Warum schweigen die Lämmer so schaurig?

Erzähltheoretische Analyse des Spannungsaufbaus im Roman "Das Schweigen der Lämmer" mit anschließendem Buch-/Filmvergleich


Studienarbeit, 2007

44 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Erzähler
a) Die Dynamik der Wechsel: Perspektiv- und Distanzwechsel
b) Den Leser auf Kurs halten:
Realitätsnähe, Lesereinbezug, Erzählhaltung

3. Die Figuren: Darstellungstechniken und ihre Wirkung

4. Der Textaufbau
a) Kapiteleinteilungen: Die Wechselwirkung der Handlungsstränge
b) Sprachliche Darstellungsverfahren an Spannungshöhepunkten
c) Von der ersten Ahnung bis zur Lösung des Falles: Andeutungen

5. Zeitverhältnisse als Spannungselemente
a) Reihenfolge des Erzählens
b) Dauer der Darstellung

6. Buch- / Filmvergleich

7. Zusammenfassung

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Hausarbeit geht der Frage nach, was den Roman „Das Schweigen der Lämmer“ von Thomas Harris auszeichnet. Was ist das Fesselnde an diesem Roman? Wodurch entwickelt er Spannung? Der Aufbau des Buches, seine Spannung gebenden Elemente sollen analysiert und anschließend mit der Inszenierung des Filmes verglichen werden.

Zu Beginn der Arbeit soll die Strukturierung der Diskursebene des Romans aufgeschlüsselt werden. Die Diskursebene bildet den Prozess des Erzählens ab und legt dar, wie die Geschichte erzählt wird.

Hierzu soll zunächst die Funktion des Erzählers erörtert werden, um so die Zeichen herauszuarbeiten, die auf die Existenz einer Erzählinstanz verweisen und die deren Bedeutungsfeld abgrenzen.

Anschließend soll die Figurendarstellung näher untersucht werden, und bestimmte Text konstruierende Merkmale, die mit dem spannungsgeladenen Zusammenspiel der Figuren korrelieren, werden hervorgehoben.

Die Handlungsstränge und deren Relation zueinander sollen ebenso bestimmt werden wie die syntaktischen und textspezifischen Auffälligkeiten. Wo liegen Höhepunkte? Inwiefern ergeben sich an diesen Stellen textspezifische Änderungen?

Das fünfte Kapitel widmet sich den Zeitverhältnissen innerhalb des Romans. Die Zeitverhältnisse beziehen sich zum einen auf die Reihenfolge des Erzählens, das heißt, inwiefern wurde die Chronologie der Geschichte auf der Diskursebene eingehalten bzw. geändert. Zum anderen soll dem Verhältnis von erzählter Zeit zu Erzählzeit nachgegangen werden, die Frage erörtert werden, ob raffendes, deckendes oder gedehntes Erzählen vorliegt.

Den Abschluss bildet ein Buch- / Filmvergleich. Hierbei soll nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei Roman und Film um zwei unterschiedliche Medien handelt, die beide eigenen Strukturvorgaben unterliegen. Ein bloßes Schauen auf fehlende oder geänderte Handlungsabschnitte wäre zu kurz gegriffen und würde den verschiedenen Medienformen nicht gerecht werden. Daher wird kein Vergleich der beiden Geschehensebenen stattfinden und auf fehlende oder geänderte Sequenzen verwiesen werden, sondern der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Erzähltechnik des Buches im Film verwirklicht wurde bzw. wo Unterschiede bestehen.

Die erzähltechnische Analyse orientiert sich hauptsächlich an dem Werk von Martinez und Scheffel „Einführung in die Erzähltheorie“ mit Rückbezug auf die erzähltechnische Terminologie von Gérard Genette (2005). Die filmtechnische Analyse mit ihrer Unterscheidung in Tiefen- und Oberflächenstruktur erfolgt unter Berufung auf die „Erzählsituationen in Literatur und Film“ von Matthias Hurst (1996).

2. Der Erzähler

a) Die Dynamik der Wechsel: Perspektiv- und Distanzwechsel

Die Darstellung einer Geschichte erfolgt stets gefiltert durch eine Erzählinstanz. Wie deutlich diese Erzählinstanz zu spüren ist, hängt von dem Grad ihrer Vermittlung ab. Erscheint das Geschehen sehr vermittelt, ist auch die Distanz zur Handlung groß. Erfolgt hingegen eine unvermittelte Darstellung, eine Darstellungsweise, in der der Erzähler (fast) nicht zu spüren ist, so ist die Distanz zum Geschehen gering. Auch wenn laut Schwab bei literarischer Rezeption stets ein „Mindestmaß an Distanz“ (2006, S. 17) beibehalten wird, so wird doch der Anschein großer Nähe zur Figur geweckt.

Martinez und Scheffel bezeichnen diese Gegenpole als „narrativen“ (mit Distanz) und „dramatischen“ Modus (ohne Distanz) (2005, S. 49).

Der dramatische Modus tritt beispielsweise in der Dialogform zu Tage. Die dabei praktizierte szenische Darstellungsweise, nach Martinez und Scheffel als „zitierte Figurenrede“ (2005, S. 51) bezeichnet, findet sich häufig im „Schweigen der Lämmer“.

Der narrative Modus hingegen findet sich beispielsweise im Erzählerbericht. Hierbei ist der Erzähler deutlicher zu spüren, eventuell gibt er Kommentare oder spricht gar eine Leserinstanz an. Die Distanz zur Handlung scheint im Gegensatz zum dramatischen Modus erhöht.

Doch ist damit nicht die Frage geklärt, wer das Geschehen wahrnimmt, aus welcher Perspektive erlebt wird. Ist der Wahrnehmende der Erzähler, der eventuell in Kommentaren oder Erläuterungen sein Mehr-Wissen ins Geschehen einbringt, so handelt es sich nach Genette um eine Nullfokalisierung (1998, S. 134).

Zeigt der Erzähler nicht mehr und nicht weniger Wissen als seine Figuren, so herrscht Mitsicht (interne Fokalisierung). In diesem Fall werden häufig Gedanken und Gefühle einer Figur oder mehrerer Figuren herausgearbeitet, sodass sich der Leser auf Figurenebene in das Geschehen integriert fühlt.

Externe Fokalisierung herrscht bei Außensicht vor. Hierbei bleiben Äußerungen bzgl. des Innenlebens der Figuren außen vor. Der Erzähler beschreibt auf neutrale Weise die wahrnehmbaren Verhaltensweisen (Martinez / Scheffel 2005, S. 64).

Der Roman „Das Schweigen der Lämmer“ soll nun zum einen bezüglich der Distanz der Erzählebene zur Handlungsebene, also der Potentiale „narrativer Modus“ und „dramatischer Modus“ untersucht werden, und zum anderen bezüglich der Perspektive, aus der erlebt wird.

Bei einer gesamtumfassenden Einordnung des Romans muss festgehalten werden, dass der dramatische Modus, eine szenische Darstellungsweise überwiegt. Der Erzähler scheint eliminiert, die Distanz zum Geschehen ist gering, denn der Text lebt geradezu durch Dialoge und szenische Handlungsdarstellungen, sodass uns die Handlung vergegenwärtigt wird und mitreißt. Lämmert hält hierzu fest: „Die Befreiung vom ausdrücklichen Eingriff des Erzählers bewirkt, dass die Person selbst in voller Gegenwärtigkeit vor dem Leser steht“ (1955, S. 236).

Selbst Nebenfiguren werden blitzlichtartig mit einer inneren Regung gezeigt oder in medias res dramatisch in Szene gesetzt, wie zum Beispiel Jonetta Johnson:

Die zehn Sekunden, seit ihr WPIK-Übertragungswagen rutschend zum Stehen gekommen war, genügten Jonetta Johnson, um ihre Ohrringe anzulegen, ihr schönes braunes Gesicht zu pudern und die Lage zu sondieren. [...] Jonetta Johnson roch einen Neuling hundert Meter gegen den Wind. (S. 62)

Wir haben vorher mit keinem Wort erfahren, wer Jonetta Johnson ist, und doch wird sie uns präsentiert, als sei sie längst eine alte Bekannte. So umschreibt der erste Satz nicht die Figur Jonetta, sondern die Handlung, die sie unternimmt. Diese szenisch aktive Präsentation ist typisch für den Roman. Sie verleiht ihm Dynamik und Tempo.

Und dennoch ist eine Erzählinstanz gegenwärtig, auch wenn man sie zwischen den Dialogen, internen Fokalisierungen und temporeichen Handlungssequenzen beinahe ein wenig frei pusten muss wie eine verstaubte, alte Figur. Zum einen ist eine Erzählinstanz auch in szenischen Handlungsabläufen vorhanden. Das eben erwähnte Beispiel ist zwar nah an der Handlung, an der Figur, doch geschieht dies nicht ungefiltert, denn der Erzähler übermittelt uns das Geschehen. Zu erkennen ist dies an der grammatikalischen Form dieses Textausschnittes, die dem Erzähldiskurs angepasst ist (Er-Form und Präteritum). Dennoch ist im oben genannten Beispiel und an vielen anderen Stellen im Roman die Distanz zwischen Erzähler und Geschehen bzw. Figur sehr gering. Im Strudel von kurzen Fokalisierungsausschnitten und rascher Handlungsabfolge wird der Leser mitgerissen, wird ihm keine Möglichkeit zu einem sicheren Überblick über das Geschehen gegeben.

Doch wird die Handlung nicht durchgehend im dramatischen Modus präsentiert. Zwischendurch dominiert – stets kurzzeitig – der narrative Modus, um dann wieder in den dramatischen Modus zu wechseln. Fast scheint es so, als betrachte der Erzähler seine „Handlungsbausteine“ hin und wieder aus der Luft, kommentiere oder erläutere diese und tauche dann wieder auf Figurenebene ab.

Die Mischung aus szenischer Darstellungsweise, präsentiert aus einem Wechsel von das Geschehen entwickelnden Handlungsdarstellungen und Handlung aus Figurensicht in Form von Dialogen, inneren Monologen und erlebter Rede, und narrativem Modus, bestehend aus Bewusstseinsbericht bis hin zum kurzen Aufflackern allgemeiner Reflexionen des Erzählers, diese Mischung, die von einem raschen Wechsel lebt, bei der die szenische Darstellung im Vordergrund bleibt, bestimmt den Erzählrhythmus.

Die Wechsel finden nicht nur bezüglich der Distanz des Erzählers statt, sondern zudem zwischen verschiedenen Figurensichtweisen und dem Erzähler. Zur Erläuterung von Perspektiv- und Distanzwechseln möchte ich hier ein kurzes Beispiel geben.

Atemzüge verstrichen. Der kleine Hund tippelte oben in der Küche herum, winselte, schleifte etwas scheppernd, klappernd über den Boden, vielleicht seinen Napf. Kratzen, über ihr Kratzen. Und wieder Bellen, kurz und scharf, diesmal nicht so deutlich, wie es immer war, wenn der Hund über ihr in der Küche war. [Figurensicht Catherine]. Denn der kleine Hund war nicht in der Küche. Er hatte mit der Schnauze die Tür aufgestupst, und jetzt war er unten im Keller, wo er Mäuse jagte, wie er das schon vorher getan hatte, wenn der Mann weg gewesen war. [Erzähler] (S. 279/280) [...] Der kleine Hund in einem Kellerraum in der Nähe, inmitten von Spiegel und Schaufensterpuppen. [Erzähler]

[...] Jetzt eine Stimme, die schwach durch den Keller hallt. [Precious]

„Preeeee-cious.“ [Catherine]

Der kleine Hund bellte und sprang auf der Stelle hoch. Mit jedem Kläffen bebte sein fetter kleiner Körper. [Erzähler]

Jetzt das Geräusch eines feuchten Kusses. [Precious]

Der Hund blickte zur Decke hoch, über der die Küche lag [Erzähler], aber von dort kam das Geräusch nicht. [Precious]

Wiederholtes Schmatzen, als ob jemand äße. [Precious]

„Komm, Precious. Komm, meine Süße.“ [Catherine] (S. 281 / 292)

In diesem Beispiel findet sowohl ein ständiger Wechsel der Perspektiven statt als auch der Distanz. Direkte Figurensicht findet in der wörtlichen Rede statt, doch auch die Figurenmitsicht bei Precious ist zum Teil der Wahrnehmung des Hundes sehr nahe. „Wiederholtes Schmatzen, als ob jemand äße“ ist Precious’ Wahrnehmung, denn er ist derjenige, der sich über die Geräusche wundert. Im Satz zuvor hingegen ist die Distanz zu seiner Wahrnehmung etwas größer („...aber von dort kam das Geräusch nicht.“). Die mit wenig Distanz dargestellte Wahrnehmung des Hundes im Satz „Wiederholtes Schmatzen, als ob jemand äße“ (S. 282) ergibt sich aus dem fehlenden Verb und dem fehlenden Personalpronomen (zum Beispiel: er hört(e) ein wiederholtes Schmatzen). Der Satz ist unvollständig und kann nahezu als ungefilterte Wahrnehmung des Hundes angesehen werden.

Bereits diese kurze Szene bietet Fokalisierungswechsel zwischen verschiedenen Figuren bzw. zwischen Figur und Erzähler, Variationen in der Distanz des Erzählers zum Geschehen, Tempuswechsel und einen Wechsel zwischen vollständigen und unvollständigen Sätzen.

Diese Textgestaltung, kombiniert mit der heiklen und unter Zeitdruck zu lösenden Aufgabe auf der Geschehensebene, liefert die Dynamik, die die Geschichte unter Spannung hält.

b) Den Leser auf Kurs halten:
Realitätsnähe, Lesereinbezug, Erzählhaltung

Im „Schweigen der Lämmer“ wird punktuell eine Erzählinstanz hervorgehoben. Insbesondere die im Präsens geschriebenen Textstellen akzentuieren diese Erzählinstanz. In allgemeinen Erläuterungen werden uns bestimmte Sachlagen oder Vorgehensweisen darlegt oder Gebäude werden glaubwürdig in einer bestimmten Umgebung situiert, sodass wir den Erläuterungen Glauben schenken, uns gut und verlässlich informiert fühlen. Der Erzähler steht hierbei für Glaubwürdigkeit, für die Annäherung der imaginären Lebenswelt der fiktionalen Ebene an die reale Lebenswelt des Lesers. Diese Möglichkeit des Erzählers halten auch Martinez und Scheffel fest: „Zu diesem Freiraum gehört, dass die Sätze der fiktionalen Erzählrede die Illusion einer faktualen Erzählung fördern [...] können“ (2005, S. 19). Ganz egal, ob die Abteilung Verhaltensforschung in Wirklichkeit, in der realen Welt des Lesers, im untersten Gebäude der Academy untergebracht ist oder nicht, durch die sachlich informierende Tonart, die, im Präsens geschrieben, den faktualen Stil einer realen Berichterstattung nachahmt, fühlt sich der Leser glaubwürdig informiert. Eberhard Lämmert schreibt zur Illusion der Wirklichkeit:

Durch denselben Akt, durch den der Dichter die Distanz zum Erzählten vergrößert, verringert er die Distanz zum erzählenden Ich. Denn indem er selbst eine Unterscheidung zwischen Erzählung und Wirklichkeit macht, schafft er dem Leser um so eher die Illusion seiner persönlichen Wirklichkeit und Nähe! (1955, S. 69)

Das bedeutet, dass ein sich zu erkennen gebender Erzähler, eine vermittelnde Instanz, die Authentizität des Gesagten und somit die Glaubwürdigkeit unterstützt.

Hier möchte ich einige Textstellen zitieren, die den Erzählerbericht im Präsens zeigen:

Bereits der erste Satz des Romans (S. 7) erfolgt im Präsens vom hohen Standpunkt einer Erzählinstanz aus. Sie informiert uns sachlich über die Lokalität der Abteilung Verhaltensforschung und über deren Zuständigkeitsbereich: Serienmorde. Danach folgt ein Wechsel ins Präteritum und nach der ersten Lokalisierung beginnt nun die Handlung: Clarice Starling – die Hauptfigur – kommt „dort“ an. Hier tritt bereits unsere Hauptfigur in Erscheinung, doch sind wir noch nicht auf Figurenperspektive. Noch beobachten wir zusammen mit dem Erzähler aus einiger Entfernung die Szenerie. Das Zeigewort (Deixis) (Fludernik 2006, S. 164) „dort“ deutet dies an. Aus Figurensicht käme Clarice „hier“ an, hier, bei der Abteilung Verhaltensforschung, „im untersten Geschoß der Academy in Quantico“.

Doch bereits im ersten Drittel der Seite erhalten wir einen kurzen Bewusstseinsbericht von Clarice („Sie wusste, sie sähe...ganz passabel aus.“ (S. 7)). Der Bewusstseinsbericht ist eine erzählte Figurenrede, in der der Erzähler als vermittelnde Instanz mal mehr, mal weniger zu Tage treten kann (Martinez / Scheffel, S. 55-58). Noch sind wir nicht auf Figurenebene, doch erhalten wir bereits einen Einblick in das Bewusstsein von Starling.

Ähnlich wie in dieser Anfangsszene verfährt der Erzähler bei weiteren Ortsbeschreibungen, die er ebenfalls im Präsens offeriert. So zum Beispiel auf Seite 21 die Beschreibung von Lecters Zelle, auf Seite 50 / 51 die Erläuterungen zu Split City oder auf Seite 86 die Erläuterungen zum Potter Funeral Home und dessen Leichenbeschauer Dr. Akin.

Ein weiterer, vom Erzähler im Präsens verfasster Bericht ist die Ausbreitung von Jame Gumbs Kellerräumen vor den Augen des Lesers ab Seite 215. Auch hier liefert er viele Präsenspassagen und zeigt uns zudem, wie gut er sich mit den Verhaltensweisen von Jame Gumb, dessen Vergangenheit und seinem derzeitigen Handeln, auskennt. Er erweist sich als ein Erzähler, der seine Figur Jame Gumb genau kennt. So erfahren wir im Gegensatz zu den Figuren, dass sie mit dem von Lecter genannten Namen „Billy Rubin“ auf der falschen Fährte sind. Die Erkenntnis, dass die Figuren in die falsche Richtung arbeiten, zusammen mit dem Wissen um den begrenzten Zeitstrahl der Geschehensebene, dramatisiert den Verlauf.

Auf Seite 261 erläutert uns der Erzähler ebenfalls glaubwürdig eine Situation, wie sie „normalerweise“ abläuft im Präsens, um gleich darauf im Präteritum zur Besonderheit dieses konkreten Falles zu springen.

Um das zu vermeiden, lässt SWAT normalerweise bis auf einen Apparat für den Unterhändler sämtliche Telefone abschalten. Dieses Gebäude war zu groß, die Büros zu zahlreich. (S. 261)

Das Präsens umschreibt die allgemeine, glaubwürdige Aussage, im Präteritum versetzt uns der Erzähler zurück in die Fiktion, an den konkreten Ort und den Zeitpunkt, an dem die Handlung weiterläuft.

Um Ort und Zeitpunkt und allgemeine Reflexion geht es im folgenden Textausschnitt.

Fast jeder Ort hat einen Moment des Tages, einen Einfallswinkel und eine Intensität des Lichts, bei der er am besten aussieht. Wenn man irgendwo festsitzt, findet man diesen Moment heraus und freut sich auf ihn. (S. 340)

Die Distanz (hervorgehoben durch die Umschreibung mit „man“) und die Allgemeingültigkeit dieser im Präsens verfassten Reflexion lässt sie dem Erzähler zukommen. Die vorhergehende Textpassage zeigt Starling am Wasser. Der nachfolgende Text wandelt sich in Figurensicht „Für den Licking River hinter der Fell Street war wahrscheinlich jetzt, der mittlere Nachmittag, diese Zeit.“ Das Zeigewort „diese“ verweist allerdings auf den vorhergehenden Satz. Somit ist dieser Satz noch mit der Erzählerperspektive verbunden, auch wenn ein Wechsel ins Präteritum stattgefunden hat. Andererseits verweist das Zeitadverb „jetzt“ auf Figurensicht, denn Clarice Starling steht in dem Augenblick am Flussufer und aus ihrer Sicht ist dieser Augenblick „jetzt“. Die zusätzliche Erklärung „der mittlere Nachmittag“ fördert wiederum den Erzähler zutage, der uns erklären möchte, welcher Zeitpunkt Starlings „jetzt“ ist. Ordnet man nun das Adverb „wahrscheinlich“ dem Erzähler zu, so zeigt sich an dieser Stelle eine Unsicherheit des Erzählers. Mit letzter Sicherheit kann keine Zuordnung vorgenommen werden und ist wohl vom Autor auch so intendiert, denn genau das macht den Reiz dieser Textpassage aus, dass zusätzlich zur Unsicherheit der Figuren, zu deren verzweifeltem Suchen nach der Lösung, hier, auf einer anderen Ebene, der Diskursebene, eine weitere Unsicherheit, die Unsicherheit der Zuordnung, hinzukommt. Hierdurch wird eine Mehrschichtigkeit erlangt, die so undurchschaubar wie der Licking River selbst ist, mit all dem Taubenblut und seinen alten, am Ufer abgeladenen Kühlschränken und Herden, die, dank des Lichteinfalls, nicht zu erkennen sind, sodass die Zuordnung so rätselhaft wie der gesamte Fall erscheint.

Der nächste Satz ist ebenfalls nicht eindeutig zuzuordnen: „War das des Bimmel-Mädchens Zeit zum Träumen?“ (S. 340). Betrachtet man diesen Satz als einen aus der Figurensicht, so stellt er einen inneren Monolog dar. Er lässt sich jedoch ebenso gut als gedankliche Reflexion dem Erzähler zuordnen, denn in Starlings direkter Figurenrede kam bisher nie die Zusammensetzung „Bimmel-Mädchen“ vor, sie hat sie stets als Fredrica bezeichnet. Daher ist diese Umschreibung eher dem Erzähler zuzuordnen, der hier somit nochmals eine Unsicherheit bekundet, die die Rätselhaftigkeit und Spannung der Handlung reflektiert. Dieser Absatz zeigt neben der häufig wechselnden Perspektive, dass die Variabilität, die Vielschichtigkeit zusätzlich dadurch unterstrichen werden kann, dass die Sätze mehrere Zuordnungsmöglichkeiten offerieren und dadurch eine Spannung erzeugen wie ein Sprungtuch, an dem helfende Hände von allen Seiten ziehen. Es ist ein Gemeinschaftswerk, um die Spannung zu erhalten, darf keine Hand nachlassen.

An einigen Stellen des Romans bezieht der Erzähler einen externen Leser (Fludernik 2006, S. 174) in seine Reflexionen und Erläuterungen mit ein. Auch hierbei findet ein Wechsel ins Präsens statt.

Die folgenden Textausschnitte beziehen den Leser mit ein:

[...] für die gedankenlose Brownsche Bewegung in unserer Bevölkerung; (S. 50/51)

[...] weil weibliche Serienmörder in unserer Zeit praktisch unbekannt sind. (S. 79)

Wir erhalten selten Gelegenheit, uns auf Wiesen oder kiesbestreuten Wegen vorzubereiten; wir tun es kurzfristig, an Orten ohne Fenster, in Krankenhausfluren oder Räumen wie diesem Aufenthaltsraum mit seinem rissigen Plastiksofa und den Cinzano-Aschenbechern, wo triste Vorhänge blanken Beton verdecken. In Räumen wie diesem studieren wir unter Zeitdruck unsere Gesten ein, bis sie uns in Fleisch und Blut übergehen, damit wir sie auch noch machen können, wenn wir, den Untergang vor Augen, in Panik geraten. (S. 170/171)

Von Raum zu Raum zieht sich Jame Gumbs Keller hin wie das Labyrinth, das uns in Träumen narrt. (S. 215).

Rätsel lösen ist wie jagen; es ist ein grausames Vergnügen, und wir sind dafür geboren. (S. 334)

[...] Mapp wusste trotzdem, dass der Rhythmus der Waschmaschine wie ein mächtiger Herzschlag war und das Strömen des Wassers das, was die Ungeborenen hören – unsere letzte Erinnerung an Frieden. (S. 368) [Sämtliche Kursivschreibweisen sind von mir vorgenommen worden].

Bei den Lesereinbeziehungen durch die Pronomen „wir“ und „uns“ handelt es sich stets um allgemeine Reflexionen, die nachfolgend meist wieder bei einem konkreten Punkt in der Geschichte ansetzen und diese weiter führen. Vier Mal konkretisiert sich die allgemeine Reflexion hin zur Figurensicht von Clarice Starling, einmal zu Jame Gumb, einmal entsteht sie aus der Figurenmitsicht mit Mapp.

Doch warum bezieht der Erzähler den Leser mit ein? Unmerklich zieht er ihn auf seine Seite und platziert ihn mit einer von ihm gewünschten Haltung gegenüber dem Geschehen und den Figuren in seiner Geschichte. Diese Haltung wird in der Erzähltheorie mit dem „impliziten Leser“ (Fludernik 2006, S. 174) benannt. Zusammen mit Starling löst sich bei uns ein Spannungsknoten und wandelt sich in „grausames Vergnügen“, denn „wir sind dafür geboren“ (S. 334).

Die Leseransprache erfolgt nicht sehr häufig, denn um der Entwicklung der Dramatik nicht entgegen zu wirken, muss sich der Erzähler im Hintergrund halten, die Handlung szenisch dramatisch präsentieren. Doch gerade deswegen sind diese kleinen Einsprengsel, die uns unmerklich eine bestimmte Haltung einnehmen lassen, textgestalterisch wichtig. Thomas Harris arbeitet hier mit einem Erzähler, der den Leser unbemerkt beeinflusst. Um Einflussnahme geht es auch einem wertenden Erzähler, der in diesem Roman ebenfalls lokalisierbar ist.

[...]

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Warum schweigen die Lämmer so schaurig?
Untertitel
Erzähltheoretische Analyse des Spannungsaufbaus im Roman "Das Schweigen der Lämmer" mit anschließendem Buch-/Filmvergleich
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
gut
Autor
Jahr
2007
Seiten
44
Katalognummer
V143808
ISBN (eBook)
9783640530779
ISBN (Buch)
9783640531073
Dateigröße
524 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erzählhaltung, Figurensicht, Darstellungstechniken, Handlungsstränge, Zeitverhältnisse, Buch- / Filmvergleich
Arbeit zitieren
Petra Brüning (Autor:in), 2007, Warum schweigen die Lämmer so schaurig?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143808

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