45] Dieser Meinung schließt sich Hamm an und bestätigt dem Protagonisten ein falsches Urteil über das Verhältnis von Schriftlichkeit und Natur. Faust verstehe nicht, dass das Buch vor ihm nicht die Natur selbst ist und durch das Studium der Zeichen darin, niemals die Geheimnisse der Natur verstanden werden können.[46]

Mit der anschließenden Beschwörung des Erdgeistes deutet sich, trotz einer unbeirrten Vorgehensweise, eine Entwicklung des Strebens und eine Veränderung des Erkenntnisgegenstandes an. Das bestätigt auch die existentiellere Wirkung, die der Flammengeist (vgl.: BA nach V. 480), im Gegensatz zum Makrokosmoszeichen, auf Faust ausübt. Demgemäß hat Eppelsheimer zu Recht auf eine Häufung des Wortes „fühlen“ in den entsprechenden Passagen hingewiesen,[47] die eine Steigerung der ersten Beschwörungsszene demonstriert.

In einem frühen Schema bezeichnete Goethe den Erdgeist als Welt- und Taten-Genius.[48] Dies unterstützt die Ansicht Requadts, der davon ausgeht, dass Faust sich von der bloßen Kontemplation der Erkenntnis des Alls ab- und stattdessen der Tat auf der Erde zuwendet.[49] Die Schnelligkeit dieses Umschwungs, so Arens, sei erschreckend und entwerte das Hoch seiner Gefühle,[50] sei aber nichtsdestotrotz eine eindeutige Wendung, basierend auf einer gefühlsmäßigen Einsicht, von der Unfassbarkeit des Universums zum Greifbaren der Erde und markiere den Umschlag seines Strebens: Faust ziele nicht mehr nach Wissen, sondern entscheide sich stattdessen für das „konkret erfahrbare Leben“[51] und irdische Genüsse.[52] Diese Annahmen sind ganz gewiss richtig, verschweigen jedoch den ungebrochenen göttlichen Anspruch, den Faust, trotz veränderter Strebensrichtung noch immer in sich trägt. Abgeschworen hat er, zumindest dem Worte nach, der wissenschaftlichen Theorie, nicht jedoch dem Willen zur Erkenntnis der Schöpfung. Auf Erden sollen ihm nun Erfahrungen zuteil werden, welche die menschlichen Grenzen noch immer überschreiten und noch immer von superbia geprägt sind („Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, / Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen“, V.464f.). Eben jene übermenschliche Forderungen wird Faust später an Mephistopheles herantragen („Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem innern Selbst genießen“, V.1770f.). Auch entfaltet sich hier schon Fausts Verlangen nach Tätigsein („Geschäftiger Geist, wie nah fühl’ ich mich dir!“, V.511), das im Verlauf der Handlung seine volle Ausprägung erhalten wird.

Faust scheitert erneut, er kann die Erscheinung nicht halten und stürzt zu Boden (BA vor V. 515) – auch sein neues Streben ist auf diesem Weg nicht zu befriedigen. Während die Antiperfektibilisten diesen Zusammenbruch als Entlarvung seines Titanismus’ bewerten, hält die perfektibilistische Faustinterpretation auch jetzt noch weiter am faustischen Übermenschentum fest.[53] Daur schlägt die zutreffende Brücke und bringt die Textpassage schlüssig mit dem Dualismus von Titan und Menschheitsrepräsentant in Zusammenhang, der schon im „Prolog im Himmel“ angedeutet wurde[54]:

Wohl war die Sehnsucht übermenschlich, die es zu erscheinen

zwang, aber ganz menschlich ist, daß, was sich so enthüllte, seine Kräfte übersteigt.[55]

Die szenische Ironie (Auftritt Wagners) nach dem Zusammenbruch macht deutlich, dass Faust durch die gescheiterte Begegnung mit dem Erdgeist gewaltsam in sein Normaldasein, „[i]ns ungewisse Menschenlos“ (V. 629) zurückgestoßen wird.[56] „Im Sprunge nach dem Unerreichbaren ist er gestürzt, kein Gott mehr, tief erniedrigt, Wurm im Staub.“[57] Darüber hinaus lässt der Wechsel der Redeform vom ausgesonderten ich zum allgemeinen wir[58] vermuten, dass Faust seinen Anspruch Übermensch zu sein aufgegeben hat. Der Griff zur Giftflasche ist allerdings keine Folge der Verzweiflung, wie man annehmen könnte. Sein vorherrschender Beweggrund ist auch jetzt noch das Streben nach göttlicher Erkenntnis: Angesichts der Konfrontation mit seinem Scheitern, glaubt er die Schranken der Erkenntnis nur überwinden zu können, indem er „die Grenzen der irdischen Existenz des Menschen [beseitigt]“.[59] Er preist den Freitod, als Beweis dafür, dass er nicht vor überirdischer Kraft zurückschrecken muss (vgl. V. 712f.) und ist zuversichtlich auf diesem Weg zu „neuen Sphären reiner Tätigkeit“ (V. 705) zu gelangen, um sein kümmerliches und sorgenvolles Menschendasein verlassen zu können.

Mit dem Willen zur Veränderung seiner Lebensausrichtung deuten sich ferner die Folgen an, die das tätige Streben mit sich bringt, welches Requadt als „das zentrale Schuldproblem“[60] beschreibt, gestützt auf die Aussage Goethes, dass der Handelnde immer gewissenlos sei.[61] Mit seinem Bekenntnis zur Tätigkeit gewähre er der Schuld Zutritt zu seinem Leben.[62] In dieser Szene finden sich jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass Faust schon zu diesem Zeitpunkt Schuld auf sich lädt[63]. Allein die Voraussetzung für ein Schuldigwerden wird hier durch sein Streben geschaffen. Das Thema der Schuld und des Schuldbewusstseins sollen im zweiten Teil dieser Darstellung unter dem Aspekt der Folgen des Strebens erarbeitet werden.

Weitere Konsequenz seines Strebens, beziehungsweise seines an dieser Stelle nicht erfüllten Strebens, ist, neben der Entscheidung zum Selbstmord, das aufkommende Gefühl der Sorge. Lehnt er die auf ihn wirkende Macht der Sorge, die ihm im zweiten Teil der Tragödie in der Gestalt eines grauen Weibes begegnet, an jener Stelle ab, so ist festzuhalten, dass er sich hier durchaus das „Geheim-Gefährliche[...]“[64] der Bedrohung eingesteht, das sich aus dem Scheitern seiner magischen Beschwörung entwickelt[65] (vgl. V. 644-651). Um den Masken der Sorge (vgl. V. 646-649) zu entgehen, so die These Moenkemeyers, greift Faust zu dem Giftbecher[66] und stellt damit einen Zusammenhang zwischen dem sorgenvollen Gefühl und dem Selbstmordversuch her. Damit widerspricht er Stöcklein, der es vehement ablehnt in der Sorge eine Verführerin zum Tode zu sehen. Vielmehr entspringe ihre dumpfe Wirkung dem unbedingten Festhalten am Leben und seinen Schätzen.[67] Schwerlich jedoch ist eine Beziehung zwischen der Sorge und Fausts Wunsch zu sterben von der Hand zu weisen, zumal er die Wirkung der Sorge auf sich kurz zuvor bestätigt. Allerdings ist sie nur ein nebensächlicher Aspekt für Fausts Entscheidung zum Selbstmord. Die wesentlichste Motivation liegt, wie zuvor beschrieben, in seinem ungebrochenen Bekenntnis zur Tat.

2.3 „[Der Sonne] nach und immer nach zu streben“ – Fausts Sehnsucht nach Leben und Genuss

Mit dem Wissen um des Teufels Intentionen erscheint es zunächst problematisch, dass Mephistopheles eben in jenem Augenblick in das Leben Fausts tritt, als dieser seinem überirdischen Streben vermeintlich eine Absage erteilt, seinem Grenzen überschreitenden Leben zu entsagen und mit einem Dasein als Mensch unter Menschen befriedigt zu sein scheint (vgl. V. 940). Eine Betrachtung der faustischen Sehnsucht nach vogelgleichem Flug und der verfolgten Intentionen Fausts und Mephistos bei ihrem Zusammentreffen kann diese Schwierigkeit auflösen.

Die schon in der nächtlichen Szene auffällige Flug- und Erhebungsmetaphorik setzt sich beim Osterspaziergang fort, steht jedoch unter einem anderen Vorzeichen, als in der vorangegangen Szene, wie Requadt ganz richtig betont. Denn nach seinem gescheiterten Freitodversuch wende sich Faust mit dem Wunsch nach „neuem, buntem Leben“ (V. 1121), wie die Erdgeistbeschwörung schon angedeutet habe, nun der Welt zu und entdecke außerhalb seines Kerkers, im Treiben der Dorfgesellschaft, ein erfrischtes Lebensgefühl, das „innere Erhöhung in der andern Welt[68] verspreche.[69] In dieser ‚anderen Welt’ versuche Faust Antworten auf sein Streben und Anreize zu neuem Tatendrang zu finden.[70] Widerlegt werden muss jedoch Requadts These, dass das Übermenschliche nur als Ausschlag seines Strebens erscheine, das all-menschlich sei und nicht im Absoluten verharre.[71] Er macht diese Feststellung aufgrund Fausts Aussage, der Wunsch nach Flügeln sei jedem Menschen eingeboren. Er übersieht dabei jedoch, dass Faust sich in seiner Annahme irrt. Das beweist Wagners Replik auf Fausts pathetische Erhebungssehnsucht: „solchen Trieb hab’ ich noch nie empfunden“ (V. 1101). Die Ansicht Rickerts, dass die Gegenüberstellung von Volk und Faust in dieser Szene der Kontrastierung des faustischen Wesen und das ‚der Anderen’ und damit der Illustration seines überirdischen Strebens dient,[72] ergibt mit dem Blick auf die vorangegangen Szenen ein konsequenteres Bild des Protagonisten. Die Sehnsucht einerseits ein Mensch unter Menschen zu sein (vgl. V. 940) und das Zurückgeworfenwerden in die Unzufriedenheit mit den menschlichen Daseinsmöglichkeiten andererseits (vgl. V. 1064-1067) veranschaulichen erneut Fausts Doppelnatur, die dem Zuschauer in den beiden vorangegangenen Szenen vorgeführt wurde. Die menschliche Stimmung in die Faust durch den Gesang des Chores und die Gesellschaft des Volkes versetzt wurde, ist nicht von langer Dauer und weicht bald wieder dem übermächtigen Drang ins Unerfüllbare[73] (vgl. V. 1075).

Der Sonnenuntergang bewirkt die endgültige Einsicht Fausts in die Grenzen menschlicher Kraft.[74] Dem Tageslicht hinterher zu fliegen, um die Sonne für sich nie untergehen zu lassen, bestätigt nochmals die Verschiebung seines Strebens: Nicht mehr das Wissen ist es, das er begehrt,[75] sondern das Leben[76] und der „Genuß der Welt.“[77] Dem ewigen Lauf des Sonnenlichts zu folgen, ist, und das macht Petsch offenkundig, „ein ganz tiefes Symbol menschlichen Strebens“,[78] das ewiger Tätigkeit entspricht,[79] und Fausts weiter anhaltendes Begehren nach rastloser Aktion beweist.

Unverändert ist auch die, in seinem Wunsch nach Flügeln implizierte , superbia. Ungeachtet der großen Sehnsucht des Menschen zu fliegen, blieb bis zum ersten Ballonflug, Ende des 18. Jahrhunderts, eine vogelgleiche Fortbewegungsmethode nur Teufel, Teufelsbündnern, Hexen und dämonischen Gestalten[80] in Geschichten und Erzählungen vorbehalten.[81] Speziell im Flugbild zeigt sich deshalb äußerste menschliche Anmaßung.[82] Auch das Volksbuch bedient sich dieses Motivs um den faustischen Hochmut darzustellen. Schmidt räumt zwar ein, dass die Flügelmetapher als eindeutige Anlehnung an das Faustbuch von 1578 betrachtet werden kann, erkennt aber in dem Erhebungswunsch des Goetheschen Fausts keinerlei Warnung vor curiositas und superbia, wie sie in der Vorlage zu finden ist.

Das Faustbuch [... ] lässt seinen Faust große Flüge unternehmen (Kapitel 24-27). Daß sie unter Anleitung des Teufels stattfinden, soll darauf hinweisen, wie sehr sich Faust im Wortsinn „überhebt“. Für den frommen Verfasser des Faustbuchs sind Fausts Flüge ein sinnfälliger Ausdruck seiner „superbia“. [... ] Goethe nimmt das in der Faustliteratur weiter tradierte Flugmotiv auf, wandelt es aber entscheidend ab, indem er Fausts Wunsch zu fliegen, nicht mehr mit verwerflicher „curiositas“ verbindet und nicht als sündige „superbia“, vielmehr als Ausdruck einer naturhaften menschlichen Sehnsucht versteht. [... ] Daß die naturgegebene menschliche Sehnsucht, sich emporzuschwingen, letztlich dem Höheren, Idealen gilt, ist eine wenn auch vom Leiden am realen Dasein motivierte, so doch im Ziel positive Umbesetzung des in der Faust-Tradition noch ganz negativ mit dem „superbia“-Vorwurf belegten Flugmotivs.[83]

Rickert sieht hingegen in dem Begehren nach Flügeln mehr als nur einen „Ausdruck einer naturhaften menschlichen Sehnsucht“[84] und macht auf die Exklusivität dieses Wunsches aufmerksam, dessen Erfüllung keinem irdischen Wesen zukomme und gerade aus diesem Grund das faustische Wesen auf besondere Weise bestimme.[85] Entsprechend erkennt auch Burdach im Begehren nach Flügeln „titanische Hybris“[86] und betrachtet es nach der Zuwendung Fausts zur schwarzen Magie ferner als „de[n] zweite[n] Schritt der Auflehnung wider die von Gott menschlicher Kraft gesetzten Grenzen.“[87]

Die Abgrenzung von Bildungsphilister und Genie wird in Fausts Gespräch mit seinem Famulus über ihre unterschiedlichen Strebungsziele besonders deutlich.[88] Während Wagners Intentionen durchweg endlich sind, begehrt Faust auf der anderen Seite das Unmögliche. Wenn dem Zuschauer in dieser Szene zum ersten Mal eine menschliche Seite in Fausts Streben aufgezeigt wird, so wird diese spätestens bei der Schilderung seiner zwei Seelen (vgl. V. 1110-1117) wieder relativiert. Denn nach eigener Aussage hat er zwar diese irdische Wesensseite in sich, die sich an das Sinnliche der Welt klammert („Die eine hält, in derber Liebeslust, / Sich an die Welt mit klammernden Organen“, V.1114f.), hingegen ist ihm jedoch stets das übermenschliche Streben inhärent („Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust / Zu den Gefilden hoher Ahnen“, V.1116f.). Faust billigt also das Streben nach Wissen seines Schülers durchaus.[89] Zwar handelt es sich de facto um bloße Büchergelehrsamkeit („Wie anders tragen uns die Geistesfreuden / Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!“, V. 1104f. „Und ach! entrollst du gar ein würdig Pergamem, / So steigt der ganze Himmel zu dir nieder“, V. 1108f.) und beansprucht eine andere Zielsetzung als jener Drang Fausts,[90] dieser schätzt Wagner aber dennoch glücklich, beneidet ihn geradezu, eben diesen besagten zweiten Drang nach überirdischem Wissen nicht in sich zu tragen[91] („O lerne nie den andern kennen!“, V.1111). Faust selbst erkennt also die Doppelnatur in sich, die Mephistopheles schon damals im Himmel als faustisches Charakteristikum definierte.

Folge des Bewusstwerdens sich niemals mit dem beschränkten Wissen, das dem Menschen gegeben ist, zufrieden geben zu können ist, wie schon in der nächtlichen Szene, Resignation. Diese Seelenlage bewirkt unabwendbar die Anwendung der Magie,[92] denn „Verzweiflung ist der Nährboden, auf dem das magisch-dämonische Bemühen gedeiht.“[93] Um in „fremde Länder“ (V. 1123) getragen zu werden und seinem leidigen Dasein zu entfliehen, sehnt sich Faust nach einem Zaubermantel, der Wunsch nach magischen Hilfsmitteln impliziert jedoch auch dämonische Mitwirkung.[94] So ist es nicht verwunderlich, dass Mephisto, den Aufruf nach einem Zaubermantel schier als Kommando auffassend,[95] in der Gestalt eines Pudels, Faust gerade in diesem Augenblick seine erste Aufwartung macht. Und eben jenes begehrte Fortbewegungsmittel wird ihm Mephisto später zur Verfügung stellen, um die Weltfahrt anzutreten (V.2065ff.).[96]

2.4 Bekenntnis zur Rastlosigkeit

„Geselle dich zu uns! Komm hier!“ (V. 1166). Faust lässt den, mit dieser Aufforderung in sein Leben gerufenen, Teufel die Aufgabe erfüllen, die der Herr Mephistopheles im Prolog zuschrieb.[97] Unbewusst wiederholt Faust mit dem Begriff ‚Geselle’ die göttliche Wortwahl (vgl. V. 343)[98] und deutet damit auf die künftige stete Begleitung des „dunkle[n] Schatten[s]“[99] voraus, den er bald schon nicht mehr entbehren können wird (vgl. V. 3243f.).

[...]


[1] Vgl. Schmidt: Grundlagen, S.305-324.

[2] Goethe: Paralipomenon zu Dichtung und Wahrheit (in: Weber: Phänomene, S.229).

[3] Im Folgenden wird nur noch von den Zuschauern die Rede sein, impliziert aber immer auch den Leser. Insbesondere weil vor allem Faust II als Lesedrama konzipiert war.

[4] Im Folgenden wird, zugunsten einer einfacheren Lesbarkeit, von Faust I und Faust II die Rede sein. Der Begriff Urfaust bezeichnet nachfolgend die von Erich Schmidt unter dem Titel Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt nach Göchhausenschen Abschrift herausgegebene Abschrift eines Goetheschen Manuskripts, die Schmidt 1887 im Nachlass des Hoffräuleins Luise von Göchhausen fand.

[5] Augustinus: confessiones V 3,5.

[6] Vgl. Gaier: Kommentar I, S.84f.

[7] Gaier: Kommentar I, S.85.

[8] Vgl. Lubkoll: Augenblick, S.127f.

[9] Vgl. Pinsk: Krisis, S.34.

[10] Vgl. Rickert: Dramatische Einheit, S.69.

[11] Vgl. Kaiser: Vision und Kritik, S.10f.

[12] Vgl. Kaiser: Bibel, S.396 und Requadt: Leitmotivik, S.46. Arens hingegen bestreitet, dass Faust hier auch als Repräsentant der Menschheit eingeführt wird. Seiner Meinung zufolge spreche die Darstellung Fausts als Knecht und Diener durch Gott eindeutig dafür, dass er als Ausnahme des Durchschnittsmenschen, wie er von Mephistopheles beschrieben werde, betrachtet werden müsse (vgl. Arens: Faust I, S.58).

[13] Vgl. Requadt: Leitmotivik, S.47.

[14] Vgl. Hamm: Textanalyse, S.78.

[15] Vgl. Rickert: Dramatische Einheit, S.70f.

[16] Requadt: Leitmotivik, S.71.

[17] Schöne macht darauf aufmerksam, dass die Doppelnatur Fausts auch durch das gewählte Versmaß unterstützt wird. Während die Wirkungsgeschichte die ersten Zeilen des Monologes mit einer „edlen Patina“ ausgezeichnet haben, war vor allem für die zeitgenössischen Hörer der humoristische und primitive Klang der Knittelverse in der Tradition des Hans Sachs’ offensichtlich, welcher den „Titanen, den Übermenschen in ironisches Licht [rückte]“ (vgl. Schöne: Kommentare, S.208). Hamm hingegen widerspricht dem vehement. Er gibt zwar zu, dass die ‚Knittel’ des 16. Jahrhunderts „in den Ohren gebildeter Zeitgenossen“ einen durchaus humoristischen Zug gehabt haben, doch sei die Folgerung, Goethe habe Faust damit in ein ironisches Licht rücken wollen, nicht schlüssig, da die Autoren des Sturm und Drang das Versmaß des Hans Sachs aufgrund seiner Natürlichkeit wieder schätzen lernten. Im Auftrittsmonolog verleihe der Knittelvers Faust eine historische Authentizität und bekunde seine Hinwendung zur Natur (vgl. Hamm: Textanalyse, S.17).

[18] Vgl. Schöne, Kommentare, S.212.

[19] Vgl. Daur, Faust, S.27.

[20] Laut Eppelsheimer litt Goethe selbst, vornehmlich während seiner Sturm- und Drang-Zeit an der mechanistischen Denkweise und ließ Faust seine eigene Abneigung gegenüber einer Wissenschaftsmethode aussprechen (vgl. Eppelsheimer: Doppelreich, S.78f. und 81), in der „der Mensch als ein von Natur und Kosmos Ausgestoßener, als unbehauster Fremdling erscheint“ (Eppelsheimer: Doppelreich, S.79).

[21] Vgl. Daur: Faust, S.27.

[22] Vgl. Schmidt: Grundlagen, S.80f.

[23] Vgl. Busch: Religion, S.331.

[24] Vgl. Lubkoll: Augenblick, S.20ff.

[25] Blumenberg weist ausdrücklich darauf hin, dass das Wissenwollen an sich nicht schon verwerfliche curiositas ist (vgl. Blumenberg: Neugierde, S.105).

[26] Bös: Curiositas, S.20.

[27] Bös: Curiositas, S.97.

[28] Vgl. Müller: Neugierde, S.732.

[29] Münkler: Curiositas, S. 64.

[30] Vgl. Requadt: Leitmotivik, S.69.

[31] Vgl. Daur: Faust, S.28.

[32] Vgl. Kaiser: Bibel, S.399.

[33] Augustinus: confessiones X 35,54.

[34] Vgl. Daur: Faust, S.29.

[35] Vgl. Eppelsheimer: Doppelreich, S.82.

[36] Vgl. Rickert: Dramatische Einheit, S.114.

[37] Vgl. Requadt: Leitmotivik, S.69.

[38] Vgl. Schonlau: Wissenskultur, S.104.

[39] Schonlau: Wissenskultur, S.104.

[40] Arens: Faust I, S.87.

[41] Vgl. Arens: Faust I, S.87.

[42] Gaier: Kommentar I, S.124.

[43] Gaier: Kommentar I, S.116.

[44] Vgl. Gaier: Kommentar I, S.116.

[45] Gaier: Kommentar I, S.88.

[46] Vgl. Hamm: Textanalyse, S.18.

[47] Vgl. Eppelsheimer: Doppelreich, S.82f.

[48] Paralipomenon 1. W. 14.

[49] Vgl. Requadt: Leitmotivik, S.71.

[50] Vgl. Arens: Faust I, S.90.

[51] Schmidt: Grundlagen, S.85.

[52] Vgl. Arens: Faust I, S.91.

[53] Vgl. z.B. Rickert: Dramatische Einheit, S.122.

[54] Die „Duplizität der menschlichen Natur und das verunglückte Bestreben, das Göttliche und Physische im Menschen zu vereinigen erkannte schon Schiller als das existentielle Problem im Goetheschen Faust. (Goethe und Schiller: Briefwechsel, Brief vom 23. Juni 1797).

[55] Daur: Faust, S.30.

[56] Vgl. Schmidt: Grundlagen, S.89.

[57] Daur: Faust, S.35.

[58] Vgl. Daur: Faust, S.35.

[59] Kaiser: Bibel, S.400.

[60] Requadt: Leitmotivik, S.71.

[61] Goethe: Maximen und Reflexionen 251.

[62] Requadt: Leitmotivik, S.71.

[63] Das gilt nur in dem Fall, wenn man voraussetzt, dass es sich bei diesen zauberischen Beschwörungen Fausts noch um weiße, akzeptierte Magie handelt, die bis in Goethes Zeit hinein als universale Naturwissenschaft angesehen wurde (vgl. Gaier: Kommentar II, S.296f.).

[64] Vgl. Stöcklein: Wege, S.73.

[65] Vgl. Daur: Faust, S.35.

[66] Vgl. Moenkemeyer, Erscheinungsformen, S.100.

[67] Vgl. Stöcklein: Wege, S.76.

[68] Petsch: Osterspaziergang, S.287.

[69] Vgl. Requadt: Leitmotivik, S.101.

[70] Vgl. Petsch: Osterspaziergang, S.287.

[71] Vgl. Requadt: Leitmotivik, S.101 und 103.

[72] Vgl. Rickert: Dramatische Einheit, S.143. Dass das Aufeinandertreffen von Dorfgesellschaft und dem Gelehrten Faust auch die soziale Differenz beschreiben soll, um damit die spätere Begegnung mit Gretchen mitsamt des standesgemäßen Problems anklingen zu lassen (vgl. Schmidt: Grundlagen, S.109f.), ist für die Geschehnisse in der Gretchentragödie von Wichtigkeit. Für diese Arbeit ist diese Bedeutung jedoch nebensächlich. Es genügt an dieser Stelle auf die Mehrdeutigkeit der Szene hinzuweisen.

[73] Vgl. Rickert: Dramatische Einheit, S.147.

[74] Vgl. Petsch: Osterspaziergang, S.296.

[75] Vgl. Petsch: Osterspaziergang, S.297.

[76] Vgl. Hamm: Textanalyse, S.88.

[77] Hamm: Textanalyse, S.89.

[78] Petsch: Osterspaziergang, S.295.

[79] Vgl. Petsch: Osterspaziergang, S.295f.

[80] In der Antike hingegen war, ähnlich wie den Gottesboten in der Bibel, das Fliegen nur Götter, Halbgöttern und Heroen eingeräumt (vgl. Schwerte: Ikarus, S.305).

[81] Vgl. Schwerte: Ikarus, S.304.

[82] Vgl. Schwerte: Ikarus, S.306.

[83] Schmidt: Grundlagen, S. 112f.

[84] Schmidt: Grundlagen, S. 112.

[85] Vgl. Rickert: Dramatische Einheit, S.150.

[86] Burdach: Problem, S.30. Der These der titanischen Hybris ist zuzustimmen. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen im Text, dass darüber hinaus auch ein religiöses Gefühl erwache, wie Burdach es annimmt (vgl. Burdach: Problem, S.30).

[87] Burdach: Problem, S.30.

[88] Vgl. Rickert: Dramatische Einheit, S.153.

[89] Vgl. Daur: Faust, S.43.

[90] Vgl. Eppelsheimer: Doppelreich, S.99.

[91] Vgl. Daur: Faust, S.43.

[92] Vgl. Petsch: Osterspaziergang, S.295.

[93] Petsch: Osterspaziergang, S.294.

[94] Gaier hingegen vertritt die Auffassung, dass Faust hier keineswegs Dämonen oder gar den (bzw. einen) Teufel heraufbeschwöre, sondern stattdessen lediglich einen „technischen Hilfsdienst zur Raumbewältigung“ fordere (vgl. Gaier: Kommentar I). Er missachtet jedoch, dass Faust ausdrücklich von einem Zauber mantel spricht und damit durchaus auch Magie, das heißt dämonische oder teuflische Mithilfe, impliziert.

[95] Vgl. Eibl: Erlösung, S.101.

[96] Vgl. Requadt: Leitmotivik, S.105.

[97] Vgl. Daur: Faust, S.45.

[98] Vgl. Arens, Faust I, S.138.

[99] Eppelsheimer: Doppelreich, S.102.

Ende der Leseprobe aus 69 Seiten

Details

Titel
Fausts Streben und seine Folgen
Untertitel
"Hast du die Sorge nie gekannt?"
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Note
1,6
Autor
Jahr
2010
Seiten
69
Katalognummer
V149991
ISBN (eBook)
9783640609963
ISBN (Buch)
9783640610167
Dateigröße
744 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Faust I, Faust II, Streben, Sorge, Hybris, Superbia, Prolog im Himmel, Bergschluchten, Erlösung, Wette, Schuld, Studierzimmerszenen, Pakt, Philemon und Baucis, Augustinus, concupiscentia oculorum, Neugierde, Thema Faust
Arbeit zitieren
Ellen Günyil (Autor:in), 2010, Fausts Streben und seine Folgen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149991

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