Rückblick von außen: "Am Rande der Nacht" von Friedo Lampe


Magisterarbeit, 2003

80 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Vorwort

1. Einleitendes
1.1 Wer ist Friedo Lampe?
1.2 Editionen und Textgestalt
1.3 Forschungsstand

2. Tradition und Moderne – Aspekte der Darstellung
2.1 Erzähltechnik
2.2 Figuren
2.3 Ein lyrisch-realistischer Stil
2.4 Zusammenfassung und Folgerung

3. Bedrohte Idylle Vorbemerkung
3.1 Orte bürgerlicher Idylle
3.2 Enge und Fernweh
3.3 Gestörte Kommunikation
3.4 Zusammenfassung und Folgerung

4. Am Rande der Nacht
4.1 Ein Spiel von Licht und Schatten
4.2 Ratten und Schwäne – Symbolik der Nacht
4.3 Enthemmung
4.4 Folgerung

5. Rückblick von außen – Kritik und Deutung
5.1 Einflüsse und Referenzen
5.2 Magischer Realismus und literarische Kontinuität
5.3 Zusammenfassende Deutung

Ausblick

Bibliographie I

Bibliographie II

Vorwort

Schon zu Lebzeiten war Friedo Lampe nur einem kleinen Kreis literarisch Interessierter bekannt. Die Leserschaft, die er mit seinen zwei Kurzromanen Am Rande der Nacht (1933) und Septembergewitter (1938) erreichte, lässt sich wohl eher auf Hunderte als auf Tausende beziffern, und die verbitterte Feststellung Lampes, er habe eben immer Pech mit seinen Büchern[1], kann der heutige Betrachter nicht entkräften. Sein Erstling fiel der Zensur zum Opfer, das zweite Buch wurde vor Weihnachten zu spät ausgeliefert und blieb in den Regalen liegen. Eine Neuauflage unter dem Titel Von Tür zu Tür, die noch in den letzten Kriegsjahren erscheinen sollte, erlebte der Autor nicht mehr – sie kam erst 1946 heraus, ohne im gewandelten gesellschaftlichen Umfeld freilich Beachtung zu finden. Wenn Friedo Lampe also als vergessener Schriftsteller gilt, darf doch nicht übersehen werden, dass die eigentliche Entdeckung seines Werkes erst nach seinem Tode begann und bis heute andauert.

Es fehlt in der Nachkriegszeit durchaus nicht an wohlwollenden Fürsprechern: Wolfgang Koeppen und Hermann Hesse, W. E. Süskind und Lionel H. C. Thomas, um nur einige Namen zu nennen, loben Lampes Prosa in Nachrufen und Rezensionen. Bekannt wird sie dadurch jedoch nicht, zumal eine tiefergehende Beschäftigung mit ihr praktisch nicht stattfindet. Johannes Pfeiffer ediert das Gesamtwerk, das 1955 bei Rowohlt erscheint und nur eine Auflage erlebt; ebenso ergeht es der leicht veränderten, 1986 von Jürgen Dierking und Johann-Günther König herausgegebenen Neuauflage. Lampe bleibt ein weithin Unbekannter, wenngleich er im Kontext der Forschung zur Literatur der dreißiger Jahre seit den achtziger Jahren vermehrt gewürdigt wird. Dem Rechnung tragend, werden wir unserer Untersuchung einen kurzen biographischen Abriss voranstellen, der wichtige Lebens- und Schaffensstationen sowie Bekanntschaften beinhaltet. Dies ist für die Analyse nicht notwendig, zumal wir nicht die Absicht haben, Bezüge zwischen Leben und Werk herzustellen, dient aber der Orientierung und erleichtert vielleicht den Einstieg in den Roman. Einleitend werden wir weiterhin auf die verschiedenen Texteditionen eingehen sowie einen Überblick über den Forschungsstand geben.

Der Titel dieser Arbeit, Rückblick von außen, ist durchaus mehrdeutig: Man kann ihn als Schlagwort für die kamerahafte, scheinbar unbeteiligte Erzähltechnik Lampes betrachten, ihn jedoch ebenso auf das Erzählprojekt beziehen. Am Rande der Nacht führt den Leser durch einen spätsommerlichen Abend im Bremer Hafenviertel; scheinbar willkürlich Figuren auswählend, aufgreifend und zurücklassend, um sie später wieder aufzunehmen, in medias res beginnend und endend, ohne die aufgenommenen Fäden zu einem klassischen Ende zusammenzuspinnen, schafft es doch das Panorama einer (klein-)bürgerlichen Welt, deren Fassade rissig, deren Existenz bedroht scheint. Orte bürgerlicher Idylle scheinen verzerrt, bedrückende Enge liegt über den Häusern, und in den Kanälen lauern Ratten, die mit dem Einbruch der Nacht hervorkommen. Unsere Arbeitsthese ist, dass Lampe, der einer großbürgerlichen Familie entstammt und ein profunder Kenner der deutschen Literaturgeschichte ist, in diesem Roman den Untergang der klassisch-bürgerlichen Welt im Zuge der Moderne thematisiert. Zwischen Bewunderung des Alten und Offenheit für das Neue (vor allem stilistisch) zeichnet er den Herbst einer Epoche, freilich nicht episch, sondern auf kleinstem Raum konzentriert und symbolisch verdichtet. In der trügerischen Idylle eines Abends stellt er eine bedrohte, verfallende Welt dar. Dies soll vor allem textimmanent gezeigt werden.

Beschäftigt sich das zweite Kapitel mit Aspekten der Darstellung, so soll im dritten die vielfach angelegte, gebrochene Idylle betrachtet werden. Orte bürgerlicher Idylle werden untersucht, die Motive der Bedrückung, der Exotik und des Fernwehs beleuchtet. Das vierte Kapitel ist der Nacht gewidmet. Ihr kommt eine gewichtige kompositorische wie inhaltliche Rolle zu. Sie löst im Verlauf des Romans den Abend ab, und mit ihr bricht etwas Unheimliches in die Szenerie ein: Auf figürlicher Ebene sind das zunächst die Ratten, auf psychologischer Ebene Enthemmung, Perversion und Auflösung. Zugleich entsteht ein Spiel zwischen Licht und Schatten, das ebenfalls zu deuten sein wird.

Abschließend wagen wir einen weiteren Rückblick von außen, verlassen den Rahmen des Romans und wenden uns den Fragen nach möglichen Einflüssen, Referenzen und philosophischen Implikationen zu. Auch die Rezeption von Am Rande der Nacht im Zuge von Forschungen zur geschichtlichen Kontinuität der Nachkriegsliteratur und zum Magischen Realismus wird uns hier beschäftigen.

Es erscheint uns als fruchtbar, bei unserer Arbeit den Aspekt der Bürgerlichkeit, der bedrohten bürgerlichen Welt hervorzuheben, da wir in Friedo Lampe einen Autor sehen, der auf hoch interessante Weise versucht hat, die deutsche, bürgerliche Literaturtradition mit der Avantgarde zu vereinen. Man kann sich streiten, ob ihm das gelungen ist; die daraus entstandene Prosa jedoch verdient es, erinnert zu werden.

Die Bibliographie dieser Arbeit ist zweigeteilt. Zum einen werden Texte aufgeführt, die wir direkt verwendet haben und auf die wir Bezug nehmen; dem folgt eine Auflistung weiterer Texte, die sich um Vollständigkeit bemüht, ohne sie versprechen zu können. Diese zweite Bibliographie soll weitere Studien zu Friedo Lampe vereinfachen und zu ihnen ermutigen.

1. Einleitendes

1.1 Wer ist Friedo Lampe?

Die Biographie Friedo Lampes ist in zwei Arbeiten minutiös nachgezeichnet worden: Zuerst in der 1959/60 entstandenen Dissertation Helga de Pauws, wo sie ungefähr die Hälfte des Textes einnimmt; danach in der Psychobiographie des Schweizer Germanisten und Lampe-Kenners Eugène Badoux, die 1986 erschien. Sie sind die Quellen dieses biographischen Abrisses und zur vertieften Beschäftigung mit Lampes Leben empfohlen.

Christian Moritz Friedrich Lampe wurde am 4. Dezember 1899 als Kind einer großbürgerlichen Familie in Bremen geboren. Als Junge erkrankte er an Knochentuberkulose, was ihm einen leicht hinkenden Gang eintrug und ihn zeitlebens vom Frontdienst befreite. Er absolvierte ein ausgiebiges Studium der Literatur- und Kunstgeschichte, zuerst in Heidelberg, wo er bei Karl Jaspers, Friedrich Gundolf und R. E. Curtius hörte, dann in München und schließlich in Freiburg im Breisgau, wo er 1928 über Leopold Friedrich Goeckingks Lieder zweier Liebenden promovierte. Es folgte eine kurze Anstellung als Redakteur bei den in Bremen erscheinenden Schünemanns Monatsheften, wo er sich mit der Schriftstellerin Alma Rogge anfreundete. Ab 1931 bildete Lampe sich an Erwin Ackerknechts Büchereischule in Stettin weiter; hier entstand auch Am Rande der Nacht, das 1933 bei Rowohlt veröffentlicht wurde. Im gleichen Jahr zog Lampe nach Hamburg, wo er bei der Volksbibliothek arbeitete. In diese Zeit fällt seine Bekanntschaft mit Joachim Maaß, Wilhelm Emmanuel Süskind und Martin Beheim-Schwarzbach, die einen losen Kreis literarisch Interessierter bildeten[2]. Am Rande der Nacht, das am 15. November 1933 ausgeliefert wurde, fiel schon wenige Wochen später der nationalsozialistischen Zensur zum Opfer. Es wurde aus den Bibliotheken entfernt, die noch nicht verkauften Exemplare eingestampft, doch Lampe konnte seine Arbeit als Bibliothekar behalten. 1936 erschien im Hamburger Dulk-Verlag Das dunkle Boot. Ballade, 1937 nahm Lampe das Angebot an, als Lektor zu Rowohlt nach Berlin zu kommen. Hier kam er mit dem literarischen Betrieb in Kontakt und lernte neben Ernst Rowohlt Kurt Kusenberg, Ilse Molzahn und Horst Lange als Freunde kennen und schätzen. Septembergewitter erschien verspätet kurz vor Weihnachten, zu spät, um noch als Geschenk zu dienen. Nur wenige Exemplare wurden verkauft. Nach der Reichskristallnacht und der Flucht Ernst Rowohlts lektorierte Friedo Lampe nebenamtlich für Karl Heinz Henssel sowie für Goverts (ab 1946 Claassen & Goverts), wo er sich außerdem eine Neuauflage von Septembergewitter, ergänzt um einige Kurzgeschichten, erhoffte[3] ; diese sollte erst posthum unter dem Titel Von Tür zu Tür erscheinen. 1940 gab er die Anthologie Das Land der Griechen. Antike Stücke deutscher Dichter heraus, in den folgenden Jahren stellte er einige Bände für Diederichs Deutsche Reihe zusammen. Daneben wurde er als Lektor für das Auswärtige Amt, Nebenstelle Wannsee, eingezogen.

Während der letzten Kriegsjahre schrieb Friedo Lampe keine literarischen Texte mehr. Er wohnte in Berlin bei Ilse Molzahn, verkehrte mit den noch gebliebenen Vertrauten[4], verkroch sich in die Welt seiner Bücher. Am 2. Mai 1945 wurde Friedo Lampe in Klein-Machnow bei Berlin von einer russischen Patrouille erschossen[5].

1.2 Editionen und Textgestalt

Schon vor der Veröffentlichung von Am Rande der Nacht plagten Lampe Zweifel hinsichtlich des Inhalts, vor allem wohl hinsichtlich der sexuellen Schilderungen. „Inhaltlich ist die Sache leider etwas heikel“, schreibt er am 14. Februar 1933 an Johannes Pfeiffer, und am 22. Oktober, kurz vor der Auslieferung, fragt er, halb scherzhaft: „Wie fandest Du ihn nun im Druck? Sehr anstößig? Ich habe Angst”[6]. Diese Angst stellt sich als begründet heraus, denn Am Rande der Nacht wird wegen der ideologisch nicht konformen Szenen – ein Neger liebt eine deutsche Frau, homoerotische Neigungen treten bei mehreren Figuren offen zutage - auf die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums gesetzt[7] und kann erst nach Kriegsende wieder veröffentlicht werden.

Es mag sein, dass Lampe, der in seinem Folgewerk Septembergewitter auf derartige Schilderungen verzichtete, den Roman nochmals umändern wollte; als Johannes Pfeiffer Am Rande der Nacht 1949 unter dem Titel Ratten und Schwäne neu herausgibt, streicht er jedenfalls die meisten Beschreibungen sexueller Art kurzerhand heraus. In einem Brief an den Lektor Kurt Kusenberg vom 22. März 1950 erklärt er, Lampe habe ihm gegenüber betont, dass er selbst „alles das beseitigen würde, was er als ein künstlerisch nicht bewältigtes Hervorbrechen pubertätshafter Anwandlungen empfinde”[8]. Diese gekürzte Textfassung, von den wenigen Besitzern der Erstausgabe teilweise kritisch beurteilt[9], wird in dem 1955 erscheinenden, ebenfalls von Johannes Pfeiffer herausgegebenen Gesamtwerk übernommen. Die von Jürgen Dierking und Johann-Günther König besorgte Neuausgabe des Gesamtwerks folgt der Pfeifferschen, folglich findet sich die gekürzte Fassung auch dort. Erst 1999 erscheint im Wallstein Verlag, herausgegeben von Johannes Graf, Am Rande der Nacht in seiner ursprünglichen Textgestalt.

Wie aber wirken sich die Streichungen aus? Die Handlung bleibt unverändert, lediglich Details werden unterdrückt, so dass man durchaus von Zensur sprechen kann. Der Unterschied zwischen den Textfassungen ist gering, doch scheint die erste kohärenter, da sie ausführt, was die zweite, wo sie es in der Art des Gesagten abmildert, doch nicht zu tilgen weiß; immerhin sind die erotischen Verstrickungen ein wichtiges Thema des Buches. So liest sich der erzwungene Tanz des Stewards Bauer in der gekürzten Version folgendermaßen:

Bauer sah Anton an. Weich und traurig und verquält und sinnlich blickten seine Augen. Und er hob die Hände an die Hüften und begann sich zu wiegen im Takt. Da sah er abermals auf Anton und Oskar.[10]

In der Originalversion aber heißt es:

Bauer sah Anton an. Sein Blick sagte: bitte entschuldigt mich, aber ich kann nicht anders. Ich muß. Und ich will es auch. Er will es so, und ich will es, es ist eine Schande und eine Lust. Weich und traurig und verquält und sinnlich blickten seine Augen. Und er hob die Hände an die Hüften und begann sich zu wiegen im Takt. Da sah er abermals auf Anton und Oskar.[11]

Gibt uns diese Stelle eine Motivation der Figur, bleibt es in der ersten bei der äußerlichen Beschreibung; der Leser muss den Blick Bauers selbst interpretieren. Das Gleiche gilt für die Begegnung Bertas mit dem Neger:

Sein dunkelglänzendes Gesicht stand dicht vor Berta. Er sah sie an. Grinsend schob er die dicken Lippen auseinander – oh, die kräftigen Zähne, die Augen glänzten auf. Berta starrte in dieses Gesicht, auf diesen fleischigen Mund, in die schwimmenden Augen.

„Ja, so ein Neger, das wäre das Richtige, was?” sagte der Steuermann.

Berta blickte ihn starr an. „Wär’s auch”, stieß sie rauh hervor.

In diesem Augenblick sah Jonny auf seine Armbanduhr.[12]

Auch hier wird das Innenleben der Figuren unterdrückt, wie der Blick auf die erste Fassung zeigt:

Sein dunkelglänzendes Gesicht stand dicht vor Berta. Er sah sie an. Sicherlich riecht diese braune bläuliche Haut, dies hartgewellte Haar durchdringend, dachte Berta. Grinsend schob der Neger die dicken Lippen auseinander – oh die kräftigen Zähne, die Augen glänzten auf. Berta starrte in dieses Gesicht, auf diesen fleischigen Mund, in die schwimmenden Augen.

„Ja, so ein Neger, das wäre das Richtige, was?” sagte der Steuermann.

Berta blickte ihn starr an. „Wär’s auch”, stieß sie rauh hervor. Der Steuermann bekam doch einen kleinen Schreck. Wo sollte das hinführen? Sie war nicht mehr zu halten – sie wird immer gieriger werden.

In diesem Augenblick sah Jonny auf seine Armbanduhr.[13]

Am drastischsten aber wirken sich die Streichungen bei der Charakterisierung des Ringers Hein Dieckmann aus. Das in ihm wirkende Gemisch aus homoerotischer Begierde, schlechtem Gewissen und Selbsthass, das in der ersten Textfassung auch seine Trunkenheit vor dem Kampf erklärt, fehlt in der Pfeifferschen Fassung beinahe völlig. In ihr erscheint er anfangs als ein alternder, dem Alkohol zugeneigter Kämpfer, dessen innere Problematik sich allenfalls erahnen lässt. „Daß ich nicht so bin – wenn ich den so sehe, dann … Ich bin ‘n Dreck”[14] heißt es dort wenig aufschlussreich, doch in der Originalausgabe, wo dieser Äußerung eine lange Schilderung der ersten Begegnung mit Alvaroz vorausgeht, endet sie folgendermaßen: „Daß ich nicht so bin – wenn ich den so sehe, dann möcht ich in ihn hineinkriechen, in seinen Leib hineinkriechen, möchte das alles selber haben, diesen Leib, die Haut, die Haare. Ich bin `n Dreck“[15].

Auch der Ringkampf, einer der Handlungshöhepunkte, wurde von Pfeiffer erheblich „entschärft”. Die sexuelle Belästigung des jungen Ringers[16] ist kaschiert, der wahnhafte Ausbruch Dieckmanns abgemildert. In der ersten Textfassung entblößt der Ringe sein Innerstes vor dem Publikum, redet auf Alvaroz ein:

„Willst du nun mein lieber kleiner Junge sein, wie?“ fragte er stier und drohend. „Du Hund“, schrie Alvaroz. „Willst du nun mein lieber kleiner Junge sein?“ „Nein!“ „Willst du?“ „Nein!“ Immer wilder: „Willst du, willst du, willst du?“ „Du Vieh!“[17]

Es folgt ein weiterer Tabubruch, der Kuss auf der Bühne:

Dann legte sich Dieckmann ganz auf ihn, ganz dicht, mit seinem Mund auf Alvaroz’ blutigem Munde: „Mein Junge, mein lieber Junge, du schöner armer Junge.“ Und dann fiel er bewußtlos zur Seite, seine Augen standen offen, und die Augäpfel waren nach oben gedreht und kaum zu sehen, und da konnten ihn die umstehenden Männer endlich beiseite schieben und Alvaroz freibekommen. Er lag stöhnend und röchelnd am Boden, blut- und schweißverschmiert, zerkratzt, zerhauen.[18]

Wird hier deutlich, dass es sich eigentlich um einen Akt der Vergewaltigung handelt, ist die Beschreibung des Kampfes in der Pfeifferschen Fassung derart gekürzt, dass der Tabubruch Dieckmanns darin zu bestehen scheint, Alvaroz mit unfairen Methoden zu attackieren[19]. In ihr wirkt die Figur des Ringers sehr viel blasser, stellenweise gar unverständlich.

In seinem Nachwort mutmaßt Graf, dass Pfeiffer die Streichungen auch aus Rücksicht auf die Situation in der frühen Bundesrepublik vorgenommen hat. Homosexualität stand ja zu dieser Zeit noch unter Strafe, der Geist des früheren Regimes herrschte durchaus noch in einigen Behörden; Am Rande der Nacht „konnte anscheinend auch in der Restaurationsära nicht in der ursprünglichen Form veröffentlicht werden”[20]. Das ist schade, denn in der gekürzten Fassung verliert der Text einiges. Es ist das Problem einer jeden Zensur, dass sie, wo sie den eigentlichen Geist eines Werkes nicht auslöschen kann, dessen Gestalt doch so verändert, dass es darunter leidet. Auch in der Pfeifferschen Fassung bleibt die erotische Problematik erkennbar, doch wird sie teils ihrer Motivation beraubt, teils so verdeckt, dass sie kaum mehr als solche erscheint. Nicht zu Unrecht weist Graf auf Eugène Badoux hin, der in seiner Psychobiographie versucht, im Werk versteckte Hinweise auf die Homosexualität des Autors zu finden. Zumindest für Am Rande der Nacht gilt sicherlich, dass die „sublime Ebene des Textes [...] sich in einem Vergleich mit der Erstausgabe als posthumes Produkt des Herausgebers“[21] erweist.

1.3 Forschungsstand

Die Sekundärliteratur zu Friedo Lampe ist nicht sehr umfangreich. Es gibt einige Nachrufe und erinnernde Artikel, die meist nicht mehr als eine biographische Übersicht vermitteln und das Werk in wenigen Sätzen umreißen. In großer Übereinstimmung heben sie die „diesseitig-realistischen und jenseitig-romantischen Tendenzen“[22] in Lampes Werk, sein Oszillieren zwischen Detailschärfe und assoziativem Spiel hervor und legen damit den Grundstein für die spätere Einordnung Lampes als Vertreter des Magischen Realismus. Auch Verweise auf die „auf magische Weise durchschaute bürgerliche Welt”[23], auf die Darstellung einer brüchig gewordenen „bürgerliche[n] Fassade”[24], ja eines „panischen Idylls“[25] finden sich; sie haben diese Arbeit inspiriert. Heinz Piontek verweist auf die Bedeutung der Zeit in Am Rande der Nacht, ebenso Lionel H. C. Thomas, der in ihr „the hero of this story without a central character“[26] erkennt.

Als literarische Vorbilder werden oft Hofmannsthal, Keyserling und Hermann Bang genannt, mit deren Namen bereits die Erstausgabe von Am Rande der Nacht beworben wurde[27]. Daneben gibt es Hinweise auf stilistische Einflüsse zeitgenössischer Literatur, etwa bei Heinz Piontek, der in Lampes Erzählstil Ähnlichkeiten zu Katherine Mansfield und John Dos Passos sieht[28]. Johannes Pfeiffer und W. E. Süskind betonen die profunde Kenntnis der deutschen Literaturgeschichte und die Vorliebe Lampes für den Biedermeier[29]. Die wenigsten dieser Artikel umfassen mehr als zwei, drei Seiten; sie entwickeln teils interessante Ideen, behandeln diese aber nicht in der Ausführlichkeit, die einer literaturwissenschaftlichen Arbeit ansteht.

Die erste Arbeit, die sich eingehender mit Friedo Lampe beschäftigt, ist die 1959/60 entstandene Dissertation der Genter Studentin Helga de Pauw. Unter dem Titel Friedo Lampe. Einführung in Leben und Werk zeichnet sie als erste die biographischen Stationen des Bremer Dichters, trägt Erinnerungen von Freunden und Familienmitgliedern zusammen und wertet Briefe aus. Den im Gesamtwerk versammelten Erzählungen widmet sie im zweiten Teil ihrer Arbeit Einzelbesprechungen, in denen sie charakteristische Motive herausarbeitet. Obwohl sie die Stücke weitgehend isoliert untersucht und ihre Beobachtungen nicht zusammenführt, liegt der Schwerpunkt ihrer Deutung doch auf dem Betonen des „zaubrisch Entrückte[n]”[30], der Verquickung von banalen Alltagsereignissen mit märchenhaften Motiven.

Auf de Pauws biographischen Studien baut die 1986 erschienene Psychobiographie von Eugène Badoux auf. Dieser hatte Am Rande der Nacht und Septembergewitter ins Französische übersetzt[31] und sich dabei, wie er im Vorwort schreibt, über die fehlenden biographischen Bezüge in Lampes Werk gewundert[32]. Mittels einer psychoanalytischen Lesart versucht er, im Text Emanationen der „homoséxualité lampéenne, non avouée”[33] auszumachen; seine These ist, dass sich verdrängte Anlagen und Komplexe, die er im biographischen Teil herausarbeitet (wie beispielsweise das Verhältnis zur Mutter), ihren Weg ans Freie über das Werk bahnen, in sublimierter Form freilich, über Figurenkonstellationen und Symbole. Badoux richtet sein Interesse auf die Person des Schriftstellers: „Friedo Lampe est une figure originale des lettres allemandes. C’est à évoquer sa personnalité plus qu’à analyser son art que nous nous sommes attachés”[34]. Hier liegt die Problematik dieser Arbeit: Der psychoanalytische Ansatz erweist sich stellenweise als fruchtbar, reicht jedoch nicht aus, um dem Text gerecht zu werden; da die Fragestellung aber ohnehin biographisch ist, dient dieser lediglich als Beweismaterial (die Textanalyse nimmt nicht mehr als ein Viertel des Buches ein). Hinzu kommt, dass Badoux, der sich häufig auf Am Rande der Nacht bezieht, nur die Pfeiffersche Fassung vorlag, was sich bei einer psychoanalytischen Betrachtung natürlich verheerend auswirkt: Wenn man die nachträglichen Streichungen, die nicht immer sauber verschliffen sind, als Momente der Selbstzensur begreift, kommt man leicht zu falschen Schlüssen. Dieser Umstand entwertet die Psychobiographie nicht, stellt aber einige ihrer Ergebnisse in Frage. Gerade bei Am Rande der Nacht kann man nicht sagen, dass Lampe seine möglichen erotischen Neigungen versteckt hat, im Gegenteil sind sie hier, ursprünglich zumindest, geradezu voyeuristisch exponiert.

Im Zuge unserer Recherchen sind wir auf zwei weitere Arbeiten zu Friedo Lampe gestoßen, die, in den Bibliographien ohne Jahr und Ort vermerkt, leider unauffindbar blieben und deswegen nicht in diese Arbeit einfließen konnten: Eine Dissertation mit dem Titel Stil und Technik in den Erzählungen Friedo Lampes, verfasst von Jochen Liebig, sowie die Magisterarbeit von Johannes Graf, Friedo Lampes Erzählung „Am Rande der Nacht“ – Konservative Philosophie und avantgardistische Form. Vor allem letztere wäre für diese Arbeit von Interesse gewesen; so seien beide nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Rezipiert wurde das Werk Friedo Lampes ferner im Kontext der Aufarbeitung deutscher Literatur während des Nationalsozialismus. Hier ist es aus verschiedenen Gründen von Interesse: Im Zuge der Diskussion um das kulturelle Leben im Dritten Reich steht es als ein Beispiel dafür, dass, jenseits von Mitläufertum und aktivem Widerstand, zudem nicht, wie verschiedentlich behauptet wurde, völlig abgeschnitten von internationalen Strömungen[35], eine interessante und hochwertige Literatur entstehen konnte. Hans Dieter Schäfer zum Beispiel, der in seinem Buch Das gespaltene Bewußtsein, in Abgrenzung von der Diskussion um die Innere Emigration, ein differenziertes Bild des Lebens im Nationalsozialismus zu zeichnen versucht, verweist mehrfach auf Friedo Lampe[36]. Auch bei der verwandten Diskussion um die Existenz der „Stunde Null“ und das Problem der geschichtlichen Kontinuität[37] fällt sein Name; er wird hier als Vorbild der Nachkriegsgeneration gesehen[38].

Schließlich wurde das Werk für den sich allmählich entwickelnden Begriff des Magischen Realismus von Bedeutung. Forschungen hierzu, seien es die Arbeiten von Weisgerber, Kirchner oder Scheffel[39], führen stets Friedo Lampe als Beispiel für magisch-realistisches Erzählen an.

Betrachtet man die oben genannten Arbeiten, so fällt ein überproportionaler Anteil an biographischer Literatur auf. Lampes Leben ist beinahe lückenlos dokumentiert, ausführliche Untersuchungen einzelner Werke fehlen hingegen. Dies ist in den fünfziger Jahren, wo die Erinnerung an Lampe noch wach ist, durchaus verständlich; doch warum gibt es auch danach nur wenig literaturwissenschaftliche Arbeiten? Liegt es einfach an der relativen Unbekanntheit? Oder liegt es daran, dass die Literatur zur Zeit des Nationalsozialismus allgemein zu wenig erforscht ist? Die Tatsache, dass Autoren, die sich damit beschäftigen, beinahe ausnahmslos Lampe erwähnen, spricht für diese These.

2. Tradition und Moderne – Aspekte der Darstellung

2.1 Erzähltechnik

In Am Rande der Nacht bedient sich Lampe moderner Erzählverfahren, deren augenscheinlichstes die Kameratechnik ist. Die Einheit der Handlung ist in zahlreiche Sequenzen aufgelöst, die teilweise simultan ablaufen und durch dem Kino entlehnte Verfahren verbunden werden. So arbeitet Lampe mit Kameraschwenks, zum Beispiel, wenn er von Luises Zimmer in die Gartenlaube des Geographielehrers Hennicke wechselt:

Sie sehnte sich nach ihrer Mutter, nach einem geschlossenen Zimmer, nach Gemütlichkeit, und da blickte sie schnell in den Nachbargarten. Da war etwas, was sie tröstete und beruhigte, ein friedliches Bild.

Dort saß nämlich am Ende des Gartens in der von großen Blättern umrankten Laube Herr Hennicke, der Geographielehrer mit seinen zwei Söhnen.[40]

Ebenso gibt es klare Schnitte, wenn etwa vom Brief des Anlagenwärters auf die Kabine der Adelaide geblendet wird:

Hochverehrte Herren,

noch einmal schreibe ich und bitte dringend und ganz ergebenst um Gehör [...] Ich bitte Sie, nehmen Sie die Sache nicht zu leicht ...

Die Betten lagen übereinander, und Anton saß auf dem unteren Bett.[41]

Teilweise scheinen diese Schnitte thematisch zu verknüpfen, etwa, wenn auf den schnellen Schritt des alten Mannes die Erkenntnis folgt, dass Eile unnötig ist, weil seine Tochter ihn ohnehin nicht besuchen kommt[42], oder später, wenn an die Stelle des Flötenspiels in der nächsten Szene der Gesang Addis tritt[43].

Mit dem Verzicht auf Chronologie geht die Aufgabe einer einheitlichen Perspektive einher. Ereignisse werden mehrfach geschildert, wobei der Standpunkt wechselt. Sieht man den Betrunkenen, der am Besteigen der Straßenbahn gehindert wird, zuerst aus der Perspektive eines Fahrgastes[44], wird ein paar Seiten weiter der Außenstandpunkt eingenommen[45]. Die Frage Fifis nach der Uhrzeit[46] wird in der Erinnerung des alten Mannes wiederholt[47]. Das Flötenspiel des Herrn Berg schließlich wird von vielen Figuren gehört und kommentiert.

Zur Schilderung der Figuren bedient sich Lampe des inneren Monologs und der erlebten Rede. So denkt sich Luise, Frau Jacobi begegnend:

Ach, Mama wird andere Töne anschlagen. Nur fremde Damen haben diese nette Art. Aber Mama ist mir trotzdem lieber. Nein, Frau Jacobi sollte nicht meine Mama sein.[48]

Ein Beispiel für die erlebte Rede sind die Gedanken des alten Mannes auf der Bank:

Ja, sie gingen alle von ihm fort, sie ließen ihn einfach sitzen. Auch Karl und Berta kümmerten sich so wenig um ihn, immer seltener kamen sie abends zu ihm. Na er konnte ihnen ja auch wenig bieten, die gingen lieber ins Kino.[49]

Die Kameratechnik objektiviert das Erzählen, die eben genannten Techniken der inneren Rede führen den Leser dicht an die Figur; beide Verfahren ersetzen den traditionellen Erzähler als Vermittlungsinstanz zwischen Leser und Handlung. Dieser aber ist in Am Rande der Nacht durchaus vorhanden und, anders als beispielsweise in Ulysses[50], problemlos als solcher zu erkennen, wie beispielsweise in der Schilderung des Geographielehrers:

Herr Hennicke liebte die fernen Länder, das Reisen, die Abenteuer, das Meer, die Schiffe, aber er war nie über seine Heimatstadt hinausgekommen. Aus Sehnsucht war er Geographielehrer geworden. Da er nicht reisen konnte, las er die Bücher und reiste in Gedanken.[51]

Bleibt man bei dem Vergleich mit dem Film, könnte man den Erzähler des Romans als behutsamen Kommentator bezeichnen: Er hält sich weitgehend zurück, überlässt den Figuren und Bildern das Wort und schaltet sich nur ein, wo es nötig ist. An einer Stelle jedoch tritt er hervor und unterbricht das Geschehen durch einen Kommentar:

Ja, die Zeit ging dahin, für den einen zu langsam und für den anderen zu schnell. Und doch ging sie weder schnell noch langsam, sondern in gleichmäßigem, unerbittlichem, pausenlosem Schritt, streng und gesetzhaft wie das Flötenspiel des Herrn Berg, das über die Gärten dahinklang [...][52]

Dieser Abschnitt ist, wie sich gleich zeigen wird, von zentraler Bedeutung; vorerst jedoch geht es uns darum, die Koexistenz von traditionellen und modernen Stilelementen zu verdeutlichen.

Einen Protagonisten, der die Handlungsstränge verbindet, gibt es in diesem Roman nicht. An seine Stelle treten andere Ordnungsprinzipien. Der Handlungsort ist mit dem Bremer Hafenviertel klar abgegrenzt, keine der Figuren wird es bis zum Ende verlassen. Die erzählte Zeit ist genau bestimmbar, die Handlung beginnt kurz vor halb acht und endet um Mitternacht mit der Abfahrt der Adelaide. Zahlreiche Zeitangaben durchziehen gliedernd die Erzählung, so dass sich trotz der Simultanität recht genau sagen lässt, was zu welchem Zeitpunkt passiert. Daneben geben die aufeinanderfolgenden Darbietungen im Astoria, der stündlich über den Bahndamm ratternde Zug und das Flötenspiel des Herrn Berg den Rhythmus vor, zu dem sich die Figuren scheinbar frei bewegen. Wie in der eben zitierten Stelle gezeigt, stellt der Erzähler selbst den Bezug zwischen der gleichmäßig fließenden Zeit und der ebenso gleichmäßigen Musik her. Dort heißt es weiter:

Die Zeit bewegte sich in allem, bewegte alle und alles, und alle bewegten sich in ihr, sie trieb in Wasser und Bäumen und Wind, im Blut und im Pochen der Herzen, sie trieb und sie strömte und drängte, sie drängte aus dem Dunkel und ins Dunkel zurück, anfang- und endelos [...] Wie sie jetzt das Leben fügte, so würde es sich nie wieder fügen […][53]

Versteht man diese Passage selbstreferentiell, als Hinweis auf das Konstruktionsprinzip des Textes, wird klar, was Lionel Thomas meint, wenn er von der Zeit als „hero of this story without a central character“[54] spricht. Sie ist der Puls des Romans, dem alle Geschehnisse, obwohl durchaus nicht beliebig in der Auswahl, unterworfen sind, und für Lampe, so lässt sich vorerst vermuten, auch oberhalb der darstellerischen Ebene von großer Bedeutung.

Das Flötenspiel des Herrn Berg, motivisch mit dem Tod verknüpft[55], ist, um bei kinematographischen Begriffen zu bleiben, die Hintergrundsmusik zu diesem Abend. Es wirkt atmosphärisch und verbindet die Figuren; da es, mit Ausnahme der Adelaide, an allen Schauplätzen zu hören ist. Dies hat Helga de Pauw dazu veranlasst, das Zimmer Bergs als die „zentrale Fläche”[56] des Romans zu bezeichnen. Brigitte Weidmann, auf die Nähe zu Hofmannsthal hinweisend, sieht in der „Todesmusik“ ein Leitmotiv, „antwortet ihr doch in derselben Nacht der Gesang eines vom frühen Tod bedrohten Kindes”[57]. Dies trifft in diesem Fall zu, doch ist die Reaktion der verschiedenen Figuren auf die Musik unterschiedlich, eher ein Ausdruck eigener Befindlichkeit als Charakterisierung des Spiels. Für die Flötentöne gilt, was zuvor von der Zeit gesagt wurde: Sie bilden den Puls, den Rhythmus der Erzählung, oder in den Worten des Herrn Berg: „Bach kann man immer spielen, soll man immer spielen [...] Im Leben und im Tod“[58].

Das bis jetzt entstandene Bild ist durchaus widersprüchlich: Einerseits Kameratechnik, Verzicht auf einen Protagonisten zugunsten abstrakter Ordnungsprinzipien, Aufsplitterung der Perspektive und innere Monologe; andererseits das Festhalten am traditionellen Erzähler und der Verzicht auf andere moderne Techniken wie beispielsweise den „stream of consciousness“. Obwohl Einflüsse zeitgenössischer Literatur, man denke etwa an Döblins Berlin Alexanderplatz (1929), Ulysses oder Manhattan Transfer von Dos Passos (1925, dt. 1927) wahrscheinlich sind, merkt man diese dem Text bei oberflächlichem Lesen kaum an. Am Rande der Nacht, obwohl raffiniert in der Form, ist keine experimentelle Literatur, die erzähltechnischen Neuerungen sind behutsam vorgenommen. Diese Mittelstellung zwischen Modernität und Tradition wird sich auch bei der Untersuchung der Figuren und des Stils zeigen lassen.

2.2 Figuren

Obwohl es sich bei Am Rande der Nacht um einen ausgesprochen kurzen Roman handelt, treten in ihm über vierzig Figuren auf. Hinzu kommen die Massen auf den abendlichen Straßen, die Liebenden in den Parkanlagen, die schlummernden Kapitänswitwen, die Arbeiter an der Wurstbude oder die Besucher des Astoria, die anwesend sind, aber gesichtslos bleiben. Einige der Figuren, wie etwa der Schaffner, der Herr im gelben Mantel oder die Söhne des Herrn Hennicke, werden nur kurz gestreift und tauchen danach nicht mehr auf. Die anderen, vom Kamerablick abwechselnd beleuchtet, bilden meist Gruppen; sie bewegen sich innerhalb ihrer Kreise, die sich zuweilen zwar berühren, nicht aber öffnen.

Da gibt es die Kinder, Hans und Erich, Fifi und Luise. Für sie ist der Abend in erster Linie ein Abenteuer, ein unerlaubter Streifzug durch die Welt der Erwachsenen, mit Ängsten verbunden, die bei Erich offen zutage treten, während sie Luise im Form eines Albtraums heimsuchen. Die Kinder begegnen dem alten Mann, die Knaben später den beiden Studenten, doch bleiben ihnen sowohl die Einsamkeit des Alten als auch die Zustände auf der Adelaide unbekannt – vermutlich interessieren sie sich nicht einmal dafür.

Die bürgerliche Welt tritt in der Laube des Herrn Hennicke, dem Heim Luises und dem Haus der Frau Jacobi in Erscheinung. Obwohl in räumlicher Nähe (die Laube liegt zwischen den Häusern), gibt es zwischen diesen drei Gruppen praktisch keinen Kontakt; die Männer tauschen Briefmarken, bei Luise herrscht Familienatmosphäre, und Frau Jacobi verbringt den Abend mit Frau Mahler, neben ihnen ein Sterbender, über ihnen der vom Tode gezeichnete Herr Berg.

Kapitän Martens und sein Steward bilden eine Gruppe, ebenso die Studenten Oskar und Anton. Man begegnet sich zwar an Bord der Adelaide, doch bleiben die Gruppen trotz der Sympathie Antons für Bauer intakt, das Gespräch beim Abendessen oberflächlich – ein Phänomen, auf das wir später zurückkommen.

Gehören die Artisten des Astoria schon zusammen, treten sie doch vorzugsweise in Paarkonstellationen auf: die Tänzer Nita und Fred, die Ringer Dieckmann und Alvaroz, der Hypnotiseur und sein Sohn. Jede dieser Gruppen besetzt ein anderes Thema, jede hat ihre eigene Problematik.

Bleiben die Einsamen, die dennoch in losem Zusammenhang stehen: Peter, der sowohl mit dem Alten als auch Fanny verbunden ist, ohne keinem der beiden wirklich nahe zu sein; der Anlagenwärter, Vater Fannys und beobachtet von ihr, Peter und dem Alten; Fanny, Tochter des Anlagenwärters und an diesem Abend die Begleitung Peters und schließlich Berta, Tochter des alten Mannes, die ihren Gatten mit wechselnden Männern betrügt. Die Verknüpfung dieser Figuren ist höchst kunstvoll; als Thema ist ihnen die Einsamkeit gemein, was nicht heißt, dass sie alleine nicht auch andere Themen verkörpern können[59]. Daher macht es nicht allzu viel Sinn, den Figurengruppen je eine feste Bedeutung zuzuweisen; es genügt, das Kompositionsprinzip zu verstehen. Sagten wir vorher, dass die Erzählung durch rhythmische Elemente wie das Variétéprogramm, den stündlichen Zug, das gleichmäßige Flötenspiel und die voranrückende Zeit gegliedert ist, kommt den Figuren die Funktion eines Ensembles zu, das auf diesem Grundrhythmus spielt, jedes Instrument seinen Part, sich ergänzend und die Komplexität des Stückes formend. Bei aller Nähe zum Film ist doch auch der musikalische Charakter des Romans unübersehbar. Lampe verzichtet auf einen Protagonisten, auf eine Haupthandlung, denen sich die anderen Figuren und Handlungsstränge unterzuordnen haben; Am Rande der Nacht ist ein Panoptikum, in dem die einzelnen Elemente nahezu gleichberechtigt sind. Wenn es aber kein ordnendes Zentrum gibt, müssen die Teile auf andere Art in Beziehung zueinander gesetzt werden, und dies geschieht durch ein musikalisches Zusammenspiel thematisch verschieden aufgeladener Figurengruppen. Dies soll nicht heißen, dass die Figuren kein Eigenleben führten, gar beliebig wären; allerdings ordnen sie sich der Gesamtkonzeption unter. Nähme man die einzelnen Handlungen und bildete aus ihnen mehrere, aufeinander folgende Kurzgeschichten, wäre das Ergebnis ernüchternd, vermutlich gar erschreckend banal, einem Instrument zu vergleichen, das seinen Part eines Orchesterstücks spielt, gefolgt vom nächsten. Erst im Nebeneinander entfalten die einzelnen Ereignisse ihre Wirkung.

Sozial betrachtet, gehören die Figuren des Romans dem Kleinbürgertum an, sind Beamte, kleine Angestellte oder Variétékünstler, alltäglich, ja betont banal geschildert - eine Gesellschaft wie man sie wohl zu jener Zeit in jeder deutschen Stadt finden konnte. Obwohl gelegentlich Innenansichten der Figuren gezeigt werden, bleibt die Darstellung doch an der Oberfläche, eingehende Charakterisierungen oder gar tiefenpsychologische Deutungen finden nicht statt. Es herrscht eine Ästhetik der Äußerlichkeit, der Oberfläche, die jedoch beabsichtigt ist; wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, ist die gezeigte Oberfläche durchlässig.

[...]


[1] Brief an Anneliese Voigt vom 10. Januar 1944, in: Neue Deutsche Hefte 3 (1956/57), S. 119.

[2] Vgl. hierzu Süskind, S. 86f.

[3] Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen Lampe und Eugen Claassen, in: Claassen, S. 270-281.

[4] Vgl. hierzu: Oda Schaefer, S. 300ff.

[5] Die verlässlichste Schilderung der Geschehnisse findet sich bei Molzahn, S. 688-690.

[6] F. Lampe, „Briefe“, in: Neue Deutsche Hefte 3 (1956/57), S. 108f.

[7] Vgl. hierzu Gesamtwerk (1986), S. 377.

[8] Unveröffentlichter Brief. DLA, A: Johannes Pfeiffer.

[9] Vgl. Süskind, S. 89: „Das ältere [Werk, unsere Anm.] ist kühner, krasser in seiner mitunter die Obszönität streifenden Phantasie; das merkt man noch immer, obwohl es – wir möchten meinen, nicht zu seinem Vorteil – gekürzt worden ist”.

[10] Gesamtwerk (1986), S. 52.

[11] Lampe (1999), S. 67.

[12] Gesamtwerk (1986), S. 62.

[13] Lampe (1999), S. 81.

[14] Gesamtwerk (1986), S. 68.

[15] Lampe (1999), S. 90f.

[16] Vgl. ebd., S. 125f., und Gesamtwerk (1986), S. 92f.

[17] Lampe (1999), S. 127.

[18] Ebd., S. 128.

[19] Vgl. Gesamtwerk (1986), S. 93.

[20] Lampe (1999), S. 169.

[21] Ebd., S. 171f.

[22] Maaß, S. 494.

[23] Koeppen, S. 500.

[24] Piontek, S. 90.

[25] Glaser, S. 60.

[26] Thomas, S. 197.

[27] Werbeanzeige des Rowohlt Verlags, Berlin W 50, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 250, 26. Oktober 1933: „Ein schwermütiges, schönes Buch, verwandt den unzeitlichen Dichtungen Hofmannsthals, Eduard Keyserlings und Hermann Bangs.“

[28] Vgl. Piontek, S. 92.

[29] Vgl. Pfeiffer (1962), S. 32, sowie Süskind, S. 89.

[30] De Pauw, S. 68.

[31] Au Bord de la Nuit erschien 1970, Orage de Septembre et autres récits 1976 bei L’Age d’Homme, Lausanne.

[32] Vgl. Badoux, S. 9.

[33] Badoux, S. 10.

[34] Ebd.

[35] Vgl. Schäfer (1981), S. 12ff.

[36] Vgl. ebd., z. B. S. 31ff.

[37] Vgl. hierzu Frank Trommlers Aufsatz Emigration und Nachkriegsliteratur. Zum Problem der geschichtlichen Kontinuität (Bibl.).

[38] Vgl. Lampe (1999), S. 196f.

[39] Vgl. Bibl.

[40] Lampe(1999), S. 30.

[41] Ebd., S. 55.

[42] Vgl. ebd., S. 18.

[43] Vgl. ebd., S. 108.

[44] Vgl. ebd., S. 10.

[45] Vgl. Lampe (1999), S. 20.

[46] Vgl. ebd., S. 8.

[47] Vgl. ebd., S. 12.

[48] Ebd., S. 9.

[49] Ebd., S. 12.

[50] Ulysses erschien 1922, die deutsche Übersetzung, die Lampe wahrscheinlich kannte, lag 1927 vor.

[51] Lampe (1999), S. 31.

[52] Lampe (1999), S. 41.

[53] Ebd.

[54] Thomas, S. 197.

[55] Berg spielt über dem Sterbezimmer des Herrn Mahler und ist selbst vom Tode gezeichnet: „Sie wußte plötzlich: der wird’s auch nicht mehr lang machen. Ein Todeskandidat.“ (S. 35).

[56] de Pauw, S. 88.

[57] Weidmann, S. 453.

[58] Lampe (1999), S. 28.

[59] So verweisen Fanny und Berta ebenfalls auf den Bereich der Sexualität.

Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Rückblick von außen: "Am Rande der Nacht" von Friedo Lampe
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Deutsche Sprache und Literatur II)
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
80
Katalognummer
V135977
ISBN (eBook)
9783640434787
ISBN (Buch)
9783640434992
Dateigröße
697 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
friedo, lampe, magischer realismus, 30er jahre, am rande der nacht, kriegsliteratur, vergessene autoren, bremen, roman, sachlichkeit
Arbeit zitieren
Philipp Zechner (Autor:in), 2003, Rückblick von außen: "Am Rande der Nacht" von Friedo Lampe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135977

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