Frankreich: Die Emanzipierung der Provinzstädte und deren Images


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

24 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Gliederung

Einleitung

1. Stadtsystem Frankreichs
1.1 Anfang und Zentralisierung
1.2 Dezentralisierung und Gleichgewichtsstädte

2. Stadtimages nach einer Analyse von Le Point (2005)
2.1 Methodologie
2.2 Auswertung

3. Ausgewählte Städte
3.1 Marseille - Schwieriger Imagewandel
3.2 Nantes - Die bretonische Renaissance
3.3 Toulouse - Boomtown mit Höhenflug

4. Zusammenfassung

Bibliographie

„Jeder Freiheitsliebende hat zwei Vaterländer, sein eigenes und Frankreich“ Thomas JEFFERSON

Einleitung

Die Stadtsysteme der verschiedenen Staaten Europas und der Welt unterscheiden sich bekanntermaßen. Sich mit ihnen eingehenden zu beschäftigen, sich genauer an zu schauen, wie „es woanders funktioniert“, ist von gewisser Anziehungskraft. Was ist anders, was ist gleich? Innerhalb Europas lassen sich schon zig Verschiedenheiten feststellen, die entweder historisch gewachsen oder auch zum Teil politisch gewollt waren und sind. Aus deutscher Sicht hat Frankreich schon seit je her ein besonderes Interesse erweckt. Die nicht immer einfache Nachbarschaft der beiden Länder trägt dazu bei.

Bis in die frühen siebziger Jahre beschrieb das auf J.-F. GRAVIERs fußende Schlagwort „Paris und die französische Wüste“ relativ gut den Alltag und den Zustand von französischen Städten der Provinz. Doch allmählich sollte sich der zentralistische Einfluss der übermächtigen Kapitale Paris schmälern. An den von François MITTERAND eingeleiteten Reformen zur Dezentralisierung der Republik war schon Charles DE GAULLE politisch gescheitert. Dieser nicht allzu leichte Prozess gab auch den Städten die Chance aus ihrer Lethargie zu erwachen. So erlebten die Städte der Provinz (métropoles de province) eine neuerliche Renaissance. Wer einstmals von außen auf Frankreich schaute und dessen Städte dachte, dem viel nicht viel ein, außer natürlich Paris (nach wie vor die Touristendestination Nummer 1, für ein ganzes Land imagebildend) und einige Städte des mediterranen Südens. Doch mittlerweile hat sich einiges geändert.

In der vorliegenden Arbeit sollen die Grundzüge und Eigenarten des französischen Stadtsystems näher beleuchtet werden. Beginnend mit einer historischen Einführung zu den Entwicklungen des Stadtsystems und den Reformen zur Dezentralisierung, werden anschließend, anhand eines Städterankings der Zeitschrift Le Point von 2005 die Images der größten Städte Frankreichs näher betrachtet. Abschließend wird das Augenmerk auf drei große Städte (Marseille, Nantes und Toulouse) gerichtet und deren neuerliche Entwicklung eingehender analysiert. Auf die bekanntermaßen besondere Rolle der Hauptstadt und deren Agglomeration wird nur bei Bedarf bedingt eingegangen.

Inwiefern sich die oftmals sinnbildlich erwähnte exception française, die nahezu schon obligatorische Ausnahme von allem und jedem, auch in bezug auf Stadtimages gilt, soll in der nachfolgenden Abhandlung untersucht werden. Paris erstickte über Jahrzehnte jegliche Ideen und Initiativen in den Provinzstädten. Alle Wege führten in die Hauptstadt und die wenigsten führten zurück. Welchen Stellenwert nehmen in diesem Kontext heutzutage die métroploes de province ein?

1. Stadtsystem Frankreichs

1.1 Anfang und Zentralisierung

Kaum ein Stadtsystem Europas unterscheidet sich stark von den anderen als das Gefüge der Städte in Frankreich. So entwickelte sich bereits in prähistorischer Zeit ein Stadtsystem, dass sich dann sukzessive verdichtete. Insbesondere durch intensiven Handel und Handwerk gestützt, entwickelte sich die Struktur im Mittelalter weiter, aber ermöglichte auch Stadtneugründungen, wie in anderen Ländern Europas. A. PLETSCH sieht in der Kontinuität des Standortes, also die Weiterentwicklung der städtischen Siedlungen aus frühesten Wurzeln, als eines der prägenden Besonderheiten des französischen Stadtsystems1.

Vor der Revolution von 1789 war Frankreich ein eher heterogenes Gebilde, in dem die Provinzen eine Reihe von administrativen Sonderrechten innehatten2. Der postrevolutionäre (moderne) Zentralstaat, der unter Napoleon seinen Höhepunkt erreichte, war dann nur möglich, indem die Geschicke des Territoriums von einer Entscheidungszentrale (Paris) gelenkt werden. Ein homogener Raum ohne viele Eigenarten, war die Vorraussetzung die Bestimmungen und Informationen reibungslos in die entlegensten Räume zu übermitteln. Das Entstehen der Departements im Jahre 1790 stärkte den Zentralismus und begünstigte die Entwicklung zahlreicher Mittelstädte und kleinerer Großstädte, mit jeweils geringem Wirtschaftspotential3. Hierbei handelte es sich fast ausschließlich um Präfekturen (chef-lieu), also um die Departementshauptorte. Diese Orte stellen im übrigen immer noch ein herausragendes Merkmal für Frankreichs Städtenetz dar. Dementsprechend gab es unter dem straff organisierten zentralistischen Verwaltungssystem nur geringe Entfaltungsmöglichkeiten für die Städte des Landes. Die vormals möglich gewesenen eigenständigen Entwicklungen der Provinzstädte, stagnierten aber spätestens zum Beginn des Industriezeitalters. Aus ehemals aktiven Zentren wurden dahinvegetierende Flecken4. Der Niedergang der Provinzstädte aufgrund des Zentralismus führte auch zur Stagnation bzw. zum Verlust der dortigen Bevölkerung. Die Durchsetzung der zentralistisch-einheitlichen Strukturen ging einher mit einer parallelen flächendeckenden Schwächung und Zersplitterung des Raumes5. Vor allem die Städte des Pariser Beckens wurden stark in ihrer Entwicklung gebremst. „Paris saugte aus der Provinz die Substanz.“6 Die Städte in der französischen Provinz verweilten bis weit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einer Lethargie.

1.2 Dezentralisierung und Gleichgewichtsstädte

Die unter Präsident François MITTERAND im Jahre 1982 verabschiedeten Dezentralisierungsgesetze brechen erstmals mit der für Frankreich so charakteristischen Dominanz der zentralstaatlichen Verwaltungsorganisation. Deren Beginn und Idee reicht bis in die 1950er Jahre zurück. Auf diese zum Teil sehr komplexe Verwirklichung soll hier nicht weiter eingegangen werden. Grundgedanke war es, das Gewicht der regionalen Metropolen zu stärken und ihnen mehr Kompetenzen zu übertragen. Die 26 Regionen (22 im Mutterland und Korsika, vier in Übersee) erhielten erstmals autonome Entscheidungsbefugnisse und hierfür erforderliche Finanzmittel. In erster Linie betraf das die Raumordnung, den Wohnungsbau, den Verkehr, das Bildungswesen, die Umwelt sowie die Kultur7.

Das urbane System Frankreichs war lange Zeit von Paris und der Region Ile-de- France dominiert. Die übermächtige Hauptstadt hielt jegliches Wachstum der Provinzstädte regelrecht nieder. In zahlreichen Publikationen wurde dieses Thema kontrovers diskutiert. Diese Werke haben eines gemeinsam. Sie weisen eingehend auf die negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Zentralismus in Frankreich hin. „Paris, chance ou malheur de la France ?“ (Paris - Glück oder Unglück Frankreichs?) fragte der französische Geograph J. BEAUJEU-GARNIER in den 1960er Jahren und stellte sich damit in eine Reihe von Menschen, die das GRAVIER- Werk „Paris et le désert français“ hinterfragten. Viele sahen in der Schwächung der Hauptstadt den einzigen Ausweg, den Rest des Landes angemessen zu entwickeln. Andere sahen in der Entwicklung der Hauptstadtregion eine nicht unvermeidbare, aber unerlässliche Aufgabe, um Frankreichs Platz in einem vereinten Europas zu behaupten.8

Zu Beginn der 1960er entwarfen die Geographen J. HAUTREUX und M. ROCHEFORT ein seither oft modifiziertes und aktualisiertes Bild des französischen Städtesystems, der armature urbaine (Abb. 2). Anhand des Tertiärisierungsgrades des Handels, des öffentlichen und kulturellen Sektors ergaben sich sechs Hierarchiestufen (Abb. 1).9

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Hierarchiestufen (eigene Abbildung nach PLETSCH, Alfred, 2003, S. 158)

Das heutige Stadtsystem Frankreich ist durch unausgewogene Strukturen gekennzeichnet. Obwohl die sechs Zentralitätsstufen immer noch anwendbar, sind diese im Raum unterschiedlich ausgeprägt. Der Primatstadt Paris stehen Solitärstädte in der Provinz gegenüber.10

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Heutiges Stadtsystem (Pletsch, 2003, S.161)

Besondere Beachtung gilt dabei der peripheren Anordnung der Gleichgewichtsstädte (métropoles d’équilibre) in relativ großen Distanz zu Paris. Diese Städte fanden schon Eingang in den frühesten Überlegungen der französischen Raumordnungspolitik. Sie sollten einer ausufernden Entwicklung der Ile-de-France entgegenwirken. Folgende Städte fanden in diesem 1964 verwirklichten Förderkonzept Eingang: Lille (mit Frankreich: Die Emanzipierung der Provinzstädte und deren Images Nico BEUSTER Roubaix und Tourcoing), Nancy (mit Metz und Thionville), Straßburg, Nantes (mit Saint-Nazaire), Bordeaux, Toulouse, Marseille (mit Aix-en-Provence) und Lyon (mit Saint-Etienne und Grenoble). Wie von R. MARCONIS beschrieben, sollten diese acht Wachstumspole so ausgestattet und befähigt werden, dass sie ihre Dynamik auf den Rest ihrer jeweiligen umliegenden Region ausstrahlen11.

A. PLETSCH fasst die heutige amature urbaine (Abb. 2) in drei große Bereiche zusammen. Das Pariser Becken wird von der Hauptstadt dominiert und von einigen Mittelstädten (z.B. Reims, Tours, Amiens) durchzogen, die aber in ihrer Bedeutung von der Paris „überstrahlt“ werden. Der Westen, Südwesten und Nordosten ist vor allem durch mittelgroße bis große Solitärstädte gekennzeichnet (Nantes, Bordeaux, Toulouse, Straßburg, Lille). Im mediterranen Süden Frankreichs ist das Stadtsystem vielschichtiger. Die bereits in der Frühzeit angelegten Städte konnten oftmals trotz ungleicher Hierarchiestufen eine gewisse Eigenständigkeit bewahren (z.B. Lyon, Marseille, Nizza, Grenoble, Montpellier, Perpignan).12

2. Stadtimages nach einer Analyse von Le Point (2005)

Die publizierten wissenschaftlichen Untersuchungen zum Image von französischen Städten sind rar und zum Teil sehr schwer zugänglich. In der vorliegenden Arbeit wurde somit das Ranking eines Wochenmagazins als Grundlage herangezogen. Diese Veröffentlichen zum Vergleich von Städten sind auch in deutschen Magazinen üblich. Die letzte in Frankreich herausgegebene Untersuchung erschien am 27. Januar 2005 in dem in Paris verlegten Wochenmagazin Le Point. Ein vermuteter populärwissenschaftlicher Hintergrund kann nicht ganz ausgeschlossen werden. Dennoch wurde die zu Grunde gezogene Veröffentlichung „Où vit-on le mieux en France ?“ mit einer Untersuchung der französischen Geographin Céline ROZENBLAT und der Wirtschaftswissenschaftlerin Patricia CICILLE13 ergänzt und analysiert.

[...]


1 PLETSCH, Alfred, 2003, S. 127

2 vgl. LÜSEBRINK, Hans-Jürgen, 2000, S. 13

3 LÜSEBRINK, Hans-Jürgen, 2000, S. 13

4 vgl. PLETSCH, Alfred, 2003, S. 151

5 vgl. AUPHAN, Etienne; BRÜCHER, Wolfgang, 2005, S. 6

6 AUPHAN, Etienne; BRÜCHER, Wolfgang, 2005, S. 6

7 vgl. LÜSEBRINK, Hans-Jürgen, 2000, S. 85

8 vgl. MARCONIS, Robert, 2002, S. 4

9 PLETSCH, Alfred, 2003, S. 158

10 vgl. PLETSCH, Alfred, 2003, S. 127

11 MARCONIS, Robert, 2002, S. 4

12 vgl. PLETSCH, Alfred, 2003, S. 161f.

13 ROZENBLAT, Cécile; CICILLE, Patricia, 2003: Les villes européennes - Analyse comparative. Paris.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Frankreich: Die Emanzipierung der Provinzstädte und deren Images
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Geographisches Institut)
Veranstaltung
Aktuelle Themen der Stadtgeographie
Note
2,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
24
Katalognummer
V144769
ISBN (eBook)
9783640538119
ISBN (Buch)
9783640537778
Dateigröße
1709 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frankreich, Dezentralisierung, Stadtgeographie, Marseille, Nantes, Toulouse, Gleichgewichtsstadt, métropole d'équilibre, Stadtsystem, Image, Zentralisierung, Zentralstaat, Großstadt, Metropole, Gravier, franzözische Wüste, Denzentralisation
Arbeit zitieren
Dipl.-Geogr. Nico Beuster (Autor:in), 2006, Frankreich: Die Emanzipierung der Provinzstädte und deren Images, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144769

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