Zu Veränderungen im Sprachgebrauch: Die Anrede im Deutschen


Hausarbeit, 2008

42 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I

1. Aspekte der Anrede
1.2. Höflichkeit
1.2.1. Deixis in Bezug auf die Anrede
1.2.2. Distanz

2. Historische Entwicklung der Anredeformen im Deutschen
2.1. Das Du und Sie in der Frühzeit bis in das 16. Jahrhundert
2.2. Die Pluralität der Anrede ab dem 16. Jahrhundert
2.3. Der Rückzug der Anredepronomina

3. Theorie der Semantik der Macht und Solidarität

Teil II

4. Entwicklung der heutigen Anredekonventionen
4.1. Das heutige binäre Anredesystem
4.2. Anredekonventionen
4.2.1. Private Kategorien der Anrede
4.2.1.1. Der Übergang vom Du zum Sie
4.2.1.2. Der Übergang vom Sie zum Du
4.2.2. Halböffentliche Kategorien
4.2.3. Öffentliche Kategorien
- Öffentliche nominale Anrede
- Anrede in Briefen
4.2.3.1. Du in der Öffentlichkeit
- Brüderliches Du - Das du der Studentenbewegung
- Das firmeninterne Du
- Diskriminierendes Du
- Das Reklame- du
- Anrede in E-Mails
4.2.4. Unsicherheiten bei der Wahl der Anrede
4.3. Aktuelle Entwicklungstendenzen

5. Fazit

6. Quellen
6.1. Verwendete Literatur
6.2. Internetresourcen
6.3. Abbildungsverzeichnis

Einleitung

„Denken und Reden sind Bedingungen des Menschengeschlechts, Ursache seiner Freiheit, Quelle aller Sprachen. Der Mensch redet weil er denkt, und lenkt auch wenn er schweigt. Das Geredete drang aus seiner Seele, er würde stumm geblieben sein, hätte er sich nicht an einen anderen richten können, dem er es anheim gäbe, teilnehmender Antwort gegenwärtig. Rede setzt immer Anrede, Sprechen setzt Erwidern, Sprache also menschliche Geselligkeit voraus.“[1]

Obwohl die Anrede an sich schon viel untersucht wurde, gibt es in Bezug auf Anredekonventionen kaum eine verbindliche Anleitung, wie sie benutzt werden. Ein Blick in ein Sprachenlehrwerk Deutsch genügt, um herauszufinden, dass der Gebrauch des Anrede- Du bzw. Sie auch dort nicht eindeutig festgelegt werden kann, zumal diese Formen sehr situationsspezifisch angewendet werden. Die Anrede ermöglicht eine direkte Bezugnahme auf das Gegenüber und fördert zwischenmenschliche Beziehungen. Deswegen unterliegt sie kommunikativen Prozessen und so wie sich die Gesellschaft wandelt, ergibt sich ein veränderter Sprachgebrauch, der sich auch in der Anrede widerspiegelt.

Unsere These lautet, dass die Anredekonventionen einem ständigen Wandel unterliegen, der sich aufgrund veränderter gesellschaftlicher Bedingungen ergibt, da die Gesellschaft kein starres Gebilde ist und sich dynamisch weiterentwickelt. Basierend auf der deutschen Gesellschaft gehen wir davon aus, dass unser derzeit binäres Anredesystem bestehen bleibt und sich zu keinem monogliedrigen System, wie z.B. im Englischen und Schwedischen entwickelt. Wir behaupten, dass entgegen der weitläufigen Meinung das Personalpronomen du nicht weiter expandiert und sich im Gegenzug ein neuer Trend zum intensiveren Gebrauch des Sie auf interpersoneller Ebene abzeichnet.

Um die Anredekonventionen zu untersuchen, müssen diese zuerst näher bestimmt werden. Ein Blick auf die Vergangenheit ist die Voraussetzung, um verlässliche Aussagen für die Gegenwart treffen zu können und das Thema holistisch zu erschließen. Aber nicht nur die Geschichte liefert Informationen über die Anredeformen, sondern auch die aktuellen Ausprägungen und Charakteristika dieser Formen.

Wir wollen im Rahmen dieser Arbeit den folgenden Fragen nachgehen und die aktuellen Tendenzen näher herausarbeiten.

- Was sind die aktuellen Konventionen?
- Wohin gehen die Tendenzen der Anredekonventionen in der Gegenwart?
- Welche Faktoren sind als Auslöser für den Wandel zu nennen?
- Warum vollzieht sich ein Wandel der Anredekonventionen?
- Wie behandelt die Sprachöffentlichkeit das Thema?

Teil I

1. Aspekte der Anrede

„Unter Anrede verstehen wir die sprachliche Bezugnahme eines Sprechers auf seinen oder seine Gesprächspartner. […] Anredeformen sind Wörter und Wendungen, die der Anrede dienen.“[2]

Wie schon angedeutet, dient die Anrede der sprachlichen Interaktion mit einem Kommunikationspartner[3]. Mit Hilfe der Anrede ist es möglich, eine bestimmte oder mehrere Personen direkt anzusprechen und Kontakt aufzunehmen. Das heißt, mit sprachlichen Zeichen wird auf ein außersprachliches Phänomen verwiesen. Sprachliche Zeichen sind Wörter und Wendungen (Anredeformen), die meist mit nominalen Elementen gebildet werden. Zu den Anredeformen[4] gehören die Anredepronomen Du, Sie und Ihr sowie die verbalen Anredeformen, die als solche nicht direkt wahrgenommen werden, da sie in der Verbendung auftreten (2. Person Singular und Plural). Alleine stehen diese im Imperativ, z.B. „Komm!“ oder „Kommt!“. Eine weitere Anredeform sind nominale Bezeichnungen, wie Vor- und Nachnamen, Titel, Berufs- und Verwandtschaftsbezeichnungen und abstrakte Formen. Aber auch nonverbale Verhaltensweisen[5] sind eng mit der Anrede verknüpft: Dazu zählen Gestik, Mimik, Körperabstand und Blickrichtung . Aus der nominalen Anrede und den Anrede-pronomen ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, einen Kommunikationspartner anzusprechen. In der Regel werden Personen aus dem Bekannten- und Verwandt-schaftskreis mit D u und dem Vornamen oder der Verwandtschaftsbezeichnung ange-sprochen, während weitläufig bekannte Personen gesiezt werden. Die Anrede-konventionen sind stark kulturell geprägt und mit der Wahl einer gewissen Ansprache-form wird dem Gegenüber ein bestimmtes Maß an Respekt entgegen gebracht. Das heißt, die Anrede ist situations- und personenbezogen und es ergeben sich feine Abstufungen der Höflichkeit, je nachdem wie das Gegenüber angesprochen wird.

1.2. Höflichkeit

Wie schon Bördlein[6] erwähnt, fordert Paul Grice in seinen vier Konversationsmaximen auf, unnötige Zusatzinformationen zu vermeiden, einen Gesprächsbeitrag somit rein zweckmäßig zu gestalten und bei der Wahrheit zu bleiben. Dem zufolge ist die Anrede redundant, besonders wenn nur zwei Teilnehmer an einem Gespräch beteiligt sind. Floskeln wie „Wie geht es Dir/Ihnen?“ wären überflüssig, da sie nicht unbedingt wahrheitsgemäß beantwortet werden. Aber dennoch wird nicht darauf verzichtet, solche Floskeln und Anredeformen zu verwenden. Ein Grund liegt in der Höflichkeit:

Höflichkeit ist ein sprachliches oder nichtsprachliches Verhalten, das zum normalen Umgang der Menschen miteinander gehört und den Zweck hat, die Vorzüge eines anderen Menschen indirekt zur Erscheinung zu bringen oder ihn zu schonen, […].“[7]

Durch Höflichkeit wird eine bewusste oder unbewusste Wertung des Gegenübers vorgenommen, was die interpersonellen Beziehungen reguliert. Letztendlich wirkt sich der Wechsel der Anredepronomen vom Sie zum D u auf das sprachliche und das soziale Verhalten aus. Wird das Du untereinander beschlossen, geht soziale Distanz verloren und die Gesprächspartner wechseln auf eine „vertrautere“ Ebene. Genauso kann aber auch die Distanz aufrechterhalten werden, indem kein Wechsel der Anrede vom Sie zum Du stattfindet. Hier wird die Indirektheit mit dem Sie gewahrt. Diese Konvention wird in der Regel im öffentlichen und beruflichen Leben praktiziert, weshalb das Siezen eine adäquate Form ist und als höflich gewertet wird. Anders verhält es sich jedoch mit dem Siezen einer Einzelperson, die einer Gruppe angehört, in der sich ansonsten gegenseitig geduzt wird. Das Du markiert Geschlossenheit, während die gesiezte Person bewusst „ausgegrenzt“ wird. Dieses Sie ist daher negativ konnotiert.

Höflichkeit kann positiv oder negativ markiert sein[8], wobei als negativ z.B. „Hey, du!“ gewertet wird. Das Du in diesem Kontext hebt eine Person besonders hervor, was nach Weinrich als unhöflich eingestuft wird.

„Wenn von zwei Ausdrucksformen, die in einer Situation zur Wahl stehen, die eine scharf und die andere schwach konturiert ist, so gilt immer die schwach konturierte Form als die höflichere.“[9]

Nach Bördlein ergibt sich daraus, dass Briefe nicht mit I ch begonnen werden und in wissenschaftlichen Arbeiten die „Nennung der eigenen Person mehr oder minder geschickt vermieden“[10] wird. Aber die Frage, warum es bei Telefonaten entgegen dieser Regel trotzdem unhöflich ist, seinen Namen nicht zu nennen, bleibt unbeantwortet. Meiner Meinung nach liegt ein Grund in der schriftlichen Form und der Einseitigkeit des Informationsflusses. Es besteht eine große anthropologische Distanz zwischen Verfasser und Rezipienten, und der Letztgenannte hat die Möglichkeit, sich erst während des Lesens bewusst zu werden, wer der Verfasser ist oder dies herauszufinden. Demgegenüber basiert ein Telefongespräch auf einem wechselseitigen, unmittelbaren Informationsfluss, was ein Vorwissen des Anrufenden dem Angerufenen gegenüber voraussetzt. Die Distanz hat sich im Gegensatz zum Brief verringert. Wenn weder Name noch Grund des Anrufes genannt wird, ist der Empfänger wissentlich im Nachteil, was als unhöflich und z.T. auch als bedrohlich empfunden werden kann.

Höflichkeit ist folglich ein sehr situationsspezifischer Aspekt. Deswegen muss der soziale Kontext berücksichtigt werden, um ein richtiges Maß in einem Gespräch zu finden.

„Nicht die Ferneform (oder die jeweils fernste Form) ist die höflichste, sondern die fernste der kontextuell angemessenen Formen.[11]

Hier ist anzumerken, dass wohl das vorschnelle Duzen in einem eigentlich formellen Kontext, in dem ein Siezen situationsgerecht erscheint, höflicher einzustufen ist, als ein Siezen in einem informellen Kontext, besonders, wenn sich vorher schon geduzt wurde. Im ersten Fall spiegelt sich in dem Anredewechsel zum Du eine soziale Nähe wieder, was allerdings als Eingriff in die Intimsphäre anzusehen ist, während im zweiten Fall die Vertrautheit zugunsten einer Distanziertheit aufgegeben wird. Da dies ein Rückschritt auf der persönlichen Ebene ist, wird das Sie als Beleidigung bzw. Respektlosigkeit angesehen. Ein besonders unhöflich konnotiertes Sie ergibt sich, wenn eine Einzelperson, die einer Gruppe angehört, von dieser gesiezt wird, während die übrigen Teilnehmer sich gegenseitig du zen.

Die Anredeformen haben bezüglich der Kommunikation eine regulierende Funktion, indem sie zum einen den Bekanntschaftsgrad zweier Personen zueinander anzeigen und sich damit auch auf das Persönlichkeitsverhältnis auswirken. Kommunikationspartner, die sich auf ein distanziertes Sie einigen, werden kaum persönliche Themen ansprechen, sondern eine neutrale und distanzierte Gesprächsebene präferieren. Zum anderen geben diese Formen die interpersonalen Beziehungen wieder. Durch die Wahl einer inadäquaten Anrede können indirekte und direkte Konflikte entstehen, die sich negativ auf den Kommunikationsverlauf auswirken. Dadurch, dass mehrere Anrede-möglichkeiten gegeben sind, besteht eben auch die Gefahr, die falsche Form zu wählen, denn diese Konventionen sind in unserer Gesellschaft verankert und genau, wie die persönliche Beziehung untereinander kein statisches Phänomen ist und einem Wandel unterliegt, bleiben jegliche Versuche, die Anrede zu regularisieren und zu standar-disieren, erfolglos.

1.2.1. Deixis in Bezug auf die Anrede

Auch mit Hilfe der Deixis (Zeigefunktion der Sprache[12] ) lassen sich nach Bühler verschiedene Sprechakte in Relation zum Kontext und zur Höflichkeit encodieren. So zählen hierzu die Lokal- (dort, hier), Temporal- (jetzt, nun) und Personaldeixis (du, sie, ich). Um eine Konversation verstehen zu können, muss eine gemeinsame Wahr-nehmung gewährleistet sein, da ansonsten kein Bezug zu der Referenz hergestellt werden kann.

„Kommunikation ist dabei als sozialer Prozess aufzufassen, an dem mindestens zwei Menschen beteiligt sind, die mittels Zeichen, Medien und Sprache in ein wechselseitiges Mitteilungs- und Verständigungshandeln eintreten, um sich aktuell aneinander zu orientieren, etwas Bestimmtes zu erreichen oder gemeinsam auf ein zukünftiges Ziel hin tätig zu sein.“[13]

Im Fall der Lokaldeixis ist es z.B. wichtig, den Referenzwert von Lokaladverbien zu erfassen, denn ohne diesen ist kein räumlicher Bezug zu einer Aussage wie „Gehe dort hin!“ gegeben. Lexeme wie Du /Sie sind deiktisch, da der außersprachliche Bezugspunkt nicht konstant ist und wenn dieser sich ändert, bedingt das eine neue Anredeform. Ein weiterer Faktor ist die Sozialdeixis[14], die die Anrede durch bestimmte Steuer-ungsfaktoren regelt und durch „4 W’s“ umschrieben werden kann: „Wer redet wen in welcher Situation wie an?“ Diese Variabeln[15] sind Alter, Geschlecht, Sozialstatus (Positions- und Rangunterschiede in der Gesellschaft) und Situation (völlig informell bis strikt formell).

In Bezug auf die variable Situation gibt es öffentliche Kommunikationsanlässe, in denen gegen den zu erwartenden Rahmenbedingungen geduzt wird. Eine solche Domäne ist das D u unter Sportlern, was den Gemeinschaftssinn unter ihnen stärkt. Zu der Variable Alter zählt Besch das Duzen von Jugendlichen bis etwa zum 16. Lebensjahr und danach wird gesiezt. Im familiären Rahmen wird geduzt, wobei im „Nominalbereich die Verwandtschaftsnamen […] Vater, Mutter, Großvater, Gro-ßmutter, Onkel […]“[16] etc. in Gebrauch sind. Bis auf die femininen Nominalformen gibt es in Deutschland kaum Unterschiede in geschlechtsspezifischen Bezeichnungen, wogegen der soziale Status einen Einfluss auf die Anrede hat, denn das Ansprechen von Höherrangigen geht mit einem Sie und einem gesteigerten Sprachstil einher.

1.2.2. Distanz

In der Geschichte kam der soziale Status noch mehr zum Tragen, da es zeitweise bis zu acht Anredepronomen gab in Verbindung mit einer Fülle von Nomina. Gottsched beschäftigte sich mit den Anredepronomina und ordnete sie, entsprechend ihrer Höflichkeitshierarchie, in das „Barometer der Höflichkeit“[17] ein:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Schema: 1[18]

Um einen umfassenden Überblick zu gewähren, ist dieses Barometer im Gegensatz zur ursprünglichen Version um das Pronomen Sie der 3. Person Singular und Dieselben, welches in der 2. Person Singular und Plural in Gebrauch war, erweitert, wobei noch das Lexem man hinzuzufügen ist, welches zeitweise als Anredeform benutzt wurde.[19]

Je nach Standeszugehörigkeit erfolgte eine feine Abstufung der Höflichkeits-bezeichnung und höher gestellte Personen wurden in der Regel mit der höflicheren Form angesprochen. Als Konsequenz der Fülle an Anredeformen ergab sich fast zwangsläufig, dass das

du, ganz am unteren Ende von Gedikes Höflichkeitsbarometer, […] im zweiten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts als so formlos angesehen [war], dass es außer unter Geschwistern oder gegenüber Kindern nur noch zu extrem gering-schätziger Anrede gebraucht wurde.“[20]

Schon im 16. bis 17. Jahrhundert[21] finden sich die Ursprünge einer pluralistischen Anredekultur, die sich entsprechend der Ausbildung des Adels und des Bürgertums zeitversetzt entwickelte, und womit die hierarchische Distanz zwischen den zwei Schichten auf linguistischer Ebene betont wurde.

Schopenhauer[22] untersucht das Phänomen „Distanz“ aus soziolinguistischer Perspektive. Als Hintergrund für seine Thesen stellt er 1815 seine Fabel der Stachelschweine auf, mit der er die Höflichkeit anschaulich darstellen kann: Er beschreibt eine Gesellschaft von Stachelschweinen, die an einem kalten Tage friert. Um sich gegenseitig zu wärmen, rücken die Tiere näher zusammen, bis sie sich jedoch gegenseitig mit ihren Stacheln pieken. So rückt die Tierschar wieder auseinander, wodurch die Tiere aber erneut frieren. Die Stachelschweine wiederholen den Vorgang so oft, bis sie die optimale Entfernung herausgefunden haben, um gerade nicht zu frieren und sich gegenseitig nicht mit den Stacheln zu stechen.

„So treibt das Bedürfniß der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Inneren entsprungen, die Menschen zu einander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von einander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammenseyn bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte.“[23]

Schopenhauer greift hier die Höflichkeit unter dem Gesichtspunkt der sozialen Distanz auf. Wenn die Kommunikationspartner nicht in die Intimsphäre des anderen eintauchen, ist eine positive Kommunikation durchführbar. Daneben lässt sich die Aussage des negativ markierten Charakters mit Weinrichs Definition von Höflichkeit in Verbindung bringen. Durch die Respektform Sie wird eine Distanz aufrechterhalten, die es dem Gegenüber ermöglicht, im übertragenen Sinn „sein Gesicht zu wahren“. Ein Gespräch dringt thematisch gerade so weit in die Tiefe, dass die Mängel des Angeredeten verdeckt bleiben und dieser sich in einem möglichst positiven Licht präsentieren kann. Folglich ist es logisch, dass mit verbalen Demütigungen und Beschimpfungen ein Wechsel der Anredepronomen einhergeht, da sich indirekte Bezugnahmen auf das Gegenüber in Verbindung mit direkten Angriffen de facto ausschließen.

Ein weiterer Aspekt der Höflichkeit ist die räumliche Distanz, die extralinguistische Gegebenheiten beschreibt. Entsprechend der Anredeform, wird ein konformer Abstand eingehalten. Hall prägte hierzu Mitte der 70er Jahre den Begriff Proxemik, der das Distanzverhalten erklärt. Zwar bezieht sich die Studie auf amerikanische Personen, aber es ist davon auszugehen, dass die Relationen auch auf die deutsche Sprachgemeinschaft übertragbar sind. Sein Modell des Raumes definiert vier Zonen, die je nach Gesprächssituation eingehalten werden. Diese sind die intime, persönliche, soziale und öffentliche Zone[24], die durch territoriale Gegebenheiten bedingt sind. Kommt ein Redner dem Angeredeten zu nahe, wird dies als Bedrohung empfunden und, übertragen auf die Linguistik, können dadurch Kommunikationskonflikte ausgelöst werden.

Obwohl die vorgestellten Theorien zum Teil schon lange existieren, haben sie auch heute noch Gültigkeit und wurden wissenschaftlich noch nicht widerlegt. Auch wenn die heutige Anrede auf ein binäres System reduziert ist, gibt es dennoch eine Polarisierung zwischen D u und Sie und mit der formellen Anrede wird dem Kommu-nikationspartner Respekt entgegengebracht.

2. Historische Entwicklung der Anredeformen im Deutschen

Um die Konvention der heutigen Anrede zu verstehen und eine Entwicklungstendenz beschreiben zu können, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Durch Sichtung von alten Schriften lassen sich bestimmte Konventionen im Verlauf aufzeigen.

2.1. Das Du und Sie in der Frühzeit bis in das 16. Jahrhundert

Die erste Bezugnahme auf eine Person war das D u im Althochdeutschen, worauf im 9. Jahrhundert das Ir (Ihr) in der 2. Person Plural durch den Einfluss und Kontakt zu fremden Kulturen aufgenommen wurde.[25] Dass die Form aus dem lateinischen pluralis maiestatis stammt, scheint eindeutig. In der Theorie wird allerdings die Frage nach dem Wie kontrovers behandelt. Besch beruft sich auf das Annolied, welches circa 1080 entstand und den Einfluss Caesars auf die Einführung des Pronomens betont, während Kretzenbacher auf Grimm verweist, der das Ihr auf das römisch-byzantinische Doppel-kaiserreich bezieht.[26] Die Anrede beschränkt sich hauptsächlich auf Kaiser und Könige, später auch Adel und Geistliche[27], wobei das Volk weiterhin mit D u angesprochen wird und diese Anrede untereinander verwendet. „Das Ihr, der Pl. für Du, erscheint zuerst im 9. Jahrhundert […]. Sie soll Ehrerbietung vor der höheren Würde und den gröszeren Abstand des Redenden vom Angeredeten ausdrücken, […].“[28] Zusammen mit dem Ihrzen werden Geburts- und Adelstitel genannt, „ebenso die Bezeichnung herre ‘Herr’, frowe ‘Frau’ und frowelîn ‘Fräulein’.“[29]

[...]


[1] Grimm, J. (1864): Über den Personenwechsel in der Rede; in: Kl. Schriften, iii, S. 236.

[2] Braun, Friederike; Kohz, A. & Schubert, K. (1986): Anredeforschung, Tübingen: Narr, S.XV.

[3] Die Begriffe Kommunikationspartner, Professor und Student werden in dieser Arbeit jeweils als neutraler Begriff für sowohl männliche, als auch weibliche Personen verstanden.

[4] Glück, Helmut/ Sauer, Wolfgang Werner (1997): Gegenwartsdeutsch, Stuttgart, Weimar, Metzler, S.119.

[5] Besch, Werner: Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel, in: Steger, Hugo (22003): Handbücher Kommunikationswissenschaft, Bd. 2.3; Berlin, New York, de Gruyeter, S.2604.

[6] Bördlein, Christoph (1997): Anredeformen im Deutschen des 18.Jahrhunderts am Beispiel von Christian Fürchtegott Gellert „Die Betschwester“ (1745), J.M.R.Lenz „Der Hofmeister“ (1774) und Manuel Schikaneder „Die Zauberflöte“ (1791) auf: http://boerdlein.gmxhome.de/seiten/pdf/anrede.pdf, Stand: 15. Mai 2008, 12:25 Uhr), S. 7-8; Grice, H. Paul: Logik und Gesprächsanalyse. In: Kussmaul, P. (Hrsg.) (1980): Sprechakttheorien. Ein Reader. Wiesbaden, S. 109-126.

[7] Weinrich, Harald (1986): Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist?. Mannheim, Wien, Zürich: Bibliographisches Institut (Duden-Beiträge; H. 48), S. 24.

[8] Glück, Helmut/ Sauer, Wolfgang Werner (1997): S.119.

[9] Weinrich 1986: S..

[10] Bördlein, Christoph (1997): S.7-8.

[11] Kretzenbacher, Heinz Leonard; Segebrecht, Wulf (1991): Vom Sie zum Du – mehr als eine neue Konvention?, Hamburg, Zürich, S.41.

[12] Bühler, Karl (1978): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Ullstein, Frankfurt/ Berlin/ Wien 1978, S.102ff.

[13] Krallmann, Dieter/ Ziemann, Andreas (2001): Grundkurs Kommunikationswissenschaft, Fink, München, S.48.

[14] http://www.lrz-muenchen.de/~ito/sozdeix/definit.htm#definition Stand: 20.Mai 2008, 21.05Uhr.

[15] Besch, Werner (22003):, S.2601-2608.

[16] Besch, Werner (22003): , S.2602.

[17] Gedike, Friedrich (1794): Ueber und Sie in der deutschen Sprache. Vorgelesen in der öffentlichen Versammlung der Berlinischen Akademie der Wissenschaften am 30.Januar 1794, Berlin, S.8.

[18] in Anlehnung an: Gedike, Friedrich (1794): S.8.

[19] Valtl, Karlheinz (1986): Erziehung zur Höflichkeit. Höflichkeit als Wertkonzept der Alltagsinteraktion, als Gegenstand empirischer Forschung in den Humanwissenschaften und als Aufgabe der Erziehung, Diss. Regensburg, S.169.

[20] Kretzenbacher, Heinz Leonard (11991): S.25.

[21] Besch, Werner (22003): S.2600.

[22] Schopenhauer, Arthur (1851): Parerga und Paralipomena; in: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Bd. X, 2, zweiter Teilbd., Zürich. 1977, S.708-709.

[23] Schopenhauer, Arthur (1851): S.708-709.

[24] Hall, Edward T. (1966): The Hidden Dimension. Garden City, New York, Doubleday & Co. S.110-120.

[25] Kretzenbacher, Heinz Leonard; Segebrecht, Wulf (11991): S.24.

[26] Vgl. Kretzenbacher, Heinz Leonard; Segebrecht, Wulf (11991): S. 24 und Besch, Werner (21998): S.90-91.

[27] Besch, Werner (22003): S. 2602.

[28] Grimm, Jacob (1864): Deutsches Wörterbuch. Bd. 2, Hirzel. Leipzig, S.1475.

[29] Besch, Werner (22003): , S.2600.

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Zu Veränderungen im Sprachgebrauch: Die Anrede im Deutschen
Hochschule
Technische Universität Darmstadt  (Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartssprache
Note
2,0
Autoren
Jahr
2008
Seiten
42
Katalognummer
V131038
ISBN (eBook)
9783640370320
ISBN (Buch)
9783640369935
Dateigröße
836 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Veränderungen, Sprachgebrauch, Anrede, Deutschen
Arbeit zitieren
Nancy Reinhardt (Autor:in)Nicole Neubauer (Autor:in), 2008, Zu Veränderungen im Sprachgebrauch: Die Anrede im Deutschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/131038

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