Perfekt und Präteritum: Tempuskonflikt im Spanischen

Beobachtung eines Grammatikalisierungsprozesses


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

12 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt:

1. Einleitung

2. Die Theorie der Grammatikalisierung

3. Die Grammatikalisierung des perfecto compuesto und indefinido
3.1 Synthetische Tempusform des perfecto compuesto
3.2 Mittelalter und 20. Jahrhundert
3.3 Synthetischer Verbleib des indefinido

4. Zusammenfassung

5. Literatur

1. Einleitung

Jeder Sprachenlerner weiß, dass Grammatiken Regeln enthalten die es zu befolgen gilt, will man beim Gebrauch der Sprache später nicht allzu sehr Verwirrung stiften. Viele Lernwerke versuchen daher eine einleuchtende und möglichst korrekte Beschreibung der bestimmten Eigenheiten einer Sprache zu geben, um das Lernen möglichst einfach zu gestalten. Für den Alltagsgebrauch spielt demnach die im Spanischen enthaltene Besonderheit einer grammatikalischen „Dublette“ keine größere Rolle. Bei der genauen sprachwissenschaftlichen Untersuchung der Vergangenheitstempora des Spanischen fällt sie aber auf: Das Spanische besitzt zwei Tempora der Vergangenheit, die miteinander in Konkurrenz stehen. Sie werden unterschiedlich bezeichnet, wir wollen uns aber mit den zwei gängigsten Termini begnügen: indefinido und perfecto compuesto[1]

Wie aber kommt es zu einer solchen Besonderheit? Beim Vergleich mit dem Deutschen fällt auf, dass es eine Unterscheidung in dieser Form hier nicht gibt. Die vorliegende Arbeit möchte dieser Frage nachgehen und sie genauer untersuchen. Bevor diese spanische Besonderheit aber eingehender betrachtet werden kann, bedarf es einiger Präliminarien, die unter dem Stichwort „Grammatikalisierungskonzept“ im nächsten Kapitel untersucht werden sollen. Anschließend wenden wir uns der Anwendung der Theorie auf den vorliegenden Fall zu bevor in einem abschließenden Teil eigene Überlegungen angestellt werden sollen.

2. Die Theorie der Grammatikalisierung

Um das Nebeneinander der spanischen Vergangenheitstempora verstehen und nachvollziehen zu können bedarf es einiger Vorüberlegungen zum sogenannten „Prozess der Grammatikalisierung“[2]. Diese (in diesem Ausmaß) noch recht junge sprachwissenschaftliche Disziplin hat es sich zur Aufgabe gemacht, solche Phänomene zu beschreiben und zu untersuchen. Sie fußt auf einem Interesse an Prozessen, die einen Übergang lexikalischer Elemente in die Grammatik beschreiben können. Bereits im 19. Jahrhundert kann dieses Forschungsinteresse in der „Agglutionationstheorie“, die heute als Teilbereich der Grammatikalisierung gilt, nachgewiesen werden[3]. Das grundlegende Interesse der Grammatikalisierung[4] liegt in der Erforschung und dem Nachweis von Prozessen „des Sprachwandels und zugleich seine[r] Ergebnisse.“[5] Darüber hinaus untersucht Grammatikalisierung bzw. die Grammtikalisierungsforschung die allgemeinen Parameter und Prinzipien, die die grammatische Struktur der Sprache erschaffen und verändern. Dabei handelt es sich um einen graduellen Prozess. Eine Ausformung, die die Grammatikalisierung erfahren hat ist das Konzept der emergenten Grammatik[6] wie sie Hopper formuliert hat. Sie stellt die extremste Sichtweise dar und postuliert, dass es keine statische Grammatik gibt, sondern nur eine Grammatik die sich ständigen Veränderungen unterworfen sieht[7]. Diese Veränderungen werden durch den Diskurs ermöglicht, der als weiteres Faktum im Zusammenhang mit der neueren Grammatikalisierungsforschung zu berücksichtigen ist.

Brenda Laca (1996) führt zudem an, dass durch die vielfältige Forschung in diesem Gebiet sehr heterogene Termini genutzt werden und oft voreilige Rückschlüsse über den relativen Grad der Grammatikalisierung verschiedener (romanischer) Sprachen angestellt werden, die ohne die notwendige tiefergehende Untersuchung der Fälle vorgenommen werden[8]. Sie weist außerdem darauf hin, dass „Grammatikalisierungsprozesse [...] nicht bei sprachlichen Einheiten tout court, sondern bei diesen Einheiten in bestimmten Konstruktionen feststellbar“[9] sind. Zusammenfassend kann Grammatikalisierung schließlich als ein Prozess des Übergangs lexikalischer (und diskursiver) Elemente beschrieben werden, wie sie in einem bestimmten Zusammenhang stattfinden und deren Ergebnis graduell abgestufte, grammatische Phänomene sind, die sich nach folgendem diachron ausgerichteten, vereinfachten Schema einordnen lassen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene Darstellung

Nach Lehmann lassen sich die lexikalischen Teilklassen vor der Grammatikalisierung demnach von den grammatischen Teilklassen nach der Grammatikalisierung nach den folgenden Kriterien trennen[10] :

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im folgenden Kapitel soll die Grammatikalisierung des perfecto compuesto und des indefinido nachvollzogen werden, wie es zu der heutigen Ausformung dieses

Tempuskonflikts im Spanischen kam und welche Abstufungen sich in diesem Verlauf ausmachen lassen.

3. Die Grammatikalisierung des perfecto compuesto und indefinido

Im klassischen Latein findet sich anders als im heutigen Spanisch kein zusammengesetzter Tempus im engeren Sinne. Für alle Tempora des Lateinischen gab es verschiedene Verbendungen, die den entsprechenden Tempusmarker trugen. Die Zeugnisse, die wir heute aus dieser Zeitspanne haben beziehen sich allerdings auf schriftliche Überlieferungen, der Nachweis des mündlichen Sprachgebrauchs des Lateins kann allenfalls über Rückschlüsse gezogen werden. Wann die Latinisierung der iberischen Halbinsel flächendeckend abgeschlossen war kann nicht genau bestimmt werden, ebensowenig können Einflüsse ehemaliger Sprachen der neuen römischen Besitztümer kohärent nachgewiesen werden.[11] Bemerkenswert ist, dass die Romanisierung der ursprünglichen Heimat des Kastilischen (das kantabrische Bergland) trotz der Blütezeit der römischen Literatur wohl am wenigsten erfasst war, wie die geringe Anzahl der lateinischen Inschriften oder frühchristlichen Zeugnisse nahelegt[12]. Wenn aber die literarischen Zeugnisse dieser Zeit keine unterschiedlichen Ausprägungen des Lateinischen bezeugen, wie erklären sich dann die Unterschiede der heutigen Sprachen der Romania?[13] Die Theorie des „Vulgärlateins“ also des gesprochenen Lateins der niedrigeren Schichten die keine oder nur wenig Bildung erreichen konnten und die wohl eine Mischung verschiedener regionaler Sprachbesonderheiten basierend auf dem Lateinischen darstellt klärt diesen Punkt.[14]

3.1 Synthetische Tempusform des perfecto compuesto

Die in der Verbalmorphologie des klassischen Lateins unterschiedenen drei Personen, zwei Numeri, drei finite und fünf infinite Modi, zwei Diathesen, sechs Tempora und zwei Aspekte unterliegen in ihrer Entwicklung zum Romanischen verschiedensten Entwicklungen.15 Dabei sind der Schwund klassisch-lateinischer Formen, Umstrukturierung und Entstehung neuer analytischer Tempusformen die drei wichtigsten Änderungen. Der Ausgangspunkt der Entstehung eines periphrastischen Perfekts liegt laut Harris16 in der Tatsache, dass die ursprüngliche analytische Form zwei Werte in sich vereint: während der perfektive Charakter eine eindeutige Zuordnung innerhalb eines Zeitablaufs ermöglicht, erschwert der präsentische Charakter des klassischen Perfekttempus die Unterscheidung des Aspekts von der Temporalfunktion.17 Müller-Lancé18 unterscheidet drei Stufen des Übergangs klassischer synthetischer Verbformen zu analytischen (periphrastischen) Formen im Spätlatein. Gründe für diesen Wandel sind die zunehmende Unschärfe der Formen und funktionellen Kategorien von Futur und Perfekt. Vorläufer dieses Wandels war die reflexive Konstruktion des Passivs im Vulgär- und Spätlatein. Dabei verschwindet das synthetische Passiv vollständig und wird durch das Konstrukt PPP und Präsens von esse ersetzt.19 Während in der ersten Stufe (dem klassischen Latein) habere und tenere noch Vollverben sind, werden auf einer zweiten Stufe beide Verben mit dem jeweiligen PPP lexikalisiert. Das Subjekt des finiten Verbs fällt also mit dem Agens des Partizips zusammen. Der Satz magister habet scriptum librum erfährt also den Bedeutungswandel und wird von ‚der Lehrer besitzt ein Buch, das geschrieben ist’ zu ‚der Lehrer besitzt ein Buch, das er geschrieben hat’.20 Der temporale Wert der Periphrase tritt in einer dritten Stufe hinzu. Dabei verliert das Vollverb habere seinen Status; es wird zum Hilfsverb, aus einem ehemals lexikalischen Morphem wird ein grammatikalisches Morphem. Seinen neuen Status erkennt man daran, dass das Hilfsverb mit allen Vollverben kombinierbar geworden ist. So tritt zum Beispiel an die Stelle von „cantavi analytisch cantatum habeo (> sp. he cantado)“.21 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass durch die Nutzung der Präsensform des Hilfsverbs zusätzlich ein präsentischer Charakter signalisiert wird.22

[...]


[1] De Bruyne (2002) zählt weitere Begriffe für indefinido (perfecto simple, preterito definido, preterito indefinido, preterito perfecto absoluto, preterito) und für das perfecto compuesto (antepresente, preterito compuesto,...) auf. Die Begriffsbestimmung die hier gewählt wird dient hauptsächlich der einfacheren Unterscheidung und Abgrenzung und soll graphische Ähnlichkeiten vermeiden.

[2] vgl. Girnth (2000): 15

[3] vgl. ebd.: 11

[4] Der Begriff der Grammatikalisierung steht fortan für den diachronen Prozess des Übergangs lexikalischer und/oder diskursiver Elemente in grammatische Elemente. Davon abweichende Definitionen des Begriffs werden gegebenenfalls bei deren Gebrauch in dieser Arbeit entsprechend gekennzeichnet.

[5] vgl. Laca (1996): 22

[6] Er formulierte diese These in seinem Beitrag „Emergent Grammar“ der in Berkeley Linguistics Society 13. 139-157 (1987) zu finden ist.

[7] vgl. Girnth (2000): 15

[8] vgl. Laca (1996): 17 und Lehmann (2005): 1

[9] Laca (1996): 21

[10] vgl. Lehmann (2005): 5

[11] vgl. Berschin et al. (2005): 71ff

[12] vgl. ebd.: 74

[13] vgl. Kiesler (2006): 105ff

[14] Müller-Lance (2006) bietet in seinem Lehr- und Arbeitsbuch mit dem Titel „Latein für Romanisten“ einen sehr guten Einblick in die Entwicklungsgeschichte des Lateinischen.

[15] vgl. Kiesler (2006): 55

[16] vgl. Harris (1982): 47

[17] Begonnen zu einem früheren Zeitpunkt aber noch nicht beendet.

[18] vgl. Müller-Lancé (2006): 171ff

[19] vgl. ebd.:170

[20] vgl. ebd.:172f

[21] Müller-Lancé (2006): 173

[22] vgl. Harris (1982): 47f

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Perfekt und Präteritum: Tempuskonflikt im Spanischen
Untertitel
Beobachtung eines Grammatikalisierungsprozesses
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Romanisches Seminar)
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
12
Katalognummer
V147075
ISBN (eBook)
9783640571260
ISBN (Buch)
9783640570997
Dateigröße
436 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Spanisch, Sprachwissenschaft, Grammatikalisierung, Indefinido, Perfecto Compuesto
Arbeit zitieren
Florian Schirmer (Autor:in), 2009, Perfekt und Präteritum: Tempuskonflikt im Spanischen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147075

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