Christa Wolf - Kassandra: Eine Interpretation

"Wer wird wann die Sprache wiederfinden ?"


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2010

57 Seiten


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Vorbemerkung

1. Vorüberlegungen oder Wozu braucht es Interpretationen ?

2. Konkrete Zielsetzung oder Warum sich ausgerechnet mit Kassandra beschäftigen ?

3. Die Textanalyse
3.1. Form und Struktur
3.1.1. Die zwei Erzählebenen
3.1.2. Über den Vorwurf, ein Vor-Bild geschaffen zu haben
3.1.3. Überprüfung am konkreten Text
3.1.3.1. Eckpfeiler I : Die Ausgangssituation des Textes
3.1.3.2. Eckpfeiler II : Das Ende des Textes
3.1.3.3. Die Struktur des Dazwischen
3.1.3.4. Die Rückkehr zu Eckpfeiler I
3.2. Aussage
3.2.1. Einleitende Überlegungen
3.2.2. Der in der Reflexion eingeholte Werdegang Kassandras
3.2.2.1. Schritt 1 : Das Selbstverständnis einer Königstochter oder Das Schwierigste nicht scheuen, das Bild von sich selbst ändern
3.2.2.2. Schritt 2 : Der Sinn des Wahns oder Dass sie die Fragen nicht einmal verstanden, auf die ich Antwort suchte
3.2.2.3. Schritt 3 : Von der Angst zur Utopie oder Lebendige Ruhe. Liebesruhe
3.2.3. Die Personenkonstellation rund um Kassandra
3.2.3.1. Die Kategorien "Biophilie" und "Nekrophilie" bei Erich Fromm
3.2.3.2. Fehlformen menschlichen Verhaltens : die Anderen, die Männer und die Griechen
3.2.3.3. Die deformierten Charaktere
3.2.3.3.1. Die deformierten Männer
3.2.3.3.2. Die deformierten Frauen
3.2.3.4. Die nicht deformierten Charaktere

4. Differenzierungen

Anmerkungen

Literatur

Vorbemerkung :

Wer die nachfolgenden “Vorüberlegungen” liest, wird verstehen, dass die Intention dieser Arbeit nicht darin besteht, eine mehr oder weniger “griffige” Interpretation des “Kassandra”-Textes zu bieten. “Schreiben” ist mehr, als griffige Rezepte zu liefern. Gleichwohl weiß ich als Lehrer um die Nöte mancher Schüler, sich einen Einblick in einen Text verschaffen zu wollen. Daher werde ich mich bemühen, den Text so aufzubauen, dass auch ein bloßer Informationssuchender sich zurecht- finden kann - er wird sich Mühe geben müssen, doch sei ihm versichert, dass ich versuche, jedes Kapitel in sich geschlossen darzustellen, so dass man auswählen kann (vornehm gesprochen : selektiv vorgehen kann). Dazu studiere man zunächst das Inhaltsverzeichnis. Unverzichtbar erscheint mir allerdings, sich erst einmal mit den Strukturmerkmalen des Textes vertraut zu machen (Kapitel 3.1.), bevor man sich der konkreten Textanalyse zuwendet. Unverzichtbar scheint mir auch, sich zuvor mit Christa Wolfs Vorlesungen (es handelt sich um die sog. "Frankfurter Vorlesungen" mit dem Titel Voraussetzungen einer Erzählung) beschäftigt zu haben - eine kommentierte Übersicht findet sich auf meiner Internetseite unter www.philosophersonly.de. Ein Letztes, Selbstverständliches : eine Textauslegung wie die folgende ersetzt nicht die präzise Textlektüre, sondern setzt diese zwingend voraus.

1. Vorüberlegungen oder Wozu braucht es Interpretationen ?

Schreiben - für wen ? Schreiben über anderes Schreiben - warum ? Unnötige Verdoppelung ? Oder Teil einer uns not-wendig auferlegten Arbeit ? Wer hat auferlegt, und welche Not soll gewendet werden ? Angesichts des elenden Zustandes unseres Lebensraumes erscheint letztere Frage reichlich deplaciert; erstere soll hier nicht weiter untersucht werden. Auszugehen ist vom Faktum des Bewusstseins, das uns (von wem auch immer) gegeben ist, auszugehen auch ist von der Bedeutung dieses Faktums, die darin besteht, dass wir nicht anders können, als uns zu dem zu verhalten, was uns begegnet. Das Bewusstsein vermag zu bestätigen oder zu nichten oder zu verändern - Stellung nehmen muss es. Das Bewusstsein kann nicht nicht Stellung nehmen.

So ist auch die Frage müßig : Schreiben über Schreiben - warum ? Weil wir nicht anders können, weil es unsere ureigenste Aufgabe ist, mitzuschreiben am “Text der Welt”, meint : ihn fortzuschreiben, ihn, den “unendlichen Text”. Welt begegnet uns und Schreiben über die Welt - beidem gegenüber sind wir zur Stellungnahme nicht nur aufgefordert, sondern von der Struktur unseres Bewusstseins her verpflichtet. “Verurteilt” würde Sartre sagen.

Ein Text ist ein “Gewebe”, das mitunter schwarz auf Weiß vor uns liegt und den Eindruck der Abge- schlossenheit vermittelt. “Da steht es, schwarz auf Weiß” - so sagt man. Wer so sagt, kann für sich in Anspruch nehmen, ein recht kindlich-naives Verhältnis zu Texten zu haben : genauer - zu fiktionalen Texten. Deren Gewebe nämlich entpuppt sich dem, der allzu geradlinig zu Werke geht, oft als ein Gewebe von Fallstricken.

Fiktionale Texte zeigen sich dem erstaunten Leser als offene Gebilde - offen, weil der Leser beim intensi- ven Lesen merkt, dass er den Text ganz anders liest als ein anderer und auch als er selbst noch einige Zeit zuvor. Fiktionale Texte haben Leerstellen und provozieren Bilder - wir haben sie zu füllen bzw. auszu- legen.

Es eröffnet sich uns ein Auslegungsspielraum, in dem unser Bewusstsein tätig wird (egal, ob in der Funktion des analysierenden Verstandes oder der der produktiven Einbildungskraft), und so wird klar, was es heißt, dass ein fiktionaler Text polyvalent ist.

Gegenstand dieses Textes ist das, was wir “Welt” nennen, ein Labyrinth, das von uns nicht durchschaut werden kann. Vergebliche Mühe der sich durch ihre Methoden selbst kastrierenden “Naturwissenschaft” (welch ein Frevel an der Natur !) oder der ins Grübeln versunkenen Philosophen, die sich ihren Kopf zerbrechen darüber, “was die Welt im Innersten zusammenhält”. Haben wir unseren Kopf zum Zerbrechen erhalten oder zur phantasievollen Betrachtung der Welt mit dem Ziel : Es kömmt darauf an, sie zu verändern.

Diese Arbeit geht von der These aus, dass jeder Leser vor der lustvollen Aufgabe steht, den Text eines Autors zu potenzieren : Er antwortet auf die Fiktion des Autors mit seiner Fiktion (1), und so kommt der Text, solange auf ihn reagiert wird, zu keinem Abschluss - er wird von Leser zu Leser zu einem “unendlichen Text” (2), darauf aus, die Sichtweisen auf das Labyrinth dieser Welt zu potenzieren, stets in dem Bewusstsein, damit unseren ureigensten menschlichen Möglichkeiten zu entsprechen, indem wir bestehende Vor-Stellungen auf ein Anderes hin überschreiten, transzendieren.

Die eingangs gestellten Fragen haben sich damit beantwortet : Warum ein Text über einen Text ? Weil wir darauf angelegt sind, den Text der Welt nicht nur zu lesen, sondern auch fortzuschreiben. Wir verän- dern damit unsere Welt, machen sie reicher. Schreiben für wen ? Zunächst einmal für sich selbst. Schrei- ben ist bewusstseinserweiternd; Schreiben ist persönlichkeitsbildend; Schreiben ist aber auch welt- und geschichtsbildend, und über letzteren Aspekt ist es eine allen Menschen gemeinsame Aufgabe. Über diese Art unserer“ Verurteilung” sollten wir uns freuen. Wir dürfen nicht nur nicht, wir wollen die Welt auch nicht so lassen, wie sie ist. In ihrer Veränderung auf Offenes hin besteht unsere vornehmste Aufgabe. Es ist, recht besehen, ein lustvolles Unterfangen. Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde !

2. Konkrete Zielsetzung oder Warum sich ausgerechnet mit Kassandra beschäftigen ?

Aus Punkt 1, den Vor-Überlegungen, folgt die Zielsetzung : vom eigenen Stand-Ort aus den Text sich so anzueignen, dass der eigene Stand-Ort in Bewegung übergeht, der Stand-Punkt variiert, Fest-Setzungen aufgehoben werden.

Körperlicher Standort ist derzeit ein Rückzug in ein entlegenes Tal der Eifel, die Straße ist ein Weg, keine Sackgasse, aber für den Nicht-Anlieger gesperrt. Kein Internet-Anschluss, Funkloch obendrein - es sieht aus wie ein Rückzug in die Besinnung, in die Konzentration und ist als solcher sehr willkommen. Es erin- nert an das Bild vom “Weg nach Innen” des Novalis, ein Weg, der zum Eigentlichen führen soll. Aber so, wie das nur der halbe Novalis ist (Der erste Schritt wird Blick nach innen - absondernde Beschauung unsres Selbst - Wer hier stehn bleibt geräth nur halb. Der 2te Schritt muss wircksamer Blick nach außen - selbstthätige, gehaltne Beob-- achtung der Außenwelt seyn - 3 -), so ist diese Konzentration nur deshalb eine Konzentration auf das Wesent- liche, weil die Auseinandersetzung (hier : mit dem Kassandra-Text) zu einer anderen, differenzierteren Begegnung mit der Welt führen soll. Damit ist noch einmal deutlich betont : Es geht um meinen Weg, und ich werde meinen Weg durch das Labyrinth des Textes zu gehen versuchen. Anderen kann es nur ein Bei-Spiel sein. Wenn es denn der Wahrheits-’Findung’ dient

Die Sekundärliteratur ist von mir in (nach meiner Meinung) maßgeblichen Teilen zur Kenntnis genommen worden; sie ist im Literaturverzeichnis aufgelistet. Konkret werde ich mich nur dort beziehen, wo es der inhaltlichen Präzisierung dienlich erscheint. Dennoch möchte ich eine Ausnahme vorweg machen : Zwei Interpretationsversuche haben mir auf meinem Weg besonders weitergeholfen - die einige Vor- kenntnisse voraussetzende Arbeit von Marion Schmaus ("Die poetische Konstruktion des Selbst"), die, wie der Untertitel schon sagt, "Grenzgänge" darlegt "zwischen Frühromantik und Moderne", zwischen "Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault", und die Christa Wolfs Werk beleuchtende Analyse von Irmgard Nickel-Bacon, "Schmerz der Subjektwerdung".

"Selbst" und "Subjekt" sind in der gegenwärtigen Diskussion zu problematischen Begriffen geworden. Ist das "Subjekt" wirklich noch das bedeutsame, den Weltentwürfen "zu Grunde Liegende"; ist die Annahme eines "Selbst" nicht eine überkommene und als solche nicht mehr haltbare Fiktion ? Haben (u.a.) nicht die Psychoanalyse, die Hirnforschung oder auch der Post-Strukturalismus gewaltige Geschütze aufgefahren, um die Vorstellung einer unserem Ich zugrunde liegenden einheitlichen Substanz zu erschüttern - im Dienste einer Auseinandersetzung mit überkommenen Ordnungs-Strukturen ? Und ist diese Auseinander-Setzung nicht sinn-voll ? Ja, denn Ordnungs-Strukturen schränken ein - und nein, denn Ordungs-Strukturen geben Orientierung und Halt.

Wir werden uns mit diesen Fragen noch auseinanderzusetzen haben.

Während ich diese Zielsetzung zu formulieren versuche ("Ziel" und "Setzung" gehören zu den ungern verwendeten Begriffen innerhalb eines offenen beweglichen Denkens), liest meine Frau mir eine Passage aus einem Buch der Wende zum 20. Jahrhundert vor, die Schilderung der gesellschaftlichen Erlebnisse einer Frau aus privilegierten, sog. "aufgeklärten" Kreisen, die ich zur Illustration des in Kassandra anstehenden Themas hier zitieren möchte :

Die Leute, die hier auf dem Gut von März bis Dezember arbeiten, sind lauter Russen und Polen oder eine Mischung von beidem. Während eines Ausrittes mit ihrem Mann, den sie nur "den Grimmigen" nennt, führt sie mit ihm ein Gespräch über die Lebensbedingungen dieser Leute, vor allem aber über die Frauen, die sie bemit- leidet, da sie ihr nur als fremdbestimmte Gebärmaschinen erscheinen : "Es ist", fuhr der Grimmige fort, "eine allgemein verbreitete Sitte bei den Russen und ich glaube auch sonst überall bei den untern Klassen - und sicherlich empfeh- lenswert wegen der Einfachheit der Prozedur -, Protest und Begehren einer Frau zum Schweigen zu bringen, indem man sie einfach niederschlägt. Ich habe mir sagen lassen, dass diese dem Anschein nach brutale Handlung keineswegs die auf- reizende Wirkung hat, wie zartbesaitete Seelen annehmen könnten, und dass die Patientin sich so rasch und vollkommen beruhigt, ja zufriedengibt, wie man es durch andere, höflichere Methoden niemals erreicht. Glaubst du etwa", redete er weiter und hieb im Vorbeireiten mit seiner Peitsche einen Zweig ab, "dass der intelligente Ehemann, der sich intelligent mit den wirren Wünschen seiner intelligenten Frau abmüht, je das gewünschte Ergebnis erzielt ? Mag er sich noch so bis zur Er - schöpfung mühen, nie wird er ihr auch nur im geringsten ihre eigene Torheit bewusst machen können (...)."

"Bitte sprich weiter", sagte ich höflich.

"Diese Frauen nehmen ihre Schläge hin mit einer Bescheidenheit, die ausgesprochenes Lob verdient; und weit davon entfernt, gekränkt zu sein, bewundern sie die Kraft und Energie desjenigen, der solch beredten Tadel erteilen kann. In Russland darf ein Mann seine Frau nicht nur schlagen, sondern es ist im Katechismus vorgeschrieben, und alle Jungen lernen im Konfirmandenunterricht, dass Schlagen mindestens einmal die Woche notwendig für das Allgemeinbefinden und das Glück der Frau sei, gleichgültig, ob sie etwas verbrochen hat oder nicht."

Ich fürchte, bei dem Grimmigen eine Neigung feststellen zu müssen, sich an diesen Züchtigungen zu weiden. (4)

Dieser Text, situationsbedingt zufällig zum Gegen-Stand geworden, mag Anlass sein, Ordnungs-Struk- turen aufzuspüren. Eine Ordnungs-Struktur dient in theoretischer Hinsicht der Orientierung innerhalb eines Phänomens und trägt in praktischer Hinsicht zu dessen leichterer Handhabung bei. Dazu werden Relationen gesetzt und hierarchisch angeordnet. (Es ist müßig zu betonen, dass diese Setzungen und Anordnungen willkürlich - aus einem bestimmten Interesse heraus - vorgenommen werden.) Zunächst einmal fällt bei dem eben zitierten Text die Über- und die Neben-Ordnung im Hinblick auf gesellschaftliche Schichtung auf : Die Besitzenden stehen über den nicht-besitzenden Arbeitern; inner- halb der jeweiligen Schichten scheint es eine Neben-Ordnung zwischen den Geschlechtern zu geben, die beim näheren Hinsehen aber ebenfalls eine hierarchische Struktur zeigt : Die Männer sind jeweils den Frauen überlegen (oder sie sehen sich zumindest so). So darf der Arbeiter seine Frau züchtigen; dem als Beispiel angeführten Russen ist es sogar im Katechismus vorgeschrieben. Und dieser Gewaltakt wird nicht nur geduldet, sondern er wird angesehen als notwendig (!) für das Allgemeinbefinden und das Glück (!) der Frau. Man beachte die Begrifflichkeit und reflektiere ihre Reichweite ! Unter Glück wird in der Regel ein besonders wertvolles Hoch-Gefühl verstanden; der Terminus notwendig zeigt in unserer wissenschaftlich bestimmten Welt ein absolutes Muss an, das keine Ausnahme duldet; etymologisch ist obendrein das (Ab-)Wenden einer Not gemeint.

Schauen wir auf die Beschreibungen der Besitzenden; dass der Mann eine gewisse Nebenordnung seiner Frau akzeptiert, wird in dem grundsätzlich positiv bewerteten Attribut intelligente angezeigt. Im selben Satz werden ihre Wünsche aber zugleich als wirr bezeichnet, im nächsten wird von ihrer Torheit gesprochen. Obendrein hat die Ehefrau bei den Äußerungen des Mannes nicht nur das Gefühl, dass er die Neigung ha- be, sich an diesen Züchtigungen zu weiden; sie wird auch zur Kenntnis nehmen, dass ihr Mann verallgemei- nernd nicht nur von den Arbeiterfrauen, sondern von d e r Frau (im Text : einer Frau) spricht, und sie wird auch nicht ohne Überlegung die Geste des Mannes beschrieben haben : hieb im Vorbeireiten mit seiner Peitsche einen Zweig ab. Wer an dieser gewalttätigen Sprache und Gestik Kritik üben wollte, wird von dem Kritisierten sogleich in die Kategorie zartbesaitete Seelen (und dieser Begriff ist hier abwertend gemeint) abgestempelt.

Ordnungsstrukturen sind immer gewalttätig (5) und sind aufgestellt und gelten im Interesse der von ihnen Profitierenden. Warum aber unterwerfen sich die in dieser Ordnung Unterprivilegierten dieser Gewalt ? Warum kann von den Arbeiterfrauen behauptet werden, dass sie ihre Peiniger bewundern ? Elisabeth von Arnim, die Autorin dieser Lebensbeschreibung (es ist kein fiktionaler Text !) begehrt zwar faktisch nicht wirklich auf, aber die Tatsache, dass sie diese Beschreibungen überhaupt an die Öffentlichkeit bringt, und letztlich auch einige der Bemerkungen ( ihr Mann wird als der Grimmige bezeichnet und der Grundton der Darstellung ist deutlich ironischer Art) zeigen immerhin ihr Nicht-Einverstandensein. Kassandra wird im Unterschied zu Elisabeth von Arnim deutlich aufbegehren. Die Fähigkeit dazu muss aber von ihr erst erlernt und erlitten werden - über den Schmerz der Subjektwerdung.

Ein Rückgriff an dieser Stelle auf die dritte der o.g. Vorlesungen erscheint sinnvoll. In meinem Versuch eines Kommentars an anderer Stelle (6) ist auf den Seiten 24 - 26 das Wesentliche gesagt. Männer sind, so Christa Wolf, Objekte ersten Grades, Frauen als deren Objekte sind Objekte zweiten Grades (das wird am o.a. Beispiel von Elizabeth vom Arnim anschaulich verdeutlicht). B e i d e Geschlechter "führen" (besser : erleiden) aller Geschlechterdifferenz zum Trotz - das weiß die Marxistin Christa Wolf - ein "entfremdetes Leben". Die Aufhebung dieser Entfremdung führt über die Aufhebung des Objekt-Seins in das autonome Bewusstsein, ein Subjekt zu sein, man "selbst" zu sein. Das autonome Subjekt steht unter dem Nomos, dem Gesetz, das es sich selber gibt : Es gibt keinen Weg vorbei an der Persönlichkeitsbil- dung, an rationalen Modellen der Konfliktlösung, das heißt auch an der Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit Andersdenkenden und, selbstverständlich, Andersgeschlechtlichen. (Hervorhebung von mir) (7)

Deutlicher kann die Zielsetzung nicht formuliert werden : Sind fiktionale Texte per se grundsätzlich eine Herausforderung zur Persönlichkeitsbildung (s.o. : der eigene Stand-Ort soll in Bewegung gebracht werden), so ist es Christa Wolfs Text Kassandra in besonderem Maße, da diese Persönlichkeitsbildung hier inhaltlich explizit zum Thema gemacht wird. Der Schlüssel zu einem jeden Text liegt aber nicht in erster Linie in seinem Inhalt, sondern in seiner Form. Die Qualität von Literatur misst sich obendrein an der Frage, ob Inhalt und Form einander entsprechen. In einem nächsten Schritt geht es also, nachdem der Inhalt als Zielsetzung umrisshaft skizziert ist, um die Frage nach einer adäquaten Form.

3. Die Textanalyse

3.1. Form und Struktur

3.1.1. Die zwei Erzählebenen

Warum sollte das Gehirn, das doch oft mit einem Netzwerk verglichen wird, die Erzählung einer linearen Fabel besser "behalten" können als ein erzählerisches Netzwerk ? Wie sonst könnte ein Autor gegen die Gewohnheit angehn (die den Anforderungen der Zeit nicht mehr entspricht), Geschichte als Helden- geschichte zu erinnern ? (8)

Auch dieses Zitat macht das von Christa Wolf intendierte Zusammenspiel von Form und Inhalt deutlich; der inhaltlichen Aussage, dass es die Zeit der linear sich entwickelnden Helden nicht mehr sei, steht die intendierte Struktur eines Netzwerkes zur Seite. Dem Thema "Schreiben als Netzwerk" hat die Autorin ihre ersten vier Vorlesungen gewidmet; die Absage an das Heldentum wird Thema der Erzählung sein. Ein Netzwerk ist e i n Werk, also eine Ganzheit, die durch ein Netz sozusagen zusammengehalten wird. Zugleich verstehen wir unter einem Netzwerk offene Strukturen; es geht um einen Zusammenhang von Teilstrukturen, deren Kommunikation untereinander durch den Zusammenhang des Netzwerkes ermöglicht wird. (Grimms Wörterbuch zitiert - das möchte ich denn doch nicht verschweigen - Zedler : "Alle Fächlein oder Bläslein der Läpplein in den Lungen werden mit einem sehr subtilen Netzwerk umgeben." Sehr anschaulich die Verniedlichungsformen, sehr treffend der Begriff "subtil", welchen Terminus der Duden mit "zart, fein, sorgsam", aber auch mit "schwierig" übersetzt.)

Dieser Netzwerk-Charakter macht uns Lesern - an lineare Textstrukturen gewöhnt - das Lesen nicht gerade leichter. Das gilt für die Vorlesungen, und das gilt auch für die Erzählung, der wir uns jetzt zuwenden wollen :

Man wird den Text nicht verstehen oder nur sehr schwer in ihn hineinkommen, wenn man nicht von vornherein weiß, dass in ihm die Protagonistin Kassandra über sich selbst und ihr bisheriges Leben reflektiert und dass wir daher zwei Erzählebenen zu unterscheiden haben. Am Anfang der Erzählung hat sie ihre Erlebnisse, denen sie im Verlauf der Erzählung nach-denken wird, bereits hinter sich; ange- sichts des sicheren Todes, der sie in Kürze erwartet, arbeitet sie dieses Erlebte auf und kommt durch diese Reflexion sozusagen "zu sich", indem sie sich begreift. Sie begreift - netzwerkartig - durch die Kompo- nenten ihres Bewusstseinsstromes, wie sie sich ent-wickelt hat von den Tagen der Kindheit bis hin zu diesem Moment als Gefangene vor dem Löwentor von Mykene (wohl wissend, dass sie in wenigen Augenblicken ermordet werden wird). Aus ihren Erinnerungen und Assoziationen entsteht - erst sehr subtil, dann ständig weiter sich verdeutlichend - das Bild einer jungen Frau, die sie selbst war und die jetzt verändert ist, und sie vollzieht ihren eigenen Schmerz der Subjektwerdung nach. Es ist der Schmerz, der aus ihr als einem fremdbestimmten Objekt ein eigenständiges Subjekt macht - unter Preisgabe über- kommener, lieb gewordener Strukturen. Diesen Gedanken habe ich an anderer Stelle (die Vorlesungen betreffend) schon erläutert - so darf er hier verkürzt zusammengefasst werden :

Das menschliche Bewusstsein arbeitet sich an Wahr-Nehmungen ab. Wie es wahr-nimmt, hängt innerhalb einer Situation von ihm selbst ab - unser Bewusstsein ist multiperspektiv. Von dieser Wahr-Nehmung hängen sein Welt- und sein Selbst-Bild ab. Erfahre ich mich als den, der sich eine Vielzahl von Perspektiven zu erarbeiten weiß, erfahre ich mich als meiner Wahrnehmung aktiv zugrundeliegend (lat. subicere), also als selbst gestaltendes Subjekt. Erfahre ich mich als den, der von anderen bestimmt oder benutzt wird, indem sie mich wie einen Gegenstand (lat. obicere, gegen-stellen) verplanen und gebrauchen, fühle ich mich ver-ding-licht, fremd-bestimmt.

Vollziehen wir als Leser diesen Weg der Subjektwerdung nach, der uns über Kassandras Reflexionen beispielhaft gegeben ist, werden wir veranlasst, unsere eigene Existenz zu reflektieren im Hinblick auf unsere eigene mehr oder weniger erfolgreiche Subjektwerdung. Unser Weg wird, wenn wir ihn erfolg- reich gehen, ein Weg der Ent-Täuschungen sein und den wichtigsten Erkenntnis-Gewinn bringen, dessen wir teilhaftig werden können; wie bei jeder gelungenen Trauer-Arbeit wird ein Ablösungsprozess stattfin- den von abgelegten Positionen hin zur Bereitschaft der Übernahme einer neuen Position, der wir dann unsere Libido, unsere psychische Energie, zuwenden können. So sieht es auch die Autorin :

Es stellt sich heraus, dass ich - seit wann eigentlich ? - Kassandra nicht mehr als tragische Figur sehen kann. Sie wird sich selbst nie so gesehen haben. Besteht ihre Zeitgenossenschaft in der Art und Weise, wie sie mit Schmerz umgehn lernt ? Wäre also der Schmerz - eine besondre Art von Schmerz - der Punkt, über den ich sie mir anverwandle, Schmerz der Subjektwerdung ? (9)

Kassandra lernt, mit Schmerz umzugehen; es ist der Schmerz der Geburt der Eigen-Ständigkeit. Wer diesen Weg zu gehen versucht (auch heute noch), der geht gegen herrschende Spielregeln an im Malefiz-Spiel, das sich Gesellschaft nennt, und wird dafür abgestraft. Er muss liebgewordene, aber eben fremd-bestimmte Fehl-Orientierungen aufgeben zugunsten der Erarbeitung einer eigenen selbst- bewussten Persönlichkeit. Das ist anstrengend, das ist gefährlich und das macht (im 1. Stadium) einsam. Diese Einsamkeit kann durch Mit-teilung anderen gegenüber aufgehoben werden : Das Glück, ich selbst zu werden und dadurch den andern nützlicher - ich hab es noch erlebt. (10)

Kassandra ist sich also schließlich dessen bewusst, bis zu ihrer Ermordung das, was in ihrem Leben vor-gefallen ist (passive Rolle !), und das, was sie selbstbewusst entschieden hat (aktive Rolle), begreifen zu können. Etwas zu "begreifen", also das, was (geschehen) ist, auf den Begriff zu bringen, ist nach Hegel der Weg einer Er-Arbeitung; er ist erst dort abgeschlossen, wo die Reflexion, rückblickend eingesetzt, den zurückgelegten Weg überschaut und durch-schaut. Dieser mühevolle Weg der Arbeit an sich selbst ist auch bekannt unter dem o.a. Begriff der "Trauerarbeit" oder unter dem Begriff der "Erinnerungsar- beit", wobei "Er-Innerung" meint, das Fremde, das einem vorgeblich von außen zustößt, nach innen zu nehmen und den Eigenanteil an dieser Ent-Fremdung zu reflektieren und schließlich zu begreifen.

Die Autorin Christa Wolf greift diesen Grundgedanken auf, wählt mit ihrem Netzwerk aber eine andere Methode des Nachvollzugs als Hegel, der zwar nicht linear-geradlinig, aber doch mit dialektischer Not- wendigkeit in aufeinander aufbauenden, auseinander folgenden Schritten arbeitet (11). Bei Christa Wolfs erzählerischem Netzwerk ist es ein ziellos erscheinender Gedankenstrom, der zu einer Einsicht führt. Dass dieser Gedankenstrom nur ziellos erscheint, tatsächlich aber von der Autorin sehr bewusst eingesetzt wird, kann die Detailanalyse zeigen : Rasend schnell die Abfolge der Bilder in meinem müden Kopf, die Worte können sie nicht einholen. Merkwürdige Ähnlichkeiten der Spuren, welche verschiedenste Erinnerungen in meinem Gedächtnis vorfinden. (12) Die Bilder sind also den Worten, die auf Strukturen aufbauen und selber Strukturen nach sich ziehen, als potentielle Mittel der Erkenntnis voraus - lässt die sich entwickelnde Erkenntnis sich auf diese Bilder ein, wird sie Spuren finden und über diese Spuren auch einen Weg (dafür sorgt die Autorin, die diese Spuren eingesetzt hat). Die Er-Innerung verbürgt die Nachhaltigkeit der Erfahrung dieses Weges. Dieser Weg ist Kassandras Weg - es ist nicht der Weg einer klaren, zielgerichteten Selbst-Bewusst-Werdung; dazu geht Kassandra zu viele Um- und Nebenwege und fällt, wie sie selbst beschreibt, in ihrem Tun immer wieder hinter bereits erlangte oder zumindest erahnte Positionen zurück. Der Monolog kurz vor ihrem Tod fasst zusammen und bringt schließlich die Einsicht auf den Punkt : Wofür ich, um es wenigstens zu denken, am Leben blieb. Am Leben bleibe, die wenigen Stunden. (13)

Manch ein (jüngerer) Leser wird fragen : Und wofür das Ganze, was hat sie davon, wo sie doch weiß, dass sie gleich sterben muss ? Es geht, so würde ich als Antwort formulieren, zum einen um den Sieg des Bewusstseins über eine bewusstseinsfeindliche Welt (eine solche Frage entsteht ja überhaupt nur in einer utilitaristisch verformten Welt, in der der Überlegenheit des Bewusstseins kein Wert beigemessen wird) und zum anderen (und in eins damit) um die utopische Dimension des Textes, von der Christa Wolf in ihren Vorlesungen gesprochen hat : Das Troja, das mir vor Augen steht, ist - viel eher als eine rückge- wandte Beschreibung - ein Modell für eine Art von Utopie. (14) Und : Mir ist bewusst, dass mein Rück- griff in eine weit, ur-weit zurückliegende Vergangenheit (der beinahe schon wieder zum Vor-Griff wird) auch ein Mittel gegen diese unauflösbare Trauer ist, die Flucht zurück als eine Flucht nach vorn. (15) Was sie unter dieser Trauer versteht, hat die Autorin mit der Beschreibung der Ost-West-Realität Anfang der achtziger Jahre verdeutlicht; der Rüstungswahn wird - auf beiden Seiten der ideologischen Schranke - zur Vernichtung führen. Diese Trauer ist unauflösbar mit den Mitteln herkömmlicher Politik; das Mittel, auf das Christa Wolf hofft, ist das wirkende Wort ihres Textes, das Vor-Bild Kassandras, an dem die Leser sich aufrichten können. Eine sichere Wirkung verspricht auch dieses Mittel nicht (Aufklärung im bloß mechanistischen Sinn funktioniert nicht, und darin unterscheidet sich Christa Wolf ja gerade von anderen Autoren, die dem "sozialistischen Realismus" verpflichtet geblieben sind), und so drückt auch Kassandra Skepsis und Hoffnung zugleich aus : Was ich begreifen werde, bis es Abend wird, das geht mit mir zugrund. Geht es zugrund ? Lebt der Gedanke, einmal in der Welt, in einem andern fort ? (16) Und : Oft aber, eigentlich am meisten, redeten wir über die, die nach uns kämen. (Hier dürfen wir uns als Leser durchaus angesprochen fühlen.) Ob sie uns noch kennten. Ob sie, was wir versäumt, nachholen würden, was wir falsch gemacht, verbessern. Wir zerbrachen uns die Köpfe, wie wir ihnen eine Botschaft hinterlassen könnten, doch wir waren der Schrift nicht mächtig. (17) Der Schrift nicht, wohl aber der Stimme, und Christa Wolf hat uns diese Stimme hörbar gemacht. An uns ist es hinzuhören. Auf diese Hoffnung hin schreibe ich, versuche ich, den Wurzeln der Widersprüche nachzugehen, in denen unsere Zivilisation jetzt steckt. Dies tat ich mit dem Kassandra-Buch. (18)

3.1.2. Über den Vorwurf, ein Vor-Bild geschaffen zu haben

(Der freundliche Verfasser dieser Interpretation macht den geneigten Leser an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass die folgenden Überlegungen demjenigen, der mit diesen Fragestellungen nicht vertraut ist, Probleme bereiten können. Dem geplagten Leser sei gesagt, dass er dieses Teilstück der Arbeit auch überspringen kann - er wird es aber nicht ohne Verlust im Hinblick auf den Gesamt-Sinn dieser Untersuchung hin tun können. Also : per aspera ad astra ! (Übersetzung bei Asterix) )

Es wird der Autorin Christa Wolf zum Vorwurf gemacht, mit der Protagonistin ein Vor-Bild geschaffen zu haben, und ein Vor-Bild stelle ein fertiges Bild vor die Phantasie des Lesers, und da ein solches Bild positiv besetzt sei, sei eben auch der Leser be-setzt durch eine vor-bildliche Person, und die wiederum sei so etwas wie ein "Held". Jetzt sei doch aber, so ist gesagt worden, die Zeit der Helden nicht mehr Christa Wolf, so ist unter 3.1.1. erarbeitet worden, beschreibt den Er-Innerungs-Prozess Kassandras, um bei uns, den Lesern, einen entsprechenden Prozess in Gang zu bringen. Um den Vorwurf, sie habe auf diese Weise sozusagen eine "Heldin der Erinnerung" geschaffen, die am Ende (?) des Prozesses "zu sich gekommen sei" und nun sozusagen in ihrer neu gewonnenen Identität verharre, untersuchen zu können, müssen wir fragen : Geht es in diesem Text um ein Er-Innern der Protagonistin, das die Sicherung einer fragwürdigen Ich-Identität zum Ziel hat (die als erreichte Identität zur Beruhigung führen könnte, da ein sich mit sich identisch wissendes Wesen keinen Anlass zu Bewegung, zu Veränderung mehr sähe und diese Einstellung über die Vor-Bild-Funktion an den Leser weitergäbe) oder dient die Er-Innerung der Protagonistin über die o.e. Doppelung des Ichs der zwei Erzählebenen zur Auseinandersetzung 'mit der Frage nach der Identität des Ich in der Differenz' (19), welche Auseinandersetzung über die Spannung von "Identität" und "Differenz" in die Unruhe und die Beweglichkeit führen würde - bei der Protagonistin u n d beim Leser ?

Um dem Nicht-Fachmann den Einstieg in die Begrifflichkeit zu erleichtern :

Der Begriff Identität ist abgeleitet vom lateinischen Wort "idem", was "derselbe" / "der gleiche" heißt. Schon in diesen beiden Übersetzungen liegt ein Aspekt des Problems : Wenn ich mit mir identisch bin ("derselbe" bin und ein entsprechendes Bewusstsein aufbaue), heißt das dann zugleich schon, dass ich auch "der gleiche" bleiben muss ? Wer letztere Setzung vollzieht und sich sodann an die Kritik dieses Begriffs macht, kritisiert doch nur, was er zuvor selbst gesetzt hat.

Der Begriff Differenz geht zurück auf das lateinische Wort "differre" und meint ein Sich-Unterscheiden. So glauben wir, zwischen uns und dem Anderen Unterschiede fest-stellen zu können. Obgleich das der oberflächlichen Alltagssprache und den ihr korrespondierenden Vorstellungen selbst-verständlich (!) erscheint, ist auch diese Überlegung schon fragwürdig und hängt davon ab, auf welchem Abstraktionsniveau ich arbeite : Es ist durchaus kein Widerspruch, wenn ich in je anderer Hinsicht den Anderen einmal als wesensgleich (im Sinne von : der menschlichen Gattung zugehörig) und damit als mit mir identisch verstehe und einmal (im Blick auf die individuellen Unterschiede, die die Frage des Wesens aber gar nicht berühren) als von mir unterschieden ansehe.

Unserer textorientierten Fragestellung geht es nun nicht um eine Differenz zwischen mir und dem Anderen, sondern um eine in Frage stehende Differenz meiner zu mir selbst. Bin ich lediglich die per- sonifizierte unruhige Zerstreuung durch das Ausgeliefertsein an ständige Veränderung oder ruhe ich - unverändert - in mir selbst und meiner Identität ? O.a. Überlegungen zeigen, dass beide Hinsichten einseitig und damit falsch sind - wer das zur Kenntnis nimmt und es wagt, die beiden Ausprägungen unserer Persönlichkeit in ein polares Wechselverhältnis zu setzen, dem werden sich Perspektiven eröffnen. In einem solchen "polaren Wechselverhältnis" kämpfen die beiden Seiten nicht in dem Sinne miteinander, dass eine der beiden Seiten (hier : eine Hinsicht) sich gegen die andere durchsetzt, sondern es geht um ein fruchtbares Mit-einander und Durch-einander; die Pole einer solchen Beziehung fordern und fördern sich wechselseitig, sie brauchen einander und helfen einander in ihrer Entwicklung. In einer solchen polaren Wechselwirkung werden die Begriffe, die einander zu widersprechen scheinen, in eine andere Qualität aufgehoben, so dass es zu der o.a. (dem unvorbereiteten Leser paradox erscheinen- den) Formulierung kommt : Identität von Identität und Differenz, genauer : Identität in der Differenz

Kommen wir nach diesem begrifflichen Exkurs zur anstehenden Text-Frage zurück : Wird, so ist zu untersuchen, in Christa Wolfs Kassandra a) die Vorstellung einer Einheit der Persönlichkeit als eines fest-gestellten Wesens (Identität) idealisiert oder wird b) darauf verwiesen, dass jeder Mensch von einem Augenblick auf den nächsten nicht mehr derselbe ist (Differenz), so dass ihm der Halt einer Persönlich- keit fehlt oder geht es c) darum zu erkennen, welche Bedeutung gerade diese offensichtlichen Differenzen für den Aufbau einer Persönlichkeit haben (Identität des Ichs in der Differenz) mit dem unnachgiebigen Hinweis darauf, dass von einer Persönlichkeit erst dort gesprochen werden könne, wo die Einheit schon auf Differenzierungen aufbaut und um ihrer selbst willen darum bemüht ist, weitere Differenzierungen auszuleben und in die (damit stets in Bewegung befindliche) Persönlichkeitsstruktur aufzuheben ?

Die Kritik in der Fachliteratur macht dem Text den Vorwurf eines 'Lehrstückcharakters' mit einer 'mono- logischen Textstruktur' (der Verkündigungston, in dem Kassandra spreche, habe zudem zur Folge, dass die Möglichkeit zu Distanz und Kritik auf der Rezeptionsebene versperrt werde), wobei nur der Protagonistin die Überwindung der Selbstentfremdung zugestanden werde; damit verharre die Figur der Kassandra in den hierarchischen Strukturen, die sie doch gerade zu bekämpfen vorgebe (20). Eine andere Arbeit verweist darauf, dass die Erzählung dazu tendiere, den Mythos lediglich durch einen idealisti- schen Subjektbegriff zu ersetzen. In dessen Sinne sei das Muster für den Entwurf der Figur vorformuliert ('Subjektwerdung, Reife, Erwachsenwerden, Vernunft. Die Frage nach einer anderen Subjektivität, nach (Selbst-)Erkenntnis jenseits der Dominanz der Vernunftherrschaft ist durch diesen unumstößlichen Subjektbegriff verstellt.'). Obendrein habe Christa Wolf in Kassandra eine Figur gefunden, in der sie 'ihr Geschlecht zum Glauben an sich selber kommen lasse.' So werde aus ihr eine neue Heldin, 'eine Heldin der inneren Entwicklung'. (21)

Alle diese Behauptungen hängen von Begriffs-Setzungen ab; wer setzt, wird auch Gründe für diese Vorgehensweise haben oder sie finden. Das beginnt beim "idealistischen Subjektbegriff" und endet bei dem Begriff der "Vernunft" - schillernde Begriffe gewiss, vor allem aber mit aller Vorsicht zu gebrau- chen, da sie zu pauschalen Subsumtionen verleiten. Wird man mit ihrer Hilfe Christa Wolfs literarischem Experiment gerecht, das gerade solche groben Ordnungsmuster (und was sonst sind diese Begriffe ?) hinterfragt ? Sieht man genauer hin (und nimmt diese Begriffe "beim Wort", indem man ihre historische Fixierung reflektiert), so ist das eher zu verneinen. Wie die Arbeit u.a. (vgl. S. 14) zeigen wird, setzt sich die Autorin gerade mit dem heute nicht mehr fruchtbaren klassischen "Vernunft"-Begriff auseinander. Welches Interesse, so frage ich mich, hat ein Kritiker daran, dies nicht zur Kenntnis zu nehmen ?

Wenn wir Christa Wolfs Intention gerecht werden wollen, werden wir angemessenere Begriffe zu finden bemüht sein müssen. Man erlaube mir - im Rahmen der enggesteckten Zielsetzung dieser Arbeit - die beispielhafte Übernahme zweier Ansätze aus der Fachliteratur, die die Behauptungen der eben darge- stellten Kritik in einem anderen Licht erscheinen lassen und in eins damit zeigen, dass es differenziertere Deutungen gibt jenseits der Schwarz-Weiß-Zuordnung; es sollten Formulierungen gebraucht werden, die der formalen wie der inhaltlichen Ausrichtung des Textes gerecht zu werden versuchen : den Stichworten "Beweglichkeit" und "Lebendigkeit".

1) 'Christa Wolf macht in ihren Vorlesungen im Kommentar deutlich, was sie in der Erzählung Kassan- dra Gestalt annehmen lässt : Ihre Sprache bezeugt die Anstrengung, die nötig ist, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Gesellschaft, in der eigenen Person, nicht wegzulügen. Kassandra ist ein Übergangsgeschöpf, sie markiert eine Station auf dem Wege zum Ich-Sagen.' (22)

2) Eine andere Stimme der Fachliteratur sieht die Erzählung als "totales Fragment". (23) Diese For- mulierung erscheint als Widerspruch in sich, löst sich aber in seiner paradoxen Widersprüchlichkeit auf (und zeigt sich in seiner gedanklichen Reichweite), wenn man die Affinität der Frühromantiker zum Fragment-Begriff in Erinnerung ruft (bekanntermaßen arbeitet Christa Wolf in gedanklicher Nähe zu den Frühromantikern) und zugleich deren Sehnsucht, die Totale, die Synthese, anzustreben.

Ich möchte versuchen, das in meinen eigenen, schlichten Worten auszudrücken : Wer ahnt, welche geistige Potenz dem Menschen mitgegeben ist, von der er in seinem Leben immer nur einen (relativ zur Potenz) recht geringen Teil verwirklichen kann, der wird die romantische Ironie verstehen, die mit Bewusstsein das Fragment, das ansatzweise Treffen und doch-nicht-Treffen dessen, was man meint ausdrücken zu wollen, gutheißt. Wer zugleich weiß, dass Einzelnes in seiner Ver-Einzelung immer unwahr ist (wenn man, wie die Denker um 1800 fast ohne Ausnahme von der Überlegung ausgeht, dass das Einzelne seine Wahrheit nur im Kontext des Ganzen erhalten könne), wird den Begriff der Totale - wenn auch als unerreichbaren, nur anzustrebenden - zur Orientierungsmarke nehmen.

Christa Wolf formuliert im Hinblick auf die angesprochene Fragestellung sehr selbstkritisch :

Empfinde die geschlossene Form der Kassandra-Erzählung als Widerspruch zu der fragmentarischen Struktur, aus der sie sich für mich eigentlich zusammensetzt. Der Widerspruch kann nicht gelöst, nur benannt werden. (24) Gegen diese Eigenbeurteilung der Autorin möchte ich einwenden, dass ein Widerspruch im eigentlichen Sinne nicht besteht. Verstehe ich Christa Wolfs Erzählung Kassandra als "totales Fragment", so trägt das zugrundeliegende Nomen ("Fragment") die zentrale Bedeutung. Sie besagt : Das Fragment ist begrenzt und verweist in seiner Begrenztheit deutlich auf das Noch-Nicht- Erfasste jenseits des Fragmentes. Diese formale Implikation weist voraus auf die inhaltliche Deutung der Erzählung, die in einer kritischen Auseinandersetzung mit einer Gesellschaftsform besteht, die auf mehr oder weniger rigide gehandhabten Ordnungsmechanismen aufbaut. Eine solche, das begreift der Leser, wird der kreativen Potenz des Menschen nicht gerecht; sie muss ihn zu einem handhabbaren Ding herabwürdigen. Die Offenheit des Fragmentes, sein Noch-Nicht, liegt im Spielraum, der dem Leser bleibt, seine persönlichen Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen. Die Geschlossenheit, wenn man überhaupt davon reden kann, liegt in der Darstellung der Reflexion einer Person, die - als "Übergangsgeschöpf" - (für sich und damit stellvertretend für den Leser) zu einer grund-legenden Einsicht kommt.

Und hier, genau in diesem begrifflichen Zusammenhang, erhält das Attribut "total" seine kontextuelle Berechtigung : Am Beispiel dieser konkreten Person und der konkreten Situation, in die sie sich ge- stellt sieht, wird das Problem in seiner Ganzheit aufgezeigt (in eins mit dem Hinweis, dass es nur in seiner Ganzheit zu lösen ist) und sie begreift es als ein solches Problem - in ihrer verzweifelten Lage, die ihrerseits (auch mit und nach dieser Erkenntnis) überhaupt keinen Grund zur Beruhigung in einer sinngebenden "Totale" gibt. Daher ist es nur konsequent, dass von der Autorin keine konkrete, inhalt- lich fixierte Utopie einer Änderung vorgegeben wird - es geht um das Öffnen einer Denkmöglichkeit, es geht um einen Bewusstseinsprozess, an dem wir als Leser teilhaben und der uns am Ende zur eige- nen Reflexion auffordert. (25) Wir ahnen als Leser, was wir warum zu negieren haben - damit haben wir, dialektisch gesprochen, nur das Material des ersten Schrittes auf dem Weg zu einer "bestimmten Negation", die die aufgezeigten offensichtlichen Fehler aufarbeitend zu verändern sucht (immer auch mit der Einsicht in die Möglichkeit, uns auf ewig zu irren).

Diese verzweifelte Lage Kassandras ist in ihrer strukturgebenden Funktion nun zu untersuchen.

3.1.3. Überprüfung am konkreten Text

Es ist ein probates Mittel, will man die Struktur einer Erzählung erfassen, deren Eckpfeiler Anfang und Ende kontrastierend einander gegenüberzustellen und sich anschließend darum zu bemühen, die Gründe für diesen Kontrast aus dem Text herauszufiltern. Das gelingt sehr leicht bei einem linear aufgebauten Text und verlangt uns mehr ab bei einem nicht-linear erzählten wie dem vorliegenden, der obendrein mit zwei Erzählebenen arbeitet.

Die Eckpfeiler der Gegenüberstellung sind schnell herausgefunden, und auch die Gründe für den Kontrast werden trotz des unstrukturierten Bewusstseinsstromes relativ leicht herauszulösen sein - dank der zwei Erzählebenen ergeben sich aber Änderungen der Be-Deutung.

3.1.3.1. Eckpfeiler I : Die Ausgangssituation des Textes

Wer die Erzählung zu lesen beginnt, wird schon auf der ersten Seite verwirrt sein nicht nur wegen des unvermittelten Einstiegs, sondern auch wegen nicht eindeutig zuzuordnender Perspektiven, die ihren Ausdruck finden in den Personalpronomen "sie" und "ich".

Hier war es. Da stand sie. Der Text beginnt wie eine Tatortbeschreibung - ein Zeuge vielleicht versucht das Gesehene zu rekonstruieren in knappen Worten der räumlichen Zuordnung. Er ist offensichtlich so beeindruckt von dem, was er darzustellen aufgefordert wird, dass er sich bei der Beschreibung auf die banale sinnliche Gewissheit des hier und da beschränkt. Auf was, auf welchen Vorgang angespielt wird (es), wesentlicher noch : wer sie ist, kann der Adressat der Aussage nicht nachvollziehen. Nun ist der Adressat in diesem Fall der Leser des Textes, dessen Titel Kassandra er kennt. Er wird das Pronomen sie also automatisch mit Kassandra in Verbindung bringen. Ist er in der Welt des Mythos zu Hause, wird er aus anderen literarischen Texten die Figur kennen; hat er Christa Wolfs Vorlesungen gelesen, weiß er um das Bemühen der Autorin, einen Weg zu ihr zu finden.

So wird er annehmen, dass sie Kassandra ist, und er wird sich aus dem Kontext den Ort und die Situation erschließen. Der Zeuge sieht Kassandra vor einer Festung stehen, deren steinerne Löwen sie angeblickt haben. Löwen stehen zur Darstellung von Macht an Toren, und dass Kassandra tatsächlich vor einem Tor gestanden hat, wird wenige Zeilen später bestätigt. Diese wachsende Orientierung des Lesers in dieser Beschreibung trägt aber nicht zu seiner Beruhigung bei - der unangenehme Eindruck einer Tatortbeschrei- bung verstärkt sich im Gegenteil noch, nicht zuletzt durch die Verneinung, dass unter dem Tor kein Blut hervorquillt. Diese Aussage macht nur Sinn, wenn das Gegenteil eigentlich der Fall sein müsste, und der Leser wird auch im Weiteren seine beunruhigende Vorahnung nicht los : nicht nur von Blut ist die Rede, sondern der Ort, den das Tor eröffnet, wird das Finstere und in einer Steigerung Schlachthaus genannt. Die Wirkung dieser Beschreibung wird dadurch verstärkt, dass die Sätze, die von Anfang an schon durch ihre treffsichere Kürze gezeichnet sind, sich zur Steigerung am Ende durch elliptische Reduzierungen auf die Formulierung und allein verengen.

Der Zeuge als der Urheber dieser Beschreibung wird vom Leser als Erzähler identifiziert, der nicht wirklich ein Zeit-Zeuge gewesen ist (dazu wird der zeitliche Abstand durch die Veränderung des Ortes zu stark betont : die Löwen sind j e t z t kopflos und die Festung, vor der Kassandra stand, ist ein Steinhaufen jetzt). Es ist offensichtlich, dass der Erzähler die Situation Kassandras imaginiert. Dieses Offensichtliche gibt dem Leser einen ersten Halt.

Dieser Halt wird aber durch die auf den ersten Abschnitt folgende Formulierung sogleich wieder aufge- hoben : Mit der Erzählung geh ich in den Tod. Unvermittelt wird in der 1. Person Singular gesprochen. Auf der Basis des bisherigen Textverständnisses wird der Leser diese 1. Person dem Erzähler zuordnen - aber welchen Sinn ergäbe das ? Warum sollte er mit dieser Erzählung in den Tod gehen ? Das macht keinen Sinn. Also startet der Leser einen zweiten Versuch und ordnet das ich Kassandra zu - inhaltlich nach den Hinweisen des ersten Abschnittes eine mögliche, durchaus nachvollziehbare Zuordnung, formal aber fragwürdig, denn der in den Personalpronomina sich ausdrückende Perspektivwechsel vollzieht sich unvermittelt, ohne sinnvolle Einbettung in den Kontext. Schließlich : diese Zuordnung ließe fragen, welchen Sinn dann noch die Einführung in den Text durch den Erzähler im 1. Abschnitt machte.

Ein weiteres Problem taucht auf : Kassandra ist - nach ihren eigenen Worten - allein. Das kann Unter- schiedliches bedeuten : von dem einfachen Hinweis darauf, dass wirklich kein anderer Mensch da ist, bis zu der Mitteilung, dass sie sich allein fühle, vielleicht hilflos; wie immer man das verstehe, eine Kommunikation ist ihr nicht möglich, und doch wird von einer Erzählung gesprochen, mit der das Ich in den Tod gehe. Eine Erzählung aber richtet sich an ein Gegenüber, und das hat Kassandra nicht. Ein Gegenüber hat aber der Erzähler, der auch für den ersten Abschnitt verantwortlich ist. Ein Gegenüber hat obendrein die Autorin Christa Wolf, von der wir wissen, dass sie auf der geistigen Suche nach einer Begegnung mit Kassandra ist. Aber warum sollten der Erzähler oder die Autorin mit dieser Erzählung in den Tod gehen ?

Es wird an diesem Text-Einstieg schon deutlich, dass wir es mit keiner Erzählung im traditionellen Sinne zu tun haben, der wir einfach so folgen können - wir befinden uns in einem Labyrinth von Beziehungen, aus dem herauszukommen wir selber den Faden finden müssen. Dass die Autorin uns dabei nicht im Stich lässt, sollen die folgenden Überlegungen zeigen.

3.1.3.2. Eckpfeiler II : Das Ende des Textes

Wenden wir uns dem Ende des Textes zu, so erlesen wir uns eine dem Anfang korrespondierende spiegelbildliche Zweiteilung. Auch hier gibt es den Perspektivwechsel vom ich zum sie. Während der vorangegangenen Textlektüre muss dem Leser unmissverständlich klargeworden sein, dass er einen Erinnerungsmonolog der Protagonistin Kassandra vor sich hat - das Personalpronomen ich, den Text über auf Kassandra bezogen, verliert damit die Problematik der Zuordnung. Drei Zeilen vor dem Ende bricht das Erzählen des Ichs ab in einer Situation, die keine andere Deutung zulässt, als dass die Zeit des erinnernden Monologs abgelaufen ist, dass sie kommen, und das kann nur heißen, dass die Bluttat, am Anfang angedeutet, nun an Kassandra vollzogen werden wird. Die Zeit, die sie seit der Ankunft vor dem Löwentor von Mykene bis zu ihrer Hinschlachtung noch gehabt hat, hat sie mit den Reflexionen gefüllt, an denen sie uns kraft ihres Erinnerungsmonologes hat teilhaben lassen.

Die letzten drei Zeilen gehören wieder der Erzählerfigur, die zu Beginn des Textes schon die "Tatortbe- schreibung" gegeben hat; die Eingangsfeststellung wird - ins Präsens transponiert - noch einmal verkür- zend wiederholt : Hier ist es. Auch das Bild der steinernen Löwen, die sie angeblickt haben, wird erneut aufgegriffen, jetzt aber mit der Modifizierung : Im Wechsel des Lichts scheinen sie sich zu rühren. Mit diesem Eindruck schließt der Text, und damit erhält diese Beobachtung eine besondere Bedeutung, die wir zu untersuchen haben.

Bei näherer Untersuchung fällt auf, dass dieser Schluss-Satz aus einer in doppelter Hinsicht sehr vorsich- tigen Fest-Stellung besteht. Zunächst einmal heißt es : Die Löwen scheinen sich zu rühren. Das Modalverb scheinen verdeutlicht, dass es sich um eine mögliche, aber jedenfalls um eine persönliche, perspektivisch motivierte Beobachtung handelt, die deutlich interpretatorischen Charakter trägt; diese Beobachtung wird ergänzt durch eine weitere : im Wechsel des Lichts. Hierbei kann es sich um eine bloß modale Hinzufügung handeln ohne jede weitere Be-Deutung (in diesem Falle werden einfach die Licht- verhältnisse beschrieben). Die Licht-Metapher aber ist in der Literatur allgemein (und, wie später zu zeigen sein wird, auch in der vorliegenden Erzählung) von spezieller Bedeutung und sollte untersucht werden. Welche Rolle also, so wird der Leser im Zusammenhang mit der Änderung des Löwen-Bildes fragen, kommt dem Licht zu, und warum ist von einem Wechsel die Rede ? In diesen sich dem Leser aufdrängenden Fragen erfüllt sich der Sinn gerade einer fragmentarisch ausgerichteten Darstellung wie der vorliegenden; für uns Leser ergibt sich die Aufgabe, das fragmentarisch Dargestellte (und damit nur Angedeutete) auf den Hintergrund einer Totale des Sinns zu projizieren (wobei diese Projektion unsere Zutat bleibt und wir in der fruchtbaren Unsicherheit verbleiben, die Intention der Autorin nicht getroffen zu haben). Die Autorin eröffnet lediglich Perspektiven für eine Interpretation, und die ist auf der seman- tischen und pragmatischen Ebene Sache von uns Lesern.

Es soll an dieser Stelle der Arbeit der Interpretation nicht vorgegriffen werden - im Moment erscheint es wichtig zu betonen, dass die Autorin durch ihre Erzählfigur eine mögliche Bewegung andeuten lässt, und Bewegung meint Änderung. Durch den Erinnerungsmonolog Kassandras könnte sich etwas geändert haben. Zeit, sich diesen wenigstens in der Grundstruktur anzueignen.

3.1.3.3. Die Struktur das Dazwischen

Angesichts der Eigenart der Darstellungsweise der Autorin muss - das dürfte klargeworden sein - die "Struktur" vom Leser selbst erarbeitet werden. Festgestellt werden kann zunächst : 'Einem Minimum an äußerer Handlung steht ein Maximum an Bewusstseinsarbeit im inneren Monolog zur Seite', und so entsteht 'ein höchst komplexes narratives Gefüge', in dem sich 'ein inneres Fluktuieren heterogener Ge- danken, Empfindungen und Sinnfindungen' entfaltet. (26) Wenn wir jetzt dieses lebendige 'Fluktuieren' in einer Struktur erkalten lassen, müssen wir uns dessen bewusst sein, dass diese Struktur-Gebung unsere Zutat ist !

Oben ist von der Bewusstseins-Arbeit Kassandras gesprochen worden, und entsprechend ist die Person Kassandras in ihrer Doppel-Funktion zu sehen : Nehmen wir ihre Erinnerungsarbeit als Erzählmonolog,über den sie ihren eigenen Werdegang begreift, so ist von ihr die erinnerte und erzählte Figur Kassandra zu unterscheiden.

Ende der Leseprobe aus 57 Seiten

Details

Titel
Christa Wolf - Kassandra: Eine Interpretation
Untertitel
"Wer wird wann die Sprache wiederfinden ?"
Autor
Jahr
2010
Seiten
57
Katalognummer
V143139
ISBN (eBook)
9783640519941
ISBN (Buch)
9783640521791
Dateigröße
1026 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Christa, Wolf, Kassandra, Eine, Interpretation, Sprache, Selbstfindung, Subjektwerdung Erinnern, dialektische Reflexion, Erich Fromm Destruktivität, weibliches Schreiben, Patriarchat, Matriarchat, Schmerz der Subjektwerdung
Arbeit zitieren
Bernd Mollowitz (Autor:in), 2010, Christa Wolf - Kassandra: Eine Interpretation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143139

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