Baugeschichte von San Marco in Venedig


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

35 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

I. Einleitung
1. San Marco in Venedig
2. Thema, Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

II. Chronologie der Baugeschichte
1. Gründung un Planung von San Marco
2. Der erste Kirchenbau
3. Der zweite Kirchenbau
4. Der dritte Kirchenbau

III. Forschungsgeschichtliches Kapitel
1. Unstimmigkeiten der Strukturen
2. Vorbilder von San Marco
3. Besondere Veränderungen im Inneren der Kirche
4. Fassadenthematik
5. Erkenntnisse der Deutschen Forschungsgesellschaft 2003
6. Die Bronzepferde

IV. Zusammenfassung

V. Bibliographie

I. Einleitung

1. San Marco in Venedig

Für die meisten Betrachter erscheint San Marco als großes Kunstwerk aus einem Guss aus glanzvollen Steinen und imposantem Mosaikwerk. Dass dem nicht so ist, ist auf den ersten Blick nicht erkenntlich. Die jeweiligen Epochen haben ihren Teil zum Charakter von San Marco beigetragen. Innerhalb von 900 Jahren wurde immer wieder „gebaut, ergänzt und restauriert[1] “.

Es ist herausgefunden worden, dass es vor der heutigen Markuskirche schon zwei weitere gegeben hatte. Die erste Markuskirche wurde 829/ 30 von dem Dogen Giovanni Partecipazio begonnen und nach nur kurzer Bauzeit vollendet[2] ; die Überlieferung weiß zwar von einer Bautätigkeit auch unter dem Dogen Pietro Orseolo I., der dieses Amt von 976 bis 978 inne hatte, jedoch ist nicht anzunehmen, dass es sich hier um einen Neubau handelt. In dieser kurzen Amtszeit können nur Instandsetzungsarbeiten an der Kirche vorgenommen worden sein[3], die 976 stark durch einen Brand in Mitleidenschaft gezogen worden war.1063 hat der Doge Domenico Contarini einen Neubau errichten lassen. Das Gesicht des ursprünglichen Contarini- Baus hat sich in den darauffolgenden Jahrhunderten durch etliche bauliche Maßnahmen und durch die opulente Ausgestaltung stark verändert[4]. Entscheidend bei der Veränderung des Baus war auch die Ausschmückung durch von dem vierten Kreuzzug mitgebrachtem Beutegut. Infolgedessen verdeckten nun marmorne Säulen und Steinplatten die Fassaden. Bei Restaurierungsarbeiten im 19. Jahrhundert hat sich herausgestellt, dass der Contarini- Bau nicht vollständig über neuen Fundamenten erbaut wurde, sondern auch unter Verwendung älteren Baumaterials, das augenfällig hauptsächlich Teil des Partecipazio- Baus war. Diese Ausfindung verdeutlichte, dass ohne eine Rekonstruktion der ersten Markuskirche die Baugeschichte der Contarini- Kirche nicht aufzuschlüsseln ist; es muss und musste durchleuchtet werden, in welchem Maße die Rücksichtnahme auf den Partecipazio- Bau die Planung des Neubaus beherrscht hat.

Aufgrund all der Veränderungen und Neuerungen an San Marco scheint die Grundstruktur des 11. Jahrhunderts an einigen Stellen zwar noch durch, jedoch lassen sich klare Aussagen über das ehemalige Gesicht der Kirche nur schwerlich treffen. Dadurch sind in der architekturgeschichtlichen Forschung viele Spekulationen über die Baugeschichte gemacht worden.

San Marco fungierte einerseits als Kathedrale der Stadt und andererseits als geweihter Ort, der die Grundprinzipien der Autorität und die Garantien für den Staat Venedig repräsentierte. Es war in erster Linie die Kirche des Dogen, der Magistraten und derer die in offizieller Verbindung mit dem Staate standen. Demzufolge diente der Markusdom auch für folgende offizielle und politische Zeremonien: die Wahl des Dogen, die Segnung der in den Krieg ziehenden Soldaten, die wichtigsten „Amtseinsetzungen und die Ausstellung der dem Feind abgenommenen Fahnen[5] “. Ferner wurde der Kirchenbau auch oft auf Geldmünzen dargestellt. So verbanden sich rechtliche und diplomatische Aspekte im Namen des Hl. Markus mit patriotischen und religiösen Idealen, die in den Sinnbildern der Fahnen und im steinernen Löwen mit dem aufgeschlagenen Evangelienbuch zum Ausdruck kamen, dem beeindruckenden Emblem der venezianischen Herrschaft.

2. Thema, Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

Dieser Hausarbeit liegt die Baugeschichte von San Marco zugrunde. Zielsetzung der Arbeit ist es, die unterschiedlichen Bauphasen und deren jeweilige Veränderungen sowohl in als auch an der Kirche herauszuarbeiten. Ebenfalls von Bedeutung für diese Arbeit sind die Vorbilder und Einflüsse von San Marco.

Die Hausarbeit beginnt mit einführenden Worten über San Marco in Venedig. Im Kapitel der Chronologie der Baugeschichte werden die Gründung und Planung von San Marco und die drei Kirchenbauten besprochen. Im darauffolgenden forschungsgeschichtlichen Kapitel werden Punkte wie Unstimmigkeiten der Strukturen, Vorbilder von San Marco, Veränderungen im Inneren der Kirche, die Fassadenthematik, Erkenntnisse der Deutschen Forschungsgesellschaft und die Bronzepferde erarbeitet. Abschließend folgen eine Zusammenfassung zu den Ergebnissen der Fragestellung, Bibliographie und Abbildungsanhang.

II. Chronologie der Baugeschichte

1. Gründung un Planung von San Marco

Durch die aus Alexandria im Jahre 828/ 29 gestohlenen Markus- Reliquien waren die Venezianer stark genug, um sich gegen das fränkische und byzantinische Reich und das Papsttum zu behaupten, die die Unabhängigkeit des aufstrebenden Venedigs gefährden konnten. 827 war auf dem Konzil von Mantua die Auseinandersetzung um den rechtmäßigen Sitz des Patriarchats zwischen dem fränkischen Aquileia und dem venezianischen Grado zugunsten von ersterem entschieden worden. So fiel Venedig dem fränkischen Patriarchat zu. Da die Venezianer aber im Besitz der Gebeine des Hl. Markus waren, der vermeintliche Gründer des Patriarchats, konnten sie weiterhin für die Ansprüche Grados eintreten, um sie dann an sich zu reißen. Ferner mag wohl aufgrund des Autonomiestatusses das Bedürfnis entstanden sein, „sich geschickt durch den Mythos einer Stadtgründung, die direkt auf den Hl. Markus zurückgeführt wurde, eine apostolische Vergangenheit zu schaffen[6] “. Denn offensichtlich wurde der Evangelist, der Jünger Petrus’, zu den Aposteln hinzugezählt. In diese solemne Selbstdarstellung wollte man sich auf den frühchristlichen Ursprung zurückberufen, der gerade aufgrund seiner historisch nicht gesicherten Wurzeln eines bedeutsamen und demonstrativen Gestus bedurfte[7]. So erklärt sich also, warum die Kirche der Zwölf Apostel, der ruhmreiche Aufbewahrungsort der Reliquien aus antiker Zeit, zum Vorbild erwählt wurde und kein Gebäude der blühenden zeitgenössischen Architektur Konstantinopels.

Der Doge Giustiniano Partecipazio nimmt die Verlegung des Regierungssitzes von den abseits gelegenen Inseln Eraclea, Torcello und Malamocco ins Zentrum der Lagune, nach San Marco, zum Anlass, dem Evangelisten Markus dort ein Heiligtum zu erbauen. Dieses sollte im Laufe der Geschichte zum „Zentrum der Macht[8] “ und dem Enststehungsort der Ideale werden. Hier zeigte sich die architektonische Manifestation des erstarkenden venezianischen Selbstbehauptungswillen. 1094 wurde die nach dem Hl. Markus benannte Kirche geweiht. An diesem Punkt hatte Venedig seine Mutterkirche, die von dem Hl. Markus gegründete Kirche von Aquileja, und gleichzeitig Sitz des adriatischen Patriarchats, in der apostolischen Würde beerbt.

2. Der erste Kirchenbau

Die erste Markuskirche wurde 829/ 30 von dem Dogen Giovanni Partecipazio angefangen und nach kurzer Bauzeit fertiggestellt[9]. Der 829 verstorbene Doge Giustiniano Partecipazio betraute in seinem, in einer Kopie des 14. Jahrhunderts tradierten, Testaments[10] seine Gattin, eine Kirche zu Ehren des Hl. Markus zu erbauen, infra territorio Sancti Zachariae, dessen Ort sich unterhalb des Gartens des nahegelgenen Nonnenklosters befand. Die Weihe soll bereits 836 stattgefunden haben. Partecipazio sorgte ferner für die Bereitstellung von Baumaterial, das hauptsächlich von den überzähligen Steinen der Abtei St. Ilario kam. Die restlichen Materialien wurden von anderen Quellen beschafft, darunter war auch ein Haus auf Torcello. Dies scheint zu verdeutlichen, dass die Kirche zumindest teilweise, aus vorgefertigtem Material gebaut wurde, das auch antike Spolien beinhaltet haben könnte. Partecipazio, der bald darauf verstarb, begann wohl noch nicht mal das Gebäude, obwohl Giovanni Diacono das Gegenteil bestätigte. Wenn der Bau noch zu seiner Lebzeit begonnen worden wäre, hätte er wohl kaum die Unannehmlichkeit auf sich genommen, in seinem Testament den zu bebauenden Ort zu erwähnen. Seine Witwe und Giovanni, sein Bruder und Nachfolger, handelten nach seinem letzten Willen und vollendeten die Kirche in den 30er Jahren des 9. Jahrhunderts. Obwohl heute von der ersten Kirche nichts sichtbar ist, ist die Frage nach dem architektonischen Typ und der Ausdehnung von hoher Wichtigkeit, nachdem diese die Form und die Ausmaße der heutigen Kirche beeinflusst haben könnten. Einige Teile des Baumaterials können auch in dem späteren San Marco enthalten sein. Die Quellen liefern keine profunde Basis für eine Rekonstruktion des ursprünglichen Gebäudes. Die einzigen Hinweise, auch wenn diese selbst nicht sehr verlässlich sind, sind in der Translatio Sci Marci und im Chronicon Altinate (Venetum), das deutlich der Geschichte der Translatio folgt, bis auf einen Fehler nämlich den Namen des Gründers, enthalten. Das gleiche Bausatzmuster –die Grabeskirche in Jerusalem- ist von dem Chronicon Altinate für den Grundbau von San Marco, San Salvatore und von dem späten chronico von Stefano Magno für San Zaccharia beansprucht. Demus ist der Meinung, es sollte nicht zu viel Bedeutung in die vermeintliche Beziehung zwischen San Marco und der Grabeskirche gelegt werden. Wie dem auch sei, die Aussagen der venezianischen Chroniken sind keine große Hilfe, den Grundriss und die Gestalt der ersten Markuskirche wieder zu errichten. Aufgrund des Typus und des Grundrisses waren sich bis vor kurzem alle „Sachverständigen“ einig, dass die erste Markuskirche ein basilikales Gebäude mit einem hölzernen Dach war. Laut Cattaneo war es ein eher kleines Gebäude. Er nahm an, dass es sich von der heutigen Westwand des Mittelschiffes bis zu dem östlichen Ende des Querschiffes erstreckte, und nur in einer Apsis endete, die Gänge waren gegen Osten durch gerade Wände geschlossen[11]. Cattaneo leitete die Größe des ursprünglichen Gebäudes von späten Chroniken ab, diese sprechen von einem ersten kleinen Gebäude im Gegensatz zu der neuen Kirche des 11. Jahrhunderts. Eine Großzahl von Chroniken besteht auf der Tatsache, dass die neue Kirche einen unterschiedlichen Grundriss hatte, gebaut „in altra maniera die quello la era a quel tempo“. Viele Autoren haben angenommen, ohne jeglichen Beweis für eine solche Behauptung, dass die wichtigsten Wände des heutigen Gebäudes auf den Fundamenten der Kirche aus dem 9. Jahrhundert ruhen, mit Ausnahme des Presbyteriums, des Querschiffes und des Atriums, von denen alle nach der herrschenden Meinung im 11. Jahrhundert hinzugefügt wurden.

Kürzlich wurde diese Behauptung, die Eingang in alle aktuellen wissenschaftlichen Bücher gefunden hat, durch die Ergebnisse der Sondierungen und Ausgrabungen, die Forlati 1950 durchgeführt hatte, herausgefordert. Zuerst zeigt sich, dass dort, wo man durchgehende Mauerfundamente, die die Querschiffe entlang der Linie durchkreuzen, die wiederum die Wände des westlichen Kreuzarmes mit denen des Presbyteriums verbindet, erwarten sollte, sich gar kein solches Mauerwerk befindet[12]. Auch wurden keine Spuren von Kolonnadenfundamenten, die in der Fortführung der bestehenden säulenförmigen Arkade noch vorhanden sein sollten, gefunden. Des Weiteren kann nun bewiesen werden, dass das Material und die Arbeitstechnik der Querschiffwände, laut Cattaneos Theorie im 11. Jahrhundert neu gebaut, identisch mit denen der westlichen und nördlichen Wände ist, von letzteren wurde angenommen, dass sie ,zumindest in ihren unteren Schichten, zu der ersten Kirche aus dem 9. Jahrhundert gehörten. Überdies scheint es, dass die Steine des Fundaments der zentralen Pfeiler von römischer Arbeitsausführung sind und tatsächlich Teile der antiken Spolien sind, die Partecipazio in seinem Testament für den Bau der Kirche haben wollte. Diese sind im Übrigen den Steinen des Fundaments des Campaniles ähnlich, die im 9. Jahrhundert aufgestellt wurden. Dieser Anhaltspunkt gab Forlati ein gutes Argument seine Rekonstruktion der San Marco- Kirche aus dem 9. Jahrhundert als kreuzförmiges Gebäude zu liefern[13], der Grundriss entsprach in vielerlei Hinsicht dem der heutigen Kirche. Die Hauptunterschiede zwischen Forlatis Rekonstruktion und dem heutigen Grundriss betrifft die Apsiden, die, in dem Gebäude des 9. Jahrhunderts, noch nicht ihre Artikulierung mit Nischen und Stützpfeilern erreicht hatten. Die seitliche Ausdehnung des Querschiffes, das die nördlichen und südlichen Kapellen (Cappella S. Isidoro, Madonna dei Mascoli gegen Norden; Schatzkammer, Capella delle Reliqie gegen Süden) nicht beinhaltete; und das Atrium, das zu der Zeit nicht bestanden haben kann, zumindest nicht in seiner heutigen Form, nachdem die äußeren Seiten der Wände des westlichen Kreuzarmes unter ihrer heutigen marmornen „Verkrustung“ untrügliche Spuren zeigen, dass sie langer an frischer Luft exponiert waren.

Die Westwand scheint Teile zu besitzen, die aus dem 9. Jahrhundert stammen. Dazu könnte die große Nische des Haupteingangs der Kirche gehören. Die unteren Teile der Treppe, die von der Eingangsnische zu den Emporen führen, könnten ebenfalls Teil der Struktur des 9. Jahrhunderts sein. Die Treppen erweitern sich an einem bestimmten Punkt, ändern die Richtung und, auf der südlichen Seite, sogar ihren Neigungswinkel- eine Unregelmäßigkeit, die andeutet, dass der untere und der obere Teil der Treppen in unterschiedliche Zeiten gehören könnten. Die frühere dieser Perioden könnte das 9. Jahrhundert gewesen sein. Die ursprüngliche Krypta muss sich ebenfalls von der heutigen unterschieden haben. Laut Cattaneo kann nur der westliche Teil der Krypta, der heute zugemauert ist, als aus dem 9. Jahrhundert stammend betrachtet werden. Sie befindet sich unter der zentralen Kuppel und scheint eine Art erhöhten Platz gebildet zu haben, wo der ursprüngliche Altar stand[14]. Es ist gut möglich, dass die Dächer oder Kuppeln der Kirche aus Holz waren, ähnlich denen von S. Donato auf Murano und Sta Fosca auf Torcello. Der allgemeine Aufbau des kreuzförmigen Grundrisses und ebenso, vielleicht, die Stellung des Hauptaltars im Vierungsquadrat verbinden die venezianische Kirche mit der der Zwölf- Apostel in Konstantinopel. Seit langem weiß man, gewiss seit der Zeit des Baus, dass die dritte Kirche dem Prototyp der Konstantinopler Kirche folgte. Es ist jedoch nur ein Ergebnis von Forlatis Entdeckungen, dass eine gleiche Beziehung für die erste Kirche für den Evangelisten anzunehmen ist. Da die exakten architektonischen Züge des Gebäudes aus dem 9. Jahrhundert bis heute kaum bekannt sind, ist es nicht möglich durch einen Vergleich den genauen Gleichheitsgrad zwischen den beiden Gebäuden zu bestimmen. Es ist nur zu betonen, dass, bei aller Wahrscheinlichkeit, schon die erste San Marco- Kirche vom Apostoleion abhängig war, so weit das in dieser Hinsicht möglich war.

Es existierten tatsächlich sowohl Gelegenheit als auch Beweggrund für die Venezianer, die Kirche der Zwölf- Apostel in Konstantinopel als Muster für ihre heilige Stätte zu benutzen. Die erste Kirche wurde durch Besuche der Partecipazio- Brüder in Konstantinopel und durch die nahe Annäherung von Venedig und Byzanz im 9. Jahrhundert „versorgt“. Letzteres endete in dem Interesse, das byzantinische Herrscher zeigten, indem sie venezianische Kirchen gründeten und errichteten. Obwohl dieses Interesse nicht für San Marco im speziellen bestätigt ist, ist es für S. Zaccharia, S. Ilario, S. Severo und S. Lorenzo bestätigt. Laut Demus wählten die Dogen die Zwölf- Apostelkirche als Vorlage für die erste San Marco- Kirche, weil diese religiöse, dynastische und politische Funktionen erfüllen sollte genauso wie die erstere dies tat. Darüber hinaus gab es in Italien die von dem Hl. Ambrosius geschaffene Tradition, kreuzförmige Grundrisse für Apostelkirchen zu verwenden. Die Gründung von San Marco war ein Wiederauflebenlassen dieser Tradition, die für die kirchliche Verfahrensweise gepflegt wurde.

Die Frage, was von der ersten Kirche noch besteht, ist schwer zu beantworten. Man kann aufgrund der Gründlichkeit von Cattaneos, Marangonis und Forlatis Forschungen annehmen, dass Teile der äußeren Wände, besonders die Fundamente der heutigen Kirche und die Westwand mit der großen Nische, Relikte des ersten Baus sind, genauso wie der westliche Teil der Krypta. Große Schwierigkeiten tauchen im Hinblick auf einzelne Teile der architektonischen Artikulierung und Dekoration auf, die, obgleich sie stilistisch in das 9. Jahrhundert einzuordnen wären, Spolien von anderen Gebäuden sein könnten, die im 11. Jahrhundert oder später in ihre heutigen Plätze eingebettet worden sein könnten.

Abschließend war der Grundriss der ersten Kirche von San Marco ein Eingriff in diesen Wirkungsbereich. Er wurde von Konstantinopel nach Venedig „verpflanzt“, um das bekannte Martyrium der Heiligen Apostel nachzuahmen und um die ambrosianische Tradition wieder zu beleben.

3. Der zweite Kirchenbau

976 verwüstete während des Aufstandes gegen den Dogen Pietro IV Candiano ein großes Feuer Venedig; diesem ist auch der Partecipazio- Bau zum Opfer gefallen. Die erste Quelle, die über das Feuer und den folgenden Wiederaufbau der Kirche zu Beginn des 11. Jahrhunderts berichtet, ist die Chronik[15] von Giovanni Diacono. Dandolo und andere Chronisten des 14. und 15. Jahrhunderts geben Diaconos Aussagen fast wörtlich wieder[16]. Aus diesen Quellen ist zu erfahren, dass die Kirche ernsthaft beschädigt war; sogar so sehr, dass die Amtseinführung von Pietro Orseolo I in einer anderen Kirche stattfinden musste. In den genannten Quellen fallen Ausdrücke wie redintegrare, redifichar, reparare, restaurare und complere; diese deuten darauf hin, dass es sich bei der Arbeit Orseolis mehr um eine Restaurierung der ursprünglichen Kirche handelt als um einen kompletten Neubau. Da ein Großteil der Kirche aus Holz bestand, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Feuer diese Teile hinweggerafft hat. Jedoch die Tatsache, dass die Orseolis die Baukosten für sowohl die Kirche als auch den Palast aus eigenen Mitteln bestritten und dass das Werk innerhalb von zwei Jahren wiederhergestellt war, lässt darauf schließen, dass die Struktur der Wände und der Abstützwinkel keinen allzu großen Schaden davon getragen hat[17]. Nach dem bisherigen Forschungsstand ist nicht zu sagen, ob die von Pietro Orseolo wiederaufgebaute Kirche die gleiche Gestalt wie die Partecipazio- Kirche hatte. Letztlich macht es laut Demus den Eindruck, dass der Wiederaufbau der Kirche schnell vonstatten ging und die beschädigten Teile schnell zusammengeflickt wurden anstatt richtig repariert zu werden. Laut Herzner sind möglicherweise die Vorhallen in die Zeit des zweiten Baus einzuordnen. Abschließend erwähnt Diacono in seiner Chronik von 1008 im Zusammenhang mit dem Verschwinden des Dogen Pietro Orseolo I. erstmals deren Existenz. Dort heißt es „er wurde in der Wohnung, in der Kirche und in der Krypta gesucht“.

[...]


[1] Schuller, Manfred: Hinter der Fassade von San Marco, in: forschung 1/ 2006, Bonn 2006.

[2] Demus, The Church of San Marco in Venice, S. 64 f.; der 829 verstorbene Doge Giustiniano Partecipazio beauftragte in seinem (in einer Kopie des 14. Jahrhunderts überlieferten) Testament seine Gemahlin, ut hedificet basilicam ad suum honorem (=beat Marci) intra territorio sancti Zachariae (La Basilica, Documenti, Nr. 20). Die Weihe soll bereits 836 stattgefunden haben.

[3] Demus 1960, S. 79 f.; ebenso Dorigo, Wladimiro: Venezia, Mailand 1983, S. 579 f. Von einer „Orseolo- Kirche“- wie es häufig in der Literatur vorkommt- soll daher im folgenden überhaupt nicht die Rede sein.

[4] Vgl. Demus 1960, S. 75 f.

[5] Perocco, Guido: Die Basilika von San Marco, Venedig 1974, S. 26.

[6] Zuliani, Fulvio: Die Bauhütte der Sankt- Markus- Kirche, in: Die Baukunst im Mittelalter, Düsseldorf 2005, S. 72.

[7] Über die Entstehung des Mythos siehe ebenfalls Demus, 1960, bes. S. 7- 18.

[8] Demus, Otto, Wladimiro Dorigo, Antonio Nero, Guido Perocco, Ettore Vio: San Marco. Die Mosaiken. Das Licht. Die Geschichte, München 1993, S.21.

[9] Demus 1960, S. 64 f.

[10] Das Dokument ist in abgekürzter Form gedruckt in La Ducale Basilica, Documenti, S. 3, no. 20.

[11] La Ducale Basilica, Testo, S. 113 ff.

[12] Demus 1960, S. 65.

[13] Demus 1960, S. 66.

[14] La Ducale Basilica, Testo, S. 117f.

[15] Giovanni Diacono (der Absatz ist gedruckt in La Ducale Basilica, Documenti, S. 5, no.40): … unde factum est quod non modo palatium verum etiam sanct i Marci sanctique Theodori nec son, sanctae Mariae de Jubinico ecclesiae et plus quam trecente mansiones eo die urerentur.

[16] Der erste Absatz von Giovanni Diacono, der in der vorhergehenden Fußnote zitiert wurde, von unde bis urerentur, ist wörtlich in Andrea Dandolos Chronik zu finden (La Ducale Basilica, Documenti, S. 4 no. 37)

[17] La Ducale Basilica, S. 132.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Baugeschichte von San Marco in Venedig
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Byzantinistik, byzantinische Kunstgeschichte und Neogräzistik)
Veranstaltung
Strategien der Wiederverwendung: Spolien in der Spätantike, in Byzanz und im Islam
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
35
Katalognummer
V139169
ISBN (eBook)
9783640486458
ISBN (Buch)
9783640486632
Dateigröße
512 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Baugeschichte, Marco, Venedig
Arbeit zitieren
Julia Lehnert (Autor:in), 2008, Baugeschichte von San Marco in Venedig, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139169

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