Das Alphabet im Psychogramm, im Chinesischen und im Esperanto

I Psychografien, II Die chinesische Schrift, III Die Idee des Esperanto


Essay, 2008

18 Seiten, Note: 1,15


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Psychografien: Ist eine Alphabetisierung der Seele möglich?

II Die chinesische Schrift: Entstehung und Verständnis

III Die Idee des Esperanto: künstlich vs. natürlich

Quellen

I Psychografien: Ist eine Alphabetisierung der Seele möglich?

EEG bedeutet ‚Elektroenzephalogramm’. Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, woher die Idee einer Hirnschrift stammt, auf welchen Möglichkeiten ihre Verwirklichung beruht und hinterfragen, ob es inzwischen möglich ist, (menschliche) Gedanken ohne jedwede Artikulati-on in eine buchstäbliche, d.h. geschriebene Sprache zu bringen. Kann das EEG eine solche hervorbringen? Wie sähe diese aus?

Als Grundlage für die Betrachtung soll zunächst das sprachwissenschaftliche Orgamon-Modell von Karl Bühler dienen, das die Elemente Sender, Empfänger und Gegenstand bzw. Sachverhalt triadisch gegenüberstellt und diese drei Elemente durch das sprachliche Zeichen verbindet. Bevor das Zeichen gesprochen oder geschrieben werden kann, muss es vom Sender gedacht werden, dies bezieht sich auf das Element: Gegenstand bzw. Sachverhalt. Der Sender denkt also über einen Gegenstand oder Sachverhalt nach, repräsentiert durch das Zeichen, und übermittelt das Gedachte in Form eines Signals an den Empfänger. Der Ausdruck des Senders geschieht durch Artikulation, genauer durch den Sprech- oder Schreibakt (oder Zeichenspra-che). Was aber, wenn diese Arten der Artikulation unterbunden werden? Der Sender denkt dabei nach wie vor, doch kommen seine Zeichen nicht beim Empfänger an, zumindest nicht auf diese Weise.

Die Idee von einer bestimmten anderen Art der Übermittlung fasziniert die Menschheit schon seit geraumer Zeit, wie Cornelius Borck in einem Aufsatz erklärt. Schon vor der Erfindung der Elektroenzephalographie beschrieb Etienne-Jules Marey in Méthode graphique (1878) ihre Vorstellung davon, wie eine „graphische Methode physiologische Prozesse so präzise in Zeichen“ 1 übersetzen könne. Sie ging dabei sogar so weit, dass diese Art der Zeichenvermitt-lung in der Zukunft vorherrschend würde. Die Idee der Wissenschaftlerin von einer Methode, die den artikulatorischen Sprechakt überflüssig macht, beschäftigt die Forschung auch im 21. Jahrhundert und die Erfindung des EEGs in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schien durchaus zur Verwirklichung dieser Idee beitragen zu können. Es trat eine Maschinerie in den Blickpunkt, die Gehirne zum Schreiben bringen und sozusagen eine elektrische Ge-dankenschrift möglich machen könnte. Das EEG hatte ein deutscher Psychiater erfunden, wo-bei die Intention vorrangig auf den medizinischen Aspekt hinsichtlich der Behandlung psychischer Erkrankungen bzw. speziell der Erkennung von Gehirnerkrankungen abzielte. Doch das Interesse an einer „unmittelbaren“ Schrift, die, so Marey, „als eine graphische Methode nicht mehr unter Umgehung, sondern im Überspringen der menschlichen Sprache“ operiere, blieb.2

Bevor weiter auf die Möglichkeiten durch die Elektroenzephalographie eingegangen wird, soll nun ein Blick auf den Titel dieses Essays geworfen werden. Ist eine Alphabetisierung der Seele möglich? Um einer Klärung dieser Frage näher zukommen, müssen Begriffe definito-risch umrissen werden. Unter Alphabet soll hier eine festgelegte Reihenfolge aller Schriftzei-chen in einem Sprachsystem verstanden werden, aus denen Laute, Silben und Wörter gebildet werden können. Das EEG gehört dem Gebiet der Psychografien an, deren Aufgabe es ist, psychologische Beschreibungen einer Person zu liefern aufgrund von mündlichen und schrift-lichen Äußerungen.

Dazu ein Blick auf andere Psychografien, der das starke Interesse und die vielseitigen An-satzpunkte verdeutlichen soll. In Amerika wurde Anfang des 20. Jahrhunderts eine Maschine hervorgebracht, der Psycograph, eine „Anatomische Mess- und Aufzeichnungsmaschine, die „eine Art Aufsatz über das unter dem untersuchten Schädel verborgene Gehirn“ druckte, die aber auf vorgestanzte Sätze zurückgriff3 und aufgrund dieses Sachverhalts für unsere Frage-stellung an Wert verliert. Hier handelte es sich also nicht einmal um eine Annäherung an die „unmittelbare“ Schrift.

Zu dem Gebiet der Psychografien gehört u.a. auch die Graphologie, eine Methode, auf die man in Europa aufmerksam wurde und die sich auf einen Zusammenhang zwischen Hand-schrift und Persönlichkeitsmotiven des Senders beruft. Die spezielle Methode der Gehirn-Plethysmographie konzentrierte sich eher auf physiologische Gegebenheiten – der Arm und die Hand des Senders als Mittel zum Zweck, als Realisierung eines „pathophysiologisch sig-nifikante[n] Schreibsystem[s] des Gehirns“4, das mithilfe des Apparates Kurven hervorbrach-te. Das Interesse orientierte sich schon bald an den eher zufällig vom Probanden hervorge-brachten, geschriebenen Kurven, die gewissenhaft zu deuten versucht wurden. Heute weiß man, dass diese eine Spiegelung der Schwankungen der Blutfülle des Gehirns repräsentierten. Insofern kann auch die Graphologie für unsere Frage keine große Rolle spielen, da die Kur-ven, denen als Zeichen ja große Bedeutung zu kommt, aber hier lediglich organische Reaktio-nen repräsentieren.

Auch Stefan Rieger beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Der Takt der Seele“ mit dem hier thematisierten Phänomen. Seine Überlegungen verweisen allem voran auf die Voraussetzun-gen, um zu dem Ergebnis einer Gehirnschrift zu kommen. Rieger postuliert, dass man die Seele „zuallererst auf das Strukturmoment aller Schrift verpflichten“ muss5, hier geht es um die Forderung nach Segmentierung, ähnlich wie sie beim Alphabet vorliegt. Die Festlegung von Zeichen also ist notwendige Bedingung, um hier ein Sprachsystem sichtbar zu machen, unabhängig von einer Hierarchisierung, oder einer Laut-, Silben- und Wortbildung.

Eine weitere Voraussetzung für „die Alphabetisierung der Seele [ist] diese dem Begriff der Frequenz“ zu unterstellen, Frequenz bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Verhältnis zwischen den Zeichen und der Zeit. Für das entstandene Ergebnis zähle „nicht mehr der Inhalt einer Vorstellung, sondern deren bloße Häufigkeit“6. Ist so der Segmentierung ähnlich eines Alphabets und damit einer möglichen Verschriftlichung der Seele näher zu kommen? Ein Ba-sisalphabet auf der Grundlage der Einheit „Hertz“?

Stefan Rieger untersucht die Problematik vor nachrichtentechnischem Hintergrund. In Büh-lers triadischem Modell dient das Zeichen selbst als Nachricht und Rieger macht klar, dass „der Mensch [Sender, Empfänger] dem Geheiß einer Semiotik [untersteht], die an ihn gerich-tet ist. Im Zeichen von Zahlen“7. Dieser Weg kann aber nicht akt-los beschritten werden, der Akt des Lesens auf Seiten des Senders ist vonnöten.

Schon Johann Christoph Hoffbauer und Immanuel Kant waren auf diese Idee gekommen: „Um sich von der erstaunlichen Schnelligkeit, mit welcher wir urtheilen und schließen, einen Begriff zu machen, darf man sich nur an die Fertigkeit, wozu man es in dem Lesen bringt, halten.“ Die Verarbeitung von Buchstaben bzw. Silben bzw. Wörtern, d.h. verschriftlichten Zeichen soll also wiederum in eine neue Schrift übersetzt werden können? Die der Gedanken? Führt dieser Weg nicht vielmehr zu einer Feststellung der Auffassungsgabe des Senders, als zu etwas Unmittelbaren?

Karl Ernst von Baer ging in seiner Abhandlung von 1864 der Möglichkeit nach „frequenzfä-hige Segmente zu isolieren, um auf deren Grundlage eine Pulslehre vom menschlichen Be-wusstsein zu erstellen“8, doch diesbezüglich ergeben sich bei den folgenden Forschungen „fundamentale Probleme der Zählbarkeit der geistigen Akte“9, zudem verliert diese Pulslehre für die hier im Mittelpunkt stehende Frage an Gewicht, weil sie ihr Feld ähnlich dem erwähn-ten Psycograph auf körperlichen, anatomischen Reaktionen bestellt und danach eine Auswer-tung seitens des Empfängers stattfinden muss, der die Zeichen nur deuten kann. Kann der Weg zur Alphabetisierung der Seele, zu einer solchen Sprache also lediglich auf Deutungen beruhen?

Im Folgenden soll die Elektroenzephalographie weiter verfolgt werden, die es vermag die elektrischen Aktionsströme des Gehirns aufzuzeichnen. Grundlage dafür war zu Beginn der Forschungen der Vergleich der Verarbeitung von Symbolen, die der zu untersuchenden Per­son gezeigt wurden. Doch es stellte sich heraus, dass das „was im Gehirn vor sich ging, [...] im Medium der EEG-Kurven nur so lange als klar erkennbare Schrift [erschien], wie das Ge-hirn nicht mit Symbolverarbeitung beschäftigt war“10. Das Gerät lieferte also Zeichen des Senders, allerdings blieben auch diese der Wissenschaft rätselhaft. Dennoch scheint die Erfin-dung aus heutiger Sicht noch als Meilenstein, weil sich mit der Maschine Signale aus dem Gehirn, oder wollte man sogar soweit gehen; aus der Seele, extrahieren lassen, ohne dass eine sprachliche Artikulation stattfindet. Der Empfänger bleibt dabei ausgeklammert, da die ver-meintliche „Nachricht“ der zu untersuchenden Person keinen Adressaten hat und auch das Element des Gegenstandes bzw. des Sachverhaltes, dargestellt durch das Zeichen, bleibt un-differenziert, da sich der Bezug auf die Symbolverarbeitung aus oben genannten Gründen erübrigte.

Diese Form des Psychogramms, man stelle sich ein ausgedrucktes EEG vor, entspricht typo-grafisch dem Überbegriff Schrift, ebenso wie Piktogramme und Ideogramme, allerdings er-scheint die Alphabetisierung dieser Schrift problematisch. Der Empfänger – im Falle des EEGs handelt es sich im medizinischen Bereich um einen Arzt, der die aufgezeichneten Ak-tionsströme auswertet – kann die verschriftlichen Zeichen nur begrenzt decodieren. Eine klar erkennbare Schrift war diese als „unmittelbar“ gepriesene schon damals nicht: „die Gehirn-kurven [wurden] als eine Bilderschrift aufgefasst, die nach dem Modell klinischer Semiotik hinsichtlich signifikanter Zeichen aufzuschlüsseln war“11 – aufgrund vieler Untersuchungser-gebnisse schien die Möglichkeit nicht fern, durch deskriptive Bestandsaufnahme „zu einem Register bedeutungsvoller EEG-Muster zu gelangen“ – diesem Ziel kommt man heute schon sehr nahe.

[...]


1 Borck, Cornelius: Schreibende Gehirne. In: Psychografien, hgg. von Borck, Cornelius und Schäfer, Armin. Zürich-Berlin 2005, S. 92.

2 Borck, Cornelius: Schreibende Gehirne, S. 93.

3 Ebd., S. 94.

4 Ebd., S. 96.

5 Rieger, Stefan: Der Takt der Seele – Zur medialen Modellierung des Bewusstseins. In: Psychografien, S. 178.

6 Ebd., S. 179.

7 Ebd., S. 181.

8 Ebd., S. 185.

9 Ebd., S. 190.

10 Borck, Cornelius: Schreibende Gehirne, S. 102.

11 Ebd., S. 103.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Das Alphabet im Psychogramm, im Chinesischen und im Esperanto
Untertitel
I Psychografien, II Die chinesische Schrift, III Die Idee des Esperanto
Hochschule
Universität Erfurt
Veranstaltung
Alphabete: Texte von A-Z etc.pp.
Note
1,15
Autor
Jahr
2008
Seiten
18
Katalognummer
V135637
ISBN (eBook)
9783640437191
ISBN (Buch)
9783640437337
Dateigröße
478 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Alphabet, Psychogramm, Chinesischen, Esperanto, Psychografien, Schrift, Idee, Esperanto
Arbeit zitieren
René Ferchland (Autor:in), 2008, Das Alphabet im Psychogramm, im Chinesischen und im Esperanto, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135637

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Das Alphabet im Psychogramm, im Chinesischen und im Esperanto



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden