Gab es Gemeinwesenarbeit in der DDR?


Diplomarbeit, 2007

119 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Die DDR und die Gemeinwesenarbeit – Auf der Suche nach einem theoretischen Rahmen
1. Die Deutsche Demokratische Republik
1.1. Das politische System der Deutschen Demokratischen Republik
1.2. Das Sozialwesen der DDR
1.2.1. Die sozialpolitische Ausrichtung der DDR
1.2.2. Gesundheits- und Sozialwesen
1.2.3. Jugendhilfe
1.2.4. Ausbildung von Fachkräften des Sozialwesens
1.2.5. Wohnungswesen
1.3. „Kirche im Sozialismus“ – Verständnis von Gemeinde
2. Gemeinwesenarbeit
2.1. Vom Settlement zur Dritten Methode der Sozialarbeit
2.2. Ansätze einer Gemeinwesenarbeit
2.2.1. Wohlfahrtsstaatliche Gemeinwesenarbeit
2.2.2. Integrative Gemeinwesenarbeit
2.2.3. Aggressive Gemeinwesenarbeit
2.2.4. Gemeinwesenarbeit nach Saul D. Alinsky
2.2.5. Katalytisch-aktivierende Gemeinwesenarbeit
2.3. Gemeinwesenarbeit – Mehr als die Dritte Methode
2.4. Stadtteilbezogene Soziale Arbeit

III. Methodik der Interviews
1. Gütekriterien und Bewertungskriterien qualitativer Forschung
1.1. Intersubjektive Nachvollziehbarkeit
1.2. Indikation des Forschungsprozesses und der Bewertungskriterien
1.3. Empirische Verankerung der Theoriebildung und -prüfung
1.4. Limitation
1.5. Reflektierte Subjektivität
1.6. Kohärenz
1.7. Relevanz
2. Datenerhebung mit Problemzentrierten ExpertInneninterviews
3. Datenaufbereitung
4. Datenauswertung

IV. Praxis der Gemeinwesenarbeit in der DDR aus Sicht vierer Experten
1. Inhalte bzw. Ergebnisse aus den Interviews
1.1. Interviewdarstellung des Interviews mit M.P.
1.2. Interviewdarstellung des Interviews mit J.B.
1.3. Interviewdarstellung des Interviews mit O.F.
1.4. Interviewdarstellung des Interviews mit G.L.

V. Diskussion der Ergebnisse – Abschließende Betrachtungen
1. Gab es unter den gesellschaftspolitischen Verhältnissen der DDR Die Möglichkeit Gemeinwesenarbeit zu praktizieren?
2. Gab es eine Lehre von Gemeinwesenarbeit in der DDR?
3. Gab es Gemeinwesenarbeitsprojekte in der DDR?

VI. Resümee

VII. Literaturverzeichnis

VIII. Anlage

I. Einleitung

In der vorliegenden Diplomarbeit bearbeite ich die Fragestellung, ob es in der DDR Gemeinwesenarbeit gab. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung war die unzureichende Klärung dieses Themas durch die bisherige Forschung.

Gemeinwesenarbeit hat in der Sozialen Arbeit der Bundesrepublik Deutsch­land eine lange Tradition und prägte die Weiterentwicklung dieser in den letzten Jahrzehnten. Für das Sozialwesen der DDR, so kann man aus der Literatur ent­nehmen, spielte Gemeinwesenarbeit keine Rolle. Aber hat es Gemeinwesenarbeit dennoch gegeben?

Intention meiner Arbeit ist es zu erforschen, ob es Gemeinwesenarbeit in der DDR gegeben hat. Es soll einen Beitrag zur Geschichte und Theorie Sozialer Arbeit leisten und versuchen eine Theorie zu generieren.

Zur Klärung der Fragestellung konnte ich nur begrenzt auf Literatur zurück­greifen. So habe ich den Schwerpunkt auf qualitative Sozialforschung, in Form von Experten-interviews, gelegt. Die vier Experten haben Mitte der 1980er Jahre ihre Ausbildung zum kirchlichen Fürsorger in Potsdam absolviert und sammelten in der DDR praktische Erfahrungen mit Ansätzen der Gemeinwesenarbeit.

Diese Arbeit ist in folgendem Kontext zu betrachten:

(1) Der Fokus der Auseinandersetzung liegt auf der DDR der 1980er Jahre, um das Forschungsfeld überschaubar zu halten.
(2) Ich habe mich auf drei Regionen der DDR beschränkt: Dresden, Magdeburg und Berlin. Dies war aufgrund des Rahmens der Diplom­arbeit und der gewählten empirischen Methode am geeignetsten.
(3) Es wurde, wo es sich um Kirchen handelte, ausschließlich die Ev. Kirche in die Betrachtungen aufgenommen. Die Erweiterung des Fokus schien mir für diese Arbeit nicht notwendig.

Zur Klärung der Fragestellung habe ich drei Leitfragen entwickelt:

(1) Gab es unter den gesellschaftlichen Verhältnissen der DDR die Möglich­keit Gemeinwesenarbeit zu praktizieren?
(2) Gab es eine Lehre von Gemeinwesenarbeit in der DDR?
(3) Gab es Gemeinwesenarbeitsprojekte in der DDR?

Im ersten Teil der Diplomarbeit setze ich mich mit der DDR und der Gemein­wesenarbeit auseinander. Schwerpunkt ist das Sozialwesen der DDR und die Grundzüge der Gemeinwesenarbeit. Überdies versuche ich die Rolle der Ev. Kirche in der DDR und deren Verständnis von Gemeinde zu klären.

Der zweite Teil gibt die Sichtweisen der Experten zur Fragestellung wieder. Hier werden die Methodik und die Ergebnisse der qualitativen Forschung dar­gestellt.

Im letzten Teil bilden die gesammelten Erkenntnisse aus Theorien und Empirien die Basis für die abschließende Diskussion. Weiterhin habe ich Dokumente verwendet, die als Anlage der Diplomarbeit angefügt sind. Die drei Leitfragen bilden das Gerüst dieser Auseinandersetzung.

Diese Diplomarbeit hat nicht den Anspruch eine abschließende Theorie zu generieren, dies wäre unter den Rahmenbedingungen auch nicht möglich ge­wesen. Diese Arbeit versucht einen Ausschnitt aus der Theorie und der Praxis der Gemeinwesenarbeit in der DDR zu liefern. Eine weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema ist notwendig.

II. Die DDR und die Gemeinwesenarbeit – Auf der Suche nach einem theoretischen Rahmen

1. Die Deutsche Demokratische Republik

1.1 Das politische System der Deutschen Demokratischen Republik

Vier Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges und der Aufteilung Deutsch­lands in vier Besatzungszonen kam es zur Gründung zweier deutscher Staaten. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes konstituierte sich am 23.05.1949 die Bundesrepublik Deutschland (BRD) aus den drei westlichen Besatzungszonen. Fünf Monate später, am 07.10.1949, folgte die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Der sowjetische Sektor von Berlin wurde als Hauptstadt der DDR und bis in die 1970er Jahre auch als Hauptstadt Deutschlands bezeichnet (vgl. Schretzenmayr 1998, 42), obwohl die Verfassung hier nicht galt. Grund hierfür war der Sonder­status von Berlin, welcher durch das Viermächteabkommen geregelt wurde (vgl. Lehmann 2000, 71f.).

Die erste Verfassung von 1949 verstand die DDR als eine antifaschistisch-radikaldemokratische Republik. Wie auch das Grundgesetz, so beanspruchte auch die Verfassung der DDR ihre Gültigkeit für alle Deutsche (welche in den fest­gelegten Grenzen des Potsdamer Abkommens lebten). Elemente dieser Verfassung orientieren sich an der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und der sowjetischen Verfassung von 1936 (vgl. Lehmann 2000, 71). Der Begriff Sozialismus oder sozialistisch kam in der ersten Verfassung nirgends vor. Dies resultierte bereits aus einer Strategieänderung der KPD von 1933, wodurch die Macht über Bünd­nispolitik zu erreichen ist und nicht durch eine unzeitgemäße Propagierung der Diktatur des Proletariats oder des Aufbaus eines Sowjetsystems (vgl. Müller 2001, 46). So wurden bereits nach dem Kriegsende repräsentative Funktionen im Staat durch Sozialdemokraten oder „Bürgerliche“ besetzt. Schlüsselpositionen wurden durch Kommunisten abgesichert. So Walter Ulbricht über die Taktik: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“ (Leonhard 1981, 317). Somit wird klar, dass es Ziel der SED war eine Diktatur des Proletariats, im Sinne Lenins, durch Tarnung der DDR als Demokratie zu errichten (vgl. Müller 2001, 47).

Die Verfassung wurde zweimal geändert, wobei die dritte Änderung von 1974 nur eine Erweiterung der zweiten Verfassung von 1968 war. In der Verfassung von 1968 sah sich die DDR nunmehr als eine Sozialistische Volksrepublik nach den Prinzipien des Demokratischen Zentralismus (vgl. Die Verfassung der DDR 1974, Artikel 47), welcher den Führungsanspruch der kommunistischen Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), untermauert. Der Begriff Demokratischer Zentralismus geht auf Lenin zurück. Er verstand darunter den hierarchisch-zentralistischen Aufbau aller Bereiche des öffentlichen Lebens. Darunter fielen der Staatsapparat, die Wirtschaft, alle Parteien und gesellschaft­liche Organisationen (vgl. Nohlen 1998, 93). Der Einzelne hat sich dem Mehr­heitsbeschluss und dem Beschluss einer übergeordneten Ebene unterzuordnen. Die Willensbekundung hatte kollektiv zu erfolgen. Mit der Verfassungsänderung von 1968 wurde der absolute Führungsanspruch einer Partei, der SED, im Artikel 1 festgeschrieben.

„Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ (Die Verfassung der DDR 1974, Artikel 1).

In der Verfassung der DDR wurden, wie auch in anderen Verfassungen, die Bürgerrechte festgelegt. Ich möchte im Folgenden die aus meiner Sicht wichtigsten kurz benennen. Diese Bürgerrechte unterschieden sich in persönliche Schutz- und Freiheitsrechte und kollektive soziale Rechte. Darunter fallen: (1) das Recht zur Arbeit (vgl. Die Verfassung der DDR 1974, Art. 24), (2) das Recht auf einen Wohnraum (vgl. ebd., Art. 37), (3) die Religionsfreiheit (vgl. ebd., Art. 39), (4) Schutz des persönlichen Eigentums (vgl. ebd., Art. 11) und (5) das Recht auf Mitgestaltung und Mitbestimmung (vgl. ebd., Art. 21). Diesen Rechten standen jedoch Einschränkungen gegenüber. So wurde das Recht auf Arbeit eingeschränkt durch die Formulierung: „Er hat das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend den gesellschaftlichen Erforder­nissen“ (vgl. ebd., Art. 24). Weiterhin bildete die Pflicht zur Arbeit eine Einheit mit dem Recht zur Arbeit (vgl. ebd., Art. 24). Neben dem Schutz des persön­lichen Eigentums stand das „sozialistische Eigentum an Produktionsmitteln“ (ebd., Art. 9). Die Wirtschaftsordnung war somit ein Mischsystem aus Privat- und Staatswirtschaft.

Die Grundrechte, welche die Meinungsfreiheit, Ver­sammlungsfreiheit und das Recht auf Mitgestaltung und Mitbestimmung garantieren sollten, wurden in der Praxis durch den Artikel 6 der Ersten Ver­fassung der DDR, der sogenannten „Boykotthetze“, zum ad absurdum geführt. Dieser Artikel machte es in der Folgezeit möglich, jeden Opponenten der Staats- und Parteiführung, strafrechtlich verfolgen zu lassen.

„Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches“ (Die Verfassung der DDR 1949, Artikel 6).

Formell war die Volkskammer, das Parlament der DDR, oberstes Organ (vgl. Die Verfassung der DDR 1974, Art. 48-65). Sie setzte sich aus den fünf zugelassenen Parteien (SED, CDU, LDPD, NDPD, DBD) und vier Massenorganisationen (FDGB, Freie Deutsche Jugend, Deutscher Frauenbund, Kulturbund) zusammen, die per Einheitsliste, als Nationale Front, zur Abstimmung gestellt wurde. Die Verteilung der Mandate wurde bereits vor der Wahl, durch örtliche Komitees der Nationalen Front, festgelegt, wobei eine Mandatsmehrheit durch SED-Mitglieder immer ab­gesichert war. Die Wahl zur Volkskammer durch die Bürger der DDR war nur als Zustimmung bzw. Ablehnung möglich, wobei es keine Wahlkabinen gab und somit von freien und geheimen Wahlen nicht gesprochen werden konnte.

Die Volkskammer wählte, als Regierung der DDR, den Ministerrat und den Staats­rat als kollektives Staatsoberhaupt. Das Amt des Ministerpräsidenten und die wichtigsten Ministerien (Ministerium für Staatssicherheit, Ministerium des Inneren, Ministerium für Volksbildung, Ministerium für Nationale Verteidigung etc.) wurden durch Vertreter der SED besetzt. Dies war durch den Führungsanspruch der SED in der Verfassung abgesichert.

Die DDR war bis zum Abschluss des Grundlagenvertrages zwischen der BRD und der DDR (21.06.1973) und der im gleichen Jahr stattgefundenen Aufnahme der DDR als Mitglied der Vereinten Nationen nur durch Staaten des Warschauer Paktes völkerrechtlich anerkannt. Bis Ende 1974 nahmen schlussendlich beinahe alle Staaten der Welt diplomatische Beziehungen zur DDR auf.

Mit der dritten Verfassungsänderung von 1974 verzichtet die DDR auf die Formulierung, ein sozialistischer Staat deutscher Nation zu sein. Anstelle dessen traten die Formulierungen sozialistische Nation und deutsche Nationalität. Ziel war es eine Unterscheidung in Volkszugehörigkeit (deutsche Nationalität) und Staatsangehörig­keit (sozialistische Nation) vorzunehmen. Der Bürger der DDR hatte somit weiter­hin die Nationalität deutsch, ist aber nun Staatsangehöriger der DDR (vgl. Lehmann 2000, 237). Hierdurch wurde deutlich, dass die DDR-Führung von einer Einigung Deutschlands, als sozialistischer Gesamtstaat, nicht mehr überzeugt war.

1.2 Das Sozialwesen der DDR

1.2.1 Die sozialpolitische Ausrichtung der DDR

Mit der Gründung der DDR entwickelt sich ein neues Sozialsystem, welches sich von der Entwicklung in der BRD unterschied. Voraussetzung hierfür war unteranderem, dass durch die SED propagierte Sozialistische Menschenbild. In diesem Kontext wurde auch der Begriff der Sozialistischen Persönlichkeit verwendet. In Mayers Kleines Lexikon (1971) wird die Persönlichkeit wie folgt definiert:

Persönlichkeit: allgemein jeder Mensch, der durch produktives, polit., geistig-kulturelles, sittl. Handeln die gesellschaftl. Entwicklung beeinflußt, auch selbstständiger, sittlich gereifter Mensch mit ausgeprägter Eigenart. […] Der Sozialismus führt durch Entwicklung aller Anlagen, Talente und Begabungen der Individuen zur massenhaften Ausbildung aller Menschen zu P., womit der Unterschied zwischen P. und Massen allmählich verschwindet“ (Mayers Kleines Lexikon 1971, 36).

Die Aufgabe der Erziehung zur Sozialistischen Persönlichkeit findet sich in Gesetzten und Verordnungen wieder. Hier ein Auszug aus dem Jugendgesetz der DDR (1974):

„§ 2 (1): Die Entwicklung der jungen Menschen zu sozialistischen Persönlichkeiten ist Bestandteil der Staatspolitik der Deutschen Demokratischen Republik […] § 2 (3) Die Eltern tragen gegenüber der Gesellschaft große Verantwortung für die sozialistische Erziehung ihrer Kinder“ (Schneider 1995, 35).

Dieses Menschenbild bildete die Grundlage für ein neues sozialpolitisches Ver­ständnis. Das Kernstück der Sozialpolitik in der DDR war die Verantwortung des Staates für die Lösung der sozialen Probleme. Dabei ist es die Aufgabe des Staates, ausreichende Ressourcen (finanzielle, materielle und organisatorische Rahmenbedingungen) zur Verfügung zu stellen. Jedoch lag die alleinige Ver­antwortung nicht in den Händen der staatlichen Stellen, sondern war eine gesamt­gesellschaftliche Aufgabe.

„So wurden die Betriebe und Genossenschaften nicht ausschließlich als Produktionsstätten betrachtet, sondern ihnen wurde zugleich eine soziale Funktion […] im Rahmen betrieblicher Sozialpolitik [zugewiesen]“ (Seidenstücker 2001, 232f.).

Den Betrieben wurde nicht nur die Funktion bei der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Mitarbeiter zum Sozialistischen Menschen zugewiesen, sondern sie hatten eine Mitverantwortung bei der Schaffung von Ferienangeboten, Kinderbetreuungs­angeboten und der Wohnraumversorgung. Dies geschah in Zusammenarbeit mit der einzigen Gewerkschaft der DDR, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) (vgl. ebd ., 233).

Die durch den Nationalsozialismus zerschlagene Doppelstruktur von freigemein­nützigen und öffentlichen Trägern wurde in der DDR in dieser Form nicht wieder zugelassen. Felder der Sozialen Arbeit wurden zwar auch von Organisationen, wie dem Deutschen Roten Kreuz (DRK), dem FDGB und der Volkssolidarität über­nommen. Sie waren jedoch nur „Auftragsnehmer staatlich gelenkter und sub­ventionierter territorialer Sozialpolitik“ (ebd., 232). Von Subsidiarität, wie in der BRD, war keine Spur. Einzig die konfessionellen Träger konnten in einem, vor­nehmlich auf die Pflege und Arbeit mit Alten und Behinderten, begrenzten Feld, mehr oder weniger frei arbeiten. Man wollte „bewusst mit den ‚bürgerlichen Traditionen des diskriminierenden, almosenheischenden Wohlfahrtswesen’ (Wohlrabe, 1948: 31), insbesondere dem Subsidiaritätsprinzip“ (Seidenstücker 2001, 241), brechen. Die Sozialpolitik wurde, wie auch in anderen Bereichen, nach den Grundzügen des Demokratischen Zentralismus, von oben nach unten „nach einheitlichen Grund­sätzen über die verschiedenen staatlichen Verwaltungsebenen hierarchisch – auch etatmäßig – gesteuert“ (ebd., 233).

Die Familie war im Verständnis der DDR „die kleinste Zelle der Gesellschaft“ (Familiengesetzbuch der DDR 1981, 5). Jedoch wird die Familie in ihrer Bedeutung dem Arbeitskollektiv gleichgestellt, was die Verbindungsfunktion zwischen Individuum und der sozialistischen Gesellschaft betrifft. Die rechtliche Gleich­stellung der Frau mit dem Mann hatte auch zur Folge, dass die Beschäftigungs­quote der Frauen 90% erreichte (1981: 91%), dies war Weltrekord (vgl. Müller 2001, 49). Die traditionelle Stützfunktion der Familie war in der DDR nicht mehr ausreichend leistungsfähig, sodass staatliche Leistungen, wie Kinderbetreuung, Unterstützung boten. Bereits in der ersten Verfassung von 1949 wurde der Für­sorgegedanke gegenüber Familien als zentrale Aufgabe verankert (vgl. Seidenstücker 2001, 232). Im Familiengesetzbuch von 1975 wurde dies noch deutlicher heraus­gestellt.

„Der sozialistische Staat schützt und fördert Ehe und Familie. Staat und Gesellschaft nehmen durch vielfältige Maßnahmen darauf Einfluß, daß die mit der Geburt, Erziehung und Betreuung der Kinder in der Familie verbunden Leistungen anerkannt und gewürdigt werden“ (Familiengesetzbuch der DDR 1981, § 1).

Zu diesen Maßnahmen zählten Kinderbetreuung, Kindergeld, Wohnungspolitik, Erholungswesen, Preissubventionierungen und eine Reihe weiterer Angebote. Diese Maßnahmen lagen jedoch einer Reproduktionswirkung zugrunde: Entweder der Arbeitskraft (Erholung, Gesundheitswesen) oder der Bevölkerung (Kinder­geld, Betreuung, Wohnungsbau). Weniger sozialpolitischen Engagements unter­lagen die Bereiche ohne Reproduktionswirkung (Pflege und Arbeit mit Alten und Behinderten). Die Vielzahl an sozialpolitischen Maßnahmen führten auf der einen Seite zur Beseitigung sozialer Probleme (Wohnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Armut), weshalb in der DDR auch nicht von Sozialer Arbeit die Rede war, sondern von Fürsorge, auf der anderen Seite führten sie zu einer Allzuständigkeit staatlicher Fürsorge und zu einer Versorgungsmentalität bei den Menschen. Es ging um die Regulierung von Bedürfnissen von Seiten des Staates. Das Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle, welches charakteristisch für die Fürsorge ist, wandelte sich mit der Zeit zu einem „Paradigma Kontrolle als ‚Hilfe’“ (Seidenstücker 2001, 233), da es augenscheinlich noch nicht gelungen war, dass alle BürgerInnen die sozialistische Lebensweise als ihre angenommen haben.

In den folgenden Abschnitten möchte ich auf die zentralen Felder der Sozialen Arbeit in der DDR eingehen. Der Begriff Sozialarbeit war, wie ich bereits an­geführt habe, nicht üblich in der DDR. Dafür wurde von fürsorgerischer Tätigkeit oder (sozialer) Betreuung gesprochen (vgl. ebd., 234). Ende der 1950er Jahre war der Umbau des Sozialwesens in der DDR abgeschlossen. Das Ziel des Umbaues war, die traditionelle armenpflegerische Sozial- und Jugendfürsorge abzuschaffen. Neben der Auflösung der Sozialämter und der Schaffung eines Ressorts für Gesundheitswesen wurden große Bereiche Jugendhilfe dem Bereich des Erziehungs- und Bildungswesen zugeordnet, welches sich im Ressort des Ministeriums für Volksbildung befand. Im Folgenden werde ich auf diese Felder näher eingehen.

1.2.2 Gesundheits- und Sozialwesen

Das Sozialwesen wurde mit dem Hintergrund, eine größere Nähe zum Gesund­heitswesen herzustellen, in ein gemeinsames Ressort zusammengelegt. Gegliedert war dieses neue Ressort in das Ministerium für Gesundheitswesen und hierarchisch abfallend in die Verwaltungsebenen in den Bezirken und Kreisen. Bis auf wenige private Arztpraxen und den konfessionellen medizinischen Ein­richtungen war das Gesundheitswesen staatlich. Die Krankenversicherung, die sog. Sozialversicherung (SV), umfasste finanzielle Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit, Mutterschaft und Altersrente. Träger der SV war u.a. der FDGB für Arbeiter und Angestellte. Die SV war eine Pflichtversicherung für alle Bürger der DDR. Medizinische Leistungen, wie sie heute über die Krankenversicherung erbracht werden, waren kostenfrei und wurden zum Teil aus Beiträgen und aus staatlichen Subventionen finanziert. Eine Arbeitslosenversicherung war nicht mehr not­wendig, da es seit Mitte der 1950er Jahre keine Arbeitslosigkeit mehr gab und wurde 1977 abgeschafft (vgl. Schmidt 1999, 19). Im Gegenteil, die DDR-Volkswirtschaft litt seit den 1970er Jahren unter einem Arbeitskräftemangel (vgl. Müller 2001, 49).

Rückgrat des Gesundheitswesen war das flächendeckende System der Polikliniken, welches eine interdisziplinäre medizinische Versorgung gewährleistete. Gemeinde­schwestern übernahmen neben der medizinischen Betreuung auch eine psycho­soziale Arbeit, z.B. bei der Mütterberatung und Betreuung von kinderreichen Familien. Diese Verknüpfung wurde Mitte der 1970er Jahre weiter ausgebaut. Fachärzte und FürsorgerInnen bildeten eine arbeitsteilige Einheit „von Prophylaxe, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation“ (Seidenstücker 2001, 235).

Sozialhilfe oder Sozialfürsorge musste nur im geringen Maße gewährt werden. Sie sprang z.B. ein, wenn die Betroffenen keine Leistungen aus der SV erhielten oder kein Einkommen hatten. Dies betraf im Jahr 1989 nur 5.535 Personen (vgl. ebd., 235). Im Ressort des Gesundheitswesens fielen auch folgende Maßnahmen und Einrichtungen des Sozialwesens. Kindergrippen, Behindertenwerkstätten, Alten- und Pflegeheime, Heime für psychisch- und physisch behinderte Menschen und Betreuung für behinderte schulbildungsunfähig Kinder und Jugendliche. In der DDR wurde, was die Klassifizierung von Behinderung anging, eine Differenzierung zwischen Schulbildungsunfähigen, welche ins Ressort Gesund­heitswesen fielen und Schulbildungsfähigen, die auf Förderschulen geschickt wurden, durchgeführt (vgl. ebd., 235f.).

1.2.3 Jugendhilfe

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde 1946 auf Betreiben der sowjetischen Militäradministration die Jugendhilfe, als dritte Sozialisationssäule neben Familie und Schule, wieder aufgebaut. Anfang der 1950er Jahre wurde in Folge der Dis­kussion über die Zukunft der Jugendhilfe, mit dem Vorwurf der dis­kriminierenden Separation von benachteiligten Kindern, durch die Zuständigkeit der Jugendämter, die Aufgaben der Jugendhilfe in die „Verantwortung der gesamten Gesellschaft“ (vgl. ebd., 237) gestellt.

Die Aufgaben wurden auf die Ressorts Gesundheitswesen, Volksbildung und in die Trägerschaft der Massen­organisationen (Junge Pioniere/FDJ, Sportbund und der Gesellschaft für Sport und Technik) aufgeteilt. Insbesondere die Massenorganisationen für Kinder und Jugendliche (Junge Pioniere/FDJ) hatten einen Auftrag im Rahmen der Jugend­förderung. Ziel der Jugendförderung war die „Bindung der Jugend an das politische System“ (ebd., 237). Zwischen 97% und 98% aller Jugendlichen waren Mitglied der FDJ (vgl. Urban 1987, 99f.). Eine Nische bildete insbesondere die konfessionelle Kinder- und Jugendarbeit, wie ich unter 1.3. „Kirche im Sozialismus - Verständnis von Gemeinde“ näher ausführe.

Ehrenamtliche Jugendhilfekommissionen (JHK) und hauptamtliche JugenfürsorgerInnen bildeten das Arbeitsfeld der Erziehungshilfe. „Zu den Aufgaben […] gehörten die lebenspraktische und erzieherische Beratung von Eltern sowie konkrete Unter­stützungsangebote zur Verbesserung der Lebens- und Erziehungsbedingungen […] sowie die Kontrolle über deren Einhaltung“ (Seidenstücker 2001, 239). Kehr­seite dieser staatlich organisierten ehrenamtlichen Erziehungshilfe war die Gefahr der Verletzung der Privatsphäre durch eine „fürsorgliche Belagerung“ (ebd., 239).

Sollte es dazu kommen, dass die Erziehung der Minderjährigen nicht mehr ge­sichert war und die Erziehungsberechtigten dies zukünftig nicht absichern konnten, wurde i.d.R. eine Heimerziehung „angeboten“. Im Vergleich zur BRD kam es z.B. im Jahr 1989 in der DDR zu doppelt so vielen Heimunterbringungen (vgl. ebd., 240). Es gab unterschiedliche Formen von Heimen. Diese differenzierten sich am Grad der „Erziehungsschwierigkeiten“, des Alters und des „intellektuellen Potenzials“. Konzeptionell war die Heimerziehung nach dem Prinzip der Kollektiverziehung (nach Makarenko) angelegt. Zum Ende der DDR gab es aber auch Ansätze, die verstärkt die individuellen Problemlagen der Kinder und Jugendlichen in den Fokus der Arbeit stellten (vgl. ebd., 240).

1.2.4 Ausbildung von Fachkräften des Sozialwesens

Die politischen Verantwortungsträger in der DDR hatten aufgrund der sozial­politischen Ausrichtung, welche die Verantwortung zur Lösung soziale Probleme als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtete, eine Abneigung gegen eine Professionalisierung und Spezialisierung sozialer Dienste. Die Arbeit von Professionellen im Gesundheits- und Sozialwesen wurde über die Jahrzehnte im begrenzten Maße toleriert (vgl. Seidenstücker 2001, 241). So gab es 1989 lediglich 1.500 hauptamtliche JugendfürsorgerInnen für den Bereich der staatlichen Jugendhilfe der DDR.

Aufgrund dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass die Ausbildungskapazitäten für Fürsorgeberufe begrenzt waren. Trotz der Ver­mischung von Sozialwesen und Gesundheitswesen in der DDR gab es dennoch zwei Ausbildungsgänge. Einmal für FürsorgerInnen des Gesundheitswesens, wo eine medizinische Berufsausbildung Voraussetzung war (z. B. Krankenschwestern). Für die FürsorgerInnen des Sozialwesens war eine pädagogische Ausbildung (z.B. ErzieherIn, LehrerIn) notwendig. Neben der staatlichen Ausbildung von FürsorgerInnen gab es auch Ausbildungsgänge der evangelischen und katholischen Kirche. Die Absolventen gingen meist in Einsatzfelder im Rahmen der kirchlichen Sozialarbeit (vgl. Seidenstücker 2001, 241).

Ich möchte mich im Rahmen dieser Arbeit auf den Ausbildungsgang von kirchlichen FürsorgerInnen der evangelischen Ausbildungsstätten begrenzen. Eine wichtige und zentrale Ausbildungsstätte, der Diakonie – Innere Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in der DDR (Diakonie – Innere Mission), war die Ausbildungsstätte für Gemeindediakonie und Sozialarbeit in Potsdam. Zulassungsvoraus­setzungen waren der Abschluss der 10. Klasse und eine Berufsausbildung oder Abitur und eine einjährige Tätigkeit im Rahmen der Diakonie.

Unterrichtsfächer waren u.a.: Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Medizin, Allgemeine Rechtskunde, Bibelkunde und Diakonie. Zum Abschluss der Ausbildung fand ein einjähriges Berufspraktikum statt, an dem sich das Kolloquium anschloss (vgl. HOH 2005, 196f.).

1.2.5 Wohnungswesen

Die Ausgangssituation nach dem Zweiten Weltkrieg war in den Westzonen, wie in der SBZ und späteren DDR, was den Wohnraumbestand anging, ähnlich desolat. Zur Gründung 1949 lebten auf dem Gebiet der DDR, aufgrund von Flucht 1,7 Mio. EinwohnerInnen mehr als 1939. Von den fünf Mio. Wohnungen waren nur 60% unbeschädigt. Gerade in den Großstädten wie Berlin bot sich eine einmalige Chance, einen neuen Typ der Großstadt umzusetzen. Gerade Vertreter des Neuen Bauens, welche einen breiten Zuspruch unter Sozialdemokraten und Kommunisten genossen, planten eine neue funktionale Stadt, fern von Miets­kasernen und Hinterhöfen. Ziel war eine dezentralisierte Großstadt, welche aus abgeschlossenen Nachbarschaftseinheiten, sogenannten Wohnzellen, besteht und für 4.000 – 5.000 Einwohner Wohnraum bereitstellt. Für Familien waren ein­geschossige Häuser mit Garten geplant, für Ledige Wohnungen in mehr­geschossigen Häusern. Im Zentrum dieser Kleinstadt in der Großstadt sollten soziale Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten, ein Kino und Versorgungseinrichtungen liegen. Der Arbeitsweg sollte zu Fuß zurückgelegt werden.

In Berlin, südlich der Frankfurter Allee, kann man heute noch Teile dieses Wohnkonzeptes betrachten. Mit Beginn der Stalinisierung, Anfang der 50er Jahre, wurde das Neue Bauen als Kulturbarbarei des amerikanischen Imperialismus und als „unschön, unkünstlerisch und undeutsch“ (Schretzenmayr 1998, 41) diffamiert. Am 22.07.1950 begründete Walter Ulbricht den neuen Kurs wie folgt:

„Das Wichtigste ist, dass aus den Trümmern der von den amerikanischen Imperialisten zerstörten Städte solche Städte entstehen, die schöner sind denn je. In der Weimarer Zeit wurden […] Gebäudekomplexe gebaut […] die nicht der nationalen Eigenart entsprachen, sondern dem formalistischen Denken einer Anzahl Architekten, die die Primitivität gewisser Fabrikbauten auf die Wohnbauten übertrugen“ (ebd., 41f.).

In Folge dieser Rede wurden 16 Grundsätze des Städtebauens beschlossen, die bis 1982 Gültigkeit behielten. Kernpunkte waren: (1) Wohnungen wurden im Zusammenhang mit dem Bau von industriellen Großanlagen gebaut (Hoyerswerda, Eisenhüttenstadt, Halle-Neustadt). (2) Schwerpunkt war Aufbau der Industrie, nicht der Wiederaufbau der zerstörten Städte. (3) Bau von Repräsentativwohnbauten als „Schaufenster des real existierenden Sozialismus“ (ebd., 42) (Dresden-Wilsdruffer Straße, Berlin-Stalinallee). (4) Erhalt des Charakters der Großstadt, als Ursprungsort der Arbeiterbewegung. Jedoch bald wurde klar, dass der Wunsch nach künstlerischer Schönheit ökonomisch nicht zu schaffen ist. So verschlangen die Wohnhäuser der Stalinallee doppelt soviel Geld und Zeit wie übliche Wohnhäuser. Ende der 1950er Jahre begann man mit dem industriellen Wohnungsbau und der Typisierung als neues Leitprinzip. Es wurden Wohnungstypen (Reihe 53, P2 und WBS 70) entwickelt. Hierfür mussten Häuser­fabriken gebaut werden, in denen alle Teile vorproduziert wurden. 1980 gab es 50 solcher Fabriken in der DDR und 1964 wurden bereits 90% aller Neubauten industriell gefertigt.

Mit der Verstaatlichung der gesamten Bauwirtschaft 1971 erfolgte der weitgehende Verlust der Fähigkeit des traditionellen Bauens. So war die DDR auf polnische Fachkräfte angewiesen, um die Altbausubstanz überhaupt noch erhalten zu können. Dies geschah jedoch, bis in die Mitte der 1980er Jahre, auch nur sporadisch. Denn der Erhalt der alten Substanz, so kalkulierten die Ver­antwortlichen, war zu dem Zeitpunkt kostenintensiver, als der Neubau von Plattenwohnungen. Hier stellte sich jedoch ein Irrtum ein. Denn die Ver­nachlässigung der Altbauten führte quantitativ zu einem Problem. So wurden zwischen 1971 bis 1981 zwar 1,1 Mio. neue Wohnungen gebaut, aber 600.000 Wohnungen mussten abgerissen werden (vgl. Schretzenmayr 1998, 45).

Da der Wohnungsbau nach industrieller Bauweise viel Platz beanspruchte, ent­standen riesige Neubaugebiete auf der grünen Wiese. Es fand eine Wanderungs­bewegung aus der Stadt in die randstädtischen Großwohnsiedlungen statt. Für die Menschen waren es gemischte Gefühle, was das neue Wohnen betraf. Zum eine war es für viele, besonders junge Familien, ein qualitativer Sprung der Wohn­qualität. Die Wohnungen hatten Zentralheizung und Bad mit Dusche und Bade­wanne. Dies gehörte nicht zur Regel in der DDR. So wiesen 1971 nur 10% aller Wohnungen eine Zentralheizung vor. Nur 38,7% hatten ein Bad oder eine Dusche und 41,8% ein Innenwasserklosett (vgl. ebd., 47).

Auf der anderen Seite waren die BewohnerInnen auf der Suche nach einer neuen Identität. Dies wurde von Seiten der Planung, Mitte der 1980er Jahre, offen an­gesprochen.

„Neubaugebiete [waren] aufgrund ihrer Gestaltung, Ausstattung und räumlich-städtebaulichen Anlage nicht in der Lage […], den Bewohnern ein zum Verweilen und Verbleiben anregendes Milieu zu verschaffen. ‚Wenn Plätze, Strassen und Gebäudeensemble in ihrer architektonischen Komposition die strukturelle Grundlage der Stadtgestalt ausmachen, dann fehlt den meisten […] der städtische Charakter“ (ebd., 46).

Ein weiteres Problem war die stattfindende soziale Segregation. So zogen vor allem höher Qualifizierte und junge Familien mit Kindern in die Neubauviertel. Dadurch entstand ein sozialstruktureller Unterschied zwischen Altbau- und Neu­baugebieten, da RentnerInnen und ArbeiterInnen in den Altbauvierteln über­repräsentiert waren. Die Folge war auch eine ungleiche Verteilung von Schulen und Kindergärten, die mit unter in den Innenstädten fehlten und umgedreht Ein­kaufsmöglichkeiten in den Neubauvierteln mangel waren.

Als Fazit kann festgestellt werden, dass die DDR bis 1989 die Wohnungsfrage nicht befriedigend lösen konnte. Obwohl 1989 quantitativ gesehen sieben Mio. Wohnungen 6,7 Mio. Haushalten gegenüberstanden und damit ausreichend Wohnraum vorhanden war, bestand jedoch qualitativ ein enormer Bedarf. So wurde 1990 davon ausgegangen, dass 80 – 90% der Wohnungen sanierungs­bedürftig waren (vgl. ebd., 40). Grund hiefür waren Einsparungen bei der Quali­tät, sodass 15 Jahre alte Neubauwohnungen bereits sanierungsbedürftig waren. Die Verantwortlichen strebten eine kurzfristige Entspannung der Wohnungslage an. Das Ziel war die Planerfüllung, über „Folgekosten machte man sich keine Gedanken“ (Schretzenmayr 1998, 45).

1.3 „Kirche im Sozialismus“ – Verständnis von Gemeinde

Seit Gründung der DDR bis zum Ende der 1960er Jahre war das Verhältnis zwischen den acht evangelischen Landeskirchen und der Staatsführung der DDR sowie der Parteiführung der SED überaus angespannt bis hin zu feindlich. Mit dem Austritt der acht Landeskirchen der DDR aus der EKD, dem Dachverband der Ev.- lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen der BRD und DDR und der Gründung eines eigenen Dachverbandes (10.06.1969), dem Bunde der Ev. Kirchen in der DDR (Kirchenbund), ging die Ev. Kirche in der DDR einen neuen Weg in ihrem Verhältnis zum Staat und zur sozialistischen Gesellschaft ein. Dieser Weg wurde kurz Kirche im Sozialismus genannt. Dazu der damalige Vorsitzende des Kirchenbundes Bischof Albrecht Schönherr:

„Wir wollen nicht Kirche gegen, auch nicht Kirche neben, sondern Kirche in der sozialistischen Gesellschaft der DDR sein“ (Henkys 1987, 78):

Es gab mehrere Gründe für diese Neuorientierung. Zum einen war die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung, mit der „Schließung der Grenze“ 1961, zu gering. Zum anderen führte die „Überwinterungsmentalität“ zu einem ab­grenzenden Verhalten gegenüber dem Rest der Gesellschaft. Die von der SED dominierte Politik gegenüber der Ev. Kirche Tat ihr Übriges, sodass es zu massiven Austritten kam. Die durch die DDR-Führung zugeschriebene Rolle der Christen, als die am Rande der Gesellschaft stehenden, mochten viele nicht länger annehmen und passten sich an (vgl. ebd., 77f.). Somit wandelte ich die Bedeutung der Kirche in der DDR-Gesellschaft von einer Volkskirche zu einer Minderheitenkirche (vgl. Urban 1987, 94).

Die Kirche im Sozialismus wollte aus ihrer resignierenden Haltung ausbrechen.

„Der Gottesdienst des evangelischen Christen vollziehe sich nicht nur sonntags um 10 Uhr, sondern in seinem ganzen Leben, und die Kirche fühle sich nicht nur für ihre Mitglieder verantwortlich, sondern habe vom Evangelium her durchaus etwas zum Wohle aller in der Gesellschaft einzubringen“ (Henkys 1987, 79).

Aufgrund der neuen Verortung der Ev. Kirche kam es 1971 erstmals zu einer Annäherung zwischen SED und Kirchenbund. Man war sich einig, dass es trotz der Gegensätzlichkeit darum gehen muss, Konfrontationen durch Gespräche zu vermeiden. SED-Politbüromitglied Paul Verner charakterisierte die Situation wie folgt: „Die DDR werde nicht versuchen, die Kirche sozialistisch zu machen. Ihre Position in der sozialistischen Gesellschaft müsse sie selbst bestimmen. Der Staat werde ihr nötigenfalls die Grenzen zeigen“ (Henkys 1987, 79).

Im Zuge dieser Entwicklungen änderte auch die SED ihre Strategie i.d. Kirchenfrage. Wo sie vorher versucht hat die Kirchen auf den rein religiösen Raum zu begrenzen lies sie nun mehr zu. Es setzte die Einsicht ein, dass es die christlichen Kirchen auch in zukünftigen Generationen noch geben wird und die Kirchen eine bestimmte Relevanz für die sozialistische Gesellschaft haben. Nun wurde auch die Erlaubnis erteilt, Kirchen und Gemeindezentren in den neu errichteten Plattenbaugebiete zu bauen (vgl. ebd., 81). Trotz dieser Annäherung, kam es in den folgenden Jahrzehnten zu erheblichen Spannungen. So wurde eine, frei von staatlichen Positionen, eigenständige Friedensarbeit organisiert (Schwerter zu Pflugscharen), welche Atomraketen in West und Ost ablehnte und sich gegen die Wehrerziehung in der Schule wendete.

Die Kirchen in der DDR genossen eine Sonderstellung, was ihre Organisations­freiheit anging. Sie unterlagen nicht dem Prinzip des Demokratischen Zentralismus, durch dem die SED ihren Einfluss in den Massenorganisationen in der DDR aus­übte. Dies ermöglichte auch, Selbstorganisation unter dem Dach der Kirche durchzuführen (vgl. ebd., 82). Kirche war somit auch Freiraum für diejenigen, die Alternativen zum Angebot der Jugendarbeit der FDJ suchten. So nahm der Zu­lauf von Jugendlichen, Anfang der 80er Jahre, stark zu:

„Das Interesse an kirchlichen Aktivitäten ist auch bei ‚normalen’ Jugendlichen zu beobachten. […] Es geht offenbar vielen Jugendlichen darum, einen Freiraum zu erobern, in dem die Gesellschaft weniger Zugriffsmöglichkeiten hat und wo sich Jugendliche frei wissen von Leistungsdruck und von politischer und weltanschaulicher Inanspruchnahme durch Staat, Partei oder Jugendverband“ (Hartmann 1987, 104).

Im Folgenden Abschnitt werde ich das Verständnis von Gemeinde klären, welches unter den evangelischen Christen in der DDR vorhanden war. Hier werde ich mich auf die 1980er Jahre beschränken. Eine Veränderung, hin zu einem spezifischen Verständnis von Gemeinde in der DDR, begann in den 1960er Jahren. Ausgehend von der Bonhoefferschen Formel, „dass Kirche nur dann eine Existenzberechtigung hat, wenn sie sich als Gemeinde nicht für sich selbst, sondern als ‚Kirche für andere’ versteht“ (HOH 2005, 133), wurde Kirche für andere Leitwort der Gemeindearbeit.

Weiterhin kam es zu einer intensiven Diskussion über das Verhältnis von PfarrerIn und Gemeinde und die Rolle der Laien. Als Konsequenz wurden die Kompetenzen der Laien in der Gemeinde erweitert und eine neue Ausbildungskonzeptionen verwirklicht. Aufgrund von strukturellen Veränderungen (Mitgliederschwund, Mangel an qualifizierten Personal) wurde die Gemeinde andern Typs in Angriff genommen. Ausgangspunkt war die Vorstellung, dass es eine Volkskirche in Zukunft nicht mehr geben wird, da „sich christliche Gemeinde und Gesellschaft nicht mehr decken“ (ebd., 136) und neue Gemeindeformen zu suchen sind. Vor allem „gewinnen Lebens- und Arbeitsformen wie Hauskreise, Rüstzeiten, projektgebundene Initiativen, Seminare und auch Selbsthilfeinitiativen größere Bedeutung und werden z.T. zu ‚Gemeinden neuen Typs’“ (ebd., 134).

Dieses veränderte Gemeindeverständnis mündete in den 1980er Jahren in der offenen Kirche. Aber bereits vor den Entwicklungen der Vorwendezeit „sammelten sich […] in kirchlichen Häusern […] Gruppen von Körperbehinderten und Eltern geistig behinderter Kinder – gleichgültig, ob ‚kirchlich gebunden’ oder nicht – und lernten, für sich einzutreten, wirksam zu handeln und ihre Interessen öffentlich zu vertreten“ (ebd., 135). Der Gemeindealltag wurde zunehmend durch „die Tagesordnung der Welt“ bestimmt, also Themen des täglichen Lebens (z.B. Repressalien in Schule und Beruf). Themen „an [denen] niemand vorbeigekommen sei, der als Christ mitten im Leben [stand] und stehen wollte“ (ebd., 135). Denn die Grunderfahrung der Gemeindemitglieder in der DDR war die, zu einer Minderheit zu gehören, die über die Jahrzehnte über immer weniger Rückhalt in der Bevölkerung verfügt. Dennoch wurden regelmäßig Sonntagsgottesdienste durchgeführt. „Oft waren es nur die alte Frau, die […] den Küsterdienst versah, die Studentin, die die Orgel […] spielte, der Pfarrer oder die Pfarrerin und zwei oder drei Gemeindemitglieder“ (Maser 2000, 69). Neben Gottesdiensten wurden übergemeindliche Aktivitäten durchgeführt, die das Bewusstsein stärkten, einer größeren Gemeinschaft anzugehören. Ein Leitgedanke für die innere Ausrichtung war Dietrich Bonhoeffers Forderung an seine Kirche die Mündigkeit der Welt einzugestehen:

„Die Kirche wird diese mündige Welt weder klerikal zu bevormunden noch ihre Schwäche auszuspionieren versuchen, um ihren Gott als brauchbar vorweisen zu können. Sie wird die Christuswirklichkeit nur bezeugen können, indem sie wie Jesus Christus für andere da ist, […] allein mit dem Wort, das im Kontext eines Lebens für andere steht“ (ebd., 71).

Einen besonderen Stellenwert erfuhr die seelsorgerische Arbeit in der DDR. Ziel war es, vor allem in den Neubaugebieten wo es häufig keine Kirchen und Gemeindezentren gab, systematisch alle Menschen zu besuchen. Denn nur so konnte festgestellt werden, ob christliche Familien zugezogen waren. Diese Hausbesuche erforderten viel Kraft, waren aber die wichtigste missionarische Möglichkeit für die Kirchen, da sie in der Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen wurden (vgl. ebd., 73).

2. Gemeinwesenarbeit

Die Gemeinwesenarbeit hat die bundesrepublikanische Sozialarbeit der letzten Jahrzehnte geprägt. In den Konzepten des bürgerschaftlichen Engagements, des Empowerments, der Lokalen Agenda 21 und dem Quartiermanagement, sind die GWA-Ansätze zu finden. Jedoch hat die Tradition der GWA ihre Wurzel in Großbritannien, den USA und Kanada.

Die zwei bedeutsamsten Projekte waren nach der Wende des letzten Jahrhunderts die Hamburger Volksheime und die Soziale Arbeitsgemeinschaft Ost (SAG-Ost) in Berlin. Diese Projekte blieben jedoch in ihrer Größe und Dauer einzigartig und hatten kaum Einfluss auf den später einsetzenden Theoriediskurs in Deutschland. Die geistigen Väter und Mütter der deutschen Projekte wirkten in Großbritannien, den USA und Kanada. Hier entwickelten sich bereits in den 1870er Jahre Projekte die unter Settlementbewegung zusammengefasst werden.

2.1 Vom Settlement zur Dritten Methode der Sozialarbeit

In Großbritannien setzte die Industrialisierung zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erst ein. Die dadurch entstandenen sozialen Probleme für die proletarische Unterschicht, welche als Soziale Frage bezeichnet wurde, lies auch einige Vertreter der Mittel- und Oberschicht nicht unberührt. Diese Verelendung des Proletariats und die Spaltung der Industriegesellschaft beschäftigte Wissen­schaftler wie John F. D. Maurice und Arnold Toynbee. Sie vertraten jedoch kein klassenkämpferisches Konzept wie es Karl Marx und Friedrich Engels entwickelten, sondern appellierten an die christliche Nächstenliebe und den Verzicht auf das freie Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte, welche für das Elend mitverantwort­lich waren. Insbesondere die Ignoranz und Tatenlosigkeit der Oberschicht, im Bezug auf diese gesellschaftliche Misere, ließen sie zum Handeln übergehen. Zu Beginn taten die jungen Professoren das, was sie am Besten konnten. Sie ver­anstalteten öffentliche Vorlesungen in den Armenvierteln und wollten das bis dahin gehütete Wissen der Oberschicht an die Unterprivilegierten weitergeben, in der Hoffnung, dies könnte zu einer Emanzipation des Proletariats führen (vgl. Götze 2005a).

Die Professoren und ihre Studenten waren davon überzeugt, dass nur eine Versöhnung der Klassen eine Verbesserung der Situation für die Armen bringen kann. Arnold Toynbee ging einen Schritt weiter und verbrachte seine Ferien im Londoner Armenviertel Whitechapel. Die Idee sich als Vertreter der Mittelschicht in einem Armenviertel niederzulassen (= to settle) wurde erst nach Arnold Toynbees frühen Tod in die Praxis umgesetzt. Ziel dieser Settlements war es, zum einen als Vertreter der Mittelschicht die Lebensbedingungen kennen zu lernen und zum anderen vor Ort, im Sozialraum, in der Lebenswelt der KlientInnen zu arbeiten und zu helfen. Man ging davon aus, dass wenn die Mittelschicht von den Lebens­bedingungen der ArbeiterInnen unmittelbar Kenntnis erlangt und es zu Freund­schaften und Sympathien kommt, dies zu einer Bewusstseinsveränderung der Mittelschicht führt und die Basis für zukünftige gesellschaftspolitische Ver­besserungen für die ArbeiterInnen darstellt. Samuel Barnett und seine Frau Henrietta Barnett gründeten 1884 Toynbee Hall als erstes Settlement im Osten von London. Die Hilfe, die man den ArbeiterInnen hier bot, sollte ihnen „Wege zur Selbsthilfe weisen und Verständnis zwischen Besitzenden und Besitzlosen wecken“ (Oelschlägel 2001a, 655). So wurden Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, Erwachsenenbildung und Beratung angestoßen. Neben der Praxis wurde aber auch Forschung betrieben, um die Problemlagen ursächlich zu behandeln. Der Großteil der Arbeit wurde von Studenten übernommen, die als zukünftige Ver­antwortungsträger und Bindeglieder in die Kreise der Mittel- und Oberschicht für die Belange der ArbeiterInnen gewonnen wurden (vgl. Götze 2005a).

In wenigen Jahrzehnten wuchs die Settlementbewegung heran und feierte in den USA und Kanada weitere Erfolge. Einer dieser Erfolge entwickelte sich in Chicago. Im Jahr 1889 gründete die „Grande Dame“ der US-amerikanischen Sozialarbeit und Begründerin der professionellen Sozialarbeit, Jane Addams, zu­sammen mit weiteren Frauen das Hull House nach dem Vorbild von Toynbee Hall. Auch im industrialisierten Nordamerika verschärften sich die Klassengegensätze. Im Unterschied zu Großbritannien gab es jedoch kein staatliches Sozialsystem, welches zumindest das Leid ein wenig lindern konnte, sondern nur rein privat finanzierte Initiativen, welche häufig bürgerliche Wertvorstellungen als Be­dingungen für die Hilfe stellten.

Ein weiters sozialpolitisches Problem stellten die zahlreichen MigrantInnen aus Europa dar. Hierbei handelte es sich um gut ausgebildete ArbeiterInnen, die in den Elendsquartieren Chicagos auf ein besseres Leben hofften. Das Hull House setzte nicht auf eine Assimilation der MigrantInnen, sondern wollte die kulturelle Vielfalt und Identität der MigrantInnen in der Arbeit bewahren und so Integration fördern. Ziel der unter­schiedlichen sozial-, kulturell- und bildungspolitischen Angebote des Hull Houses war es, die Handlungsfähigkeit der BewohnerInnen zu stärken und die Lebens­bedingungen in der Nachbarschaft zu verbessern. Addams engagierte sich auch sozialpolitisch in der Frauengewerkschaft gegen Kinderarbeit und für den Acht-Stundentag. Hier liegt auch der große Verdienst der Frauen von Hull House: Die Verbindung von Lebens- und Arbeitsbedingungen und der politische Kampf für deren Verbesserung (vgl. Götze 2005b).

Wie Jane Addams reiste der Hamburger Walther Classen nach London und besuchte Toynbee Hall. Begeistert zurückgekehrt wollte er in Hamburg ein ähnliches Projekt aufbauen. Von 1901 bis 1920 existierte das erste Settlement in Deutschland. Das Hamburger Volksheim I war jedoch kein ordinäres Settlement wie Toynbee Hall oder Hull House, da die bürgerlichen Initiatoren sich nicht im Armenviertel niederließen. Im Zentrum der Arbeit stand das Ziel der Klassenversöhnung, jedoch eher als eine Assimilation der ArbeiterInnen durch bürgerliche Wert- und Moralvorstellungen.

Die Arbeit mit Jugendlichen war für die Männer des Volksheimes von hoher Bedeutung. Aber auch hier war die Vorstellung von unfertigen und gefährlichen Jugendlichen handlungsleitend. Man wollte die Arbeiterjugendlichen durch die Vermittlung von bürgerlichen Moralvorstellungen schützen und als Menschen vollenden. Das Volksheim wurde durch das Bürgertum konzeptionell geleitet. Mitbestimmung durch die Benachteiligten war nicht erwünscht. Dies änderte sich erst nach Beendigung des Ersten Weltkrieges. Diese zweite Phase (1920 bis 1929) wurde geprägt durch die neu entstandene und selbstbewusste Jugendbewegung. Die Forderung nach Demokratisierung und die Ablehnung jeglicher Autoritäten führten zu einer Veränderung der konzeptionellen Ausrichtung der Arbeit. Nicht mehr die älteren Herren aus dem Bürgertum bestimmten das Volksheim, sondern die Arbeiterjugendlichen. Das Volksheim wollte nun im Arbeiterviertel gemein­schaftsbildend wirken und nicht den Klassenkampf verhindern (vgl. Götze 2005c).

Ab 1929 wird die dritte und erst einmal letzte Phase des Volksheimes eingeläutet. Es kommt durch das Engagement sozialistischer Arbeiterjugendvereine zu einer Politisierung der Arbeit. Nicht mehr nur Gemeinschaftsbildung im Arbeiterviertel und soziale Emanzipation, sondern auch politische Aktivierung der Be­nachteiligten wurden Ziele der Arbeit. Das Volksheim sollte ein Ort für eine Kultur des Sozialismus werden. Sozialismus im Sinne einer emanzipatorischen Ge­sellschaftsform und weniger als machtpolitischer Kampfbegriff. Das Volksheim musste mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten die Arbeit einstellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Arbeit als Nachbarschaftsheim, im Sinne der sozial-kulturellen Arbeit, bis in die 1980er Jahre weitergeführt (vgl. ebd.).

Das zweite bedeutsame Settlement in Deutschland war die Soziale Arbeitsgemeinschaft Ost (SAG-Ost). Der Pfarrer Friedrich Siegmund-Schultze übernahm das Konzept von Toynbee Hall im ursprünglichen Sinne. Er ließ sich 1911 mit seiner Familie in der Nähe des heutigen Berliner Ostbahnhofes nieder und zog Studenten der Berliner Universität in dieses Settlement. Er wollte sozial arbeiten und wandte sich gegen die damals übliche Hilfe durch Almosen in Verbindung mit christlicher Missionierung. Die SAG-Ost wollte die Selbsthilfe fördern und praktisch Hilfe leisten. Auch war es das Ziel von Siegmund-Schultze, den ArbeiterInnen ein anderes Bild vom Christentum zu vermitteln. Für die damalige organisierte ArbeiterInnenbewegung war die Kirche eng verwoben mit dem Bürgertum sowie der Monarchie und versinnbildlichte die herrschende Elite. Zentrales Ziel des Projektes war es, wie in Toynbee Hall die Klassenversöhnung umzusetzen. Siegmund-Schultze definierte sie als „Freundschaft der sogenannten Hohen mit den Niedrigen“ (Götze 2005d). Die SAG-Ost konnte von 1911 bis 1940 arbeiten, bis sie durch die Nationalsozialisten verboten wurde. Sozialpolitisch engagierte sich Siegmund-Schultze bei der Erarbeitung und dem Zustandekommen des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG), das ein der Vorgänger des KJHG war.

Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges ging man in West-Deutschland zur Tagesordnung über und „genoss die Früchte des Wirtschaftswunders“. Die Soziale Arbeit hatte in den 1950er und 1960er Jahren einen rein fürsorglichen Charakter. „In der Praxis dominierte damals ein auf Personen zugeschnittener Arbeitsstil: die FürsorgerInnen verstanden sich als caritativ helfende Menschen, die mit großem Herz, viel Engagement […] den Armen und Schwachen zur Seite standen“ (Hinte 2001a, 74).

An den Ausbildungsstätten Sozialer Arbeit wurden die aus den USA importierten Konzepte der Gemeinwesenarbeit begeistert aufgenommen, ohne jedoch auf die Erfahrungen der deutschen Settlements zurückzugreifen. Ein Grund für die Auseinandersetzung mit GWA war die Unzufriedenheit mit den Konzepten der herkömmlichen Sozialarbeit, deren Ziel es war, „die Arbeitsfähigkeit der Arbeitsfähigen zu erhalten oder wiederherzustellen und die Lebensfähigkeit der nicht mehr Arbeitsfähigen minimal zu garantieren“ (Müller 1973, 221).

Aufgrund der Einführung methodischen Arbeitens kam es in den 1960er Jahren zu einer Professionalisierung in der Praxis. Die Zuständigkeiten der FürsorgerInnen wurden im Interesse einer Effektivierung spezialisiert. Die Probleme wurden in Fälle mit fest umrissenen Hilfeleistungen zergliedert. „So kommt es vor, dass […] an einem Menschen gleich ein ganzes Heer von Professionellen herumwerkelt“ (Hinte 2001a, 75). Ein generelles Problem der Sozialen Arbeit war nach meiner Meinung, dass sie erst reagierte, wenn Menschen auffällig geworden sind und dann mit einem für den Sozialarbeiter richtigen Menschenbild konfrontiert werden. Die Vorstellung der SozialarbeiterIn von einem richtigen Leben wird Gegenstand der Hilfe und verleiten zu einer Pädagogisierung. Der Helfende will den Hilfesuchenden im schlimmsten Fall nach seinem Bild formen. Diese Subjekt-Objekt-Beziehung lässt oft einen anderen Lebensentwurf nicht zu.

Durch die Stagnation des wirtschaftlichen Aufschwungs Mitte der 1960er Jahre kam es zu einem sozialen Abstieg von Bevölkerungsgruppen. Die ersten Wirtschaftskrisen der noch jungen Bundesrepublik leiteten auch eine Finanzkrise der Öffentlichen Hand ein und damit Sparmaßnahmen für dringend benötigte soziale Programme. Es häuften sich soziale Brennpunkte z.B. in Obdachlosen- und Neubauquartieren, die mit den bekannten Methoden der Einzelfall- und Gruppenarbeit nicht zu lösen waren. Die GWA wurde als neues Instrument eingesetzt und hatte als Leitziel die benachteiligten Quartiere zu lebendigen Gemeinwesen zu entwickeln, indem sie die Bewohner aktiviert und unterstützt sowie die materielle und infrastrukturelle Ausstattung der Quartiere fördert. Methodisch war die GWA eher pragmatisch orientiert und setzte die aktivierende Befragung des Öfteren ein. Für den Staat war die GWA ein nützliches Frühwarnsystem, was soziale Veränderungen in Brennpunkten betrifft. Mit der 68er Studentenbewegung und der Politisierung der Wissenschaft wurde auch die GWA vorangetrieben.

„Dies war die Zeit der großen Projekte, die unter Mitarbeit von Studenten entstanden, oft von ihnen initiiert wurden […]. Das Instrumentarium der GWA wurde durch Elemente der Sozialwissenschaften (Handlungsforschung) und der studentischen Politik (go in; Stadtteilzeitungen etc.) erweitert. Probleme wurden in gesamtgesellschaftliche Verursachungszusammenhänge gestellt“ (Oelschlägel 2001a, 657).

2.2 Ansätze einer Gemeinwesenarbeit

Mitte der 1970er Jahre bestimmten unterschiedliche Ansätze der Gemeinwesen­arbeit die Diskussion in der BRD. In den folgenden Kapiteln werde ich fünf dieser diskutierten Ansätze vorstellen.

2.2.1 Wohlfahrtsstaatliche Gemeinwesenarbeit

Im Zuge der Verbreitung von GWA als Dritte Methode entdeckten auch Wohlfahrtsverbände und kommunale Träger diesen neuen Ansatz der Sozialarbeit. Es wurden SozialarbeiterInnen als GemeinwesenarbeiterInnen eingestellt und beauftragt, die Situation in einer Siedlung, in einem Stadtteil zu verbessern. Bei diesem Ansatz geht es weniger darum, die Betroffenen zu aktivieren und ihre Selbsthilfe zu organisieren, sondern viel mehr um eine Verbesserung der Angebote des Trägers für das Gemeinwesen. Die Betroffenen dürfen über die Steuerung der Sozialen Hilfe mitentscheiden, jedoch bleiben die wichtigen Entscheidungen in den Händen der Träger. Für die Wohlfahrtsverbände war dieser Ansatz „schon fast revolutionär, da die Betroffenen ja zumindest gehört wurden, während bisher doch die Bedürfnisse der Leute […] am grünen Tisch festgelegt wurden“ (Hinte/Karas 1989, 15).

Es geht im Kern dieses Ansatzes um die Verbesserung der Lebenslagen der Bevölkerung in einem Sozialraum, durch eine verbesserte Steuerung der Angebote Sozialer Arbeit. Hinte/Karas sehen in der Wohlfahrtsstaatlichen Gemeinwesenarbeit lediglich eine „verlängerte Form fürsorgerischer Einzelfallhilfe“ (ebd. 14). Die Angebote, ob Stadtteilfest oder Hausaufgabenhilfe, werden von den GemeinwesenarbeiterInnen für das Gemeinwesen organisiert. Es bleibt somit bei einer Versorgung des Gemeinwesens mit Angeboten. Emanzipatorische Ansätze mit dem Ziel der Aktivierung der Betroffenen, ihre Verhältnisse selbst zu verändern, fehlen in der Praxis oder gehen verloren.

2.2.2 Integrative Gemeinwesenarbeit

Die Integrative GWA geht auf den US-Amerikaner Murray G. Ross zurück. Grund­gedanke dieses Ansatzes ist es, so Ross, das durch demokratische Verfassungen die Verteilung von Macht und Herrschaft gerecht verteilt ist. Es fehlt den Menschen lediglich die Kenntnis, diesen demokratischen Freiraum für sich kreativ zu ge­stalten. Grundlage für die Gestaltung dieses Freiraums ist Kommunikation zwischen den verschiedenen Gruppen in einem Gemeinwesen, um eine dauer­hafte Kooperation zu schließen. Da es an dieser Kommunikation mangelt, so Ross, muss hier angesetzt werden. Hier kommt ein zentraler Begriff ins Spiel: Integration. Ross versteht darunter eine Harmonisierung aller Interessen in einem Gemeinwesen, auf der Grundlage einer Wertebasis, die gemeinsam zu entwickeln ist. Probleme sollen gemeinsam ausfindig gemacht und bearbeitet werden. Diese Harmonie bezeichnet Ross als Verschiedenheit in der Einheit. Spannungen und Konkurrenz sind gesund, solange das harmonische Klima nicht gestört wird.

Die Unzufriedenheit der Betroffenen über ihre Lebenslagen soll kooperativ, in vernünftigen Gesprächen und durch sachliche Kompromisse gelöst werden. Protestformen gegen Behörden oder das System lehnt Ross ab, da es den Aufbau einer Gemeinschaft verhindert (vgl. Hinte/Karas 1989, 16). Es ist die Aufgabe der GemeinwesenarbeiterInnen, Unzufriedenheit in produktive Kanäle zu lenken.

„Ihm geht es nicht darum, gesellschaftliche Ursachen für lokale Probleme anzugehen, sondern unerträgliche Belastungen lediglich auf dem Weg von Diskussion und Kooperation erträglich zu machen“ (Hinte/Karas 1989, 17).

Durch die Rolle der GemeinwesenarbeiterInnen als Lenker wird bei Ross Partizipation als Teilnahme der Betroffenen an der Durchsetzung bereits getroffener Entscheidungen und nicht die gleichberechtigte Beteiligung an Entscheidungsprozessen, verstanden. Die GemeinwesenarbeiterInnen sind immer auf den Ausgleich aller Interessen fokussiert. Alle Aktivitäten müssen sich dem Gemeinwillen unterstellen.

1.1.1. Aggressive Gemeinwesenarbeit

Aufgrund der Kritik an den Ansätzen der Wohlfahrtsstaatlichen und Integrativen GWA, die gesellschaftlichen Ursachen für Probleme außer acht zulassen, ent­wickelte C. W. Müller 1971 ein aggressives GWA-Konzept. Müller lehnt in seinem Ansatz die Vorstellung ab, dass das Gemeinwesen eine harmonische Einheit sei, die sich sozialarbeiterisch steuern ließe. Er weißt darauf hin, dass es im Gemein­wesen unterschiedliche Interessenlagen und Machtverhältnisse gibt. In seinem Konzept geht es nicht um einen harmonischen Ausgleich im Status quo, sondern um eine gerechte Verteilung von Macht und Herrschaft durch Änderung des ge­sellschaftlichen Systems. Müller schlägt sich auf die Seite der benachteiligten Minderheiten im Gemeinwesen und wartet nicht ab, bis die Mehrheit der BewohnerInnen Aktionen für notwendig erachten, wie es beim Integrativen Ansatz beabsichtigt ist. Ziel ist es, eine Gegenmacht zu schaffen, die das System an seiner Arbeit hindert, es jedoch nicht zerstört oder verletzt. Zu den Aktionsformen zählen alle Mittel die als ziviler Ungehorsam gelten (Demonstration, Sit-in, Bummelstreik). Hintergrund für Müllers Gesellschaftsanalyse ist die marxistische Klassenanalyse.

Der Aggressiven GWA fehlt es jedoch an einer Klärung der Aktivierungstechniken. So wird davon ausgegangen, dass es bereits Gruppen und Initiativen gibt. Wie diese Gruppen zustande kommen und wie sie kontinuierlich arbeiten, wird methodisch nicht ausgeführt.

„Die Folge war eine maßlose Überschätzung der Möglichkeiten, Minderheiten in Stadtteilen so zu organisieren, daß sie sich auf breiter Basis, kontinuierlich und strategisch geschickt für ihre Interessen einsetzten“ (Hinte/Karas 1989, 19).

Auch wenn es die Aggressive GWA nicht geschafft hat in der Praxis Fuß zu fassen, so lieferte sie Impulse für GWA-Projekte.

2.2.3 Gemeinwesenarbeit nach Saul D. Alinsky

Im Unterschied zu C. W. Müller fehlt es Saul D. Alinsky in seinen Ausführungen an einer fundierten gesellschaftstheoretischen Analyse. Dennoch gilt Alinsky als der bedeutendste GWA-Praktiker in den USA (vgl. Hinte/Karas 1989, 20).

Für Alinsky steht fest, dass die Macht in der Gesellschaft ungleich verteilt ist. Die einzige Möglichkeit der vielen Benachteiligten (Besitzlosen) gegenüber den wenigen Mächtigen (Besitzenden) Macht auszuüben, ist ihre große Anzahl. Somit sieht Alinsky Demokratie an der Basis nur verwirklicht, wenn die Masse der „benachteiligten Bevölkerung sich organisiert und solidarisch Macht ausübt, um die ungerechten Verhältnisse zu beseitigen“ (ebd.). Hier spielen die Gemein­wesenarbeiterInnen eine wichtige Rolle. Sie sollten erst agieren, wenn sie eine Legitimation durch die Gruppe der Benachteiligten erhalten. Im Unterschied zu Ross müssen GemeinwesenarbeiterInnen parteiisch auf Seiten der Benachteiligten im Gemeinwesen stehen. Die Praxisberater, wie Alinsky die GemeinwesenarbeiterInnen nennt, haben den individuellen Hintergrund, Sitten und Gebräuche der Menschen zu respektieren. Auch müssen sich die Praxisberater mit „klugen“ Ratschlägen zurückhalten. „Die Betroffenen müssen sehen, daß sie in der Lage sind, ihre Probleme selbst zu erkennen, selbst ein Programm zu entwickeln und selbst die entsprechende Organisation aufzubauen“ (ebd., 21). Die Kommunikation mit dem Volk, so Alinsky, führt nur über die informellen Führer. Diese müssen die Praxisberater ermitteln, wobei die Definition nicht bei ihnen liegt, sondern bei den Bewohnern des Gemeinwesens.

Alinsky sieht die Organisationsformen immer als Konfliktgruppen, da der „einzige Grund für ihr Entstehen […] der Kampf gegen alle Arten von sozialem Unrecht“ (ebd.) ist. Konflikte müssen bewusst herbeigeführt werden, damit Veränderungen passieren. Denn nur beim Austragen von Konflikten kommt es zu konstruktiven Veränderungen. Hierfür hat Alinsky Regeln aufgestellt „wie sich die Besitzlosen Macht von den Besitzenden nehmen können“ (Hinte/Karas nach Alinsky 1989, 21). In den USA spielten seine Strategien eine sehr viel größere Rolle als in Europa. Hierfür gibt es unterschiedliche Gründe. „Trotzdem lassen sich – gerade für die konkrete Aktion von Gruppen Alinskys Strategieregeln und andere […] Praxisverfahren auch für uns nutzbar machen“ (ebd., 22f.).

2.2.4 Katalytisch-aktivierende Gemeinwesenarbeit

Ende der 1970er Jahre entwickelt sich ein neuer Ansatz der Gemeinwesenarbeit. Dieser Ansatz resultiert aus der Auseinandersetzung mit den vorher beschrieben Ansätzen. An der Entwicklung dieses Ansatzes waren im Besonderen Richard und Hephzibah Hauser beteiligt, wobei Erfahrungen weiterer Praktiker mit einflossen.

Im Zentrum dieses Konzeptes stand das Ziel ein pragmatisches Konzept für die Praxis zu entwickeln. Geleitet wurde diese Konzept von der „Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft, in der es keine Unterdrückung mehr gibt, in der Menschen sich durch ihre eigenen Gruppen und Sprecher selbst zu helfen vermögen“ (Hinte/Karas 1989, 23). In diesem Gesellschaftsentwurf steckt der Kern der Katalytisch-aktivierenden GWA, sich selbst zu helfen vermögen. Der aus der Chemie entliehene Begriff Katalyse beschreibt die Rolle der Gemeinwesen­arbeiterInnen. In der Chemie ist der Katalysator ein Fremdkörper, welcher in eine chemische Substanz gegeben wird, um Veränderungen in dieser zu bewirken, ohne sich selber zu verändern. GemeinwesenarbeiterInnen sollen somit Prozesse im Gemeinwesen anregen und nur bei Bedarf Unterstützung geben. Sie sollen sich nicht verändern, im Sinne von Anleiten oder Lenken, wie es bei Ross und der Wohlfahrtsstaatlichen GWA angelegt ist (vgl. Hinte/Karas 1989, 23).

Der Ansatz, sich selbst in einer Gruppe zu helfen, ist zentraler Gegenstand der Katalytisch-aktivierenden GWA. Menschen, die unter ähnlichen Problemen leiden, sollen sich in Gruppen zusammenschließen. Hier können sie sich über ihre Probleme austauschen, sich gegenseitig unterstützen und nach Ursachen suchen. Es gilt, alte Ohnmachtserfahrungen gemeinsam zu überwinden. Dafür muss Partizipation in kleinen Schritten, mit geringem Risiko geübt werden. Aufgrund der Ohnmachtserfahrungen der Menschen geht es zuerst einmal um positive Lernerfahrungen mit Partizipation im gewohnten Alltagsbereich. Hier müssen die Betroffenen bestimmen, welches Thema vorrangig behandelt wird, auch wenn es nicht der Einschätzung der GemeinwesenarbeiterInnen entspricht. „Ihm bleibt nur die Wahl, die Leute allein zu lassen oder sich an ihrer Seite […] einzusetzen“ (ebd., 26). Auch wenn nicht jede Aktion den Anschein erweckt, gesellschaftsverändernd zu sein, so sind die richtigen Themen die, welche die Menschen berühren und für welche sie sich einsetzen. „Umverteilung von Macht darf also nur von den Betroffenen selbst erkämpft werden, nicht von anderen Leuten für sie: Der Ansatz der Arbeit liegt also konsequent bei den Betroffenen“ (ebd.).

Die Menschen sollen positive Erfahrungen mit Partizipation erleben. Ähnlich verhält es sich beim Umgang mit Konflikten. „Menschen, die ihr Leben lang Konflikte gemieden oder sie mit Gewalt ‚gelöst’ haben, sind nicht ohne weiteres in der Lage, längerdauernde Konflikte durchzustehen“ (ebd., 27). Erst wenn die Menschen bereit dazu sind, ist der Zeitpunkt in einen Konflikt zu gehen.

Neben dieser Gruppenselbsthilfe wird die Vernetzung möglichst vieler Gruppen untereinander betont. Es geht um die Bildung von Koalitionen auf Zeit, deren Grundlage der kleinste gemeinsame Nenner, der Minimalkonsens aller Gruppen, ist. Richard Hauser plädiert für die Menschenrechte als Minimalkodex zwischen den verschiedenen Gruppen eines Stadtteils. Die Katalytisch-aktivierende GWA wurde vor allem von kleineren Trägern und Projekten angewendet.

2.3 Gemeinwesenarbeit – Mehr als die Dritte Methode

Anfang der 1980er Jahre nimmt Dieter Oelschlägel die Diskussion um Gemein­wesenarbeit auf und fragt, inwieweit es noch zutreffend ist, von Gemeinwesen­arbeit als Dritte Methode zu sprechen. Für Oelschlägel hat sich die GWA weiter entwickelt und stellt keinen geschlossen Block als Methode bzw. als Arbeitsfeld mehr dar. GWA hat zu Beginn der 80er Jahre, so Oelschlägel, als Arbeitsfeld an Bedeutung verloren. In der Sozialen Arbeit hat sich jedoch das Prinzip der Gemeinwesenarbeit mit seinen Elementen (Ressourcen-orientierung, Sozialraumorientierung, Aktivierung und Beteiligung, Vernetzung) weit verbreitet und neue Entwicklungen bewirkt.

Dieter Oelschlägel unterscheidet nun den Begriff Gemeinwesenarbeit in das Arbeitsfeld Gemeinwesenarbeit, wofür Institutionen eingerichtet werden sowie Personal eingestellt wird und in das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit als grundsätzliche Herangehensweise an soziale Probleme, nach den Standards der Gemeinwesenarbeit.

Im Folgenden möchte ich kurz darstellen, welche Faktoren zu dieser Unter­scheidung im Ansatz von Oelschlägel führten und welche Standards die Gemein­wesenarbeit auszeichnen. Anfang der 1980er Jahre sind viele Projekte der GWA verschwunden. Die Praxis der Gemeinwesenarbeit, die durch die studentischen Projekte vorangetrieben wurde, erfuhr durch ihre systemkritische Ausrichtung wenig Unterstützung durch öffentliche Institutionen oder wurde zum Teil von ihr abgewickelt. GWA war für die etablierte Soziale Arbeit immer mit einem „linken Lack“ überzogen und so stigmatisiert. Die Inhalte der GWA wurden jedoch von der Sozialen Arbeit übernommen.

Die GWA als Arbeitsfeld und Arbeitsprinzip versteht sich als sozialräumliche Strategie einer professionellen Sozialen Arbeit. Sie ist nicht pädagogisch auf einzelne Individuen gerichtet, sondern arbeitet mit den Ressourcen des Sozialraums und denen seiner BewohnerInnen. Die Veränderung der Lebensbedingungen ist eine Konsequenz aus der Arbeit im Sozialraum „wo die Menschen samt ihrer Probleme aufzufinden sind“ (Oelschlägel 2001b, 101).

GWA orientiert sich an den Lebenswelten der BewohnerInnen und greift Probleme auf, die von den Menschen selbst für wichtig gehalten werden und nicht nur die Probleme, die von außen als solche definiert werden.

Das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit findet sich heute in unterschiedlichen Feldern Sozialer Arbeit wieder. Dieter Oelschlägel hat Standards formuliert, die für die Gemeinwesenarbeit gelten sollten. Für eine erfolgreiche Arbeit ist der Nutzen, der für die BewohnerInnen besteht, ausschlaggebend. So bietet die Gemein­wesenarbeit Dienstleistungen für die BewohnerInnen an. Diese können materieller Art sein, wie günstige Mahlzeiten, Kinderkleidungs-Basare, Verleih von Technik oder aber die Bereitstellung von offenen Räumen, die eine An­eignung durch die BewohnerInnen ermöglichen. Die ersten Settlements boten auch personelle Ressourcen an, in Form von Beratung, Kinderbetreuung und Qualifikationsmöglichkeiten. Diese sind auch heute wichtiger Bestandteil von Gemeinwesenarbeit. Neben den Ressourcen, die die GWA organisieren kann, ist es von Bedeutung die Ressourcen der Bewohner zu reaktivieren. Der Blick muss weg gehen vom defizitären Sozialraum mit seinen BewohnerInnen und hin zu den Möglichkeiten und Fähigkeiten die in den Menschen schlummern. So sieht Oelschlägel die Aktivierung im Zentrum der GWA.

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Ende der Leseprobe aus 119 Seiten

Details

Titel
Gab es Gemeinwesenarbeit in der DDR?
Hochschule
Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit Dresden (FH)
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
119
Katalognummer
V112869
ISBN (eBook)
9783640420865
ISBN (Buch)
9783640421091
Dateigröße
846 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gemeinwesenarbeit, DDR, Kirche im Sozialismus, Kirche in der DDR, Fürsorge in der DDR, Sozialarbeit in der DDR, Community organizing, Settlement, SAG Ost
Arbeit zitieren
Eric Schley (Autor:in), 2007, Gab es Gemeinwesenarbeit in der DDR?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112869

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Titel: Gab es Gemeinwesenarbeit in der DDR?



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