Völker in Waffen - Zur allgemeinen Wehrpflicht in Frankreich und Deutschland (1793 – 1914)


Hausarbeit, 2005

31 Seiten, Note: 1.7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Volk in Waffen – Die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht

3. Wehrgesetzgebung und ihre Umsetzung bis
3.1 Frankreich
3.2 Preußen
3.3 Jüdische Bevölkerung und preußische Wehrpflicht

4. Revolution und Stabilisierung (1848 – 1879)
4.1 Revolution und Volksbewaffnung
4.2 Wehrpflicht in Frankreich bis
4.3 Wehrpflicht in Preußen bzw. im Deutschen Reich bis

5. Wehrpflicht und Aufrüstung – auf der Schwelle zum Ersten Weltkrieg

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Konzept eines ‚Volkes in Waffen’, das, wie wir betrachten werden, weitreichende Konsequenzen für die Gesellschaft und die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und auch darüber hinaus nach sich zieht, beginnt mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Aus den sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in Frankreich und Deutschland[1] für diese entscheidende Neuerung des Militärwesens erklärt sich eine weit auseinandergehende Wehrgesetzgebung im zu beschreibenden Zeitraum, weder innerhalb der Länder selbst noch im bilateralen Vergleich.

Die Entwicklung der allgemeinen Wehrpflicht ist deshalb nicht als durchgängig kohärent anzusehen, was allein bei der Betrachtung der vielfältigen Regimewechsel Frankreichs im 19. Jahrhundert logisch erscheint. Dennoch können wir eine Linie in der Militärpolitik beider Länder finden, die uns am Ende unserer Untersuchung zu einer zunehmenden Durchsetzung der tatsächlichen Allgemeinheit der militärischen Dienstpflicht führen wird. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die allgemeine Wehrpflicht nicht als notwendiges Kriterium für ein demokratisches Staatswesen angesehen werden kann.[2]

Die Kernfrage dieser Forschungsarbeit lautet demnach, wie allgemein und gleich die Wehrpflicht zu ausgewählten historischen Zeitpunkten im außerordentlich bewegten 19. Jahrhundert bis hin zum Vorabend des Ersten Weltkrieges war und welche Hintergründe und Reaktionen es bezüglich der entsprechenden Wehrgesetze gibt.

Mit der Verpflichtung zur Verteidigung des Vaterlandes verknüpft sich nicht nur die Vorstellung der Aufhebung einer bisher existierenden Trennung zwischen ziviler und militärischer Sphäre, sondern auch eine neue Vorstellung vom Staat in seinem Verhältnis zum Bürger. Die Wehrpflicht, die gewissermaßen eine Kehrseite der Staatsbürgerrechte bildet, hat demnach nicht zu unterschätzende Auswirkungen sowohl auf sozialhistorische Entwicklungen als auch auf ein neues kollektives Verständnis von Staat und Nation. Militärgesetzgebung geht damit weit über ihre faktische Bedeutung, d.h. rein militärische Bestimmungen, deutlich hinaus und darf bei sozialhistorischen Untersuchungen nicht vernachlässigt werden.

2. Das Volk in Waffen – Die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht

Der Impuls zur Schaffung einer nationalen Armee mit allgemeiner Wehrpflicht ging vom revolutionären Frankreich aus. Die Berufsarmee absolutistischer Prägung, die zu einem Großteil aus ausländischen Söldnern bestand und für den König sowohl an ausländischer Front als auch bei inneren Unruhen bedenkenlos eingesetzt werden konnte, gehörte nach der Revolution der Vergangenheit an.

Die tiefgreifenden Umformungen des französischen Militärwesens ab 1789 umfassten zunächst eine Aufspaltung der Streitkräfte in reguläre Armee und Nationalgarde. Während erstere nur für den Krieg an den Fronten und im Ausland eingesetzt werden durfte, wurde die Nationalgarde, gebildet als eine Form von Bürgerwehr insbesondere zum Schutz gegen die marodierenden Streitkräfte, 1790 als alleinige Armee des Inneren anerkannt.[3] Bemerkenswert hierbei ist die erstmalige Durchsetzung einer Volksbewaffnung, von der durch die Identifizierung der Bürger in Waffen mit dem neu geschaffenen Staat keine Gefahr ausging. Dahingegen wäre eine umfassendende Volksbewaffnung unter Ludwig XVI. und den ihm vorangegangenen Herrschern wohl kaum vorstellbar gewesen, da diese sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gegen ihre absolutistischen Monarchen gewandt hätte. Angesichts der politischen Umwälzungen der französischen Revolution kämpften die Franzosen an den Waffen jedoch nicht als beherrschte Untertanen, sondern als partizipationsberechtigte Staatsbürger für den Erhalt der auf ihrer Souveränität basierenden Republik und für die Behauptung der damit verbundenen Errungenschaften und Rechte.

Es mag verwundern, dass der Vorschlag des Militärpolitikers Dubois-Crancé, einen persönlichen und verpflichtenden Wehrdienst für alle Franzosen ohne Möglichkeit der Stellvertretung im Sinne des republikanischen Prinzips der égalité zugunsten eines wehrhaften Staates einzuführen, 1789 von der Nationalversammlung abgelehnt wurde. Jedoch überwog laut Stellungnahme der assemblée das Prinzip der liberté, was nur durch das Senden von Stellvertretern zum Antritt des Wehrdienstes gewährleistet werden konnte.[4]

So blieb der Eintritt in die Armee zunächst freiwillig. Erst die prekäre Lage Frankreichs im Jahre 1793, als die Bedrängnis durch angreifende Monarchien Europas von Frankreich ein 500 000 Mann starkes Heer zur erfolgreichen Verteidigung forderte und die Rekrutierungsquote der Freiwilligen nicht mehr ausreichte, konnte Kriegsminister Lazare Carnot kraft seines Wehrgesetzes vom 23. August 1793 den Aufruf zu einer levée en masse, einer Massenaushebung, durchsetzen, die alle wehrfähigen Männer an die Waffen rief und zur Verteidigung der Republik verpflichtete. Einzig vom Wehrdienst ausgenommen waren Staatsbeamte, die zur Weiterführung der Staatsgeschäfte unabkömmlich waren; alle anderen männlichen Wehrfähigen wurden propagandistisch motiviert und aufgerufen, die Feinde der Republik zu verjagen.[5] Allerdings unterschätzt man die Wirkung der levée en masse, wenn man in ihr nur eine notgedrungene Kriegsmaßnahme sieht, durch die individuelle Rechte zeitweise beschnitten wurden; stattdessen zielte diese revolutionäre Wehrpflichtbestimmung auch auf moralischen und sozialen Zusammenhalt in der bis zum Ende des ancien régime starren Ständegesellschaft.[6]

Allerdings blieb die Umsetzung dieser umfassenden Erhebungsmaßnahme eine Ausnahme: Bereits 1794 wurden Massenerhebungen zu Einzelfällen und die gesetzmäßige Regelung von 1798, die loi Jourdan, gewährte schließlich zahlreiche Exemtionen. Dass es noch vor der Machtergreifung Napoleons nicht bei einem Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht in Anlehnung an die levée en masse blieb, mag weniger an mangelndem Vertrauen in die Bevölkerung gelegen haben als an wirtschaftlichen Gründen. Die Finanzkrise Frankreichs unter Ludwig XVI. bot von vorneherein keine günstigen materiellen Voraussetzung für die junge Republik. Die dauerhafte Versorgung einer Nationalarmee mit vollständig durchgesetzter allgemeiner Wehrpflicht, in ihrem Umfang 1793 größer als jede bis dahin bekannte europäische Streitkraft, war deshalb zu diesem Zeitpunkt ökonomisch schlichtweg unmöglich. Hinzu kamen hohe Verluste an menschlichen Ressourcen während der langandauernden Revolutionskriege, die der breiten Masse der Bevölkerung nicht dauerhaft auferlegt werden konnten.

Trotz der noch zu beschreibenden Einschränkungen, die nach 1793 die Allgemeinheit der Wehrpflicht abschwächten, liegt in der Erfahrung eines Volksheeres eine ungeheure, bisher unbekannte militärische und ideologische Kraft. Die Identität von Staatsbürger und Soldat, dessen Erhebung die Republik im entscheidenden Moment wehrhaft machte, blieb tief und unauslöschlich im kollektiven Gedächtnis verhaftet[7] ; die Konflikte um den soldat citoyen sollten in Frankreich maßgeblich für zukünftige politische Auseinandersetzungen sein.

Natürlich wurden diese revolutionären Geschehnisse in Preußen verfolgt. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert stellte man Überlegungen über eine Heeresreform und die Transformation vom Untertan zum Staatsbürger im Verhältnis zum Staat an.[8] Bisher gab es zwar die seit 1733 eingeführte Kantonpflicht, durch die ein Waffendienst zur allgemeinen Untertanenpflicht erklärt wurde; mit dem städtischen Bürgertum und den Bewohnern von Gewerberegionen sind jedoch weite Teile der Bevölkerung von dieser Verpflichtung freigestellt. Deshalb kann in diesem Zusammenhang noch nicht von einer allgemeinen Wehrpflicht die Rede sein.

Als 1806 die sich unschlagbar glaubende preußische Armee bei Jena und Auerstedt von den napoleonischen Streitkräften vernichtend geschlagen wurde, löste das einen Schock in Preußen aus und führte das Dilemma der Armee, die zu diesem Zeitpunkt aus etwa 50% deutschen, nicht-preußischen ‚Ausländern’ bestand, auf dramatische Weise vor Augen. Zeitzeugenberichte konstatieren folgende Makel des Militärs: die Unterschätzung der Kampfstärke des Gegners als äußere Ursache, auf der innenpolitischen Ebene unfähige, überalterte Generäle und auf Gehorsam gedrillte Offiziere, die ihre kopflos fliehenden Soldaten nicht halten konnten.[9] Diese für Preußen unerwartete und demütigende Niederlage sollte zum Anlass für einschneidende Veränderungen in der Militärpolitik werden.

Nach dem schmachvollen Frieden von Tilsit im Juli 1807, in dem Preußen starke Gebietsverluste hinnehmen musste, richtete der preußische König Wilhelm III. angesichts des militärischen Debakels unverzüglich eine Militär-Reorganisationskommission unter General Gerhard von Scharnhorsts Vorsitz ein. Dieser hatte umfassende Vorstellungen von militärischen Reformen, von denen 1808 aber nur einen Teil umgesetzt werden konnte: Alle männlichen preußischen Untertanen sollten ohne Unterschied der Geburt wehrpflichtig sein, um Ausländer aus der zukünftig nationalen Armee auszuschließen. Das bedeutete ferner, dass Offiziersränge nicht mehr nur dem Adel reserviert blieben, sondern sie auch Bürgerlichen zu öffnen. Außerdem waren ab 1808 auch drakonische Körperstrafen gemäß Gneisenaus Forderung nach der ‚Freiheit der Rücken’ abgeschafft.[10]

Doch Scharnhorsts Ideale von einem Bündnis zwischen Regierung und Nation, das vor allem auf eine Aussöhnung mit dem Bürgertum abzielte, konnte in der Nachkriegsreform nicht vollends verwirklicht werden: Der König stand einer Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht innerhalb einer einzigen Militärorganisation angesichts drohender gesellschaftspolitischer Konsequenzen ablehnend gegenüber. Außerdem war die Alternative der Schaffung einer Miliz im Pariser Frieden von 1808 von Napoleon verboten worden, hinzu kam die französische Vorgabe einer Beschränkung auf eine lediglich 42 000 Mann starke Armee. Umfassende Reformen waren damit unmöglich, aber mit dem ‚Krümpersystem’ schufen die Reformen 1808 bis 1812 eine verdeckte Reserve, ohne die Höchstgrenze zu überschreiten, indem Rekruten nach kurzfristiger Ausbildung wieder entlassen wurden.

Ein Wendepunkt für das von Napoleon kontrollierte Preußen stellte die Niederlage der Streitkräfte des französischen Kaisers auf seinem Russlandfeldzug dar. Nach einem Bündnisschluss mit Russland erklärte Preußen Frankreich im März 1813 den Krieg. Da die vom siegreichen Frankreich auferlegten Friedensbedingungen nach 1806 nunmehr hinfällig geworden waren, konnten Preußens Reformer 1813 nun angesichts des Kriegsausbruchs, der ein hohes Aufgebot an Soldaten forderte, die weitreichenden Ausnahmen der Kantonpflicht aufheben und die allgemeine Dienstpflicht durchsetzen: Alle Männer zwischen 17 und 23 Jahren sollten aktiven Kriegsdienst leisten; ausgenommen waren neben Staatsbeamten und Geistlichen auch Eigentümer von größeren Besitzungen, Gebrechliche sowie Familien-ernährer. Damit wurde der von Friedrich Wilhelm III. zunächst für die Kriegsdauer festgelegte Wehrdienst zur Angelegenheit junger, lediger Männer. Zum Zweck der Unterstützung der aktiven Armee entstand unter Scharnhorsts Initiative die milizartige Landwehr, eine selbständig neben dem stehenden Heer existierende Militärorganisation, die ihre Offiziere selbst wählen konnte, die in Friedenszeiten ausgebildet und im Kriegsfall zusammengerufen werden sollte. In der Landwehr sollten 17- bis 40-jährige dienen, darunter auch die, die vor allem aus Kostengründen nicht in die zahlenmäßig beschränkte aktive Armee integriert werden konnten. Hier waren neben den bereits aufgeführten Eximierten auch Lehrkräfte ausgenommen. Diejenigen, die höchstens 50 Jahre alt waren und weder im stehenden Heer noch in der Landwehr dienten, sollten im Landsturm erfasst werden. Somit waren preußische Männer im Alter von 17 bis 50 Jahren in Friedens- sowie in Kriegszeiten wehrpflichtig. In der Verordnung vom 9. Februar 1813, in dem die Aufhebungen von der bisherigen Kantonpflicht festgehalten wurden, betonte der König die „Verbindlichkeit eines jeden waffenfähigen Bürgers, sein Vaterland gut zu vertheidigen, dessen Erhaltung ihm und seinem Vermögen Schutz und gesetzlich bürgerliche Freiheit gewährt“.[11] Erstmals in der preußischen Geschichte wird ein direkter Zusammenhang zwischen Bürgerrechten und Wehrpflicht entwickelt, der auch in negativen Konsequenzen wie dem Entzug von Bürgerrechten und ggf. dem Gewerbeschein im Falle von Fahnenflucht zutage tritt.[12] Die Verteidigung des Vaterlandes wurde somit zur Voraussetzung für das Ausüben von aktiven und passiven Bürgerrechten erhoben; umgekehrt sollte der Wehrpflichtige den Dienst im eigenen Interesse, nämlich der Behauptung seiner Rechte, ableisten.

Dieses Argument für die Aushebung aller waffenfähigen Männer führen sowohl die französische als auch die preußische Regierung an. Jedoch sind die Voraussetzungen für die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht in beiden Ländern grundverschieden: In Frankreich ging die Massenaushebung vom Prinzip einer allgemeinen Gleichheit aus, die eine souveräne „Staatsbürger-Nation“ und Partizipationsrechte für ihre Bürger mit einschließt. Die Früchte dieses politischen Programms waren Opferbereitschaft und Patriotismus in weiten Teilen der Bevölkerung, die in der Wehrpflicht, dem Gegenstück bürgerlicher Rechte, kanalisiert werden konnten. Gleichheit in der Wehrpflicht galt demnach als Konsequenz aus der insgesamt egalitären Gesellschaftsordnung.

Auch wenn wir die preußischen Reformen[13] zu Beginn des 19. Jahrhunderts berücksichtigen, gab es in Preußen jedoch weder eine souveräne Nation noch eine die monarchische Gewalt eingrenzende Verfassung.[14] Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1813, die nach der Bewährung im Befreiungskrieg 1814 endgültig gesetzlich bestätigt wurde, stellte demnach im preußischen Staat ein echtes Novum dar: Sie beruhte auch auf dem Begriff einer allgemeinen Gleichheit, aber damit war das Militärwesen nicht einfach Spiegelbild einer gesellschaftlichen Entwicklung so wie in Frankreich, sondern es war, nicht zuletzt durch Mitbestimmung des Offizierskorps in der Landwehr, der Vorreiter für zukünftige gesellschaftliche Prozesse.

3. Wehrgesetzgebung und ihre Umsetzung bis 1848

3.1 Frankreich

Wie bereits beschrieben, wurde die allgemeine Wehrpflicht in Frankreich, so umfassend wie sie 1793 in der levée en masse realisiert wurde, nicht dauerhaft übernommen. Bereits 1795 wurde die Nationalgarde, Bürgerwehr zum Schutz der Bevölkerung und Symbol der Aufhebung monarchischen Gewaltmonopols, aus Furcht vor den Folgen autonomer Volksbewaffnung unter das Kommando der Armee gestellt.[15]

Die loi Jourdan vom September 1798 hielt zwar am Grundsatz der Wehrpflicht fest, machte aber bald folgende Einschränkungen: Zwar waren alle ledigen Männer von 20 bis 25 Jahren für eine Dienstzeit von 5 Jahren wehrpflichtig, die Friedensarmee bestand aber aus Freiwilligen und einem vom Gesetzgeber bestimmten Kontingent, das durch per Los gezogene Wehrpflichtige erfüllt werden sollte. Die tatsächliche Einberufung aller Männer behielt man sich laut Gesetz lediglich für den Kriegsfall vor. Dies bedeutete einen Schritt zurück zu einem arbiträren und ungleichen Militärdienst, der indirekt auch wieder Stellvertretung zuließ und durchaus auch auf den Widerstand der Bevölkerung stieß: 1799 entzogen sich etwa 63% der Einberufenen ihrer Dienstpflicht.[16]

Ab 1802 verdrängte eine besoldete Armee mehr und mehr den soldat citoyen, was mittels einer direkt an den Staat entrichteten allgemeinen Steuer finanziert wurde, die für Wohlhabende eine geringere Belastung darstellte als für ärmere Schichten. Dieses der Stellvertretung ähnliche System wendete sich zunehmend von der revolutionären Vorstellung eines Volkes in Waffen ab, wählte seine Soldaten selbst aus und konnte die quantitativ eher beschränkte Armee nicht zuletzt durch die gute Ausbildung kaisertreuer Offiziere an elitären Militärschulen zu Napoleons Zwecken instrumentalisieren. Das entspricht dem autoritären Regime des Kaisers, denn ungeachtet der durch Plebiszite vorgetäuschten Mitbestimmung des Volkes handelte es sich beim Napoleonischen Ersten Kaiserreich um ein repressives System[17], das mit umfassender Volksbewaffnung Aufstände und vielleicht sogar seinen Sturz riskiert hätte.

Trotz massiver Aushebungen ab 1808, gegen die sich immer mehr Widerstand in der Bevölkerung regte, bestand etwa die Hälfte der kaiserlichen Armee auf dem Russlandfeldzug 1812 aus zwangsweise eingegliederten Kontingenten aus Preußen, Österreich und den Rheinbundstaaten. Dies ist eines der auffälligsten Indizien dafür, dass sich Frankreich unter Napoleon von nationalen und partizipatorischen Elementen des Volkskrieges wieder deutlich entfernte.[18]

Unter dem Diskredit, in den die Armee besonders in den letzten Jahren des Kaiserreiches geraten war, sollte die Durchsetzung der Konskription[19] bzw. die Idee einer allgemeinen Wehrpflicht noch in der Restaurationszeit und unter der Julimonarchie leiden.[20] So schaffte denn der Bourbonenkönig Ludwig XVIII. 1814 auch sofort das Prinzip der Konskription ab. Stattdessen kehrte er zur Berufsarmee zurück, stützte sich auf Freiwillige und stellte 1814 und 1816 neue Zugangskriterien für die Nationalgarden auf, die er zwar nicht ganz abschaffen, aber soweit wie möglich unter seiner Kontrolle halten wollte. Die Nationalgarden sollten deshalb „essentiellement civiles, sédentaires, locales et sélectives“[21] sein: Von allen 20- bis 60-jährigen männlichen Franzosen sollten diejenigen in der Nationalgarde dienen, die Steuern bezahlten und Besitzstände als ‚Pfand’ für ihr Interesse an der Erhaltung der bestehenden Ordnung vorweisen konnten. Mitglieder der Berufsarmee, Geistliche in Ämtern und Beamte, welche bei der möglichen Anforderung von bewaffneter Gewalt nicht in Interessenkonflikte kommen sollten, wurden vom Dienst in der Nationalgarde befreit.[22] Damit wurde auf selektive Weise nur der Teil der Bevölkerung in einer milizartigen Militäranstalt organisiert, die auf die Status-Quo-Sicherung bedacht war und sich selbst einkleiden und ausrüsten konnte.

Aus dem Konflikt zwischen liberalen und konservativen Kräften entstand 1818 ein neues Militärgesetz, das einen Kompromiss zwischen Quantität und Qualität der Armee einging: Die loi Gouvion Saint-Cyr führte die Konskription wieder ein und legte fest, dass alle 20-jährigen Männer, ob verheiratet oder ledig, wehrpflichtig seien. Ein jährlich festgelegtes Jahreskontingent wurde durch Losziehung erfüllt, wobei die mauvais numéros 6 Jahre bzw. ab 1824 sogar 8 Jahre dienen mussten oder sich einen Stellvertreter kaufen konnten. Aus dem Stellvertretersystem resultierten zwei Missstände: Zum einen bildeten ärmere Schichten den Hauptbestandteil der Armee, da sie sich den Freikauf im Gegensatz zu Wohlhabenderen nicht leisten konnten. Zweitens entstand ein regelrechter Menschenhandel mit der Einrichtung von bureaux de remplacement zur Vermittlung von Stellvertretern.[23] Die enormen Spannungen zwischen dem wirtschaftlich dominierenden Bürgertum, das in der Armee nicht repräsentiert war (zum einen durch die Möglichkeit des Freikaufs, zum anderen waren seine Perspektiven in der Armee begrenzt, da die Ernennung von vorzugsweise adeligen und königstreuen Offizieren dem König vorbehalten war) und einem restaurativen Regime mit unter Karl X. noch zunehmenden aristokratischen Tendenzen fand seinen Kulminationspunkt in der Julirevolution von 1830. Dieser waren neben den in Pressefreiheit und Wahlrecht eingreifenden Juliordonnanzen, die als hervorzuhebender Auslöser anzusehen sind, auch die Entlassung der Pariser Nationalgarde 1827 vorangegangen, nachdem diese sich auf einer Parade dem Monarchen gegenüber feindselig gezeigt hatte.[24]

[...]


[1] Zur Vereinfachung dieses Vergleichs können wir Frankreich lediglich Preußen gegenüberstellen, das aufgrund seines späteren Durchsetzungsvermögens bei der Bildung des Norddeutschen Bundes und des Kaiserreiches exemplarischen Charakter besitzt.

[2] Beispiele dafür, dass allgemeine Wehrpflicht und Demokratie nicht notwendigerweise zusammenfallen, liefern die Auflösung der Wehrpflicht in der Weimarer Republik und ihre Wiedereinführung in der nationalsozialistischen Diktatur des Dritten Reiches.

[3] Krumeich (1994), S. 135.

[4] Krumeich (1994), S. 136.

[5] Händel (1962), S. 38.

[6] vgl. Moran (2003), S. 2.

[7] Krumeich (1994), S. 134.

[8] Schnitter (1994), S. 37.

[9] Hagemann (2002), S. 17.

[10] Händel (1962), S. 48.

[11] Preußische Gesetzsammlung 1806-1825 (1831-1904), S. 24.

[12] Hagemann (2002), S. 90.

[13] Gemeint sind hier vor allem die politischen Reformen unter der Leitung von Reichsfreiherr vom und zum Stein und Freiherr von Hardenberg nach dem Zusammenbruch von 1806/07. Die Bauernbefreiung beseitigte die bäuerliche Erbuntertänigkeit. Die Städteordnung von 1808 führte das Prinzip der Selbstverwaltung auf kommunaler Ebene ein. Mit der Einführung der Gewerbefreiheit 1811 wurden die Zunftordnungen aufgehoben. Die Judenemanzipation von 1812 führte zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden. Mit der Schaffung der fünf klassischen Ministerien (1808/10) für Inneres, Auswärtiges, Finanzen, Krieg und Justiz mit dem Staatskanzler als Vorsitzenden des Ministerrates wurden die obersten Staatsbehörden neu organisiert. [Brockhaus (2001)]

[14] Eine Gegenüberstellung dieser unterschiedlichen Entstehung der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen und Frankreich gibt Frevert (1997), S. 24.

[15] Carrot (1979), S. 103.

[16] Krumeich, (1994), S. 137.

[17] Tulard (1989), S. 229f.

[18] Walter (2003), S. 105.

[19] Die Begriffe ‚Konskription’ und ‚Wehrpflicht’ werden in der Forschungsliteratur oft synonym verwendet, wobei angemerkt werden sollte, dass ‚Konskription’ eine Wehrpflicht mit Einschränkungen, z.B. Loskauf oder Stellvertretung, bezeichnet.

[20] vgl. Girardet (1998), S. 20.

[21] Carrot (1979), S. 150.

[22] Carrot (1979), S. 161.

[23] Zu den Bestimmungen der loi Gouvion-Saint Cyr und den o.g. Auswirkungen: Krumeich (1994), S. 139.

[24] Carrot (1979), S. 243.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Völker in Waffen - Zur allgemeinen Wehrpflicht in Frankreich und Deutschland (1793 – 1914)
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1.7
Autor
Jahr
2005
Seiten
31
Katalognummer
V139361
ISBN (eBook)
9783640494132
ISBN (Buch)
9783640493685
Dateigröße
518 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Völker, Waffen, Wehrpflicht, Frankreich, Deutschland
Arbeit zitieren
Eva Sauerteig (Autor:in), 2005, Völker in Waffen - Zur allgemeinen Wehrpflicht in Frankreich und Deutschland (1793 – 1914), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139361

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