Glück gehabt?

Versuch der Beschreibung unseres persönlichen Glücksempfindens anhand eines mathematischen Modells


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2010

15 Seiten


Leseprobe


1 Worum gehts

Das individuelle Streben nach Glück ist wohl eine der stärksten menschlichen Triebfe-dern. Wir wollen daher versuchen, ein mathematisches Modell zu entwickeln, das die Abhängigkeit unseres persönlichen Glücksempfindens von unseren momentanen Lebens-umständen beschreibt. Die Variablen L und G sollen dabei Synonyme für folgende Be-griffe sein:

L: Lebensumstände, Reichtum, Gesundheit, Fülle, Zustand ... G: Glück, Zufriedenheit, Freude, Wohlbefinden, Gefühl ...

2 Je desto

Der naheliegendste Ansatz geht davon aus, dass unsere Zufriedenheit G ( t ) proportional zu unseren Lebensumständen L ( t ) wächst und sinkt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der konstante Proportionalitätsfaktor k gibt dabei an, wie viel Glück wir unter be-stimmten Lebensumständen empfinden.1 Dieses mathematische Modell ist verlockend einfach, wird von vielen Menschen als Lebensweisheit verfolgt und hat eigentlich nur einen Nachteil: Es ist falsch. Gleichung (1) würde schließlich bedeuten, dass ein sehr rei-cher Mensch auch immer sehr glücklich sein müsste und ein völlig armer Mensch niemals Lebensfreude empfinden könnte. Unsere Erfahrung zeigt uns aber, dass ein hungerndes Kind in einem Entwicklungsland sehr wohl froh über eine zusätzliche Schale Hirse sein kann, während ein Multimillionär seinen Sportwagen mit voller Absicht gegen einen Brückenpfeiler lenken mag, weil er todunglücklich ist.

3 Panta rhei

Wenn es also nicht der Absolutwert der Lebensumstände selbst ist, der Glück hervorruft, dann ist es vielleicht die Veränderung der Lebensumstände:

- Wenn sich unsere Lebenssituation gerade verbessert, empfinden wir Glück.
- Wenn sich unsere Lebenssituation gerade verschlechtert, empfinden wir Unglück.
- Wenn sich unsere Lebenssituation gerade nicht verändert, empfinden wir weder Glück noch Unglück.

Dieser Ansatz berücksichtigt die Tatsache, dass wir Menschen ausgesprochen anpas-sungsfähig sind und uns an praktisch jede Lebenssituation in kurzer Zeit gewöhnen können. Schon 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung vertrat der chinesische Philosoph Konfuzius eine ähnliche Sichtweise: „Wer ständig glücklich sein möchte, muss sich oft verändern.”

3.1 Frau Mustermann und ihr Kraftfahrzeug

Um die Anwendbarkeit der Regel zu überprüfen, dass unser momentanes Glücksempfin-den von der Veränderung unserer aktuellen Lebenssituation abhängt, betrachten wir die in Abbildung 1 dargestellte Nutzung eines Kraftfahrzeugs.

Zum Zeitpunkt t 1 gewinnt Erika Mustermann in der Bürgerpark-Tombola einen nagel-neuen BMW 116i. Ihre persönlichen Lebensumstände L ( t ) erhöhen sich dadurch um einen signifikanten Betrag. Zum Zeitpunkt t 2 fährt Erikas Bruder Heinz, der sich ihr Auto ausgeliehen hat, beim Rangieren in einer Parklücke auf die Anhängerkupplung eines vor ihm geparkten Fahrzeugs und beschädigt die Frontschürze des Wagens seiner Schwester erheblich. Parallel zum plötzlichen Wertverlust ihres Kraftfahrzeugs sinkt Eri-kas Lebenssituationspegel L ( t ) . Freundlicherweise bezahlt ihre Versicherung zum Zeit-punkt t 3 den Austausch der demolierten Frontschürze in einer Fachwerkstatt, so dass der

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Ein Autoleben

Wert des Wagens praktisch wieder auf seinen Ursprungswert springt. Zum Zeitpunkt t 4 beginnt das Fahrzeug zu rosten (und nein – die dargestellten Abszissen- und Ordina-tenwerte sind keineswegs maf3stäblich; es lassen sich daraus keinerlei Informationen über den Beginn und die Geschwindigkeit des Verfalls der Fahrzeuge der Bayerischen Motoren Werke AG ablesen). Zwischen t 4 und t 5 verliert das Fahrzeug kontinuierlich an Wert, was sich in einer Geraden mit negativer Steigung ausdrückt. Zum Zeitpunkt t 5 verliert Erika leicht alkoholisiert auf regennasser Fahrbahn die Kontrolle über ihr Fahrzeug; Der Wagen überschlägt sich mehrfach – Totalschaden! Wie durch ein Wunder überlebt Erika den Unfall völlig unverletzt.

3.2 Differenzierte Betrachtungsweise

Mathematiker verwenden zur Beschreibung der Veränderung (Steigung) einer Variablen einen Differenzialquotienten, genauer die erste Ableitung der Variablen nach der Zeit1. In diesem Modell wäre also das Glück die Zeitableitung2 oder der Gradient der Lebens-umstände:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wenn wir Gleichung (2) auf den in Abbildung 1 dargestellten Zeitverlauf der Lebensum-stände der Autobesitzerin anwenden,3 erhalten wir den Zeitverlauf (Abbildung 2) ihres momentanen Glücksgefühls.

Dabei wird gemäf3 der Definition einer Zeitableitung berücksichtigt, dass die G ( t ) -Kurve nur dann einen von null verschiedenen Wert besitzt, wenn sich die L ( t ) -Kurve gerade

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Glücksverlauf mit reinem Differenzierer

ändert. Die Steigung, also die Änderungsgeschwindigkeit von L ( t ), bedingt dabei den Wert von G ( t ). Solange L ( t ) konstant ist, bleibt G ( t ), als Ableitung einer Konstanten, null.

Wenn also zum Zeitpunkt t1 – bedingt durch den Tombolagewinn – die L ( t ) -Kurve auf einen höheren Wert springt, bewirkt diese Veränderung, dass auch die Glückskurve G ( t ) positiv ausschlägt. Da der Kraftfahrzeuggewinn in infinitesimal kurzer Zeit geschieht: „Plötzlich hatte ich ein Auto”, ist die Steigung und damit die Ableitung der L ( t ) -Kurve unendlich grof3; die Glückskurve wächst daher kurzzeitig über alle Grenzen: „Meine Freu-de war riesengrof3.” Zwischen t1 und t2 ist L ( t ) konstant, die Steigung von L ( t ) und damit der Wert4 von G ( t ) ist wieder null: „Man gewöhnt sich ja so schnell daran.” Zum Zeit-punkt t2 vermindert sich der Wert des Fahrzeugs plötzlich. Die unendlich grof3e negative Steigung von L ( t ) bewirkt einen kurzzeitigen negativen Impuls von G ( t ): „Über die Beu-le war ich schon sehr unglücklich.” In der Phase zwischen t2 und t3 ist L ( t ) wieder (auf niedrigerem Niveau) konstant, so dass keine weiteren Gefühle angeregt werden: „Die Beule hatte ich schon wieder vergessen”, bis dann zum Zeitpunkt t3 wieder ein positiver Sprung von L ( t ) und damit verbunden ein positiver Impuls von G ( t ) stattfindet: ”Ich war sehr froh, als ich den Brief von der Versicherung in den Händen hielt.” Wenn zwi-schen t4 und t5 der Wert des Fahrzeugs durch fortschreitende Auflösungserscheinungen kontinuierlich sinkt, bewirkt diese konstante negative Steigung der L ( t ) -Kurve, dass die G ( t ) -Kurve auf einen konstanten negativen Wert absackt: „Jeden Tag konnte ich mich über eine neue Roststelle ärgern.” Der Totalschaden bei t5 lässt den Wert des Wagens schlagartig auf null absinken; die Glückskurve reagiert wieder mit einem Impuls nach minus unendlich: „Ich habe mich noch nie so elend gefühlt.”

[...]


1 Streng genommen müssten wir an dieser Stelle erst einmal die physikalischen Einheiten von Lebens-umständen und Glück definieren, da k ja nicht nur einen Zahlenwert besitzt, sondern auch die Einheit der Lebensumstände in die Einheit des Glücks umrechnen muss. Wir gehen aber zur Vereinfachung davon aus, dass L(t) und G(t) im physikalischen Sinne dimensionslos sind, bzw. durch Normierung gemacht wurden.

2 Auch hier gibt der Faktor T D an, wie groi3 das individuelle Glücksempfinden bei einer bestimmten Änderung der Lebensumstände ist: Formal ist T D die Zeit, in der die Lebensumstände um 1 an-gestiegen sein müssen, um Glück mit dem Wert von 1 zu produzieren. Unter der Annahme, dass Lebensumstände und Glück dimensionslos sind, besitzt T D daher die Einheit Sekunde.

3 Zur Simulation benutzen wir das in Abschnitt 6 beschriebene Simulink-Modell2. Die Zeitkonstante T D setzen wir dabei auf einen Wert von eins.

4 Das abrupte Absacken des Glückspegels sofort nach t1 ist allerdings nicht realistisch und wird in Abschnitt 3.3 korrigiert.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Glück gehabt?
Untertitel
Versuch der Beschreibung unseres persönlichen Glücksempfindens anhand eines mathematischen Modells
Hochschule
Hochschule Bremen
Autor
Jahr
2010
Seiten
15
Katalognummer
V143995
ISBN (eBook)
9783640535026
ISBN (Buch)
9783640534746
Dateigröße
999 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mathematik, Soziophysik, Differenzialgleichungen, Philosophie, Psychologie, Tiefpass, Optimierung, Simulink
Arbeit zitieren
Prof. Dr.-Ing. Jörg Buchholz (Autor:in), 2010, Glück gehabt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143995

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