"Ich weiß nicht, wo eigentlich mein rechtes Ich steckt" - Heinz Levysohn/Lehnsen und seine Suche nach der Identität


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Was ist Identität?

2. Heinz Levysohn/Lehnsen - kurze Vorstellung

3. Das erwachte Interesse für das Jüdische

4. Heinz’ Auseinandersetzung mit der Taufe

5. Die jüdische Verwandtschaft

6. Der Minjan-Mann

7. Russland
7.1. Das Pessahfest
7.2. Pogrom

8. „Mein rechtes Ich“

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Einleitung

Der Prozess der Identitätsbildung ist äußerst komplex und wird von mehreren Faktoren beeinflusst. Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht die Frage, wie sich auf das Selbstbild einer Person die Konvertierung zu einer anderen Religion und die Wahrnehmung dieser Person durch ihre Mitmenschen auswirken können. Dies werde ich am Beispiel von Heinz Levysohn/Lehnsen, einem der Protagonisten des RomansTohuwabohuvon Sammy Gronemann untersuchen. Ich werde ihn bei seiner Suche nach der Identität begleiten, sein Verhalten und seine Gedanken unter die Lupe nehmen sowie die Reaktionen seiner Mitmenschen auf ihn und seine Haltung ihnen gegenüber analysieren.

Die Arbeit ist in 8 Kapitel eingeteilt:Was ist Identität?,Heinz Levysohn/Lehnsen – kurze Vorstellung,Das erwachte Interesse für das Jüdische,Heinz’ Auseinandersetzung mit der Taufe,Die jüdische Verwandtschaft,Der Minjan-Mann,Russlandund„Mein rechtes Ich“. Im ersten KapitelWas ist Identität?wird zunächst erläutert, was der Begriff „Identität“ bedeutet und welche Faktoren die Identitätsbildung beeinflussen. Das zweite KapitelHeinz Levysohn/Lehnsen – kurze Vorstellungbildet den Ausgang für die genaue Untersuchung der Identitätsentwicklung bei Heinz, denn es schildert seine Situation, bevor er sich mit seiner Identität auseinandersetzt. In den folgenden fünf Kapiteln -Das erwachte Interesse für das Jüdische,Heinz’ Auseinandersetzung mit der Taufe,Die jüdische Verwandtschaft,Der Minjan-MannundRussland– wird etappenweise die Entwicklung Heinz’ Identität geschildert. Als Etappen gelten einzelne Ereignisse, die Heinz’ Denkweise stark beeinflusst haben, und Momente, in denen seine schwankende Identität sich für die eine jüdische oder die andere christliche Seite zu entscheiden scheint. Das letzte Kapitel -„Mein rechtes Ich“ –befasst sich mit den Ergebnissen Heinz’ Identitätssuche und Identitätsbildung aus seiner eigenen Sicht.

Der Arbeit liegen der Roman „Tohuwabohu“ (2001) von Sammy Gronemann zugrunde sowie einige Internetquellen, die die jüdischen Bräuche und Kultur näher erläutern sollen.

1. Was ist Identität?

Unter Identität versteht man die subjektive Wahrnehmung der eigenen Person, die sich im Laufe der Zeit verändert und von der Umgebung abhängig ist. Die Veränderung ist eng mit den Lebensphasen des Menschen verbunden, wie Kindheit, Jugendzeit und Erwachsensein (Endruit/Trommsdorf, S. 279) oder kann durch einen Bruch in der Biographie, wie eine plötzlich eintretende Arbeitslosigkeit, den Berufswechsel, einen Umzug oder eine Scheidung verursacht werden (S. 280). Die Wahrnehmung der eigenen Person hängt auch von „sozialen Lebensbereichen“ (S. 279) ab. Der Mensch definiert sich selbst durch seine Rolle in der Familie, im Freunde- und Bekanntenkreis oder am Arbeitsplatz (S. 279).

Die persönliche Identität wird nicht nur von dem Menschen selbst kreiert, sondern sie wird auch von den Anderen mitbestimmt. Der Identitätspsychologe William James unterscheidet deshalb zwischen dem selbst erfahrenen Ich und dem von Anderen erlebten Ich. Die Reaktion der Anderen auf den Menschen beeinflusst die Identitätsbildung. Die Identität ist sozusagen „konstituiert durch den sozialen Spiegel“ (S. 280).

Ein wenig anders versteht den Begriff „Identität“ der Soziologe Lothar Krappmann. Es gibt keine Identität ohne Sprache und Kommunikation mit den Mitmenschen. Durch jeden Kommunikationsakt wird der Mensch immer wieder neu definiert und erhält in jeder Situation eine neue Identität, indem er versucht, die Erwartungen seiner Person gegenüber als Familienmitglied, Freund oder Angestellter möglichst gut zu erfüllen, und gleichzeitig sich bewusst wird, dass er diesen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Die Identität besteht aus den zusammengetragenen Erfahrungen mit anderen Menschen und als solche unterliegt sie ständigem Wandel (Wikipedia, ‚Indentität’).

Nach Hans-Peter Frey und Karl Haußer ist die Identität ein Prozess der Selbstreflexion. Wie Lothar Krappmann stellen auch sie die Behauptung auf, dass „Identität aus situativer Erfahrung [entsteht], welche übersituativ verarbeitet und generalisiert wird“ (‚Identität’). Diese Erfahrung setzt sich aus dem Selbstbild und der Wahrnehmung der eigenen Person von den Anderen zusammen, die sowohl die Gegenwart als auch die Vergangenheit widerspiegeln können.

Gleichzeitig ist die Identität eine Zusammensetzung von drei Komponenten: dem Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und der Kontrollüberzeugung (Endruit/Trommsdorf, S. 281). Hans-Peter Frey und Karl Haußer definieren näher diese Begriffe. Unter dem Selbstkonzept verstehen sie ein Bild, das das Individuum über sich selbst schafft, indem es sich folgende Fragen stellt: Wer, was oder wie bin ich? (Wikipedia, ‚Identität’). DemWörterbuch der Soziologiezufolge ist das Selbstkonzept die Summe der Betrachtungsweisen des eigenen Ichs (Endruit/Trommsdorf, S. 281). Das Selbstwertgefühl dagegen bezeichnet nach Hans-Peter Frey und Karl Haußer die Einstellung des Individuums zu sich selbst. Im Mittelpunkt steht die emotionale Betrachtung der eigenen Person und das Empfinden von Stolz, Beschämung, Zufriedenheit oder Wut, wobei all diese Gefühle als Bewertung von sich selbst gelten (Wikipedia, ‚Identität’). Das Selbstwertgefühl ist also eine Selbsteinschätzung und Selbstbewertung (Endruit/Trommsdorf, S. 281). Hinter dem Begriff „Kontrollüberzeugung“ verbergen sich einerseits die Überzeugung des Individuums, die Situation gestalten zu können und anderseits das Gefühl, der Situation ausgeliefert zu sein (Wikipedia, ‚Identität’). ImWörterbuch der Soziologiewird dieser Begriff als die „Überzeugung von eigener Wirksamkeit" definiert (Endruit/Trommsdorf, S. 281). Dahinter steckt also die Frage, inwieweit das Individuum seine eigene Situation beeinflussen und kontrollieren kann. Aus dem Zusammenspiel dieser drei Komponenten, Selbstkonzepts, Selbstwertgefühls und Kontrollüberzeugung, entsteht die Identität des Individuums.

2. Heinz Levysohn/Lehnsen - kurze Vorstellung

Heinz wurde in der jüdischen Familie Levysohn geboren. Er wächst jedoch auf, ohne die jüdische Kultur und Religion wirklich kennen zu lernen. Sein Vater ist vermutlich im russischen Borytschew aufgewachsen, aber dann hat er sich entschlossen, das Dorf zu verlassen und nach Deutschland zu gehen, wo er sich in Berlin niederlässt. Mit Judentum verbindet ihn wenig. Deshalb, als sein Glauben dem beruflichen Aufstieg zum Landgerichtsdirektor im Wege steht, gibt er ihn auf. Nun tritt die gesamte Familie zum Christentum über und trägt den Namen Lehnsen.

Heinz als junger Mann sieht die wirtschaftlichen Vorteile dieser Konvertierung und äußert sich zunächst ironisch über die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft. Er ermahnt sogar im Spaß seinen Vater:

Wenn du wieder einmal den Glauben wechseln willst, würde ich raten, bis zur Ernennung zum Landgerichtspräsidenten zu warten. Wenn du dich dann wieder umtaufen würdest, wärest du als der einzige jüdische Präsident der höchsten Ehrungen sicher, die Israel zu vergeben hat. (Gronemann, S. 65-66)

Er scheint also auf den ersten Blick der Religion keinen großen Wert beizumessen. Er überlegt sich zunächst überhaupt nicht, worauf ein Mensch verzichtet, wenn er seinen eigenen Glauben aufgibt und zu einem anderen Glauben übertritt. Er selbst tritt auch langsam in die Fußstapfen des Vaters, denn er arbeitet als Referendar beim Gericht. Was ihn jedoch bedeutend von seinem Vater unterscheidet, ist seine Haltung anderen Juden gegenüber. Während der Vater sich zum überzeugten Antisemiten entwickelt und alles, was ihn an seine frühere Konfession erinnern könnte, verabscheut, hat Heinz Mitgefühl für die armen Berliner Juden. Als Beweis kann seine Reaktion auf den Schnorrerbrief von Ephraim Lifschitz dienen. Der unbeholfene Stil des Briefes erweckt in Heinz Mitleid für den Verfasser: „Der arme Teufel hat sich mit dieser Stilübung gewiß große Mühe gemacht“ (S. 65). Dabei spielt es für Heinz keine geringste Rolle, dass der Schreiber ein Jude ist. Er betrachtet ihn einfach als einen bedürftigen Menschen, ohne sich über dessen Glauben Gedanken zu machen. Dieses Mitgefühl für menschliches Leid bewegt ihn dazu, dem Schreiber Geld zu schicken.

Heinz bezieht bezüglich der Religion zunächst keinen klaren Standpunkt, auch nicht seinem Vater gegenüber. Er erlaubt sich zwar ironische Bemerkungen über dessen Konvertierung, aber ihm selbst scheint das Thema Religion gleichgültig zu sein. Er definiert sich selbst weder als einen Christen noch als einen (ehemaligen) Juden.

3. Das erwachte Interesse für das Jüdische

Diese Einstellung soll sich jedoch bald ändern. Heinz kommt vom Gericht mit einer Akte, die er zum Referat von seinem Kollegen Bandbann bekommen hat, weil ihm die Sache vertrauter sei. Es handelt sich um eine Berufung im Fall „Pfeffer gegen Boruch“. Der Beklagte verweigert die Bezahlung einer Sendung von Ethrogim (Paradiesäpfeln), weil die Stängel abgebrochen sind und ohne Stängel sind sie in der Synagoge nicht zu gebrauchen.

Die Paradiesäpfel sind ein wichtiger Bestandteil eines Feststraußes, den jeder Jude während des Sukkots in die Synagoge mitbringt. Sukkot, auch Laubhüttenfest genannt, ist eine Art Erntedankfest und dauert mehrere Tage. Während des Gottesdienstes am ersten Tag hält jeder den bereits erwähnten Feststrauß, der aus folgenden Zweigen zu bestehen hat: einem Palmzweig, auch Lulaw genannt, einer Zitrusfrucht, auch als Etrog bezeichnet, drei Myrtenzweigen, d.h. Hadasim, und Bachweidenruten, den so genannten Arawoth. Jede Pflanze hat ihre Bedeutung. So symbolisiert Lulaw tropisches Gewächse, Etrog steht für veredelte Früchte der Obstgärten, Hadasim vertritt die ungenießbaren Pflanzen, die im Haushalt anders verwendet werden, und schließlich stellt Arawoth nützliche Pflanzen dar, mit denen Feuer angezündet werden kann (Kohl).

Heinz, dem dieser Fall als einem ehemaligen Juden übergeben wurde, weiß nicht, welche Bedeutung die Paradiesäpfel haben. Er stellt im Gespräch mit seinem Vater fest: „Ich habe über die Inder und die Inkas mehr gelesen als über meinen eigenen Stamm!“ (Gronemann, S. 88). Er merkt zum ersten Mal, dass er trotz seiner jüdischen Herkunft keine Ahnung von den Bräuchen und der Kultur hat, die bis zum Austritt aus der jüdischen Kirche ein Bestandteil seiner Person hätten sein sollen. Er wundert sich: „Ich finde, wenn man als Jude geboren ist, dann müsste man sich doch um seine eigene Kultur und Geschichte etwas kümmern.“ (S. 87). Es klingt beinahe als Vorwurf an seinen Vater, dass auch solange sie dem Judentum angehört haben, es in ihrem Leben keine Rolle gespielt hat. Das Jüdische war in der Familie Levysohn einfach nicht präsent.

In dem Gespräch fallen auch sehr wichtige Worte:

Mir scheint, durch die Taufe bin ich mir erst meines Judentums überhaupt bewusst geworden. Es ist doch eigentlich mein Austritt aus dem Judentum der erste Akt meines Lebens gewesen, in dem ich zu der jüdischen Religion irgendwie Stellung genommen habe. – Ich habe eigentlich meine Zugehörigkeit zum Judentum da zum ersten Mal bekannt, als ich austrat. (S.88)

Es ist der entscheidende Moment, in dem sich Heinz dazu bekennt, dass er einst Jude war. Zum ersten Mal setzt er sich mit seiner Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft auseinander. Er gehört dem Judentum zwar nicht mehr an, aber er sieht seine jüdische Vergangenheit als Teil seiner Biographie und somit als Teil seiner Identität. Den Teil der Identität, den er aufgegeben hat, ohne ihn richtig kennen gelernt zu haben. Im Nachhinein fängt er sich dafür zu interessieren, was ihm vor seiner Konvertierung nicht einmal bewusst war. Er ist fest entschlossen, nachzuholen, was er und seine Eltern bei seiner Erziehung seiner Meinung nach versäumt haben. Er sagt zu seinem Vater: „Ich möchte doch etwas von der jüdischen Geschichte wissen. – Ich hätte auch direkt Lust, mal in einen Tempel zu gehen und mir den Betrieb ansehen.“ (S. 88)

Er erwähnt noch einmal den Schreiber des Schnorrerbriefs. Diesmal sind es nicht nur Mitleid und Mitgefühl, die ihn dazu bewegen, dem Juden Geld zu schicken. Er fühlt sich den Juden gegenüber schuldig. Er bezeichnet die zehn Mark für Ephraim Lifschitz als eine Art „Abschlagszahlung“ (S. 90). Er scheint sich von seiner Ignoranz in Bezug auf das Judentum freikaufen zu wollen, indem er einen Juden unterstützt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
"Ich weiß nicht, wo eigentlich mein rechtes Ich steckt" - Heinz Levysohn/Lehnsen und seine Suche nach der Identität
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft)
Veranstaltung
Deutsch-jüdische Interkulturalität im 19. und 20. Jahrhundert
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
24
Katalognummer
V82205
ISBN (eBook)
9783638893138
ISBN (Buch)
9783640389032
Dateigröße
471 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Zum Buch "Tohuwabohu" von Sammy Gronemann
Schlagworte
Heinz, Levysohn/Lehnsen, Suche, Identität, Deutsch-jüdische, Interkulturalität, Jahrhundert
Arbeit zitieren
Katarzyna Paluba (Autor:in), 2006, "Ich weiß nicht, wo eigentlich mein rechtes Ich steckt" - Heinz Levysohn/Lehnsen und seine Suche nach der Identität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82205

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