Das Bild der Schule in "Professor Unrat" von Heinrich Mann


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

25 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historischer Hintergrund

3. Analyse der Schulszenerie
3.1 Unrats Sichtweise auf die Schule
3.2 Darstellung der Schüler
3.3 Unterrichtsatmosphäre und Stoffvermittlung

4. Schule im Kontext der weiteren Romanhandlung
4.1. Widerspiegelung der Schule im Wortschatz Unrats
4.2 Die Schule als permanente Wahnvorstellung Unrats

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Obwohl das wilhelminische Schulsystem als festes und leistungsorientiertes Fundament der Gesellschaft galt, sah es sich um 1900 einer fundamentalen Kritik seitens der Literatur sowie der Reformpädagogik ausgesetzt. Dabei wurden verschiedene Aspekte, wie der überzogene Militarismus und die anerzogene Untertanenmentalität, herausgegriffen und in Form der Gattung des Schulromans der Öffentlichkeit präsentiert. Hierbei sind mehrere Beispiele zu nennen.

Wedekind zeigt in seinem Werk „Frühlingserwachen“, dass die überzogene Sexualmoral und die fehlende Aufklärung in der Schule zu einem großen Identitätskonflikt der Jugendlichen führen und sie in die Verzweiflung oder im schlimmsten Falle sogar zum Selbstmord treiben. Hesse hingegen stellt den großen Leistungsdruck der Schule in den Vordergrund, indem er aufweist, dass durch bloßes Aneignen großer Wissensmengen keine selbstständigen Geister erzogen werden, sondern angepasste, widerspruchslose „Untertanen“. Wer sich diesem System nicht fügen will oder dem Druck nicht standhält, wird ausgesondert und vergessen.

All diesen Werken ist gemeinsam, dass sie das Leben in der wilhelminischen Schule ausschließlich aus der Schülerperspektive schildern, ohne auf die Protagonisten der Gegenseite, die Lehrer, näher einzugehen. Die Schule erscheint als mächtige, unbarmherzige Institution und der Lehrer ist „nur Schema, personifizierte Macht des Staates, ohne eigentliche Entwicklung.“1 Dabei sind es genau jene Schultyrannen, die maßgeblich zu den kritisierten Umständen beitragen - aber selten wird nach ihren Motiven und Beweggründen gefragt. Schon Pestalozzi sagte:

„Es ist wohl bekannt, dass von allen Tyrannen die kleinen die grausamsten sind, und von allen kleinen Tyrannen sind die Schultyrannen die schrecklichsten.“2

Diesem Typus Schultyrann spürt erstmals Heinrich Mann satirisch im „Professor Unrat“ nach und schafft somit eine Neuerung im Genre des Schulromans, da der Fokus nun nicht mehr auf dem Leid der Schüler in der Institution Schule liegt, sondern auf dem Tyrannen selbst und seiner psychologischen Motivation, welche durch satirische Überspitzung kenntlich gemacht wird. Die Rezeption durch den Leser erfolgt deshalb nicht durch Sympathien oder Mitleid für die geknechteten Schüler, sondern beruht auf einer ironischen Distanz zum Protagonisten des Werkes, Professor Unrat. Aus diesem Grund ist „Professor Unrat“ oft als Schulroman interpretiert worden, obwohl eine umfassende Analyse des Werkes auch gesellschafts- und sozialkritische Aspekte mit einbeziehen muss, weshalb eine eindeutige Identifikation als Schulroman dem Werk nicht vollständig gerecht wird. Dies wird besonders deutlich, wenn man eine Reflexion Heinrich Manns über sein literarisches Wirken näher betrachtet:

„Durchweg sind meine Romane soziologisch. Den menschlichen Verhältnissen, die sie darstellen, liegen überall zu Grunde die Machtverhältnisse der Gesellschaft. […] Romane, wie meinesgleichen sie schreibt, sind die innere Zeitgeschichte, die Geschichte, die noch Niemand sieht oder wahr haben will, bis Schicksalstage sie furchtbar bekräftigen. […]“3

Im Rahmen der folgenden Arbeit wird das Augenmerk hauptsächlich auf das Thema Schule gelenkt, welches jedoch auch aus soziologischer Sicht eine bedeutende Rolle spielt.

Hierzu wird zunächst der historische Hintergrund beleuchtet, um eine theoretische Grundlage für die Analyse des Werkes zu schaffen und um wesentliche Entwicklungslinien und Problemstellungen des wilhelminischen Schulsystems zu skizzieren. Dabei geht es sowohl um den formalen Unterricht als auch um die ideologische Indoktrination. Der zweite Punkt beschäftigt sich dann mit einer konkreten Betrachtung der Schulszene im ersten Teil des Werkes und zeigt das Thema Schule aus der Sichtweise Unrats, der teilnehmenden Schülern sowie unter den Gesichtspunkten des Klassenklimas und der angestrebten Stoffvermittlung. Dadurch werden auch Rückbezüge auf die historische Realität offensichtlich. Den letzten Untersuchungsgegenstand dieser Seminararbeit stellt schließlich die Schule im Kontext der weite]ren Romanhandlung dar. Hierbei wird zunächst die Widerspiegelung des Themas im Wortschatz Professor Unrats genauer beleuchtet, bevor auf die sich im Handlungsverlauf zuspitzende Wahnvorstellung des Protagonisten eingegangen wird.

Ein abschließendes Fazit soll die Betrachtung abrunden und fasst nochmals wesentliche Entwicklungslinien und Thesen zusammen.

2. Historischer Hintergrund

Das Schulsystem im Kaiserreich war sehr stark von der gesellschaftlichen Klassenstellung geprägt und separierte zwischen einigen wenigen Eliten aus dem Adel oder Großbürgertum sowie der breiten Masse der Arbeiter und Kleinbürger, welchen oftmals der Zugang zum Gymnasium verwehrt wurde.4 Der Staat garantierte zwar eine Elementarbildung für jeden Bürger im Kaiserreich, achtete jedoch stark darauf, dass sich die zukünftige Elite zum größten Teil aus der Oberschicht rekrutierte. Besonders für die Mittelschicht war Bildung existentiell wichtig, sodass viele bürgerliche Väter alle Möglichkeiten ausschöpften vor allem ihren Söhnen eine solide Ausbildung zu ermöglichen, während Söhne aus adeligem Hause auch ohne abgeschlossenes Abitur aufgrund ihrer Abstammung durchaus selbstbewusst und selbstständig ihren zukünftigen Lebensweg beschreiten konnten, da ihnen jederzeit hohe Ämter in Militär oder Verwaltung offen standen. Es galt demnach weniger das Leistungsprinzip, als die Betonung der Herkunft und der finanziellen Verhältnisse.

Schule hat somit eine Selektionsfunktion und dient laut einer Order von Kaiser Wilhelm aus dem Jahre 1889 dem Schutz und der Bewahrung des Staates:

„Schon längere Zeit hat mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben.“5

Diesem Anspruch konnten sich vor allem die Gymnasien nicht entziehen, welche oft auf eine christlich-humanistische Tradition zurückblickten und deshalb Anpassungsschwierigkeiten hatten sich dem neuen, als preußisch und straff empfundenen Geiste zu entziehen. Aus diesem Grund waren viele Lehrer an den Gymnasien zunächst gegen eine Modernisierung des klassischen Bildungskanons, der auf den „septem artes liberales“ beruht, und wehrten sich gegen die größer gewordene Bedeutung von Naturwissenschaften oder moderner Fremdsprachen.6

Doch im Zuge der Reichsgründung und der zunehmenden Vereinheitlichung von Heer, Wirtschaftsstrukturen und Verwaltung breitete sich das preußische Schulsystem und mit ihm das „preußische Gymnasium“ über alle Bundesstaaten aus, sodass spätestens um die Jahrhundertwende von einer Vereinheitlichung und einer auf die Nation und Disziplin ausgerichteten Pädagogik gesprochen werden kann.7 Wie sehr dieses neue Klima das Miteinander zwischen Schülern und Lehrern störte, hat Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ durch seine scharfe Kritik an dem neuen Direktor Wulikke dargelegt:

„Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Karriere zu höchster Würde gelangt, und der „kategorische Imperativ unseres Philosophen Kant“ war das Banner, das Direktor Wulikke in jeder Festrede bedrohlich entfaltete. Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, daß nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern gut angeschrieben zu stehen […]“8

Durch die Charakterisierung der Schule als „Staat im Staate“ wird besonders deutlich, dass sich hier ein neuer Herrschaftsraum entfaltet hat und Lernen nicht mehr der freien Entfaltung von Interessen diente, sondern als Machtinstrument eingesetzt wurde, um die ideologische Erziehung der Jugend voranzutreiben und sie auf die nationale Einheit einzuschwören, welche mit der Reichseinigung erfolgt war. Um dies zu erreichen, bediente man sich verschiedener Erziehungsstile und Lernmethoden. Allen voran waren das Auswendiglernen und das stupide Memorieren langer Kirchenverse oder banaler Inhalte maßgebend.9 Im Mittelpunkt stand also nicht das selbstständige Erarbeiten des Lernstoffes, sondern vielmehr ein rein rezeptiver Umgang mit Literatur und geschichtlichen Inhalten. Dazu kommt noch eine allgemeine Ablehnung diskursiven Denkens, da die Schüler nicht den Lernstoff oder die staatliche Ordnung hinterfragen sollten. Hierzu äußerte sich schon Wilhelm Lamszus, ein bekannter Hamburger Reformpädagoge, kritisch und fasst nochmals pointiert zusammen, was unter Erziehung verstanden wurde:

„Es wurde in den Schulen nicht erzogen, geschweige denn die schöpferische Kraft entwickelt, es wurde exerziert. Das Exerzieren begann beim ersten Schreibunterricht. Die Schüler saßen aufrecht in der vorgeschriebenen Haltung, die linke und die rechte Hand genau an ihrem Platz fixiert. Sie setzten auf Kommando ihr Schreibzeug an: ’Auf - Ab!’ [...] befahl der Lehrer und alle schrieben im Takt des Gleichschritts, der mit dem Lineal auf ’s Pult geschlagen wurde. Im gleichen Geist vollzog sich auch das Zeichnen. […]Ein so unnatürlicher Betrieb war nur mit dem Stock aufrechtzuerhalten. Er lag in der Klasse griffbereit auf dem Pult. [...]. Auf diese täglich geübte handgreifliche Zwiesprache, zu der auch aufmunternde Rippenstöße und blitzartig versetzte Backpfeifen gehörten, beschränkten sich die wechselseitigen Beziehungen. Der Lehrer war des Schülers Feind, der jede Regung unterdrückte.“10

Dieses Zitat zeigt deutlich, dass das Schulklima nicht auf Kooperation zwischen Lehrendem und Lernendem ausgerichtet war, sondern auf die völlige Unterwerfung des Schülers unter den Willen des Lehrers, der alleine den Unterrichtsinhalt bestimmte und eine unangreifbare Machtinstanz darstellte, welche den Schüler auch den erforderlichen Abschluss verweigern konnte. Um diesen Anspruch zu erfüllen, ist es von Vorteil die Selbstwahrnehmung des Gymnasiallehrers näher zu analysieren. Dieser erhielt seine Legitimation und sein Selbstbewusstsein vor allem durch die starke Verankerung und Bedeutung des Gymnasiums in der Gesellschaft und durch sein Fachwissen und die akademische Ausbildung. Im Kontrast zu diesem Anspruch war der Verdienst jedoch im Verhältnis zu anderen Berufsständen eher gering, womit sich die wirtschaftliche Abhängigkeit des Lehrers von der Gesellschaft und vom Staat deutlich zeigt und eine Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und tatsächlichem sozialen Stand offenbar wird.

[...]


1 Zit.: Bertschinger, Thomas: Das Bild der Schule in der Literatur zwischen 1890 und 1914, Zürich 1969, S. 94. Im Folgenden abgekürzt als: Bertschinger: Bild der Schule.

2 Zit.: Bertschinger, Bild der Schule, S. 92.

3 Zit.: Steinbach, Dieter (Hg.): Materialien. Heinrich Mann >Professor Unrat<. Ausgewählt und eingeleitet von Eckhard Glöckner und Thomas Lange, Stuttgart 1981, S. 10. Im Folgenden abgekürzt als: Materialien.

4 Vgl.: Tenorth, Heinz-Elmar: Schule im Kaiserreich, in: Dietmar Reinhardt, Schulz, Hans-Dietrich (Hg.) Schule und Unterricht im Kaiserreich, Ludwigsfelde 2006, S. 12. Im Folgenden abgekürzt als: Tenorth: Schule im Kaiserreich.

5 Zit.: Lemmermann, Heinz: Kriegserziehung im Kaiserreich. Studien zur politischen Funktion von Schule und Schulmusik 1890-1918, Bd. 1 und 2, Bremen 1984, Bd. 2, S. 631. Im Folgenden abgekürzt als: Lemmermann: Kriegserziehung im Kaiserreich.

6 Vgl.: Tenorth: Schule im Kaiserreich, S. 27. Die „septem artes liberales“ setzen sich zusammen aus dem Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und dem Quadrivium (Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik).

7 Vgl. Klein, Albert: Heinrich Mann: Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen (Modellanalysen Literatur 19) Paderborn 1992, S. 17. Im Folgenden abgekürzt als Klein: Das Ende eines Tyrannen.

8 Mann, Thomas: Buddebrooks: Verfall einer Familie, Frankfurt 1989, S. 722.

9 Vgl. Lemmermann: Kriegserziehung im Kaiserreich, Bd. 1, S. 14. 7

10 Zit: Lamszus, Wilhelm; Jensen, Adolf: Ein Leben für die Erneuerung der Schule, Hamburg 1958, S. 13f.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Das Bild der Schule in "Professor Unrat" von Heinrich Mann
Hochschule
Universität Bayreuth
Note
1
Autor
Jahr
2008
Seiten
25
Katalognummer
V143896
ISBN (eBook)
9783640553808
ISBN (Buch)
9783640553495
Dateigröße
531 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bild, Schule, Professor, Unrat, Heinrich, Mann
Arbeit zitieren
Frank Hoyer (Autor:in), 2008, Das Bild der Schule in "Professor Unrat" von Heinrich Mann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143896

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