Perspektiven der Differenz als Darstellungsmodi in den Überlebensmemoiren von Primo Levi und Jorge Semprun


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

19 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2 Überlebensmemoiren als literarisches Genre

3.1 Perspektiven der Differenz als Darstellungsmodi von Überlebensmemoiren
3.2.1 Differenz ›oben< versus ›unten<: das Lager als Gegenwelt in Primo Levis Ist das ein Mensch?
3.2.2 Differenz zwischen ›innen< und ›außen< in Jorge Sempruns Die große Reise
3.3 Zusammenfassung und Ausblick

4. Bibliographie

1. | Einleitung

Gegenstand dieser Hausarbeit ist die Analyse der Überlebensmemoiren von Primo Levi und Jorge Semprun hinsichtlich eines Erzählmusters bzw. Darstellungsmodus des Holocausts, das ich als Perspektive der Differenz bezeichnen möchte und deren Besonderheiten ich anhand der Quelltexte herauszuarbeiten versuche.

Dazu soll zunächst auf Charakteristika von Überlebensmemoiren als literarischem Genre – und hier insbesondere ihre Funktion als Gegenstand von Erinnerungskultur – eingegangen werden. Im folgenden Schritt soll geklärt werden, was mit Perspektive der Differenz als Darstellungsmodus von Überlebensmemoiren gemeint ist und in welcher Form sie in den ausgewählten Texten auftaucht: es geht hier vor allem um die Verwendung sich diametral gegenüberstehender Begriffe, die zur Schilderung inkommensurabler Erlebnisse und Erfahrungen der Shoah als Grenzsituation von den Autoren herangezogen werden.

Im dritten Schritt soll die eigentliche (komparative) Arbeit mit den Texten erfolgen. Dazu wird zunächst auf den Darstellungsmodus ›oben< versus ›unten< eingegangen, wie er in Levis Text zum Tragen kommt, der die Welt des Lagers der ›Normalität< als Hölle entgegenstellt. Komplementär dazu wird im darauf folgenden Abschnitt der Gegensatz zwischen ›innen< und ›außen< in den Memoiren von Jorge Semprun als Darstellungsmodus eingegangen und die Unterschiede zu Levis Darstellungsmodus thematisiert.

Im letzten Teil folgt eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse der Textanalysen, sowie ein Ausblick auf andere im Seminar behandelte Texte, in denen man der Perspektive der Differenz weiter nachgehen könnte. Des weiteren wird versucht die Funktion dieses Darstellungsmodus von Shoah-Literatur hinsichtlich der kulturellen Funktion des Erinnerns zu charakterisieren.

2 | Überlebensmemoiren als literarisches Genre

Vor der eigentlichen Untersuchung der ausgewählten Texte sollen hier zunächst einige Charakteristika von Überlebensmemoiren sowie ihrer gesellschaftlichen Relevanz vorangestellt werden. Dies betrifft insbesondere ihre spezifische Funktion als >gegenwärtige Konstruktion der individuellen Vergangenheit mittels Erzählung<< (Langer 2002: 42), die ein >identitätsstiftendes Narrativ von Gruppen bzw. Nationen<< (Voß 2009: 412, Sp. 1) bildet, das für die Erinnerungskultur hinsichtlich der Shoah als historisch beispiellosem Zivilisationsbruch 1 konstitutiv ist.

Unter Überlebensmemoiren versteht man – nach Reemtsma, der den Begriff prägte (vgl. Reemtsma 1998: 229) – eine spezifische literarische Gattung, unter der man Texte überlebender Opfer des Holocaust verortet, die der Selektion zur Vernichtung durch das NS-Regime entkommen konnten und über ihre individuellen Erinnerungen an das in dieser Zeit erfahrene Leid als Zeitzeugen erzählen. Dabei kann es sich sowohl um autobiographische ›Erlebnisberichte‹ mit dokumentarischem Charakter, als auch um Lyrik oder Prosa-Texte handeln, die das Geschehene meist retrospektiv2 betrachten. Eine Gemeinsamkeit dieser Memoiren ist der Umstand, dass sie >aus der Erfahrung eines zweifachen Bruchs heraus geschrieben werden: mit der Welt vor dem Lager und mit der Welt der Lager<< (Ebd.: 232). Die Texte3 der Shoah-Überlebenden sind also nicht nur Dokumente des zuvor erwähnten zivilisatorischen Bruchs, sondern auch Zeugnisse individueller autobiographischer Brüche, die das NS-Regime zu verantworten hat. Ein weitere wichtige Funktion von Überlebensmemoiren stellt die >Deutungsautorität, die wir den Texten und ihren Verfasserinnen und Verfassern einräumen<<, dar (Ebd.: 230). Diese fällt nicht nur deswegen auf die Opfer der Shoah zurück, weil sie diejenigen sind, die den Holocaust erlebt haben, sondern auch, weil die ›offizielle< wissenschaftliche Geschichtsschreibung nicht über die Mittel verfügt, die Shoah als das Trauma des ausgehenden 20. Jhds. schlechthin zu repräsentieren. Denn Geschichte – als wissenschaftliche Disziplin – folgt der Logik von Zeit als linearem und ungebrochenem Kontinuum, das sich anhand objektiver Fakten konstituiert. Schon allein auf Grund dieser formalen Struktur, kann sie den Bruch und die daran geknüpften Individualschicksale nicht angemessen darstellen. Dies vermag – nach Phil Langer – nur das kulturelle Gedächtnis in Form von Kunst (in diesem Fall die Literatur) zu leisten. Dadurch, dass Überlebensmemoiren die historisch-faktische Geschichte hinter die erinnerte Geschichten zurücktreten lässt, wird die Vergangenheit transformiert zu einem >Mythos<<, der in die Zukunft >als etwas, dass auf keinen Fall vergessen werden darf<< (zit. n. Langer 2002: 33), verweist.

Überlebensmemoiren vermögen somit, die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Darstellung der Shoah und den hinter den ›nackten< Zahlen verborgenen Schicksalen zu überbrücken, indem sie die historischen Daten und Fakten auf die subjektive Ebene des Individuums zurückführen und den Holocaust im Lichte des eigenen Erfahrungs- und Erkenntnishorizonts neu oder anders beleuchten und im kulturellen Gedächtnis ›speichern<. So entsteht ein Konglomerat verschiedenster Individualschicksale, die sich kaleidoskopartig zu >Schmerzspuren der Geschichte<< (Voß: ebd.) verdichten. Lawrence Langer spricht diesbezüglich von >Versionen des Überlebens<< (versions of survival), die sich durch ein hohes Maß an Variabilität in der Form der Darstellung des Erlebten auszeichnen. Hinsichtlich der Diskrepanz zwischen historischer Faktizität und literarischer Erinnerung sind diese ›Versionen< der Shoah jedoch immer mit kritischem Bewusstsein zu lesen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eine weitere Funktion der Texte ist das des Schreibens als persönliche Strategie der Vergangenheitsbewältigung. Denn viele der AutorInnen verdanken ihr Überleben oftmals einem glücklichen Zufall, der sie vor dem eigentlich sicher geglaubten Tod bewahrte, während sie Familienangehörige und Freunde verloren. Unter der emotionalen Last dieser, oftmals als ›Überlebensschuld< empfundenen Situation, versuchen sie, traumatische Erlebnisse und Erinnerungen an die Vergangenheit zu thematisieren und stoßen dabei oftmals an die Grenzen dessen, was Sprache als Übersetzung von Emotionen in Worte zu leisten imstande ist. Denn es existieren in der sog. ›Normalität< – außerhalb des ›Kosmos< der Lager und/oder Ghettos – keine vergleichbaren Kategorien, die geeignet wären, diesen Erfahrungen zum Ausdruck zu verhelfen. Zumal die ›Aussenstehenden< nicht über vergleichbaren Erfahrungen verfügen. Was bleibt, ist eine unüberbrückbare Kluft von mit dem Alltag nicht in Kongruenz zu bringenden, inkommensurablen Erfahrungen. So schreibt beispielsweise Primo Levi über seinen Internierung in Auschwitz über Sprache:

[...]


1 Vgl. Uhl 2003, S. 1: »Über die Semantik von ›Holocaust‹ oder ›Shoa‹ hinausgehend, die die Judenvernichtung im Rahmen der Opfer-Täter-Konstellation verortet, rückt der Terminus ›Zivilisationsbruch‹ das Geschehen in ein Raum-Zeit-Kontinuum von universeller Dimension, das sich auf die Geschichte der Moderne bzw. der westlichen ›Zivilisation‹ erstreckt. Damit kommt auch der Erinnerung ein über die Gedächtniskulturen der Opfer und Täter bzw. vom NS-Regime betroffenen Staaten hinausgehender universeller Geltungsbereich zu«.

2 Tagebücher – wie etwa die von Anne Frank oder Victor Klemperer – zähen, was die Relevanz des zeitlichen Rückblicks angeht, m.E. nicht zu Überlebenmemoiren im engeren Sinne. Denn beim Prozess des Erinnerns kommt es zu einer Re-Vergegenwärtigung des Vergangenen unter dem Vorzeichen der Rückprojektion der aktuellen Persönlichkeit – in Folge eines sich veränderten Erfahrungshorizonts – in die eigene Vergangenheit. Somit wird das ›wahre Bild‹ der eigenen Geschichte verzerrt; es ›huscht‹ vorbei, wie Walter Benjamin sagt. Dies bedeutet, dass die erkenntnistheoretischen Implikationen von Tagebüchen aus der NS-Zeit eigentlich andere sind, als die der Überlebensmemoiren, die aus der Retrospektive geschrieben sind. Denn jemand, der Tagebuch schreibt, bewertet seine momentane Situation anders, als wenn er oder sie die gleichen Erlebnisse und Situationen später, in Rückprojektion des Erinnerten ausgehend vom aktuellen Kenntnisstand der Gegenwart beurteilt und seine/ihre Erfahrungen im zeitlichen Gesamtkontext der Shoah verortet, wie es bei den Überlebensmemoiren der Fall ist. Zwar handelt es sich bei beiden o. g. Werken zweifellos um wichtige zeitgeschichtliche Dokumente für die Shoah-Forschung, die Reemtsma in seinem Aufsatz auch anführt und zitiert, jedoch vernachlässigt er den besonderen Aspekt der Zeit der Niederschrift gänzlich.

3 Angerer unterscheidet diesbezüglich zwei Phasen von Veröffentlichungen; frühe und späte Texte: »Die frühen Berichte standen unter dem drängenden Imperativ, detailliert Zeugnis abzulegen von den Leiden der Opfer und den Verbrechen der Täter. Unter der ›Hypothek des Überlebthabens‹ liehen die Berichterstatter den ermordeten Mithäftlingen ihre Stimme und bemühten sich um eine ›objektive Darstellung‹ der Lagerrealität« (Angerer 1998: 63). Ursächlich hierfür ist u. a. das Problem der Beweissicherung. So schreibt Walter Poller in einem frühen Bericht von 1946 über die Situation im KZ Buchenwald: »Wir Häftlinge hatten im Lager keines jener Mittel, mit denen moderne Aufklärung arbeitet, keinen Photoapparat, keinen Tonfilm, kein Diktaphon oder einen Phonograph, keine Möglichkeit irgendein beweiskräftiges Dokument zu schaffen« (Poller 1960: 214f.). Nachdem die frühen Berichte den Grundstein für die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus legten, konnten sich spätere Berichte – dazu zählen auch die in dieser Arbeit verwendeten Texte – anderen Aspekten als primär der Dokumentation der an Juden begangenen Verbrechen zuwenden.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Perspektiven der Differenz als Darstellungsmodi in den Überlebensmemoiren von Primo Levi und Jorge Semprun
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft)
Veranstaltung
Überlebensmemoiren
Note
2
Autor
Jahr
2009
Seiten
19
Katalognummer
V147732
ISBN (eBook)
9783640583249
ISBN (Buch)
9783640583584
Dateigröße
461 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Holocaust, Shoah, Levi, Primo, Semprun, Jorge, Überlebensmemoiren, Reemtsma, Kultur, Narrativ
Arbeit zitieren
Thorsten Klasen (Autor:in), 2009, Perspektiven der Differenz als Darstellungsmodi in den Überlebensmemoiren von Primo Levi und Jorge Semprun, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147732

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