Pop oder nicht Pop? - Sven Regeners Roman "Der kleine Bruder"


Hausarbeit, 2009

25 Seiten, Note: 1,3

Hendrik Fieber (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Pop oder nicht Pop?
2.1 Ein Einblick in den Diskurs
2.2 Marken- und Medienverweigerung
2.3 Die Rückkehr zum Erzählen
2.4 Narration

3. Archivierung
3.1 Die Handlung
3.2 Die Dialogstruktur
3.2.1 Implikaturtheorie nach Grice
3.2.2 Verstöße gegen die Konversationsmaximen
3.2.3 Tubaspielen und Sprach-Kung-Fu
3.3 Der Kunstdiskurs

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Ansicht Sabine Kyoras, „dass Popliteratur nicht verwechselt werden sollte mit Literatur, die einfach nur gut lesbar und deswegen erfolgreich ist“ (Kyora 2004, 111f.), ist gleichermaßen weit verbreitet wie unstrittig. Ebenso unstrittig sollte eigentlich auch die Ablehnung der dazugehörigen Antithese sein, die entsprechend lauten müsste: Eine Literatur die sich gut liest und gut verkauft, ist nicht zwangsläufig Popliteratur. Dennoch scheint es von Seiten der Literaturwissenschaft zumindest im Fall das Schriftstellers Sven Regener eine gewisse Skepsis gegenüber seiner kommerziell äußerst erfolgreichen Herr Lehmann – Reihe zu geben. Anders ist es kaum zu erklären, dass bisher weder zu seinem seit 2001 veröffentlichten Roman Herr Lehmann, noch zu dessen seit 2004 erhältlicher Vorgeschichte Neue Vahr Süd Publikationen erschienen sind. Diese Arbeit widmet sich dem im Herbst 2008 erschienenen Roman Der kleine Bruder1, der als Mittelteil zwischen Neue Vahr Süd und Herr Lehmann die Trilogie vollendet.

„Es sollte nicht mit der Fahrt durch einen langen, dunklen Tunnel beginnen. Oder vielleicht doch“ (DKB 9) heißt es im ersten Kapitel des Buches. Die Symbolik dieses Bildes, das im Roman die Suche der Hauptfigur nach einem neuen Platz im Leben widerspiegelt, trifft auch auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Werk zu. Am Anfang herrscht erkenntnistheoretische Dunkelheit, denn außer einigen im Internet verfügbaren Buchbesprechungen der renommierten Wochen- und Tageszeitungen gibt es keine Quellen, die sich bisher mit Der kleine Bruder auseinandergesetzt haben. Deshalb wendet diese Arbeit einige der gängigen Theorien zur Popliteratur als Zugriffsschlüssel auf den hier untersuchten Roman an, auch wenn bisher noch niemand nachgewiesen hat, dass Regeners Erzählung tatsächlich zu dieser literarischen Strömung zählt. Dabei wird allerdings nicht explizit das Ziel verfolgt, letztlich eine eindeutige Antwort auf die Frage zu finden, ob sich der Roman der Popliteratur zurechnen lässt oder nicht. Es gilt vielmehr herauszuarbeiten, welche Merkmale popliterarischer Werke der Roman beinhaltet, wie er diese umsetzt und welche Funktion sie für den Text erfüllen. Auf der anderen Seite wird ebenfalls darauf zu achten sein, welche literarischen Merkmale, die für gewöhnlich dem Pop zugerechnet werden, dieser Roman nicht enthält und in wie fern dies für die Beschaffenheit des Textes relevant ist. Auf diese Art und Weise dient also die Theorie der Popliteratur, zumeist in der Prägung Moritz Baßlers, als eine Folie, die einen ersten, analytischen Einstieg in die Struktur des vorliegenden Romans Der kleine Bruder ermöglicht.

2. Pop oder nicht Pop?

2.1 Ein Einblick in den Diskurs

Die Komplexität und Kontroverse in den Debatten, die um den Begriff der Popliteratur geführt werden, spiegelt sich auch in den Rezensionen zu Sven Regeners Roman Der kleine Bruder wider. In der Wochenzeitung Die Zeit bescheinigt Ursula März dem Buch „die Unterscheidung zwischen U- und E-Literatur außer Kraft gesetzt zu haben“ (März 2008). Diese Einschätzung rekurriert auf das berühmte Diktum Leslie Fiedlers2, das gemeinhin als einer der Ansprüche der Popliteratur gilt und legt damit nahe, dass sich auch Sven Regeners Roman dieser Literaturströmung zurechnen lässt. Der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hingegen ist der Ansicht, dass ein Leser, der „Pop- oder Szeneliteratur erwartet hat und auch gerne etwas über Platten und Kleidungsmarken erfahren hätte“ (Reents 2008) von diesem Buch enttäuscht sein werde, auch wenn der Schreibstil Regeners durchaus popaffine Leser anspreche.

Die Urteilsdifferenz der beiden feuilletonistischen Einschätzungen resultiert offensichtlich aus den unterschiedlichen Vorstellungen darüber, welche Kriterien ein Werk der Popliteratur erfüllen muss. Tatsächlich setzte der Diskurs über diese Frage spätestens an dem Punkt ein, an dem die Erscheinung von Christian Krachts Roman Faserland die gegenwärtige Phase der deutschen Popliteratur eingeleitet hat.3 Einigkeit herrscht seitdem vor allem darüber, welche Kriterien für die Zuordnung zu dieser literarischen Strömung nicht relevant sind. Die 1,7 Millionen verkauften Herr Lehmann - Exemplare zeigen zwar, dass sich das Buch einer gewissen Beliebtheit erfreute, automatisch der Popliteratur zugerechnet wird es deswegen allerdings noch nicht. Gabriele Klein stellt dazu fest: „Was populär ist, ist noch lange nicht pop. Aber auch: Was pop ist, muss noch lange nicht unbedingt populär sein“(Klein 2008, 17). Auch das Aufgreifen spezieller Themenbereiche kann nicht als Kriterium gelten, denn die Themen in der Popliteratur sind jene, „die in der Weltliteratur schon immer die wichtigsten waren“ (Niefanger 2004, 101) und auch eine eindeutige politische Position dieser Art von Literatur gilt als nicht feststellbar (vgl. Neuhaus 2002, 84).

In der Frage, welche Merkmale ein Text aufweisen muss, damit er als Pop gelten kann, besteht hingegen kein Konsens. Zweifelsohne gibt es Werke, die ganz eindeutig der Popliteratur zugeordnet werden, Nick Hornbys High Fidelity etwa, oder Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum, doch die äußeren Grenzen dieser Literaturströmung sind kaum zu umreißen. In Ermangelung einer eindeutigen Definition der Popliteratur versucht Georg M. Oswald die Frage, ab wann Literatur Pop ist, empirisch zu beantworten. Die von ihm gefundene Antwort ist gleichermaßen lakonisch wie nichtssagend: „Dann, wenn sie dafür gehalten wird“ (Oswald 2001, 30). Wenn alleine der Diskurs entscheidet, ob ein Werk zur Popliteratur gehört, dann ist Sabine Kyora beizupflichten wenn sie feststellt: „Die Frage, was Pop eigentlich ist, wird wohl nie endgültig zu beantworten sein“ (Kyora 2004, 110).

Das Fehlen von verbindlichen Zugehörigkeitskriterien bedeutet aber noch nicht, dass es überhaupt keine speziellen Merkmale geben würde, die sich die Werke der Popliteratur zu eigen gemacht hätten. Die Kernthese des Rostocker Germanisten Moritz Baßler zu diesem Thema lautet, dass sich die Generation der Popliteraten seit den 1990er Jahren als Archivisten der Alltagskultur betätigen. Dabei teilt er die deutsche Gegenwartsliteratur grob in zwei Gruppen ein: „In Texte ohne Markennamen, ohne Popmusik-, Film- und Fernsehtitel auf der einen Seite und in Texte mit all diesen Dingen auf der anderen“ (Baßler 2002, 155).

Unter zur Kenntnisnahme dieser Einteilung wird im Folgenden untersucht, ob und welche Archivierungsvorgänge der Alltagskultur Sven Regeners Der kleine Bruder vollzieht.

2.2 Marken- und Medienverweigerung

Bei genauerer Betrachtung wird schnell deutlich, dass es sich bei Der kleine Bruder um einen Roman handelt, der zur zweiten Gruppe der von Baßler genannten Texte gehört, die weitgehend ohne Markennamen, Filmtitel oder Popsongs auskommen. Dabei hätte das Nennen von Markennamen für Sven Regener durchaus eine Option dargestellt, das von ihm betrachtete Punk-, Hausbesetzer- und Avantgardekünstler- Milieu zu illustrieren. Schon Anfang der 1980er Jahre stellte Seiler über die ausdifferenzierte Markenwelt fest, „dass es heute wohl möglich wäre, mit einem Dutzend Begriffen ein bestimmtes Milieu, einen charakterlichen Lebensstil [...] zu veranschaulichen“ (Seiler 1983, 263). Tatsächlich aber kommen in der Erzählung insgesamt nur etwa eine handvoll Markennamen vor, von denen allerdings einer zunächst scheinbar zum Label der beschriebenen Subkultur aufgebaut wird. „Was trinken wir? Schultheiss-Bier!“ (DKB 33) reimt Protagonist Karl schon zu Beginn des Romans und tatsächlich begleitet die eher günstige Biersorte die Figuren durch den ersten Teil des Romans, vom Plenum in der WG bis zum ersten Konzert. Das Billigbier einer kleinen Brauerei als Synonym einer ganzen Subkultur, die tendenziell antikapitalistisch eingestellt ist? Eher nicht, denn abgesehen davon, dass sich ein Milieu nicht anhand eines einzigen Markennamens charakterisieren lässt, wird auch die Fixierung auf das Schultheiss-Bier nicht bis zum Ende des Romans durchgehalten. Schon am zweiten Abend trinken die Protagonisten allesamt Becks, ein Bier, dass auch Anfang der 1980er Jahre schon zu den bekannteren und teureren in Deutschland zählte. Durch diesen Markenwechsel wird das zunächst scheinbar als Label dieser Subkultur aufgebaute Schultheiss-Bier bis zum Ende des Romans wieder demontiert, weitere Markennamen, die dessen Rolle einnehmen könnten, kommen nicht vor. Auch auf die Nennung von Bands, Liedern oder Platten zur Charakterisierung des tendenziell Musikgebundenen Punkmilieus verzichtet Regener, kein Wort von den Sex Pistols oder den Ramones. Ganz im Gegenteil wird eine solche Zuordnung sogar dadurch ironisiert, dass die einzigen im Text genannt Musiker die österreichischen Schlagersänger Peter Alexander und Freddy Quinn (vgl. DKB 104) sind und die zählen weder zum Pop noch zum Punk.

Generell spielen die Bilder der Medienwelt, die nach Thomas Kleinspehn „einen großen Teil moderner Popromane seit den 1990er Jahren“ (Kleinspehn 2004, 27) ausmachen kaum eine Rolle, was auch daran liegt, das beispielsweise das Fernsehen als Medium in Der kleine Bruder nicht existent ist. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass sich die „dem Pop von Beginn an inhärente Bewegung des Ausweitens, in die Medien ebenso wie in andere ästhetische Ausdrucksformen“ (Pankau 2004, 39f.) für den Roman nicht feststellen lässt. Vielmehr erzählt Sven Regener, wie weiter unten noch dargelegt wird, mit weitgehend traditionellen Mitteln die Geschichte einer Parallelwelt, die mit der alltäglichen Massenkultur der frühen 1980er Jahre, die von „<<After eight>> bis <<Omo>>, von <<Prickel-Pit>> über <<Charlie>>, [...] von <<Dalli Dalli>> bis <<Nights in white Satin>>“ (Politycki, zit. nach: Baßler 2002, 40) reichte, wenig gemein hat. Der hier betrachtete Roman unterscheidet sich in seiner Medien-und Markenverweigerung sehr deutlich von den bereites genannten klassischen Popromanen der 1990er Jahre. Dennoch gibt es durchaus Argumente, die dafür sprechen, dass es sich bei Der kleine Bruder um ein Werk der Popliteratur handelt.

2.3 Die Rückkehr zum Erzählen

Moritz Baßler vertritt die Ansicht, dass der literarische Paradigmenwechsel zu Beginn der 1990er Jahre hin zum Poproman eine „gut lesbare, auf Verfilmbarkeit hin angelegte neue Erzählliteratur“ hervorgebracht habe. Das scheint auch auf die Bücher Sven Regeners zuzutreffen, denn bereits der erste Teil der Herr Lehmann -Trilogie wurde von Regisseur Leander Hausmann im Jahr 2003 in die deutschen Kinos gebracht. Auch Der kleine Bruder ist nicht auf das schriftliche Medium beschränkt, wie der Hinweis auf das Hörbuch, der schon den Exemplaren der ersten Auflage des Romans beigefügt ist, verdeutlicht. Die Tatsache, dass ein Text wie der hier behandelte nicht andere Medien oder ihre Verfahrensweisen thematisiert, bedeutet noch lange nicht, dass dieser Text nicht trotzdem durch die von ihm verschmähten anderen Medienformaten adaptiert werden kann. Ganz im Gegenteil bietet sich Der kleine Bruder dafür sogar an, was unter anderem an den Inquitformeln deutlich wird. Diese sind äußerst monoton und einfach konzipiert4, so dass sie bei einer Adaption durch Fernsehen oder Hörspiel problemlos wegfallen können, ohne dass dadurch der Gang der Handlung verzerrt werden würde. Dazu kommt, dass der Duktus in diesem Text ebenso wie der Stil der meisten Filmdialoge stark an der mündlichen Alltagssprache orientiert ist, was sich nicht nur an dem inflationären Gebrauch von fäkalsprachlichen Ausdrücken zeigt (vgl. DKB 12). Diese Orientierung an der Mündlichkeit ist ein Argument für die Zuordnung von Regeners Roman zur Popliteratur, denn das oralisierte Schreiben ist, wie der britische Kulturwissenschaftler John Fiske herausgearbeitet hat, „sowohl der kommerzielle Versuch, sich dem Populären anzunähern, als auch die populäre Aneignung dieses Versuchs“ (Fiske 2006, 50). Auf die Beschaffenheit der Dialoge des Romans wird im übrigen im Verlauf dieser Arbeit noch näher einzugehen sein.

[...]


1 Bei der Zitation im Folgenden mit der Sigle DKB abgekürzt.

2 „Überquert die Grenzen, schließt den Graben“ (Fiedler, zit. nach: Pankau 2004, 37)

3 Zur Unterscheidung der frühen und späten Popliteratur in Deutschland: (vgl. Jung 2004, 133)

4 Vergleiche hierzu repräsentativ DKB, 21: Bei sieben Inquitformeln wird sechsmal das Verb „sagte“ benutzt.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Pop oder nicht Pop? - Sven Regeners Roman "Der kleine Bruder"
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Seminar: Roman
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
25
Katalognummer
V133730
ISBN (eBook)
9783640399802
ISBN (Buch)
9783640399727
Dateigröße
462 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sven, Regeners, Roman, Bruder
Arbeit zitieren
Hendrik Fieber (Autor:in), 2009, Pop oder nicht Pop? - Sven Regeners Roman "Der kleine Bruder" , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133730

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