Korpusbeschreibung dreier Franz Fuchs zugeordneter Schriftstücke


Seminararbeit, 2000

48 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG

2. DIE CAUSA „FRANZ FUCHS“ UND DAS VORLIEGENDE KORPUS

3. FORMALE BESCHREIBUNG

4. BESTIMMUNG DER TEXTSORTEN

5. ISOTOPIE

6. THEMEN
6.1. Themenentfaltung

7. TEXTKONNEKTOREN
7.1. Verweisformen
7.2. Textorganisatoren
7.3. Gliederungssignale
7.4. Rhetorische Mittel
7.4.1. Rhetorische Figuren
7.4.2. Redetaktiken

8. SPRECHAKTE

9. STIL - Kolloquialismen

10. ZUSAMMENFASSUNG

11. LITERATURVERZEICHNIS
11.1. Primärliteratur
11.2. Sekundärliteratur

12. ANHANG
12.1. VGT 1
12.2. VGT 2
12.3. VGT 3

1. EINLEITUNG

Seit Jahrhunderten beschäftigt sich die philologische Wissenschaft u. a. damit, Texte unbekannter Autoren mittels sprachanalytischer Methoden einem oder mehreren Verfasser(n) zuzuordnen. Seit mehr als 50 Jahren geschieht dies nun auch im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren; es entwickelte sich der Zweig der „forensischen Linguistik“[1]. Neben der Analyse der Gesetzessprache, der Klärung sprachlicher Tatbestände und ähnlicher Aufgaben befasst sich dieses „Stiefkind der Forschung“[2] vor allem mit der Frage, ob anhand von linguistischen Textanalysen Personen verurteilt werden können, die man terroristischer Anschläge bezichtigt. Genauer gesagt geht es darum, dem/den des Verfassens so genannter „Erpresserbriefe“ oder „Bekennerschreiben“ Verdächtigten eine Täterschaft nachzuweisen oder davon auszuschließen. Die Gutachter vergleichen dazu in der Regel alle vorliegenden Tatschriften mit zweifelsfrei von Verdächtigten angefertigten Texten, indem sie nach auffälligen sprachlichen Indikatoren in den Tatschriften Ausschau halten und prüfen, ob sich diese Merkmale in der gleichen Häufigkeit, Auswahl und Anordnung in den Vergleichstexten finden. Das Ziel dieser Text vergleichenden Untersuchungen ist es, den Wahrscheinlichkeitsgrad zu klären, mit dem Urheberidentität vorliegt.[3]

Die Betonung der Tatsache, dass aufgrund linguistischer Daten allein niemals ein hundertprozentiger Beweis für eine Täterschaft gegeben sein kann, verweist bereits auf eine der mannigfaltigen Probleme, denen sich die forensische Linguistik gegenübergestellt sieht und auf die im Besonderen Tobias Brückner aufmerksam gemacht hat. Er begründet den Mangel an der Aussagefähigkeit des sprachwissenschaftlichen Textvergleichs, indem er sich gegen die Behauptung wendet, es gäbe einen so genannten „Individualstil“, der quasi als „sprachlicher Fingerabdruck“ fungiere. Diesem Einwand ist insofern zuzustimmen, als es „das individuelle Einzelmerkmal nicht gibt“[4], (Hervorhebungen v. M. H.) mit dem eine Person sozusagen „auf den ersten Blick“ als Täter identifiziert werden könnte.[5]

Erschwerend tritt ein Faktor hinzu, den ebenfalls Brückner zur Sprache gebracht hat: Ein Stil ist stets nachahmbar - sowohl für den Autor der Tatschriften als auch für so genannte „Trittbrettfahrer“ bietet sich die Verwendung von Versatzstücken an, um eigene Spuren zu verwischen. Außerdem basiert die erfolgreiche Verwendung von Sprache auf der Beherrschung stark konventionalisierter Mittel, die von einer großen Anzahl von Menschen einer Sprachgemeinschaft benützt werden - die Fülle der verwendeten Formeln zeigt sich nicht zuletzt bei Betrachtung unterschiedlicher Textsorten. Wenn demzufolge also davon auszugehen ist, dass einzelne, unreflektierte übereinstimmende Merkmale wenig besagen, so kann Brückners These doch entgegengehalten werden, dass sich in vielen Schriftstücken zumindest individuelle Vorlieben für bestimmte formale und stilistische Optionen konstatieren lassen und - was von ebenso großer Bedeutung ist - Texte stellen dar, welche sprachlichen Möglichkeiten nicht oder kaum beherrscht werden.[6] Auch hat Kniffka darauf hingewiesen, dass im Falle einer starken Abweichung zwischen Tat- und Vergleichsschriften die Urheberidentität anzuzweifeln ist: „Eine ‘Kontrastierung von Minimalpaaren’ [...] kann (!) so klar sein, daß ein ‘Ausschluß’ einer Deckung möglich ist.“[7] Das heißt, wenngleich keine 100%ige Identifizierung gelingen kann, ist es möglich, einen Autor mit differierender Wahrscheinlichkeit als Täter auszuschließen. Diese Vorsicht sollte auch angebracht sein, wenn nicht einwandfrei festzustellen ist, ob die Tatschreiben von einem oder mehreren Autoren verfasst wurden. Hinzu tritt das Problem, dass es sich eventuell um erzwungene Schriften handelt, wobei zwischen Autor (geistiger Urheber) und Schreiber differenziert werden muss (auf diesen Unterschied sollte man allerdings in jedem Fall achten!).[8]

Nicht zuletzt äußert Brückner weitere Bedenken gegenüber den Möglichkeiten der forensischen Linguistik, wenn er meint, dass Orthographie- und Grammatikregeln täglich millionenfach verletzt (und ungefähr genauso häufig beherrscht) werden und eine Beschränkung auf diese Art des Vergleichs deshalb für unzulässig erklärt.[9] Aus diesem Grund - und weil es sich bei den vorliegenden Schreiben eben um Texte handelt - stellt diese Arbeit einen Versuch dar, zusätzlich zu einer Beschreibung der formalen, orthographischen und grammatikalischen Gegebenheiten einige Erkenntnisse der Textlinguistik auf den forensischen Textvergleich anzuwenden, obwohl diese beiden Disziplinen „in ihren primären Erkenntniszielen und -interessen keinesfalls übereinstimmen“[10]. Denn während die linguistische Textanalyse Sprachsysteme erstellt, will der forensische Gutachter gerade einen „Individualstil“ herausarbeiten. Eine Verknüpfung dieser - auf den ersten Blick - gegensätzlichen Methoden ist insofern von Vorteil, als eine forensische Analyse vor dem Hintergrund der textlinguistischen Theorie die individuellen Abweichungen des Autors von den darin konstatierten Regularitäten ermöglicht bzw. seine Präferenzen sichtbar macht. Brinkers Einteilung folgend, soll dabei sowohl die sprachliche, die thematische als auch die kommunikativ-pragmatische Ebene berücksichtigt werden. Da auf diesem Gebiet allerdings eine empirisch abgesicherte Methode für ein forensisches Gutachten noch aussteht, ist der Bewertungsvorgang letztendlich von Subjektivität mitgeprägt.[11]

2. DIE CAUSA „FRANZ FUCHS“ UND DAS VORLIEGENDE KORPUS

Nachdem von 1993 bis 1997 eine Briefbombenserie Österreich erschütterte, die von acht „Bekennerschreiben“ begleitet gewesen war, wurde im Jahr 1999 der Steirer Franz Fuchs als Beteiligter dieser Anschläge rechtskräftig verurteilt. Die folgende Arbeit soll nun drei - Franz Fuchs zugeschriebene - vorliegende Textkorpora[13] untersuchen und so eine Basis für einen Vergleich mit den Tatschriften schaffen, um Aufschluss darüber zu erhalten, ob ihm wirklich alle „Bekennerschreiben“ zur Last gelegt werden können.[12]

Beim ersten der zu beschreibenden Schriftstücke (VGT 1) handelt es sich um einen Brief, den Franz Fuchs einem Vizeleutnant des österreichischen Bundesheeres zukommen ließ, der im Radio über die Not von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien berichtet hatte.[14] Das zweite Schreiben (VGT 2) stellt einen von Franz Fuchs am 8. August 1976 verfassten Abschiedsbrief an seine Eltern dar. Fuchs’ Vater fand den Brief und ließ den Sohn daraufhin in die psychiatrische Anstalt in Graz einliefern. Die dritte Vergleichsschrift (VGT 3), die man als „Entwurf für ein Bekennerschreiben“ bezeichnen könnte, wurde schließlich nach der Verhaftung von Franz Fuchs in dessen Wohnung gefunden.[15]

Zu prüfen sind nun das Ausmaß und die Bedingungen der Übereinstimmungen zwischen den Vergleichstexten und das Verhältnis aller drei zu der üblichen Norm der deutschen Sprache. Bevor allerdings näher darauf eingegangen wird, möchte ich die in der Einleitung aufgeworfenen Überlegungen erörtern. Der Frage, inwieweit sich der Schreiber[16] den geltenden Konventionen der deutschen Sprache unterwirft, wird unter dem Stichwort „Textsortenproblematik“ ein eigener Abschnitt gewidmet sein (vgl. Kapitel 4); Hinweise auf bestimmte Präferenzen bzw. Aussparungen erfolgen in den einzelnen Kapiteln. Die Annahme, dass bei der Verfassung des Schreibens an den Vizeleutnant und des Abschiedsbriefes mehrere Autoren mitgewirkt haben bzw. Franz Fuchs zur Verschriftlichung gezwungen wurde oder Vorlagen verwendet hat, erscheint aufgrund der bekannten äußeren Umstände als höchst unwahrscheinlich. Anders gestaltet sich die Sachlage jedoch beim „Bekennerschreiben“. Theoretisch liegt beim Verfassen des Bekenntnisses einer Gruppe (BBA) eine Kooperation oder Drohung und/oder Verwendung von Versatzstücken durchaus im Bereich des Möglichen.

3. FORMALE BESCHREIBUNG

Da mir der Zugang zu den Originalen verwehrt blieb, muss auf eine äußere Textkritik (in der Regel ein unabdingbarer Bestandteil jeder Korpusbeschreibung - allein aus Gründen der Identifizierung) im Wesentlichen verzichtet werden, so z. B. auf die Analyse des verwendeten Schreib- und Beschreibmaterials, des Satzspiegels, der Schriftgröße und -type u. ä. Alle drei Schriftstücke liegen nur in mittelbarer Form vor; die VGT 1 und 2 entstammen dem Roman (!) „Totort“, VGT 3 dem Buch „Ein Funke genügt...“ von Thomas Vašek.[17] Einige Bemerkungen zur äußeren Form können dennoch vorgenommen werden. So sticht beispielsweise ins Auge, dass der Schreiber sowohl VGT 2 als auch VGT 3 an vielen Stellen handschriftlich überarbeitete und redigierte - bezüglich des „Abschiedsbriefes“ lässt sich diese Feststellung dem Aufnahmebefund der psychiatrischen Anstalt in Graz entnehmen[18] (ebenso wie die Tatsache, dass es sich ursprünglich um einen vierseitigen Brief handelte), und der so genannte „unveröffentlichte Brief“ wurde von Vašek (bzw. den Editoren) mit den handschriftlichen Einfügungen in Kursivschrift und dem vom Schreiber Durchgestrichenen in Klammern versehen - beim Brief an den Vizeleutnant fehlt jede Bemerkung hinsichtlich Korrekturen. Die Ausgangssituation erschwerend kommt der Mangel an Information hinzu, ob die Vergleichstexte 2 und 3 hand- oder maschinenschriftlich bzw. am PC verfasst wurden (hinsichtlich des VGT 2 lässt sich dem Roman „Totort“ entnehmen, dass es sich um ein am Computer abgefasstes Schreiben handelt). Dementsprechende Unsicherheiten ergeben sich daher auch bei der Bestimmung des Untersuchungsumfanges; die Anzahl der analysierbaren Worteinheiten beträgt beim VGT 1 ca. 230, beim VGT 2 ca. 420 und beim VGT 3 ca. 1500.[19]

Im Grunde lassen sich durch die Absenz von Originalen noch nicht einmal Angaben zu Orthographie-, Interpunktions- und Grammatikfehlern machen - für den Fall, dass die Editoren der genannten Werke die Diktion beibehalten haben, seien diese dennoch erwähnt: Übereinstimmend können in keinem der drei Vergleichstexte Verstöße gegen die geltenden Regeln der deutschen Rechtschreibung konstatiert werden[20], ebensowenig wie bei der Zeichensetzung.[21] Diesbezüglich zeichnen sich lediglich VGT 1 und 3 durch Abweichungen von den Vorschriften des Dudens aus, wenn in [1/1] ein Punkt anstelle eines Kommas nach der Anrede steht[22] („Sehr geehrter Herr Vizeleutnant.“) und in [3/49, 75, 196] unüblicherweise Spatien vor dem Ausrufezeichen eingefügt sind, während dieses in [3/9] dem Duden gemäß an das vorhergehende Wort angehängt wird.[23] Die - allein in VGT 2 und 3 verwendeten Anführungszeichen unterstreichen in [3/71, 81, 86, 90, 93, 156, 192f.] die Hervorhebung, in [2/21f.] die Betonung einer Begründung („Rückkehr in die Heimat“) und in [2/7 „Ich kann alles das machen, was anderen nicht schadet“] sowie in [3/176] die Akzentuierung eines Mottos. Der viermalige Einsatz von Versalien in [3/46-49, 193, 198-200, 203] dient m. E. der besonderen Betonung bzw. im letzten Fall als Sigle („BBA“).

Bei Betrachtung der Zahlenschreibung zeigt sich, dass in VGT 1 alle Daten in Ziffern angegeben sind - mit Ausnahme zweier Numeralia, zwischen denen man die Konjunktion „oder“ einfügen könnte.[24] In VGT 2 hingegen finden sich wiederum nur Zahlwörter (ausgenommen die Nennung eines Geldbetrages); die einzige Währungsangabe wurde in traditioneller Form [2/38: S 500,-] realisiert.[25] Und in VGT 3 wechselt die Schreibung von Numeralia (Kardinal- und Ordnungszahlen) ziemlich willkürlich; so wurde beispielsweise über dem Numerale „100“ in [3/28] handschriftlich die buchstäbliche Entsprechung eingefügt, und der Ausdruck „5. Kolonne“ taucht [in 3/107] ebenso auf wie die „fünfte Kolonne“ [3/154]. In Analogie zu dieser Unentschlossenheit scheint jene der Rechenzeichen zu stehen, denn so wie die Aufzählung von Personen mit dem Additionszeichen + erfolgt [3/117, 119] bzw. die Konjunktion „und“ einmal abgekürzt wird [3/134], so ersetzt innerhalb des mathematischen Beispiels der Ausdruck „mal“ das Multiplikationszeichen x [3/183, 188]. Schließlich weicht auch die Ausdrucksweise des Datums insofern voneinander ab, als der Form TT.M.JJJJ [1/2; 3/86] die Realisierung TT.MM. [2/23f., 26, 29, 31, 41] bzw. TT [2/20] gegenübersteht - Erstere verstößt gegen die Regeln des Dudens, weil darin empfohlen wird, Tag und Monat zweistellig anzugeben.[26] Der Verzicht auf die Nennung des Jahres in VGT 2 erklärt sich aus der Textsorte „Abschiedsbrief“ (vgl. Kapitel 4).

Betrachtet man die grammatikalische Kompetenz des Schreibers, so ergibt sich ein unklares Bild: Während sowohl in VGT 1 als auch in VGT 3 keinerlei Grammatikfehler entdeckt werden können (auf rhetorische Besonderheiten wird in Kapitel 6.4. eingegangen), weist der „Abschiedsbrief“ einige merkwürdige Ansätze auf. So müsste beispielsweise der erste Satz mit einer Hypotaxe enden, weil Subordination vorherrscht [2/1-5].[27] Grammatikalisch unzulässig ist weiters die Aussage „Meine [...] Existenz für die Menschheit ist null“ [2/15f.]. In [2/41] verwendet der Autor außerdem den archaisierenden Genitiv „des“ anstelle des Temporaladverbs „am“ für eine Datumsangabe. Offensichtlich inkorrekt endet der darauf folgende Satz mit einem Konjunktiv anstelle des Indikativs [2/44]. Als Grund für diese Abweichung von der ansonsten [in VGT 1 und 3] vorherrschenden korrekten Anwendung der deutschen Grammatik wäre die Möglichkeit anzusehen, dass der „Abschiedsbrief“ noch redigiert werden sollte; doch kann letztendlich nur das Original Aufschluss darüber geben, was es mit den konstatierten Ungereimtheiten auf sich hat.

4. BESTIMMUNG DER TEXTSORTEN

Der konkrete Text erscheint immer als Exemplar einer bestimmten Textsorte.[28]

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, auch die vorliegenden Schriftstücke auf die zugehörigen Textsorten zu beziehen. Eine solche Zuordnung ist deshalb stringent, weil Abweichungen von den vorgegebenen Mustern eine Interpretation als individuelle Präferenz für bestimmte Realisationsformen zulassen und zusätzlich Divergenzen zwischen den einzelnen Textsorten - wie wir bereist gesehen haben - bei einem forensischen Textvergleich unbedingt zu berücksichtigen sind.[29]

Zunächst sollte allerdings erläutert werden, was wir unter dem Begriff Textsorte überhaupt verstehen: Die linguistische Forschung geht davon aus, dass alle kommunizierenden Menschen einer Sprachgemeinschaft ein (aktives und passives) Textsorten-Wissen besitzen - das Wissen, dass mit einer konventionellen Textform, die durch charakteristische Signale (wie typische Äußerungen, Organisationsprinzipien u. ä.) geprägt ist, immer nur spezifische Inhalte und Funktionen verbunden werden können. Man unterscheidet zwischen Textsorten bzw. -klassen und Texttypen, wobei die unterschiedlichen Ausprägungen der Textsorten auf alltagssprachlichen Klassifikationen beruhen, durch kommunikative Bedürfnisse bestimmt werden und deshalb als historisch veränderbar gelten: „Ganz allgemein können Textsorten als komplexe Muster sprachlicher Kommunikation mit konventioneller Geltung bestimmt werden.“[30] Demgegenüber bezeichnet der Terminus „Texttyp“ die theoretische Kategorie zur Klassifizierung von Texten. Wie allerdings schon Heinemann/Viehweger bemerkt haben, reicht es nicht aus, eine der unzähligen Typologien auszuwählen, um eine Textsorte konkret definieren und einwandfrei von anderen abgrenzen zu können.[31] In diesem Sinne untersuche ich die drei vorliegenden Korpora anhand von Kriterien, die in verschiedenen theoretischen Ansätzen entwickelt wurden und mir für eine praktische Anwendung am geeignetsten erschienen. Auf fertige „Vorlagen“ kann ich in diesem Fall nicht zurückgreifen, da meines Wissens für keine der drei Vergleichstexte Definitionen der zugehörigen Textsorten existieren. Wenn also im Folgenden deren Indikatoren ermittelt werden, erhebt dies keinen Anspruch auf Vollständigkeit, und die Frage, ob einzelne Merkmale, die zwischen den Vergleichsschriften voneinander abweichen, textsortenspezifisch oder individueller Natur sind, ist letztlich nicht eindeutig zu beantworten.

Als Hauptkriterien für die Zuordnung eines Schriftstückes zu einer bestimmten Textsorte nennt Brinker die Realisierung der Textfunktion, des Textthemas und die Form der thematischen Entfaltung sowie die sprachlich-stilistische Ausformung i. e. S. Diesen Aspekten ist jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet; hinzu treten noch einige weitere Kriterien, anhand derer zunächst eine allgemeine Beschreibung erfolgen soll. Es handelt sich dabei um eine kurze Definition der Textsorten, um die Prädestination des Themas, die charakteristischen Lexeme, den Grad der Konventionalisierung u. ä. Im Hinblick auf die zu untersuchenden Korpora zeigt sich diesbezüglich folgendes Bild: Der VGT 1 erinnert in seiner Erscheinungsform an die Textsorte „Hörerbrief“[32]. Dieser Terminus bezeichnet jene Texte in Briefform, die als rasche Reaktion[33] auf eine auditive Übertragung an die Person(en) abgeschickt werden, die eine Stellungnahme zu einem bestimmten Thema abgegeben hat/haben (bzw. an die Institution, die das Gespräch übertragen hat). Hörerbriefe weisen (wie Leserbriefe) eine kritische Position zum angesprochenen Thema auf, die sowohl positiv als auch negativ bewertende Elemente oder beides gemeinsam beinhalten kann. Dem entspricht der VGT 1 in jeder Hinsicht: Wie dem Roman „Totort“ zu entnehmen ist, handelt es sich um einen - noch am Tag des Interviews abgesendeten - Brief als Antwort auf das Rundfunkinterview mit besagtem Vizeleutnant, wobei die Kritik teils zustimmend, teils tadelnd ausfällt. Wenn der Autor schließlich vom - außersprachlich festgelegten, von Fall zu Fall verschiedenen - Thema abschweift, so scheint dies m. E. für einen Hörerbrief nicht sonderlich untypisch zu sein, da ihm kaum inhaltliche Konventionen zugrunde liegen (ausgenommen die bereits erwähnte Reaktion auf ein vorausgegangenen Ereignis). Da die Textsorte „Hörerbrief“ kein exklusives Textthema verlangt und Freiheit in der Formulierung herrscht, sind naturgemäß auch keine prototypischen Lexeme vorhanden. Inwieweit sich der Autor an die (alltagssprachlich entwickelten) Konventionen hält, kann an den (stark standardisierten) Elementen der allgemeinen Textsorte „offizieller Brief“ gemessen werden, die Heinemann/Viehweger aufgezählt haben: Absender, Anschrift, Ort und Datum, Betreff (fakultativ), Anrede, Text, Gruß (fakultativ), Unterschrift.[34] Hier ergeben sich im VGT 1 tatsächlich einige Abweichungen von der vorgeschriebenen Norm - das Fehlen der ersten drei Angaben lässt sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit mit editorischen/typographischen Erfordernissen begründen (nur die Sichtung des Originals kann hier Klarheit verschaffen); die Absenz der Unterschrift erklärt sich vielleicht ebenso - andernfalls wäre es verständlich, wenn aufgrund der Brisanz des Inhalts der Rückzug in die Anonymität gewählt wurde. Wahrhaft absonderlich wirkt allerdings die falsche Anordnung von Anrede und Betreff - Letzterer ist allerdings (wiederum den Konventionen entsprechend) explizit als solcher ausgewiesen und thematisiert schlagwortartig den Inhalt des Textes.

Der VGT 2 entspricht (zumindest inhaltlich) genau der Textsorte „Abschiedsbrief“, der sich dadurch auszeichnet, dass er vor dem Entschluss zum Suizid in der Regel Angehörigen hinterlegt wird mit der Absicht, diese vom Verdacht des Mordes freizusprechen - der Autor akzentuiert den im Brief angesprochenen Eltern gegenüber sogar zweimal diese Funktion. Die thematische Festlegung („Suizid“) bedingt einige charakteristische Lexeme, obwohl keine verbindliche Sprachregelung existiert: „Selbstmord“ oder Ähnliches ist obligatorisch; letzter Wunsch/Wille, Art und Weise des Selbstmordes, Motive und Besitzverhältnisse sind fakultativ - sie alle werden vom Schreiber in expliziter oder impliziter Form realisiert. Der Grad der Vertrautheit der Kommunikationspartner ist dabei für die Formulierung ausschlaggebend. Da es sich beim VGT 2 um einen privaten Brief handelt, unterliegen die Gestaltungsformen weniger den Konventionen als der vorhin behandelte Text. Eine Anschrift erübrigt sich, Ort- und Datumsangabe können als fakultativ gelten, und die vertrauliche Anrede wurde benutzt. Die Absenz der obligatorischen Unterschrift stellt allerdings einen schweren Verstoß gegen das Textsortenwissen dar - möglicherweise lässt sie sich jedoch wiederum mit editorischen/typographischen Entscheidungen erklären.

Der VGT 3 ähnelt schließlich einer Ausformung der Textsorte „Bekennerschreiben“[35], einem Schriftstück von unterschiedlicher Länge, das nach einer/mehreren erfolgten strafbaren Handlung(en) an die Betroffenen, an Personen der Öffentlichkeit oder an Institutionen verschickt wird, mit dem expliziten Bekenntnis des/der Absender(s) (meist einem Pseudonym) zur Tat bzw. den Taten und deren Begründung bzw. „Legitimierung“:

Die Bekennerschreiben waren alles in allem wohl viel wichtiger als die Bomben. Was soll denn das Umherkrachen in der Gegend sonst für einen Sinn haben, wenn keiner weiß, was damit gemeint ist. Die Bekennerbriefe sind ja das Allerwichtigste, das war natürlich von Anfang an so geplant [...] Natürlich sind die Schreiben wichtiger als die Bomben, aber die Schreiben wären ohne Bomben gar nichts wert, weil sie sonst als Machwerk von Spinnern abgetan worden wären.[36]

Das vorliegende Korpus deckt sich insofern nicht völlig mit dieser Definition, als sowohl Bekenntnis als auch Gründe/„Legitimierung“ nur auf sehr indirekte Weise zum Ausdruck gelangen (als Motiv kann der „Niedergang des Deutschtums“ herausgefiltert werden). Diese Tatsache spiegelt sich auch im Textthema wider - obwohl die Textsorte „BKS“ thematisch an die Straftat und die Motive dafür gebunden ist, kommen diese Faktoren nur marginal bzw. implizit zur Sprache. Stattdessen erinnert der Text an ein Pamphlet wider die Verfolger der BBA. Allerdings bleibt zu bedenken, dass sich für die Textsorte „BKS“ kaum Konventionen finden, die man als obligatorisch bezeichnen könnte - in Analogie zu dieser Feststellung ergibt sich der Mangel an typischen Lexemen zwangsläufig. Dennoch lassen sich einige Elemente der äußeren Form konstatieren, die bei einem BKS zu erwarten sind. So wäre m. E. ein pseudonymer Absender angebracht - allein schon aus Gründen der Identifizierung. Die Intention, ein BKS zu verschicken, verlangt im Regelfall auch eine Anschrift - man kann jedoch einwenden, dass es sich bei dem Schreiben um einen Entwurf handelt (wofür auch die zahlreichen Korrekturen sprechen und die Tatsache, dass es nicht abgeschickt wurde) und der Adressat erst nachträglich eingefügt werden sollte oder dass die Adressierung am Briefkuvert ausreichend schien.[37] Im Gegensatz zu diesem Problem lässt sich die Verwendung eines Grußes und einer (pseudonymen) Unterschrift am Ende des Textes m. E. als fakultativ bewerten, was das Fehlen dieser Elemente zu entschuldigen vermag. Das Fehlen des Datums (eine Ortsangabe erübrigt sich) bereitet uns insofern Schwierigkeiten, als der VGT 3 nicht in die Chronologie der BKS und der Briefbomben eingereiht werden kann - immerhin ergibt sich aus dem Bezug auf einen Brief vom 25.2.1995 in [3/86] die Abfassung des Textes nach diesem Zeitpunkt. In der Überschrift erfolgt schließlich (in Analogie zum Betreff des VGT 1) eine schlagwortartige Thematisierung des folgenden Textes.

[...]


[1] „Forensisch“ bedeutet so viel wie „gerichtsverwertbar“. Vgl. WETZ (1989: 17).

[2] KNIFFKA (1990: Vorwort IX).

[3] Vgl. KNIFFKA (1990: Vorwort IX); KNIFFKA (1992: 162); GREWENDORF (1992: 8); HEHN (1992: 197).

[4] HECKER (1990: 235).

[5] Vgl. KNIFFKA (1990: 22); BRÜCKNER (1992: 249).

[6] Vgl. BRÜCKNER (1992: 246); GREWENDORF (1990: 283); CHERUBIM (1990: 349).

[7] KNIFFKA (1990: 40).

[8] Vgl. KNIFFKA (1990: 29, 40); KNIFFKA (1992: 162).

[9] Dabei ist sich die Forschung jedoch keineswegs einig darüber, welche Modalitäten für ein forensisches Gutachten anzuwenden sind.

[10] BRINKER (1990: 116).

[11] Vgl. BRINKER (1990: 117).

[12] Der Terminus „Korpus“ bezeichnet in diesem Fall den „einer wissenschaftlichen Untersuchung zugrunde liegende[n] Text“. Vgl. DUDEN (1996: 430).

[13] Die Schreiben, die aus der Zeit vor der Verhaftung stammen, werden im Folgenden als VGT (Vergleichstext) 1, 2 und 3 bezeichnet. Eine Erstellung von Vergleichsschriften nach der Festnahme von Franz Fuchs war nicht möglich, da ihm bekanntlich beide Hände zerfetzt wurden.

[14] Franz Fuchs hat die Autorschaft dieses Schreibens bestätigt.

[15] Vgl. KUBA/NEUWIRTH (1999: 35, 37); VAŠEK (1999: 200).

[16] In Hinkunft wird die namentliche Nennung Franz Fuchs’ unterlassen, um eine zu starke Beeinflussung durch außersprachliches Wissen bei der linguistischen Untersuchung auf ein Minimum zu reduzieren.

[17] KUBA/NEUWIRTH (1999: 35f., 37-39); VAŠEK (1999: 200-205). Die Texte wurden in Form einer Kopie im Anhang beigelegt, um die Erscheinungsform vor Augen zu haben. Um die Angaben der Textstellen zu erleichtern, habe ich die Zeilen in fortlaufender Folge nummeriert. Die Ziffern in den eckigen Klammern bezeichnen [VGT/Zeile].

[18] Vgl. KUBA/NEUWIRTH (1999: 39).

[19] Die Zählung bei Letzterem erfolgte inklusive aller Korrekturen und durchgestrichenen Äußerungen, da diese häufig erst den Sinn der Sätze herstellen.

[20] Die Großschreibung der Konjunktion „Und“ in [3/113] sowie die Kleinschreibung der „klitterer“ in [3/156] könnte sich durch falsche Interpretation einer unklaren handschriftlichen Buchstabenlänge erklären lassen. Andernfalls würden diese absoluten Ausnahmen gravierende Abweichungen von den allgemeinen Sprachregeln darstellen.

[21] Vgl. DUDEN (1996: 75-78).

[22] Vgl. DUDEN (1996: 44).

[23] Vgl. DUDEN (1996: 77).

[24] Der Duden enthält übrigens keine definiten Bestimmungen darüber, ob Zahlen buchstäblich oder in Ziffern zu schreiben sind.

[25] Die - zumindest im Zahlungsverkehr - übliche Form würde „ATS 500,-“ lauten. Der Duden bezieht sich hier lediglich auf DM und sfr; eine analoge Betrachtung zeigt jedoch, dass [2/38] richtig geschrieben wurde. Vgl. DUDEN (1996: 62f.).

[26] Vgl. DUDEN (1996: 76).

[27] Dieses Problem ließe sich eventuell klären, wenn man das Original vor Augen hätte. Möglicherweise wurde der Gliedsatz nachträglich von Franz Fuchs eingefügt. Als Konsequenz einer ungenauen Abschrift ergibt sich m. E. auch die verwirrende Satzkonstruktion in [2/23f.: „Am 22.07. vor dem Urlaub vom 22.07. bis 06.08. hatte ich Urlaub...“].

[28] BRINKER (1985: 118). Zit. n. LANGER (1995: 70).

[29] Vgl. BRINKER (1990: 121), LANGER (1995: 162).

[30] BRINKER (1990: 119).

[31] Vgl. HEINEMANN/VIEHWEGER (1991: 130, 144, 169); BRINKER (1990: 122); HEHN (1992: 199).

[32] Vgl. ADAMZIK (1995: 268).

[33] Eine größere zeitliche Distanz würde die Kommunikation erheblich beeinträchtigen.

[34] Vgl. HEINEMANN/VIEHWEGER (1991: 223).

[35] Der Terminus „Bekennerschreiben“ wird in Zukunft mit der Sigle „BKS“ abgekürzt.

[36] „Franz Hofer“ im „Vernehmungsprotokoll vom 27.01.1998“. Zit. n. KUBA/NEUWIRTH (1999: 126f.).

[37] Das letzte Argument gilt allerdings nicht als Erklärung für das Fehlen des Absenders, denn ein Briefträger würde vermutlich kein Kuvert mit der Aufschrift „BBA“ transportieren. Auch kann bei diesem Schreiben kaum davon ausgegangen werden, dass die Absenz dieser beiden wesentlichen Faktoren auf die Editoren des Buches „Ein Funke genügt...“ zurückzuführen ist, da es sich hierbei nicht um einen Roman handelt und das „BKS“ auch ansonsten nicht in den laufenden Text eingebunden wurde. Vgl. VAŠEK (1999).

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Details

Titel
Korpusbeschreibung dreier Franz Fuchs zugeordneter Schriftstücke
Hochschule
Universität Wien
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
48
Katalognummer
V134918
ISBN (eBook)
9783640475506
ISBN (Buch)
9783640475421
Dateigröße
16776 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Franz Fuchs, Bekennerschreiben, Textkorpora
Arbeit zitieren
Marion Luger (Autor:in), 2000, Korpusbeschreibung dreier Franz Fuchs zugeordneter Schriftstücke, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/134918

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