Kraftwerk und die Konstruktion der musikalischen Wirklichkeit

Zur Bildung und Funktion einiger Schemata im Diskurs über Popmusik


Magisterarbeit, 2005

86 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Kraftwerk - semantisches Zeichen in der Erlebnisgesellschaft

II. Niklas Luhmann - Die Realität der Massenmedien
1. Das soziale Gedächtnis
2. Neu wird alt, alt wird neu

III. Kraftwerk zur Einführung

IV Kraftwerk - Akteur und Gegenstand im Diskurs über Popmusik
1. Gegen das Rockerklischee
2. Eine „typisch deutsche“ Band
3. Fritz Lang
4. Ein Labor auf dem Elfenbeinturm
5. „Kultureller Stalinismus“: Das Neuschreiben der Bandgeschichte
6. Design
7. Kraftwerk – prinzipiell bedeutsam
a) Text und Ton
b) Electric Café
c) Kraftwerk Live und auf Vinyl
d) Konstruktionen
8. Kraftwerk – prinzipiell unbedeutend

V Kraftwerk in „neuen Kontexten“
1. Die „Coverversion“ im Diskurs über Popmusik
2. Balanescu Quartet – “Possessed”
a) Ein Rumänisches Wunderkind spielt Kraftwerk
b) Gerhard Schulze: Das Hochkulturschema
c) Kraftwerk = E-Musik
3. Terre Thaemlitz – „Die Roboter Rubato“
a) Der Ambient-Konzeptkünstler
b) „Techno mit Hirn“
4. Señor Coconut y su Conjunto – „El Baile Aleman“
a) Uwe Schmidt, ein musikalisches Chamäleon
b) „El Baile Aleman“ und die Anbindung an Kraftwerk
c) Chile, das „Gegenteil“ von Deutschland
d) Kraftwerks legitimer Erbe?

Ausblick
Literatur
Artikel ohne Nennung der Autoren
Internet-Quellen
Online-Artikel ohne Nennung der Autoren
Links
Filme
Diskographie
Songtexte
Abbildungen

Einleitung

Im Spätsommer 2000 singen Reamonn in den Charts vom „Supergirl“ und Eminems „Marshall Mathers LP“ bricht Verkaufsrekorde, Italo-Dancer Gigi D’Agostino hat sich als internationaler Popact etabliert. Zur gleichen Zeit gelangt ein Album in den Mainstream, dessen Produzent bis dahin etwa 70 Alben mit elektronischer Musikveröffentlicht hatte, die allerdings nur in Insiderkreisen auf eine gewisse Resonanz trafen1. „El Baile Aleman“ erschien unter dem bisher unbekannten Pseudonym Señor Coconut y su Conjunto2 am 16. Juni 2000 bei dem bis dato ebenso unbekannten Label Multicolor Recordings3. Titel und Pseudonym lassen eine Salsagruppe vermuten, hinter Señor Coconut verbirgt sich jedoch der deutsche Programmierer Uwe Schmidt.

„El Baile Aleman“ erwies sich für Schmidt als Verkaufsschlager: Die Musikpresse lobte das Werk in Rezensionen und Features4, und auch die Tagespresse würdigte das Album mit ausführlichen Beiträgen; unter anderem brachten Süddeutsche Zeitung und der Kölner Stadtanzeiger eine Konzertkritik, und selbst die New York Times veröffentlichte eine umfassende Rezension mit Hintergrundstory immerhin auf Seite 35. Wie ist ein derartiger Popularitätsschub zu erklären? Señor Coconut y su Conjunto hatten Kraftwerk gecovert. Genauer gesagt, handelte es sich um ein Album mit lateinamerikanischen Interpretationen der größten Hits dieser bekannten deutschen Band, die dem bisher kaum in Erscheinung getretenen Señor Coconut zu internationaler Aufmerksamkeit verhalf.

Wer die Band Kraftwerk kennt, den kann dies kaum erstaunen. Immerhin gelten Kraftwerk als die unumstrittenen Pioniere der elektronischen Popmusik. Außerdem sind Kraftwerk nicht nur eine der wenigen deutschen Bands mit Weltruhm (und im internationalen Musikmarkt allein dadurch schon eine Kuriosität), sondern inoffizieller Sonderbotschafter Deutschlands. 1999 war im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Ausstellung „Krauts, Fritz, Piefkes...“ zu sehen, die das Deutschlandbild im Ausland zu thematisieren versuchte. Dort bestaunte man nicht nur einen Mercedes-Flügeltürer, einen Teil der Berliner Mauer und ein begehbares Separee, in dem Wagners Walkürenritt ertönte, sondern konnte sich auch am steifen Zappeln der vier mannsgroßen Roboter der Band erfreuen. Passend beschallt wurde die gesamte Ausstellungshalle von Kraftwerks Hit „Die Roboter“. Die auch in Deutschland wahrgenommene Bedeutung von Kraftwerk als weltweit anerkanntem Referenzpunkt für Deutschland wurde noch deutlicher, als im selben Jahr die Expo 2000-Trägergesellschaft dazu bereit war, der Band 400.000 D-Mark für die Anfertigung eines fünfsekündigen Jingles zu bezahlen. Damals war der letzte neue Song der Band immerhin schon 13 Jahre alt.

Der Aufstieg und das andauernde Renommee Kraftwerks waren auf dem technologischen und konzeptionellen Vorsprung begründet, der die Band in den siebziger Jahren gegenüber der Konkurrenz auszeichnete. Dieser Erfolg aber war auch auf die Präsentation der Band zurückzuführen, die es noch ausführlicher zu betrachten gilt.

Dass eine Band ihrer Zeit voraus schien, die sich in den siebziger Jahren außerhalb aller Genres bewegte, über einen technischen Vorsprung verfügte und daher ästhetisch wie klanglich Maßstäbe setzte, ist auch in der Retrospektive nachvollziehbar. Dass die gleiche Band in der heutigen Musikszene, die maßgeblich von anderen Bands geprägt wird, die zumindest über die gleichen technischen Möglichkeiten wie Kraftwerk verfügen, nicht mehr notwendigerweise über einen natürlichen Anspruch auf die konzeptionelle und technologische Richtlinienkompetenz verfügen muss, diktiert die Logik. Dennoch füllt in überregionalen Tageszeitungen selbst die Nachricht über Kraftwerks vermeintliches Ableben etwas mehr als eine halbe Seite6. Dort scheint die Band zu einer mythischen Instanz geworden zu sein, von der man weiß, dass sie die Zukunft der Popmusik verkörpert. Hat man sie tatsächlich jemals gehört, kann man sogar sagen: So und nicht anders klingt sie, die Zukunft der Popmusik, und zwar seit 1975.

Nun hat dieser Umstand, und das mag einige Fans verwundern, seinen Ausgangspunkt zum Teil in einem Konzept der Bandgründer Ralf Hütter und Florian Schneider. Die Abgrenzung gegen bestehende Klischees der Musikszene und Erwartungen der Kulturkonsumenten sind ebenso Teil des Konzeptes wie die andauernde Betonung der deutschen Herkunft der Band. Dafür hatte die Musikszene der siebziger Jahre die besten Voraussetzungen geschaffen. Jede von der Band hervorgebrachte Polarisierung, jede Abgrenzung, jede Inszenierung fiel auf einen fruchtbaren Nährboden. Die Presse hat das gerne aufgenommen. Heute greifen die Gründer, wenn eine Veränderung in der Besetzung oder der Designästhetik es erforderlich macht, auf das korrigierende Mittel der Neuschreibung ihrer eigenen Geschichte zurück. Dadurch entsteht der Eindruck eines schon immer in sich schlüssigen Konzeptes, was der Verortung Kraftwerks als „ganz gewöhnliche Band“ entgegenwirkt.

Veröffentlichungen und überhaupt jegliche Lebenszeichen der Band haben mittlerweile Seltenheitswert, und dementsprechend werden sie gehandelt: „Sightings of Kraftwerk are as rare as the Loch Ness monster, and almost as newsworthy.“7 Aufgrund deren Rarität wird jede Regung des Kraftwerk-Kolosses mit einem Höchstmaß an Bedeutung besetzt. Selbst einst kritisch aufgenommene Werke werden nachträglich „wiederentdeckt“ und zu Meisterwerken erklärt. Daneben wird Kraftwerk durch konstruierte Analogien weiter mythisch verankert. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt8. Für musikalische Fachzeitschriften gelten wiederum andere Deutungsmuster als für die Tagespresse; erwähnenswert ist, dass im Bereich der Fachmedien für elektronische Musik die Bedeutungszuweisung genau entgegengesetzt verläuft: Hier hat sich in den letzten fünf Jahren ein Konsens gebildet, der die Präsentation Kraftwerks nur in Verbindung mit der Feststellung ihrer technischen und konzeptionellen Überholtheit gestattet.

Dass Musikkonsumenten angesichts des über drei Jahrzehnte entstandenen Mythos Kraftwerks als natürlichem Repräsentanten für die Zukunft in der Popmusik nicht von einer weltweiten Flut von Coverversionen und Referenzen auf Kraftwerk überschwemmt werden, mag auf Aktivitäten der Rechtsabteilung Kraftwerks zurückgehen. Diese hat eine Reputation dafür, ungleich öfter von sich hören zu lassen, als die Band selber dies tut9. Nichtsdestoweniger brachten immerhin drei Künstler ein komplettes Album mit Neuinterpretationen von Kraftwerk-Stücken auf den Markt. Neben dem eingangs erwähnten Uwe Schmidt mit Señor Coconut y su Conjunto handelt es sich um das Streichquartett des rumänischen Violinisten Alexander Balanescu10 sowie den New Yorker Konzeptkünstler Terre Thaemlitz11.

Die Reproduktion von Klassikern der Popmusik (und als solche gelten die Titel Kraftwerks gemeinhin) gehorcht entsprechend der Reputation und des Wirkungsbereiches des ursprünglichen sowie des reproduzierenden Künstlers gewissen Gesetzmäßigkeiten. Bearbeitungen der mit besonderer Symbolkraft aufgeladenen Band Kraftwerk, insbesondere wenn sie ein ganzes Album ausfüllen, wird dabei ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit zuteil.

In der medialen Resonanz auf diese Veröffentlichungen manifestieren sich dem jeweiligen Genre entsprechende unterschiedliche diskursive Schemata. So wird in der Besprechung des Balanescu-Albums das Wirken des Interpreten, wie auch die Band Kraftwerk als Ideengeber entlang eines hochkulturellen Schemas als große Kunst präsentiert. Dadurch wird im Diskurs eine Verbindung zwischen den Technopop-Pionieren und der Kammermusik hergestellt12. Terre Thaemlitz und dessen Album „Die Roboter Rubato“ scheinen aufgrund bedeutender theoretischer Affinitäten zu Kraftwerk und der ausführlichen Auseinandersetzung mit ihrer Ästhetik dazu geeignet, im Diskurs ähnlich wie Balanescu positioniert zu werden. Im Gegenteil jedoch wurden sie medial schlicht nicht wahrgenommen, obwohl auch Thaemlitz sich über Elemente der klassischen Musik an die Kraftwerk-Stücke annähert. Seine Nicht-Existenz im Diskurs lässt wiederum Rückschlüsse auf dessen innere Gesetzmäßigkeiten zu.

Bei Señor Coconut y su Conjunto, Interpret des neuesten Kraftwerk-Cover-Albums, stehen wiederum andere Aspekte im Vordergrund. Zunächst spielt auch hier die Anbindung an Kraftwerk eine wichtige Rolle, zumal von Kraftwerk diskursiv vermittelte Werte wie etwa die nüchterne wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Klang oder technischer Fortschritt in einem beträchtlichen Ausmaß auf den Produzenten Uwe Schmidt übertragbar sind. Zudem äußert Schmidt als einziger der hier besprochenen Kraftwerk-Cover-Künstler die Absicht einer Dekontextualisierung Kraftwerks durch deren Überführung in den vermeintlich gegenteiligen Kontext der lateinamerikanischen Musik. Mediale Stereotypen von Lateinamerika sowie die Charakteristika dieser vermeintlich gegenüberstehenden musikalischen Ästhetiken sind in diesem Zusammenhang zu untersuchen.

Ausgangspunkt dafür ist in erster Linie die Frage danach, was Kraftwerk im Diskurs über Popmusik repräsentiert. Es scheint, als transportieren Kraftwerk gewisse Inhalte, nach denen eine Nachfrage besteht bzw. mit denen sich der Einzelne identifizieren kann. Die Band und ihre Musik stellen dabei zwei nicht eindeutig voneinander trennbare Teile einer einheitlich vermittelten Symbolik dar. Was sind die Inhalte dieser Symbolik, wie werden sie vermittelt? Gibt es einen Unterschied zwischen der Selbstbeschreibung der Band und ihrem durch die Medien vermittelten Bild? Und wenn ja, worin besteht er?

Die Band kann auf eine nunmehr 37 Jahre umfassende Karriere zurückblicken. Was sind also die Kontinuitäten oder etwaigen Brüche sowohl in der Selbstbeschreibung als auch in der Rezeption der Band? Inwiefern sind Inhalte gleich geblieben, wo haben sie sich verändert? Und vor allem, in welchen Bereichen sind die Grundlagen für die Konstruktion musikalischer Wirklichkeit heute noch die gleichen wie vor 30 Jahren? Wirken sich veränderte Möglichkeiten der Selbst- und Fremdbeschreibung aus und werden sie wahrgenommen? Proportional zur sinkenden Veröffentlichungsfrequenz der Band bis hin zum fast völligen Erliegen Ende der neunziger Jahre verdichtete sich der Mythos, der sich um die Pioniere der elektronischen Gründerzeit in der Popmusik aufgebaut hatte. Wie verhält es sich mit diesem Mythos, nachdem seit 1999, also innerhalb von nur sechs Jahren, gleich drei Tonträger veröffentlicht wurden?

Auf welche Weise erfolgt die Anbindung der drei Cover-Künstler Alexander Balanescu, Terre Thaemlitz und Uwe Schmidt alias Señor Coconut an den mit Kraftwerk assoziiertem Komplex an Bedeutungen, und inwiefern wirkt sich das auf den Absatz der jeweiligen Tonträger aus? Welche Funktion kommt ihnen im Kraftwerk-Diskurs zu? Was für eine Rolle spielt hierbei deren musikalische (und diskursive) „Heimat“?

Eine wichtige Rolle spielen bei der Beantwortung dieser Fragen die Massenmedien. Neben der Auswertung der Printmedien (Interviews, CD-Rezensionen, Konzertkritiken, ausführliche Beiträge in Zeitungen und Musikzeitschriften usw.) sowie der Ressourcen im Internet (Online-Archive von Labels, Zeitschriften etc.) und der entsprechenden Tonträger werden auch die über Kraftwerk erschienenen Bücher von Tim Barr13, Pascal Bussy14, Wolfgang Flür15 und Albert Koch16 berücksichtigt. Die Frage nach der Rolle der Massenmedien im Hinblick auf die Konstruktion von Realität und deren Funktion als Bereitsteller eines jederzeit abrufbaren Hintergrundwissens wird innerhalb dieses Themenkomplexes noch gesondert zu stellen sein.

Als thematischer Überbau für die Einordnung dieser Fragen in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext wird die auf den Soziologen Gerhard Schulze zurückgehende Beschreibung der westlichen Erlebnisgesellschaft zugrunde gelegt. Die Wahrnehmung Kraftwerks als Merkmal persönlichen Stils und sozialer Identifikation bzw. der Beschäftigung mit Kraftwerk als Akt der Kommunikation sind in diesem Zusammenhang zu erläutern.

I. Kraftwerk – semantisches Zeichen in der Erlebnisgesellschaft

Zuerst stellt sich die Frage, was die Band Kraftwerk (und in deren Fahrwasser auch Señor Coconut y su Conjunto) zum ästhetisch konsumierbaren und kollektiv verständlichen Zeichen für Neuerung und Einzigartigkeit im Diskurs über Popmusik werden lässt. Voraussetzung dafür ist die Verbesserung der ökonomischen Grundvoraussetzungen für die Gesellschaft als Ganzes und damit einhergehend die Vermehrung der Möglichkeiten für einzelne Individuen. Deren Resultat ist eine Veränderung der existenziellen Problemdefinition: War früher noch eine ökonomisch bedingte Semantik des Überlebens ausschlaggebend, so ist an deren Stelle heute eine Semantik des Erlebens getreten. An die Stelle der Frage „wie erreiche ich X“ tritt die philosophische Frage „was will ich eigentlich?“17. Die Erlebnisorientierung auf „das Schöne“ hin wird zum gesellschaftlichen Grundmotiv. „Wissen, was man will, bedeutet wissen, was einem gefällt. ‚Erlebe dein Leben!’ ist der kategorische Imperativ unserer Zeit.“18

Situationen schränken das Subjekt immer weniger ein, vielmehr legen sie Handeln nah. Aufgrund der Vermehrung der Möglichkeiten neigt das Subjekt in der Situation zum Wählen. Von außenverankerten Zielen orientiert man sich zu innenverankerten Zielen, hin zum Auslösen von Prozessen, die sich in einem selber vollziehen: Das Auto muss nicht mehr bloß fahren, sondern außerdem ein tolles Fahrgefühl vermitteln19.

Das gilt insbesondere für Angebote aus dem kulturellen Bereich, da deren Gebrauchswert ausschließlich in ihrem Erlebniswert liegt. Der Besuch eines Kinos, der Erwerb einer CD geschieht nicht aus ökonomischer oder sozialer Notwendigkeit heraus, sondern wegen des davon ausgehenden Erlebnisreizes. Durch die zunehmende Ästhetisierung des Alltagslebens entsteht dabei eine Anfälligkeit des Subjektes für vielfältige Erlebnisangebote und Schematisierungen. Die Erlebnisorientierung ist im Erlebnismarkt in Angebot und Nachfrage organisiert und somit systematisiert. Die Suche nach Erlebnissen wird von Erlebnisprofessionen befriedigt, Waren und Situationen werden dazu kollektiv instrumentalisiert.

Hintergrund erlebnisorientierten Handels ist die Annahme, man könne durch bloßes Manipulieren von Situationen gewünschte Erlebnisse haben20. Die beständige Erweiterung des Möglichkeitsraumes, innenorientierte Sinngebung, Alltäglichkeit ästhetischer Sinnkonstruktion und freie Wahlmöglichkeiten resultieren schließlich in alltagsästhetischen Episoden. „Erlebnisorientierung bezeichnet eine Absicht, ‚alltagsästhetische Episode’ den häufigsten Typus der Ausführung.“21 In diesen Bereich fallen ein Kinobesuch, der Kauf eines bestimmten Kleidungsstückes oder auch der Erwerb einer CD (möglicherweise von Kraftwerk).

Der Begriff „Erlebnis“ suggeriert die Existenz eines Ereignisses oder einer Situation, die vom Erlebnisnachfrager nur noch als Erlebnis erlebt werden müsse. Doch so wie „das Schöne“ in Gegenständen und Situationen nicht immanent vorhanden ist, sondern in sie hineingelegt wird, werden Erlebnisse vom Subjekt erst als solche konstruiert. Sie sind durch objektive Attribute der Zeichen nicht programmierbar oder planbar. Ästhetik ist nicht am Gegenstand der Episode allein festzumachen, sondern auch an äußere Umstände und die Erlebniserwartung gebunden. Verunsichert durch die schiere Masse an wählbaren Alternativen fragt man sich also: Hat man nun die richtige Wahl getroffen? Die Zahl der Erlebnisangebote auf dem Erlebnismarkt nimmt ständig zu. Proportional zur steigenden Zeichenflut und der ständigen Erweiterung der Wahlmöglichkeiten wächst das Enttäuschungsrisiko.

Der Unsicherheit bei der Selektion begegnet man durch Wiederholungstendenzen. Routinen des Erlebens vermindern zwar die Unsicherheit bei der Selektion durch Ausklammerung der Frage „was will ich eigentlich“. Dadurch verursachen sie aber auch Langeweile und damit möglicherweise Enttäuschung22.

Man hat mithin die Wahl zwischen Unsicherheit und Enttäuschung; darin liegt das grundlegende Dilemma des Erlebnismarktes: Der Andauernde Bedarf nach Innovation bedeutet, dass selbst brandneues bereits das Stigma des Veraltens trägt. So muss der Erlebnisreiz der synthetischen Mambos des Señor Coconut mit der zweiten oder dritten Veröffentlichung im Stil von „El Baile Aleman“ zwangsläufig abnehmen. Ist eine alltagsästhetische Episode als schönes Erlebnis, als erstrebenswert definiert, fordert sie zur Anhäufung heraus und fördert ihre Inflationierung23: Ein Kompilation wie „1000 Nadelstiche – Amerikaner und Briten singen deutsch“ begeistert aufgrund ihrer Originalität, verliert bei der zehnten Auflage jedoch ihren Reiz24. Durch die Unsicherheit einerseits und das Enttäuschungsrisiko andererseits wird die Nachfrage nach Erlebnisangeboten noch zusätzlich gesteigert. Der Musikmarkt als Erlebnismarkt jedoch produziert zwar immer neue Zeichen, deren Fluktuation eine Bedeutungszuweisung und ein Ausbilden von Erlebnisroutinen erschwert, er kann uns aber das Erleben als Reflexionsleistung nicht abnehmen. Neue Zeichen werden indes nicht nur vom Erlebnisnachfrager, sondern auch vom Markt inflationiert und die nachfolgende Müdigkeit gleich mitproduziert, auf dem Musikmarkt zu beobachten an der Welle der Chillout-Sampler, die dem Erfolg der „Cafe del Mar“-Reihe nachfolgte. Der als bedenklich empfundenen musikalischen Schnelllebigkeit des Musikmarktes begegnet man mit der Besinnung auf bewährte Deutungsschemata – in der guten alten Zeit war die Zeichenflut geringer und Selektion einfacher.

Im zeichentheoretischen Modell des semantischen Paradigmas werden Erlebnisse als Zuordnungen subjektiver, ästhetischer Bedeutungen zu Zeichen interpretiert. Jede Betrachtung eines Kunstwerkes, Alltagsgegenstandes oder einer Situation enthält eine bewusste oder unbewusste Decodierung. Ein Zeichen kann eine beliebige Manifestation (z.B. Mimik, Handlung, Situation, ein Tonträger) sein, solange es vom Subjekt als Zeichen aufgefasst wird25.

Durchaus bemerkenswert ist bei aller Variation in den Bedeutungszuweisungen die stabile, kontinuierliche Zuordnung bestimmter Bedeutungen wie „technologisch führend“ zu einem Zeichenkomplex, wie Kraftwerk ihn darstellt. Von Entwicklungssprüngen im Bau elektronischer Musikinstrumente und der nahezu völligen Undurchschaubarkeit der Produktionsabläufe ihrer Musik für den Konsumenten bleibt sie unbeeinflusst.

Kraftwerk ist als stereotypes Zeichen für Neuerung und Fortschritt in der Popmusik bereits eingeführt (vgl. dazu Kapitel IV.1). Bestätigt wird der mit Kraftwerk assoziierte Bedeutungskomplex durch jede neue Veröffentlichung der Band und deren Rezeption, aber ebenfalls durch die Coverversionen von Künstlern wie Rammstein oder Coldplay, die selber als bedeutend oder einflussreich wahrgenommen werden, sowie durch das Interesse an Coveralben wie „El Baile Aleman“. Solche semantischen Superstrukturen (z.B. Zeichenebene: Kraftwerk, Bedeutungsebene: technologischer Vorsprung), in denen sich Alltagsästhetik spiegelt, manifestieren sich in alltagsästhetischen Schemata. Durch jene werden kollektiv verbreitete Sinnkomplexe subjektiv spürbar26. Die objektiven Lebensumstände haben sich infolge des ins unermessliche gewachsenen Möglichkeitsspektrums entscheidend verändert, und damit auch die Perspektiven für den einzelnen. Nicht nur ist die Zugehörigkeit zu Schemata wählbar, Wählbarkeit nötigt letztlich zur Wahl eines Schemas. Gerade in diesem innenorientierten Selektions- und Schematisierungszwang liegt die Herausforderung einer Erlebnisgesellschaft wie der unsrigen im Gegensatz zur schicksalhaft vorgegebenen Ordnung, wie sie die Menschen in einer kooperativen Gesellschaft vorfinden oder dem in der kompetitiven Gesellschaft angetroffenen Problem der Statussicherung und –verbesserung27.

Die kollektive Dimensionalität der Alltagsästhetik erlaubt den weiteren Ausbau persönlicher Stile und legt ihn gleichzeitig nahe. Durch Schematisierungs- und Typisierungstendenzen ist deren Vergleichbarkeit schergestellt. Stil ist die Gesamtheit der Wiederholungstendenzen in den alltagsästhetischen Episoden eines Menschen. Erlebnisorientiertes Handeln wird im Stil zu einem stabilen situationsübergreifenden Muster28.

Neben der Zeichenebene alltagsästhetischer Schemata (hier: Kraftwerk als ein möglicher Zeichenkomplex neben wählbaren alltagsästhetischen Episoden wie dem Kauf einer CD, dem Tragen des „Autobahn“-Trikots) schließt Stil auch die jeweilige Bedeutungsebene mit ein. Die alltagsästhetische Episode wird dort nach Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie kategorisiert. Entsprechend individuell unterschiedlicher Reaktionsmuster findet ästhetische Wahrnehmung durch kognitive und körperliche Prozesse statt.

Angeeignete semantische Zeichen werden sinnlich spürbar als Genuss. „Ästhetik geht durch den Körper“29, körperliche und geistige Modalitäten der Alltagsästhetik lassen sich nicht klar voneinander trennen. Genuss kommt als Inhalt innenorientierter Sinngebung eine zentrale Bedeutung zu. Allein die Erfahrung eines Zeichens als lustvoll hängt nur teilweise vom Objekt des Genusses ab, sondern teils auch von den Umständen: So kann der Genuss eines Kraftwerk-Konzertes auf dem Techno-Festival „Tribal Gathering“ durch körperliche Aktivität geprägt sein, auf dem Montreux Jazz Festial hingegen kontemplativ geartet sein.

Im Ergriffensein beim Konzert oder durch den Genuss der Kraftwerk-CD wird Kraftwerk zur sozialen Erkennungsmarke. Als öffentlich hergezeigtes Zeichen persönlichen Stils vermittelt Kraftwerk das auch von der Umwelt registrierte Bedürfnis nach Eigenheit und dient der Individualisierung. In der Distinktion kommt die Unterscheidung des Subjektes von anderen Subjekten zum tragen: Man macht klar, was man sein will und was man nicht ist. Distinktion ermöglicht subjektive persönliche Individualität: Das Abheben von der Masse in der Masse. Denn paradoxerweise muss ein Zeichen, um der Masse als Zeichen für Individualität zu dienen, massenhaft verbreitet sein30. Kraftwerk hören macht besonders – trotzdem erreicht „Tour de France Soundtracks“ in den Album-Verkaufscharts Platz eins31. Obwohl noch immer als dessen Alternative rezipiert, ist Kraftwerk längst Teil des Mainstream.

Die Bedeutungsebene der Lebensphilosophie ist davon auch betroffen. Berührt die Bedeutungsebene der Distinktion das Anderssein, steht hier das Sein im Vordergrund. Persönlicher Stil beinhaltet häufig ein Bekenntnis zu grundlegenden Handlungsorientierungen und Wertvorstellungen32. Kraftwerk wird in der Rolle des weltweit renommierten progressiven deutschen Kulturgutes zum Angebot für symbolkräftige Stilbildung auch auf moralischen Grundlagen: Dem „technisch unterstützten, kanalisierten Ausklinken“33 der Technoszene steht ihr nüchternes Klangforschen gegenüber, einem im Diskurs mancherorts beklagten Ausverkauf einiger Bands Kraftwerks angenommene Missachtung von Marktmechanismen, den exzentrischen Gebärden der Rocksänger eine distanzierte, bescheidene Bühnenpräsenz.

Dabei wird einer objektivistischen Ästhetik folgend das Zeichen als vom Rezipienten unabhängig wahrgenommen34. Als Beleg für die als moralisch kommunizierte Präferenz des Zeichens dienen, quasi sich selbst erklärend, die nicht messbaren inhaltlichen Qualitäten des „Sounds“:

„Their sound was precise, efficient, emotionally cold and technologically advanced.“35

Dass Attribute wie effizient, gefühlskalt, präzise an Kraftwerks Sound bloß beobachtet und nicht vom Subjekt (mit-) konstruiert werden, ist schwer vorstellbar. Da diese objektivistische Ästhetik im Alltagsverständnis jedoch eine wichtige Rolle spielt, gipfeln solche Zuordnungen in un(an)greifbaren, aber als objektiv gestellten Leerstellen höherer Ordnung wie „das Bewusstsein kommt zum Ausdruck“ (vgl. Kapitel V.7.a).

Ebenso wenig ist jedoch die gegensätzliche Position einer rein subjektivistischen Ästhetik vertretbar, der zufolge sowohl die Auswahl von Zeichen als auch die Konstruktion von Bedeutungen von äußeren Einflüssen unabhängig geschehen. Dann wären Objekte der Ästhetik bloßer Anlass für freie Assoziation. „El Baile Aleman“ von Señor Coconut y su Conjunto wird jedoch ebenso wie Kraftwerk als Zeichen der Alltagsästhetik kollektiv mit einander ähnlichen Bedeutungen decodiert.

Zunächst gehen von Kraftwerk aufgrund seiner Eindeutigkeit als Zeichen natürlich objektive Erlebnisreize aus, die gewisse Erlebnisinhalte nahe legen, andere wiederum ausschließen. Erlebnisreize unterliegen jedoch kognitiven Überformungen, deren kollektive Angleichung durch Prozesse der Tradition und der Definition beschrieben werden, also durch Prozesse, welche die Dekodierung von Zeichen (-gruppen) und deren Zuordnung zu alltagsästhetischen Schemata erklären.

Kulturproduzenten und Publikum werden durch eine Tradition des Erlebens für bestimmte Reize empfänglich gemacht. Beide orientieren sich an den gleichen „Leitideen des schönen Erlebnisses“36, man ist aufeinander eingespielt und stabilisiert sich gegenseitig. Bei aller Unkonventionalität der Zeichen bleiben alte Bedeutungsschemata dadurch konstant, dass sie nicht mitgedacht werden. Dem „Imperativ der Unkonventionalität“37 folgend, überrascht „El Baile Aleman“ als Richtung weisendes Konzept, gar als futuristisch. Dabei folgen Kulturvermittler wie Erlebnisnachfrager dem längst eingeführten Zeichen Kraftwerk und seinem Bedeutungsmuster. Auch jenes Muster ist in der Tradition des Erlebens schon lange vor Kraftwerk etabliert gewesen. Der zugrunde liegende Bedeutungskomplex „deutsch, futuristisch, progressiv, relevant“ entspricht etwa der Decodierung des Filmes „Metropolis“38. Die Klassifizierung als kulturell hochwertig unterliegt wiederum einem in der Öffentlichkeit stattfindenden kollektiven Definitionsprozess, an dem Erlebnisnachfrager und Erlebnisanbieter, vor allem aber Kulturvermittler beteiligt sind. Darauf wird noch näher einzugehen sein.

II. KRAFTWERK - MASSENMEDIALES THEMA

1. Das soziale Gedächtnis

Ebenso wenig, wie es eine objektiv zugängliche Realität geben kann, kann deren genaues Abbild in den Massenmedien existieren. Die Primäre Differenz im System der Massenmedien ist nicht die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, sondern jene zwischen Information und Nichtinformation. Es geht also hauptsächlich darum, ob ein Gegenstand als Information identifiziert wird.

Die Massenmedien sind also nicht in dem Sinne Medien, dass sie Wissen auf Nichtwissende übertragen, sondern stellen vielmehr ein Hintergrundwissen bereit, von dem man in der Kommunikation ausgehen kann39. Ist ein Thema einmal publiziert, kann vorausgesetzt werden, dass es als bekannt bekannt ist40. Kraftwerk ist als Thema bereits seit Jahrzehnten und in zunehmendem Maße als bekannt bekannt. So wird nicht nur jede neue Veröffentlichung der Band, sondern auch das jahrelange Ausbleiben von Veröffentlichungen massenmedial als Information identifiziert und bekommt dementsprechend Informationswert. Das gleiche gilt für das thematische Umfeld der Band, wie etwa die Señor Coconut-Bearbeitungen der Kraftwerk-Titel oder auch ein Artikel über das Spiel mit deutschen Stereotypen in der Popmusik41. „Sinnkondensate, Themen, Objekte entstehen [...] als ‚Eigenwerte’ des Systems massenmedialer Kommunikation.“42 Nun wird die gewählte Information durch ihre Auswahl aus ihrem Zusammenhang gerissen, woraus sich wiederum der Bedarf nach erneuter Kategorisierung ergibt. Um die anschließende Kommunikation vorstrukturieren zu können, wird das Identifizierte konfirmiert, generalisiert und in ein Schema überführt bzw. mit einem bekannten Schema assoziiert43.

Erst durch die Massenmedien kann ein Sachverhalt Bedeutung erlangen. Kraftwerk ist als massenmediales Thema Beobachtung erster Ordnung: Es erscheint in den Massenmedien (und durch sie für andere) als Realität44. Da die Gesellschaft die Aufgabe ihrer Selbstbeobachtung an die Massenmedien abgegeben hat, findet sie selbst sich in der Position des Beobachters zweiter Ordnung wieder45: Man kennt Kraftwerk durch die Beobachtung des Beobachters und hat – etwa durch den Kauf einer CD, aber selbst wenn man die Band nie gehört hat – eine vage Vorstellung des Themas Kraftwerk und des assoziierten Bedeutungskomplexes.

Wird also im Bereich der Massenmedien etwas als Information identifiziert, wird durch die ständig erneuerten medialen Identitäten das soziale Gedächtnis gefüllt46. So können die Massenmedien nicht notwendigerweise der Vermehrung der Erkenntnis dienen, doch stellen sie durch die Bereitstellung eines Hintergrundwissens der Gesellschaft Möglichkeiten zur Selbst- und Weltbeschreibung zur Verfügung.

Die Etablierung einer Hintergrundrealität durch die Massenmedien ermöglicht das Abheben davon und die persönliche Profilierung durch Vorlieben oder Meinungen47. Dabei kann es zu „einer Art Sportlichkeit in der Kommunikation eigenwilliger Urteile“ kommen, die sich jedoch auf eine gemeinsam unterstellte Realität stützen kann48. So muss etwa die Beobachtung, dass „die bpm im Techno von Jahr zu Jahr schneller wurden und keiner mehr tanzen wollte“49, nicht an einer konsenspflichtigen Realität überprüft werden. Ist man mit Technomusik nicht vertraut, ist der Inhalt dieser Aussage nicht nur möglich, er klingt zudem schlüssig. Der mit Endgültigkeitsanspruch verbundene Nachweis „musikalischer Potenz, die nie vergeht“50 auf dem Kraftwerk-Album „Tour de France Soundtracks“, welches damit gewissermaßen zum musikalischen Indikator von Zeugungsfähigkeit wird, lässt das Ausmaß der Sportlichkeit in dieser Disziplin erahnen.

2. Neu wird alt, alt wird neu

Voraussetzung des andauernden Bekanntseins von Kraftwerks Bekanntsein ist eine ständige Aktualisierung des Informationsgehaltes. Denn das weitläufige soziale Gedächtnis kann dennoch nicht beliebig wachsen und ist darauf angewiesen, Raum für neue Information zu schaffen.

Das System der Massenmedien ist daher zu verstehen als ein laufendes Diskriminieren zwischen Vergessen und Erinnern. Dabei „frei werdende kommunikative Kapazitäten werden durch Wiederbenutzung benötigter Sinneinheiten ständig neu imprägniert“51. Durch die Markierung des Geläufigen wird Vergessen verhindert. Was erinnert wird, braucht nicht mit dem Zeitindex „vergangen“ versehen zu werden, sondern kann als neu erfahren werden52. Schließlich könnte ohne Gedächtnis nichts als „neu“ (=abweichend) erscheinen und ohne Abweichungen kein Gedächtnis sich bilden53.

Das soziale (mediale) Gedächtnis arbeitet also einerseits mit der Erinnerung bekannter Informationen, erzeugt andererseits den Bedarf, überreproduzierte Information durch neue Information zu ersetzen. „Der geradezu neurotische Zwang in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst, ständig etwas Neues bieten zu müssen, liefert dafür einen eindrucksvollen Beleg.“54

Jedoch, wenn etwas als neu bezeichnet wird, wird etwas anderes damit automatisch alt. Der Entwertung des Alten durch die Präferenz für neues begegnen wir mit der hochselektiven „Aufwertung bestimmter Arten von Altsein zu Oldtimern, Klassikern, Antiquitäten“, zu denen dann wieder neue Informationen produziert werden können55. So liegt schon in der Aufwertung zum Klassiker bereits ein Informationswert, der – etwa auf dem Musikmarkt – weitere Anschlussmöglichkeiten, z.B. der „Wiederentdeckung“, eröffnet. So kann ein ehemaliger Misserfolg wie Kraftwerks Album „Electric Cafe“, gerade weil es einst nicht anerkannt wurde, zum Klassiker erklärt werden. Der Informationswert der Wiederentdeckung des Vergessenen ist weit höher als der Klassikerstatus der (ohnehin nie ganz vergessenen) klassischen Kraftwerk-Alben.

III. Kraftwerk zur Einführung

Gegründet wurde die Gruppe Kraftwerk 1968 von Ralf Hütter und Florian Schneider-Elsleben (später und im Folgenden schlicht Florian Schneider) in Düsseldorf unter dem Namen Organisation. Die Musikstudenten Hütter und Schneider hatten sich in jenem Jahr auf der Musikakademie in Remscheid kennen gelernt und in ihrem Faible für Avantgardemusik einen fruchtbaren Nährboden für gemeinsames musikalisches Schaffen entdeckt. Das 1969 in England veröffentlichte Debut von Organisation, „Tone Float“, beinhaltete progressive Rockmusik. Die Band konnte damit keinen nennenswerten Verkaufserfolg erzielen, woraufhin Hütter und Schneider sich dazu entschieden, ihre Arbeit als Duo fortzusetzen, ab 1970 unter dem Namen Kraftwerk. Der Name war als Reaktion auf die angloamerikanische Ausrichtung der deutschen und internationalen Musikszene gewählt worden, zugleich nahm er den fortan geltenden inhaltlichen und musikalischen Schwerpunkt auf technologischen Themen vorweg.

Von Kraftwerk erschienen 1970 das Album „Kraftwerk“ (im Jargon der Kraftwerk-Fangemeinde aufgrund des Covers als „rotes Hütchen“ bekannt), 1972 „Kraftwerk 2“ („grünes Hütchen“) und 1973 „Ralf & Florian“. Diese Alben wurden wie zuvor das Album „Tone Float“ noch mit „herkömmlichen“, wenn auch elektronisch verzerrten Instrumenten eingespielt. Kraftwerk konnten sich in der deutschen Musikszene etablieren, d.h. sowohl Verkaufserfolge erzielen als auch die Anerkennung von Musikpresse und Kritikern gewinnen. Musikalisch lassen die ersten drei Alben den Technopop der kommenden Jahre kaum erahnen; vielmehr handelt es sich um von Klangexperimenten und Improvisation gekennzeichnete Rockmusik, die wie das Organisation-Album heute dem Bereich „Krautrock“ zugeordnet werden56.

Der internationale Durchbruch der Band, zu der nun auch die „Schlagzeuger“ Wolfgang Flür und Karl Bartos zählten und die ihre Konzerte inzwischen mit Kurzhaarschnitt und im Anzug bestritt, erfolgte mit dem Album „Autobahn“. Dem im November 1974 erschienenen Album standen die deutschen Kritiker eher verhalten gegenüber, jedoch konnte es überraschend in Amerika Platz 5 der Billboard-Charts erreichen. Bis auf vereinzelte Flötenklänge und das elektronisch verfremdete Gitarrensolo im Titelstück war „Autobahn“ komplett elektronisch, d.h. mit Hilfe von Synthesizern, Tonbandaufnahmen und elektronischem Schlagzeug eingespielt worden und außerdem das erste Kraftwerk-Album mit Gesang. Es läutete Kraftwerks „klassische Phase“ der heute als legendär geltenden Technopop-Alben ein: Es folgten 1975 „Radio-Aktivität“, 1977 „Trans Europa Express“, 1978 „Die Mensch-Maschine“ und 1981 „Computerwelt“. Ausschließlich elektronisch produziert, waren diese jeweils unter einem thematischen Oberbegriff stehenden Alben durch einen in sich geschlossenen Aufbau und einen innerhalb des Kraftwerk-Klangspektrums eigenständigen Sound gekennzeichnet.

Nach „Computerwelt“ erschien 1983 die Single „Tour de France“, doch dann wartete man zunächst vergeblich auf weitere Veröffentlichungen Kraftwerks. Die technische Entwicklung elektronischer Musikinstrumente war mittlerweile so weit fortgeschritten, dass Synthesizer inzwischen für viele Studios und Bands erschwinglich waren. Bands wie OMD, Scritti Politti, Human League oder Depeche Mode waren nach dem Vorbild Kraftwerks mit elektronischer Popmusik zu Stars geworden57. Als schließlich nach fünf Jahren Veröffentlichungspause 1986 Kraftwerks Album „Electric Cafe“ erschien, war elektronische Popmusik durch die Formierung zahlreicher populärer Synthesizerbands zu einem breit aufgefächerten Teilbereich des Mainstream geworden. Dementsprechend büßte die Band ihren singulären Innovatorenstatus ein Stück weit ein, das Album rief gemischte Resonanzen beim Publikum hervor und verkaufte sich schlecht. Kraftwerk, so schien es, hatten mit der technischen Entwicklung nicht Schritt halten bzw. ihrem Anspruch, der Musikszene immer ein Stück voraus zu sein, nicht mehr gerecht werden können.

Nachdem die Band fünf Jahre lang ihr gesamtes Tonmaterial digitalisiert und auf Harddisk abgespeichert hatte, erschien 1991 mit „The Mix“ eine Zusammenstellung einiger der bekanntesten Kraftwerk-Hits in von der Band neu eingespielten, tanzbaren Versionen. Die mittlerweile langsame Veröffentlichungsfrequenz der Band kam daraufhin fast völlig zum Stillstand. Abgesehen von einem viel beachteten Konzert auf dem englischen „Tribal Gathering“-Festival 1997 erschien erst 1999 ein neuer Kraftwerk-Titel mit der Veröffentlichung der Single „Expo 2000“, zeitgleich mit dem von der Band produzierten fünfsekündigen Expo-Jingle, für dessen Bezahlung von 400.000 Mark sich die Band öffentlicher Kritik ausgesetzt sah. Ein komplett neues Album folgte 2003 mit dem lose auf der 1983er Single aufbauenden „Tour de France Soundtracks“. Zu der darauf folgenden Welttournee erschien unlängst das Live-Album „Minimum-Maximum“.

Neben der Sängerin Nena und der Berliner Band Rammstein ist Kraftwerk der einzige deutsche Popmusikact mit einer explizit als deutsch wahrgenommenen Identität, der weltweit Erfolge feiern konnte (Höhepunkt: 1982 Platz 1 in den englischen Charts mit „The Model“). Kraftwerk gelten als (Mit-) Initiatoren der elektronischen Popmusik sowie der Musikstile Techno, House, Hip Hop und Elektro, deren früheste Protagonisten sich im Wesentlichen auf Kraftwerk berufen58. Für New Wave und den Synth-Pop der frühen 80er Jahre gelten sie als wichtigste Inspirationsquelle neben dem Punkrock. Demzufolge hat sich die Ansicht etabliert, Kraftwerk sei neben den Beatles die einzige Band, ohne die die heutige Popmusik nicht so wäre, wie sie ist: „The fact is that – as with the Beatles – you don’t have to have ever listened to a single Kraftwerk record for their music to have affected you.“59 Kraftwerks Ruhm als „‚Gründungsväter’, ‚Pioniere’, ‚Legenden’“60 oder „Historischer Bezugspunkt für die Technogeneration“61 hat seine Ursache jedoch nur zum Teil in diesem auf den akustischen Merkmalen ihrer Musik basierenden Kriterium.

[...]


1 Zur Diskographie des Uwe Schmidt z.B. http://music.hyperreal.org/artists/atom_heart/index.html

2 Señor Coconut y su Conjunto: El Baile Aleman, 16.06.2000 (Multicolor)

3 http://www.multicolor-recordings.de/

4 z.B. je vier Seiten in den szenetypischen Organen Groove und De:Bug: o.A.: Die digitale Alternative, Groove 06/2000, am 15.10 2004 auf http://www.multicolor-recordings.de/senorcoconut/index; Kösch, Sascha: Atom Heart – ein Mann für gewisse Zwischenräume, De:Bug Nr. 36/2000, am 24.09.2004 auf: www.debug.de/archiv

5 Strauss, Neil: Is It Fusion? To Say the Least, New York Times 06.07.2000, S. 3, am 15.10 2004 auf http://www.multicolor-recordings.de/senorcoconut/index

6 Peitz, Dirk: Warten auf die Roboter. Das ewige vielleicht: Vom Bistro eines Düsseldorfer Hotels ist das Verschwinden der Musikgruppe Kraftwerk zu besichtigen, Süddeutsche Zeitung Nr. 16/02 (19.01.2002), S.57

7 Dalton, Stephen: Back to the Future With the Werk Force, Sydney Morning Herald 22.01.2003, am 01.10.2004 auf: http://www.thing.de/delektro/artikel/eng/kraftwerk/kw-sydney-01.03.html

8 Vgl. Kapitel IV. 7. d

9 Terre Thaemlitz im Booklet zu Terre Thaemlitz: Die Roboter Rubato, 24.01.1997 (Mille Plateaux)

10 Balanescu Quartet: Possessed, 10.11.1992 (Mute)

11 Terre Thaemlitz: Die Roboter Rubato, a.a.O.

12 http://www.mutelibtech.com/mute/bq/bq.htm

13 Barr, Tim: From Düsseldorf to the Future (with Love), London 1998

14 Bussy, Pascal: Kraftwerk. Synthesizer, Sounds und Samples – die ungewöhnliche Karriere einer deutschen Band, München 1995

15 Flür, Wolfgang: Kraftwerk. Ich war ein Roboter, St. Andrä-Wördern 1999

16 Koch, Albert: The Music Makers, Kraftwerk, Höfen 2002

17 Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. / New York 1993, S. 33

18 Ebd., S. 59

19 vgl. ebd., S. 37

20 Ebd., S. 59f.

21 Ebd., S. 98

22 Ebd., S. 68f.

23 vgl. ebd., S. 65-67

24 1000 Nadelstiche Vol. 10: UK Girls, 02.10.2002 (Bear Family)

25 Ebd., S. 94 ff.

26 Ebd., S. 121

27 Ebd., S. 138-141

28 Ebd., S. 103

29 Ebd., S. 107

30 vgl. ebd. 110

31 Nr. 1 der Media Control-Charts am 18.08.2003, nachzulesen am 21.07.2005 auf: http://www.musicline.de/de/chartverfolgung_summary/title/Kraftwerk/Tour+De+France+Soundt racks/longplay

32 Ebd., S. 112

33 Diefenbach, Katja: Abstract zu Wegwerfhymnen für die Ewigkeit, in: Medien & Erziehung Ausg. 4/1995, S. 221

34 Schulze, Gerhard, a.a.O., S. 134

35 Petridis, Alex: Desperately Seeking Kraftwerk, The Guardian 25.07.2003 und am 17.09.2004 auf http://www.guardian.co.uk/arts/fridayreview/story/0,12102,1004937,00.html

36 Schulze, Gerhard, a.a.O., S. 136

37 Ebd.

38 Etwa Blickpunkt Film Kurzinfo zu „Metropolis“, am 17.04.2005 auf: http://www.amazon.de/exec/obidos/tg/stores/detail/-/dvd-de/B00008OE34/reviews/ref=cm_rev_more_2/028-1624545-5035709

39 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 121f.

40 Ebd., S. 29

41 Poschardt, Ulf: Schaltkreise der Hölle. Kraftwerk, Rammstein, Leni Riefenstahl: Wie der Mainstream die Ästhetik des Faschismus schluckt, Süddeutsche Zeitung Nr. 86/99 (15.04.1999), S.19

42 Luhmann, Niklas, a.a.O., S. 75

43 Ebd., S. 74

44 Ebd., S. 14

45 Ebd., S. 15

46 Ebd., S. 75

47 Ebd., S. 120

48 Ebd., S. 121

49 Fricke, Harald: Vorsprung durch Pedaltechnik. Kraftwerk im Rausch der Geschwindigkeit, TAZ 08.08.2003, S. 16

50 Olschewski, Adam: Windschatten – Kraftwerk tritt in die Pedale, Frankfurter Rundschau 08.08.2003 und am 16.09.2004 auf http://www.thing.de/delektro/artikel/dt/kraftwerk/kw-fr-08-03.html

51 Luhmann, Niklas, a.a.O., S. 76

52 Ebd.

53 Ebd., S. 77

54 Ebd., S. 44

55 Ebd., S. 46

56 In: Pop 2000 – 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland. Folge 5: Keine Macht für niemand (1970 – 1976), zuletzt ausgestrahlt im WDR am 26.08.2004

57 Hier sei in aller Kürze auf frühe Bühnenaufbauten der Band Depeche Mode hingewiesen, die Kraftwerks Bühnendesign und die Viererformation reproduzierten, zu sehen auf der Live-DVD: Depeche Mode: „101“, 2003 (Mute) (DVD). Außerdem sei auf die klangliche Übereinstimmung zwischen Kraftwerks Album „Radioaktivität“ und OMDs Debutalbum „Orchestral Manoeuvres in The Dark“ hingewiesen: Kraftwerk: Radioaktivität, November 1975 (Kling Klang); OMD: Orchestral Manoeuvres in The Dark, 22.02.1980 (Virgin)

58 So wird etwa Techno von Derrick May beschrieben als "George Clinton meeting Kraftwerk in an elevator", in: Marcus, Tony; May, Derrick: Derrick May – The Sectret Of Techno, am 23.10.2004 auf http://www.techno.de/mixmag/interviews/DerrickMay1.html

59 Barr, Tim, a.a.O., S. 3

60 Peitz, Dirk, a.a.O.

61 Gutmair, Ulrich: Die dunkle Seite der Technologie, in: TAZ Nr, 5631 (21.20.1997), S. 16

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Kraftwerk und die Konstruktion der musikalischen Wirklichkeit
Untertitel
Zur Bildung und Funktion einiger Schemata im Diskurs über Popmusik
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
86
Katalognummer
V147693
ISBN (eBook)
9783640584888
ISBN (Buch)
9783640585045
Dateigröße
1108 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kraftwerk, Luhmann, Diskursanalyse, Popmusik
Arbeit zitieren
Felix Toyka (Autor:in), 2005, Kraftwerk und die Konstruktion der musikalischen Wirklichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147693

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