Individualität von Authentizitätswahrnehmung bei musikalischen Darbietungen


Seminararbeit, 2006

12 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


1. Beispiel & Einfuhrung

„Falsch/Richtig, das sind die Kategorien putzsuchtiger Hausfrauen, die ihre Kinder zu anstandigen Menschen erziehen wollen. Und in diesem Niveau wollen sich echte Vollblutmusiker doch sicher nicht ansiedeln.“

[ - Claudia Schandt, „Falsch gespielt“ ]

Was Claudia Schandt in ihrem Text „Falsch gespielt” so vehement fordert, ist in letzter Konsequenz nicht nur ein liberalerer Umgang mit - allgemein - Kategorisierungen musikalischer Darbietungen, sondern eine vollkommene „0ffnung“ des eingesetzten Bewertungsvokabulars, wenn auch in jenem Fall primar bezogen auf den Akt des Musizierens und weniger den des Rezipierens. Dennoch: die Grenzen zwischen Remix, Interpretation, Inszenierung oder etwa Vorfuhrung scheinen flieftend zu sein und es immer mehr noch zu werden, je weiter sich die technischen Moglichkeiten in der Instrumenten- und Produktionstechnik fortentwickeln. Eventuell muft sich die Rezeption eines musikalischen Kunstwerks, einer Darbietung oder Auffuhrung, dem anpassen?

Ein auf der Buhne gesungenes Volkslied: zweifelsfrei „live“ dargeboten, mit nicht wegzudiskutierendem personlichen Anteil eines Sangers bzw. Interpreten.

Ein uber Lautsprecher zu horendes Stuck, moglicherweise sogar das gleiche wie das im letzten Satz noch (anders) dargebotene, ohne Buhne oder sichtbaren Sanger diesmal: zweifelsfrei „aus der Konserve“, somit das Gegenteil von „live“.

Wirklich zweifelsfrei? Daft sich diese Formen einer musikalischen Darbietung unterscheiden, wird sich nicht abstreiten lassen. Daft (besser: ob) sie sich bewerten lassen sollen, woher dieser Drang nach diesbezuglicher Klassifizierung uberhaupt kommt, unter welchen Bedingungen dabei Authentizitat auf der Seite des Horers entsteht oder eben nicht - das soll in dieser Arbeit untersucht werden.

Der Begriff der Individualitat, wie er hier im Titel angewendet wurde und auch im weiteren Verlauf der Arbeit gebraucht werden soll (als Summe verschiedenster Eigenschaften oder Merkmale namlich, die Besonderheiten ausmachen und Personlichkeit stiften), muft dabei deutlich von dem der Subjektivitat (dem „Eigensinn der Meinung“, dem rein personlichen Urteil) abgegrenzt werden.

Als musikalische Darbietungen im Sinne dieser Arbeit sollen wiederum jegliche Formen klangkunstlerischer Aufterungen betrachtet werden, die - um thematisch den Faktor Authentizitat uberhaupt erst untersuchen zu konnen - sowohl „live“ als auch „reproduziert“ dargestellt (und konsumiert) werden konnen. Das gesungene Lied, ein Konzert, ein Gedichtvortrag - nicht jedoch also beispielsweise „Muzak“ oder Audio-Logos bzw. Jingles, die nur in ihrem speziellen jeweiligen Kontext funktionieren (konnen).

Authentizitatswahrnehmung schlieftlich beschreibt die Einordnung einer musikalischen Darbietung in ein (meist individuelles bzw. personliches) Kategorien- oder Wertesystem anhand von Faktoren wie dem der - ubersetzt - Echtheit, oder treffender „Credibility“, eines Songs oder vielmehr Kunstlers.

2. Sachverhalt & Erklarung

Die unmittelbarste Moglichkeit einer Klangerzeugung ist die menschliche Stimme. Muskelkraft (und noch davor: der Wille bzw. die Absicht oder sogar die Idee) steuert die Bewegung der Stimmbander, den Luftaustritt, die Form des (Resonanz-)korpers - und somit Tonhohe, Klangfarbe, Art, Lautstarke und alle weiteren denkbaren und beeinfluftbaren Parameter[1] von Gesang. Es steht kein „Ding“ zwischen Sanger und Schallwelle.

Auf der nachsten Stufe lassen sich vergleichsweise einfach aufgebaute Instrumente nennen - eine Flote, exemplarisch: in die „Kette“ zwischen Interpret und erzeugter Schallwelle tritt ein Mittler, namlich ein Stuck Holz, das der Manipulation und Verfeinerung des Schalls dient. Es hilft mit einem minimalen Zusatz dabei, genau jene Klange zu erzeugen, die der Kunstler nicht allein mit Hilfe seines Korpers erzeugen konnte.

Eine weitere Stufe hoher auf der Treppe der Mittelbarkeit: das, beispielsweise, Klavier. Muskelkraft wird benutzt zum Drucken einer Taste, die Mechanik der Taste schlagt auf eine Saite, die Schwingung der Saite erzeugt den Schall. Vergleichbar: der Schlag auf die Membran einer Trommel oder das Spielen einer Violine mit Bogen. Auch hier offensichtlich nur wenige Details mehr zwischen dem Willen zur Erzeugung eines Klangs und der Schwingungen der Luft im Vergleich zur vorangegangenen Stufe.

Und entsprechend geht es weiter: das elektronische Piano ersetzt die Mechanik zwischen Hammer und Saite, also den „letzten Teil“ der Klangerzeugung, durch Schaltkreise und Lautsprecher. Kaum ein Unterschied zum Spielen eines traditionellen Klaviers, aufter dem Hinzufugen von Mittelbarkeit, dem Verwenden von Arbeitserleichterungen oder dem Schaffen neuer (klanglicher) Moglichkeiten dadurch.

Der Synthesizer als Erzeuger neuartiger Klange „optimiert“ den anderen, weiter „vorn“ sitzenden Teil der Klangerzeugung. Nicht mehr Muskelkraft und Mechanik losen einen Ton aus, sondern Programmierung (am „Ende“) bzw. das direkte Beeinflussen elektronischer Parameter (am „Anfang“). Die Kombination mit einem Sequencer wiederum tritt an die Stelle von zu beherrschender Fingerfertigkeit, indem sie „Patterns“ speichern und abrufen kann.

Vom vollstandig programmierten Song aus dem Sequencer ist es schlieftlich nicht mehr weit zum reinen Abspielen einer vollstandig angefertigen Aufnahme - der Anteil des Kunstlers bei einer Darbietung beschrankt sich hierbei auf den Willen zum Abspielen des Stucks und das Betatigen der entsprechenden Knopfe („Play“). Unmittelbarkeit ist praktisch nicht mehr vorhanden.

Und an welcher Stelle wendet sich nun der sprichwortliche Volksmund mit den Worten „das ist ja gar nicht ,liveY‘ vom Konzert ab? Das ist insofern nicht so einfach zu beantworten, als die Ubergange zwischen den einzelnen Stufen der Mittelbarkeit flieftend - sozusagen analog, nicht digital - zu verstehen sind. Jedes, egal aus welchem Grund, eingebrachte bzw. hinzugefugte Detail in der oben beschriebenen Klangerzeugungskette, also der Strecke zwischen der Absicht im Kopf und dem Schwingen der Luft, laftt sich weiter unterteilen in feinere Stufen der Mittelbarkeit. Der Eindruck des „analogen Schiebereglers“ drangt sich weiter auf: als liefte sich eine musikalische Darbietung bezuglich verschiedener Aspekte (unter diesen dann auch der Grad der wahrgenommenen „Echtheit“) von jedem Rezipienten einzeln mit einem solchen stufenlos verschiebbaren Knopf einordnen, bewerten. Es ist naheliegend, daft die Resultate dieser Einordnung von den verschiedensten Faktoren (kulturelle und soziologische Hintergrunde jeweils bei allen Beteiligten, „Setting“ bzw. Rahmen der musikalischen Darbietung, Stimmung/Tagesform des Kunstlers und viele mehr) abhangig sind.

Welche Faktoren dies genau sind, also woran es liegt, daft Menschen diesen Sachverhalt teilweise so deutlich unterschiedlich bewerten, konnte aber naturlich auch „einfach“ eine Frage der angewendeten Begrifflichkeit sein. Wer kame schlieftlich - beispielsweise - auf die Idee, Objektivitat bei Musikrezensionen zu fordern? Im Fall der Authentizitatswahrnehmung soll daher nicht untersucht werden, ob - wieder, beispielsweise - ein bestimmter Bildungsgrad zu einer bestimmten Akzeptanz von Mittelbarkeit fuhrt, sondern vielmehr der Grund des Problems, die „Meta-Problematik“: wieso dieser individuelle Aspekt beim Einordnen von Authentizitat, beim Akzeptieren von Mittelbarkeit, eine solch wichtige Rolle zu spielen scheint.

3. Diskussion & Argumente

a. Reproduktion

Offensichtlich steigt mit einem Mehr an Mittelbarkeit bei der musikalischen Produktion bzw. Darbietung auch die Moglichkeit zur genauen Reproduktion. Dem Werk wird die Unberechenbarkeit (und somit indirekt die Menschlichkeit) (Horxheimer, zit. in Poschardt 2001, 366) genommen, indem Berechenbarkeit in Form maschineller/technischer Produktion hinzugefugt wird: die „technische Reproduktion entwertet das Hier und Jetzt“ des Kunstwerks und fuhrt zur „Verkummerung der Aura“ (synonym verwendet fur „Einzigkeit“) (vgl. Benjamin 1963, 13-20).

Die kummerlichste Provinzauffuhrung des „Faust“ hat vor einem Faustfilm jedenfalls dies voraus, daft sie in Idealkonkurrenz zur Weimarer Urauffuhrung steht. (Benjamin 1963, 13)

Wenngleich Walter Benjamin damit primar also Filmtechnik im Vergleich zur Theaterauffuhrung kritisieren wollte, so gilt das Gesagte doch sinngemaft fur alle Formen darbietender Kunst. Demnach steht reproduzierbare Kunst in Konkurrenz zur „live aufgefuhrten“ allein schon durch ihren Anspruch. Die so entstehende Entmenschlichung kann als Authentizitatsverlust angesehen werden - je hoher der artifizielle Anteil, desto geringer zwangslaufig der menschliche. Das aus der Tradition entstandene Kunstwerk, ursprunglich „im Dienst eines Rituals" ](Benjamin 1963, 16-17), lost sich durch die Reproduzierbarkeit eben davon und verliert seinen „Kultwert“ (ebd.) bis hin zu einem Stadium, in dem „hinter dieser Musik kein Mensch vorstellbar“ wurde (Morawska-Bungeler, zit. in Woltje 2001).

Definitiv wird die Kunstleistung des Buhnenschauspielers dem Publikum durch diesen selbst in eigener Person prasentiert; dagegen wird die Kunstleistung des Filmdarstellers dem Publikum durch eine Apparatur prasentiert. (..) Das Publikum fuhlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfuhlt. (Benjamin 1963, 23)

Eingefuhrte Mittelbarkeit in Form (der Moglichkeit) von Reproduktion, auch bereits im kleinen Maftstab bzw. im geringen Anteil an der eigentlichen - hier - musikalischen Darbietung, fuhrt also offensichtlich zu einem Verlust an Akzeptanz auf der Seite des Publikums.

b. Interpretation

Die Moglichkeit der Intepretation (auch: Inszenierung, in gewisser Weise auch Improvisation) sinkt ebenfalls mit steigendem Anteil der Mittelbarkeit. Je indirekter der Einfluft auf den Klang und die ihn zusammensetzenden Einzelelemente, desto weniger Offenheit ist dem Interpreten moglich. Diese wird aber verlangt, will man dem Werk einen gewissen Grad an Authentizitat zusprechen: mehr noch, je offener die Interpretation, je „freier“ die Inszenierung (nicht sinnentstellend, sondern z.B. auf den Ausdruck und die Intention mehr Wert legend als auf stures Halten an Notentext), desto besser.

[...]


[1] Naturlich existieren auch hier bereits unbeeinfluftbare Groften wie Raumgrofte/-form, direktes und indirektes Feedback des Publikums usw. - diese sind aber bei allen im Folgenden genannten Beispielen in vergleichbarer Form vorhanden und mussen somit nicht gesondert betrachtet werden.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Individualität von Authentizitätswahrnehmung bei musikalischen Darbietungen
Hochschule
Universität der Künste Berlin
Note
1,1
Autor
Jahr
2006
Seiten
12
Katalognummer
V148095
ISBN (eBook)
9783640588435
ISBN (Buch)
9783640588305
Dateigröße
433 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Live, Aufzeichnung, Aufnahme, Authentizität, Aufführung, Sound Studies, Rezeption
Arbeit zitieren
Frank Lachmann (Autor:in), 2006, Individualität von Authentizitätswahrnehmung bei musikalischen Darbietungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148095

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Individualität von Authentizitätswahrnehmung bei musikalischen Darbietungen



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden