Medientheoretische Grundlagen der Medienkompetenz. Theoretische Perspektiven einer ideologiekritischen Medienbildung


Diplomarbeit, 2009

85 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Medien – Eine Hinführung
2.1 Walter Benjamin und Bertolt Brecht
2.2 Hans Magnus Enzensberger
2.3 Vilém Flusser
2.4 Marshall McLuhan
2.5 Paul Virilio und Neil Postman
2.6 Jean Baudrillard
2.7 Die Kritische Theorie
2.7.1 Die Kulturindustriethese
2.7.2 Kulturindustrie und Freizeit

3. Thesen zur Medienzensur und Medienmanipulation
3.1 Medienverdammung und Medienkritik
3.2 „Amerikanisierung“ der Medien

4. Medienpädagogik und das Konzept der Medienkompetenz
4.1 Medienpädagogik
4.2 Medienkompetenz

5. Medienbildung
5.1 Aufklärung und Bildung
5.2 Ein „Prolog zum Fernsehen“
5.3 Zur „Theorie der Halbbildung“
5.4 Zentrale Begriffe der Pädagogik: Mündigkeit und Erfahrungsfähigkeit
5.5 Kritische Bildungstheorie
5.6 Ideologiekritische Medienbildung

6. Exkurs in die Praxis
6.1 Medienerziehung im Kindergarten und in der Schule
6.2 Die Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur

7. Modern Times – Das Web 2.0
7.1 Meinungsmarkt 2.0
7.2 Die Kultur des Amateurhaften

8. Resumée

1. Einleitung[1]

März, 2009: In der baden-württembergischen Kleinstadt Winnenden tötet ein 17-jähriger Junge 15 Menschen, darunter sind die meisten Opfer Schüler aus seiner alten Schule. Innerhalb weniger Stunden sind mehr als 200 Reporter für Fernsehstationen aus aller Welt an dem Ort des Geschehens versammelt. Die Medien berichten wochenlang über mögliche Hintergründe und Ursachen dieser Tat. Der Täter soll regelmäßig Gewalt darstellende Computerspiele konsumiert haben. Innerhalb einer Woche nach der Tat wurden allein im Land Baden-Württemberg 56 Delikte registriert, die aufgrund von Ankündigungen einer ähnlichen Bluttat zur Anzeige gegen Trittbrettfahrer führten. Die facettenreiche und globalisierte Medienlandschaft exemplifiziert sich anschaulich an diesem Beispiel. Aktuell und in drastischer Deutlichkeit zeigt sich hier ein erstmal abstrakt vermittelter Einfluss der Medien, sei es in der Verarbeitung der aktuellen Ereignisse oder in dem spielerischen Umgang mit ihren multimedialen Formen wie der des Computerspiels. Eines wird auch in der auf die Tat folgenden hilflosen Diskussion um das Verbot so genannter „Killerspiele“ deutlich: eine fundierte Medienbildung wäre von Nöten, um den Wandel lebensweltlicher Erfahrungen nicht nur von Kindern und Jugendlichen neu zu erfassen, denn Medien spielen eine wichtige Rolle für die Wahrnehmung der Welt, für die Entstehung von Weltbildern und folglich für die politische und kulturelle Praxis.

Medial vermittelte Lernprozesse werden zunehmend Teil der Grundsozialisation eines jeden Menschen und es lassen sich Erziehungs- bzw. Sozialisationsprozesse immer weniger ohne Bezug zu Medien denken. Weniger soll es hier jedoch um die praktische Handlungsorientierung medienpädagogischer Arbeitsfelder gehen, sondern vielmehr um eine theoretische Reflexion oftmals unhinterfragter vermeintlicher Gewissheiten. Soziale Arbeit, verstanden als ausführender Arm staatlich gelenkter Interessensdurchsetzung, wird an der angestrebten Professionalisierung scheitern, wenn sie nicht durch Selbstbewusstsein zu sich findet und eigene Wege nicht nur erkennt und aufzeigt, sondern auch selbstreferentiell daran arbeitet und somit eigene Theoriebildung vorantreibt. Für den Bereich der Medienpädagogik oder der Medienbildung bedeutet dies, keinen Rückschritt hinter technische und zivilisatorische Errungenschaften durch Zensurversuche oder Bewahrpädagogik zu forcieren und auch nicht in der Regression von scheinbar harmonischer Natur und nachbarschaftlicher Gemeinschaft aufzugehen.

Ein theoretischer Unterbau und eine Einführung in die Medientheorien erscheinen mir daher als Basis für das Verständnis und bei der Beantwortung einer Frage zu Medienkompetenz oder Medienbildung unerlässlich. So habe ich meinen Schwerpunkt auf die Theorien gelegt und auf das Handwerkszeug, das eine Entwicklung zur Medienkompetenz und -bildung erst zulässt. Der Vermittlung einer reflexiv-kritischen Medienbildung, und diese sei als anzustrebende Grundlage sozialpädagogischen Handelns gesetzt, hat eine praktische und theoretische Medienkritik vorauszugehen.

Den Schwerpunkt legen möchte ich daher auf die kritische Medientheorie, die Rezeption und den Umgang mit der „Kulturindustrie-These“ als dem zentralen Referenzpunkt in der Auseinandersetzung mit Medien im Spannungsfeld von Manipulation und Emanzipation, die das globale und zugleich ausdifferenzierte Netzwerk der Kulturvermittlung in der gegenwärtigen Gesellschaft bezeichnet. In dem einflussreichen und begriffsprägenden Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ aus der „Dialektik der Aufklärung“ wird von Horkheimer und Adorno eine zentrale These der Kritischen Theorie ausgeführt, nämlich dass die Kultur Warenform annähme, so dass nicht mehr von Kultur gesprochen werden könne, sondern von Kulturindustrie gesprochen werden müsse. Sie stellen heraus, dass die Massenkultur eine gesamtgesellschaftliche Wirkung entfaltet. So subsumiere die Kulturindustrie alle Kultur unter sich und passe sie ihren spezifischen Schemata an. Um eine begriffliche Basis für den späteren Umgang mit den Themen Bildung und Kultur zu haben, ist dieses Kapitel und die Einsicht essentiell, dass jedwede Kultur unter den Bedingungen des Kapitalismus hervorgebracht wird. Eines ist gewiss: „Kulturindustrie ist, heute besonders, eine Grundbedingung von gesellschaftlichem Wissen.“ (STEINERT: 9) Als Protagonisten der Kritischen Theorie möchte ich mich auf Theodor W. Adorno und Max Horkheimer konzentrieren, da meine Arbeit auch nicht in Ansätzen der gesamten Kulturtheorie der Frankfurter Schule mit Herbert Marcuse, Erich Fromm, Leo Löwenthal etc. und den Beiträgen zu Massenliteratur, Triebstruktur und Kultur gerecht werden könnte.

Es soll ein Überblick gegeben werden über medientheoretische Theorien und Thesen, die das heterogene Spektrum der Medienforschung widerspiegeln und darlegen sollen, was auf die medienpädagogischen Vorgaben in Lehrplänen und anderswo heute Einfluss ausübt. Da eine Analyse jeder Medientheorie den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, werde ich versuchen, anhand bedeutender Theoretiker einige Stoßrichtungen aufzeigen.

Resultierend aus eigenen Erfahrungen in verschiedenen Studienseminaren, soll das Kapitel „Thesen zu Medienmanipulation und Medienzensur“ u.a. den besonders in linken Studentenkreisen grassierenden Antiamerikanismus beleuchten und zeigen, dass es sich hierbei nicht bloß um eines von vielen Vorurteilen handelt, sondern dass jener – ähnlich dem Antisemitismus – als gänzlich ideologisierte Weltdeutung dient, die meistens mit einem Gestus der reflektierten Kritik und moralischen Gerechtigkeit vorgetragen wird. Dass die Rede von einer „Amerikanisierung“ in vielen Fällen wenig über die damit beschriebenen Verhältnisse aussagt, viel aber über die, die diese Deskription verwenden, soll dieser Abschnitt ebenso deutlich machen, wie den Unterschied zwischen Alltags-Medienverdammung und Medienkritik.

Neben der Analyse der Medientheorien darf die Frage, warum sich eine Beschäftigung damit lohnt, nicht zu kurz kommen: nämlich die Frage nach der aktiv handelnden Pädagogik, die versucht, mit der Vermittlung von Bildung auf den Menschen einzuwirken. In diesem Zusammenhang kann nur auf die Banalität hingewiesen werden, dass Bildung mehr ist als schulisches Wissen oder Kompetenzvermittlung und dass informelle Bildung gerade nicht in staatlich beaufsichtigten Räumen wie der Schule vermittelt werden kann. Wie es um Bildung steht und was damit erreicht werden soll, wird das Kapitel über den Begriff der „Medienbildung“ klären.

Dass ernstzunehmende Erziehung nur vor dem Hintergrund des Rückfalls der Moderne in die Barbarei zu denken ist, streicht die Kritische Theorie heraus. Der Kunst, aber auch der Theorie fehlen die Begriffe, sich angemessen mit der Massenvernichtung im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, ohne diese zu schmälern und zu verharmlosen. Die Ideen von Menschlichkeit und Individualität sind in der Praxis der Vernichtungsfabriken von Auschwitz gleichsam mit vernichtet worden. Daher ist es notwendig, sich die Dimensionen der Vernichtungslager zu vergegenwärtigen, um dem näher zu kommen, was Adorno unter einer „Erziehung nach Auschwitz“ versteht. Dieser Aufsatz ist ein Appell zur fundamentalen Selbstreflexion der Erziehungswissenschaft und beschreibt die desperate und die jeglicher Gewissheit beraubte Situation einer Erziehung nach Auschwitz. Nur über eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand kann sich das „Moment der kritischen Distanz gegenüber gesellschaftlichen Zwängen“ (KONNEFKE a: 11), was den Charakter der Mündigkeit ausmacht, konkretisieren. So vermag Pädagogik, ohne in reinen Erziehungsoptimismus auszubrechen, ihre Rolle als Geburtshelferin selbstbestimmt und autonom handelnder Wesen sinnhaft wie emanzipatorisch zu erfüllen.

Pädagogik ist prozessuale Sicherung des „Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) und beginnt in ihrem selbstreflexiven Sinne mit dem Zeitalter der Aufklärung. Die Konstitution der Pädagogik erfolgt von ihrem Kern her, der Bildung.

Für die kritische Bildungstheorie steht nicht das Pro und Contra der pädagogischen Autonomie im Vordergrund, sondern ihr widersprüchlicher Charakter. Autonomie in der Pädagogik wird also weder gefeiert noch negiert, sondern als prinzipieller Auftrag der Gesellschaftskritik innerhalb der bürgerlichen Pädagogik erkannt. Ihre Neubestimmung des Begriffs der Bildung, den sie notwendig als Inbegriff der Kritik fasst, stellt die Kritische Bildungstheorie ins Zentrum ihrer Pädagogik und grenzt ihn gegen eine geistlose Verdünnung als Allerweltsbegriff in Sachen Lernen und Vermittlung ab. Ebenso stehen sie der Ablehnung und Bekämpfung des Bildungsbegriffs von Seiten der emanzipatorischen Erziehungs­wissenschaft kritisch gegenüber. Die Kritische Bildungstheorie ist innerhalb der pädagogischen Theorien ziemlich in Vergessenheit geraten. Will die Pädagogik ihre Aufgabe und Funktion in der sich verändernden Gesellschaft und innerhalb von kulturellen Kontexten besser begreifen, ist es an ihr, die Auseinandersetzung mit ihr wieder aufzunehmen.

Mit der von mir intendierten Begriffswahl der „ideologiekritischen Medienbildung“ stellt sich die Frage nach dem Deutungskontext in Abgrenzung zur Medienkompetenz, der bereits weitgehend systematisch aufgearbeitet ist und in diesem Feld generelle Verwendung findet. Der von mir eingenommene Fokus auf die Bildung als informellem und selbstreflexivem Lernprozess von Mündigkeit und Autonomie verlangt eine Akzentuierung der Aneignungsprozesse, hier der einer „Bildung durch Medien“. Medienbildung bezeichnet daher nicht eine Form der Medienrezeption, sondern die Art und Weise, wie der Mensch mit dem medienvermittelten Gegenstand umgeht. Medienbildung geht also erweiternd und ergänzend über das „Bilden für Medien“, die Medienkompetenz, hinaus.

Durch neue Software und schnellere Internetanschlüsse treten an Stelle von bisher nur konsumierbaren Textinformationen echte Kommunikation, Vernetzung und interpersonale Multimedialität. Das Web 2.0, wie diese aktuelle Variante des Internet bezeichnet wird, könnte als Schlagwort der letzten Jahre gelten, wenn es um die neuen Formen des interaktiven und selbstdarstellerischen Internetgebrauchs geht. Es kristallisieren sich verschiedene Fragen heraus, die sich vielleicht folgendermaßen zusammenfassen lassen: Ist das Web 2.0 eine neue technische Version des Internet oder ist es zu mehr fähig? Ohne in blinden Fortschrittsoptimismus auszubrechen, lässt sich sicherlich sagen, dass die Möglichkeiten des eigenen Eingreifens und aktiven Gestaltens in den Sphären des World Wide Web zugenommen haben. Als Informationsplattform für den öffentlichen Diskurs verlieren die klassischen Medien ihre Frontstellung und müssen sich mit den neuen intermedialen Errungenschaften der Informationsverarbeitung und Informationsweitergabe auseinandersetzen. Doch nicht nur in der politischen Öffentlichkeit, sondern auch im persönlichen Alltag ermächtigt das Web 2.0 seine Nutzer zunehmend und bietet neue interaktive Formen der Kommunikation. Das breitere Streuen und das Zusammenfinden von Minderheitenmeinungen und die Teilnahme an „social networking“ - Portalen lässt die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem dabei oft verschwinden. Der Trend geht hin zur autonomen Beseitigung des Persönlichkeits- und Datenschutzes. Daher kommt eine Arbeit zum Thema Medienbildung nicht umhin, auf die Diskussion zur aktuellen Weiterentwicklung im Internetbereich einzugehen. Dies geschieht in dem Kapitel „Modern Times – Das Web 2.0“.

Die folgende Arbeit ist ihrem Anspruch nach, soweit möglich, kritisch-reflexiv, das heißt prüfend-analysierend und vertritt dezidiert einen nicht rein beobachtenden Standpunkt, sondern einen, der sich an Aufklärung und technischem wie gesellschaft­lich zu erringendem Fortschritt orientiert. Es soll weniger um eine detailverliebte Aufarbeitung und Beschreibung älterer und aktueller Herangehensweisen und Theorien gehen, sondern viel mehr darum, zu verfolgende Akzente in einem schwierig einzugrenzenden und ständig in Veränderung befindlichen Feld zu setzen.

2. Die Medien – Eine Hinführung

„Who says what in which channel to whom with what effect?”

(Harold D. Lasswell)

Das Feld medienwissenschaftlicher Diskurse ist weit und eine einheitliche Definition des Medienbegriffs scheint, auch aufgrund des steten Wandels in diesem Bereich, kaum möglich. Um die Funktion und Entwicklung von Medien im Interaktionssystem zwischen Menschen bzw. innerhalb von Gesellschaften zu erklären gibt es Definitionsversuche in Form verschiedener Medientheorien (vgl. HOFFMANN: 84). Es bestehen dabei zahlreiche Theorien, die mit unterschiedlichen Definitionen des Begriffs Medium verfahren und in Inhalt, Analyse und Schwerpunktsetzung differieren.

Im philosophischen Kontext, so etwa bei Hegel, bezeichnet der Begriff des Mediums alles Vermittelnde ohne einen direkten Bezug zur Kommunikation oder Technik. Sören Kierkegaard, dänischer Philosoph und Theologe, geht über den philosophischen Terminus hinaus, indem er einen Zusammenhang von Medium und Kommunikation bzw. eine Kopplung der Medien an eine bestimmte materielle Basis annimmt. Lange Zeit blieb das Kunstsystem das zentrale Analyseinstrument auch technischer Medien wie Film, Fotografie und Radio und diente als zentraler Bezugs- und Ordnungsfaktor. Auch Walter Benjamin operierte 1936 in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ noch mit dem Begriff der Kunst und nicht mit dem von Kierkegaard in Ansätzen entworfenen Medienbegriff (vgl. LESCHKE: 12 ff.).

In einer historischen Konstellation kann man vier verschiedene Gruppen von Medien unterscheiden:

Tabelle 1:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei aller Heterogenität lassen sich die Gemeinsamkeiten zweier Medienbegriffe festhalten. Die eine Seite definiert Medien als Vermittler von Kommunikation; im historischen Zeitverlauf betrachtet vom Alphabet über den Buchdruck bis zum Computer. Dies umfasst die Übertragung und die Speicherung von Informationen. Dieser Definition des Medienbegriffs nahe stehende Theoretiker sind unter Anderen Vilém Flusser, Neil Postman, Friedrich Kittler sowie die Schrifttheoretiker Deleuze und Kerckhove. Die andere Seite begreift das Medium generell als Technik – vom Rad über die Dampfmaschine bis zur Videokamera – und setzt es ins Verhältnis zum menschlichen Körper. Diese eher anthropologische Bestimmung, die von Theoretikern wie McLuhan und Paul Virilio geprägt wird, begreift Medien als Erweiterung oder Ersatz von Körperteilen und Körperfunktionen, die ihrerseits auf den Körper zurückwirken. Mehr dazu in den jeweiligen Abschnitten zu den Theoretikern. Beide Richtungen kommen darin überein, in Medien technische Artefakte zu sehen, welche die Wirklichkeit auf eine bestimmte Weise erfahrbar machen.

Werner Sesnik beklagt die Uneinheitlichkeit bei einer Definition des Wortes Medien und stellt eine große Konfusion fest, wenn es darum geht mehr zu leisten als die Darbietung selektiver Textfragmente, modisch verkürzter Positionsbestimmungen und „scheppernder Worthülsen“ (vgl. SESNIK a: 19). Eine Definition des „Mediums“ im Sinne einer komplexen Medientheorie gibt es nach Sesnik in den Medienwissenschaften noch nicht. Er versucht dieser aber nahe zu kommen, in dem er die prägnante Formulierung vorgibt:

„Ein Medium ist ein institutionalisiertes System um einen organisierten Kommunikationskanal von spezifischem Leistungsvermögen mit gesellschaftlicher Dominanz.“ (SESNIK a: 26)

Dieter Prokop spricht Bezug nehmend auf die heutige Form des Mediensystems, das aus supranationalen Konzernen besteht, von „Medien-Kapitalismus“, da der Zweck dieser Medienkonzerne die Vermehrung von Profit ist (vgl. PROKOP c: 11).

2.1 Walter Benjamin und Bertolt Brecht

Die Einführung und Popularisierung neuer Medien und die erweiterten Möglichkeiten der Telekommunikation wurden oftmals mit der Hoffnung verknüpft, durch Partizipation des Einzelnen aus der Massengesellschaft heraus, zu einer aufgeklärten und demokratischeren Gesellschaft beizutragen. Bereits in den zwanziger Jahren untersuchte die Kritische Theorie die Beziehungen zwischen den (damals noch neuen) Medien und Formen aktiver politischer Partizipation durch direkte Demokratie. Grundlegend hierfür waren das Werk Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, das 1936 eine historische Bestandsaufnahme der Kunst in der Moderne lieferte, sowie Bertolt Brechts Aufsätze seiner „Radiotheorie“ (1927-1932), die besonders in den siebziger Jahren wieder eine breite Resonanz erfahren haben. Auch wenn die Prognosen – aus heutiger Sicht möglicherweise utopische Erwartungen Brechts und Benjamins – wie zum Beispiel eine Partizipation der Massen an gesellschaftlichen Veränderungen, nicht so evident sind, um damit eine auf die heutigen Verhältnisse zutreffende Medientheorie zu füllen, gibt es doch einige wichtige Punkte, die eine genauere Betrachtung sinnvoll machen.

Beispielweise sollte die Idee der Teilnahme des Individuums an gesellschaftlicher Fortentwicklung weiter gedacht werden, um zu sehen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Einschränkungen dies möglich sein könnte. Benjamin hält an den Möglichkeiten der Medien fest: ,,So gibt zum Beispiel die Wochenschau jedem eine Chance, vom Passanten zum Filmstatisten aufzusteigen. […] Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden.'' (BENJAMIN: 32) In der Analyse schriftbezogener Medien spricht Benjamin von einem langsamen Prozess einer wachsenden materiellen Verfügbarkeit, in dessen Konsequenz die Verbreitung verschiedener ideologischer Schriftstücke denkbar und möglich wird. Aus den vormals nur passiv Lesenden werden die aktiv Schreibenden und autonom Gestaltenden:

„Es begann damit, daß die Tagespresse ihnen ihren Briefkasten eröffnete, und es liegt heute so, daß es kaum einen im Arbeitsprozeß stehenden Europäer gibt, der nicht grundsätzlich irgendwo Gelegenheit zur Publikation einer Arbeitserfahrung, einer Beschwerde, einer Reportage oder dergleichen finden könnte.'' (BENJAMIN: 32)

Zu fragen bliebe aber, ob diese abstrakte „Gelegenheit zur Publikation“ einer Einflussnahme gleich kommt oder an weitere Bedingungen, u.a. zur gesellschaftlichen Machterhaltung, geknüpft ist.

Eine Plattform dezentraler und individueller Kommunikation ist das Internet, das ohne Selektions- und Redigierzwänge auskommt und einen nahezu weltweiten Verbreitungsgrad erreicht hat. So wird es, laut Giessen, grundsätzlich einem demokratischen und egalitären Anspruch gerecht und kann tendenziell das Prinzip der „Teilnahme“ erreichen (GIESSEN: 6). Als Beispiel seien hier die Sphäre des Weblogs und neue Formen der Selbstdarstellung über „Social Networking Sites“ genannt, die neben der theoretischen Möglichkeit der Veröffentlichung eigener Ideen und Gedanken tatsächlich auf einen erheblichen Kreis von Lesern und Interessenten stoßen. Mehr dazu in dem Kapitel: „Modern Times – Das Web 2.0“.

Mit den modernen Reproduktionstechnologien wie dem Film habe sich das Kunstwerk von seinem an Tradition und Ritual gefesselten Kultwert emanzipiert. Durch die Möglichkeit der massenhaften Reproduktion, so bleibt Benjamin resümierend festzuhalten, verliert das Kunstwerk seine Einzigartigkeit und seine Aura (vgl. SCHÖTTKER: 157 ff.). Dies bildet die Voraussetzung für die massenhafte Verbreitung und für den emanzipatorischen Einsatz der neuen medialen Technologien.

Benjamin und Brecht setzen beide in ähnlicher Weise am Potential der Medientechnologie an, gehen aber in ihren unterschiedlichen Auffassungen zu den Massenmedien auseinander (vgl. SCHÖTTKER: 111, 124, 127).

Nach Brecht könnte der Rundfunk als ein Medium des Austauschs fruchtbar gemacht werden, was durch die herrschende Gesellschaftsordnung jedoch blockiert wird. In ähnlicher Weise funktionieren heute die so genannten „Freien Radios“ oder „Öffentlichen Kanäle“.

„Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.“ (BRECHT:129)

Brecht setzt dem Einsatz des Rundfunks als Distributionsapparat die Hoffnung entgegen, dass er den „Hörer als Lieferanten organisieren könnte“ (ebd.) und hat einen revolutionären Kern in seiner Radiotheorie, als implizite Forderung an eine Gesellschaft, die erst noch entstehen muss:

„Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bleiben der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung.“ (Zitat nach WIMMER: 169. Hervorhebung im Original)

Brecht und – wie im Folgenden zu sehen sein wird – Hans Magnus Enzensberger fordern gleichermaßen, als Weg zur Umstrukturierung von Öffentlichkeit und Medienstruktur, die Massenmedien von ihrer einseitigen Ausstrahlung zu lösen und sie den Massen als Produktionsmittel zugänglich zu machen.

Betrachtet man den Zeitpunkt der Erscheinung von Brechts Radiotheorie, nämlich unmittelbar vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, gewinnt die Theorie in Form ihres von statten gegangenen Gegenteils an Bedeutung. So verstanden es die Nationalsozialisten, den Rundfunk der totalen Einseitigkeit zuzuführen und keinerlei Kommunikationsvielfalt mehr zuzulassen. Für den österreichischen Sozialphilosophen Günther Anders ist die nazistische Propaganda und der Massenerfolg Hitlers bei den Deutschen eng mit der Verbreitung der neuen Medien verbunden: „Faschismus und Rundfunk sind Korrelate.“ (ANDERS b: 88)

Anders, der 1956 mit seinem kultur- und technikkritischen Essay „Die Welt als Phantom und Matrize“ eine Debatte über den Stellenwert von Funk und Fernsehen initiierte und die These formulierte, die Technik sei zum eigentlichen „Subjekt der Geschichte geworden“ (ANDERS b:9), geht davon aus, dass die zunehmende Herrschaft der Technik den Menschen so zentral dominiere, dass Erfahrung und Verhalten durch die Massenmedien massiv geprägt werden und die mediale Welt die gesamte Wahrnehmung des modernen Menschen beeinflusst, also „daß das Wirkliche zum Abbild seiner Bilder wird.“ (ANDERS a: 179) Ähnlich formuliert es auch Pierre Bourdieu, wenn er „Über das Fernsehen“ (1998) sagt:

„Das Fernsehen, das die Wirklichkeit wiederzugeben behauptet, wurde ein Instrument zur Schaffung von Wirklichkeit; aus dem Be-schreiben der sozialen Welt durch das Fernsehen wird ein Vor-schreiben. Das Fernsehen entscheidet zunehmend darüber, wer und was sozial und politisch existiert.“ (BOURDIEU: 28)

2.2 Hans Magnus Enzensberger

Die Kritik der Neuen Linken an den Medien findet ihr Paradigma in dem 1970 erschienenen „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ von Hans-Magnus Enzensberger. Hierin wittert dieser eine durch die Medien mögliche Kulturrevolution, wenn man diese nur der kapitalistischen Industrie entrisse und sie den abhängigen, organisierten Massen zur Ver­fügung stellte. Er unterlegt seiner Medien­auffassung das marxsche Schema vom Wider­spruch der Produktions­kräfte gegen die Produktions­verhältnisse. Die An­wendung der Medien unter kapitalistischen Voraussetzungen verhindert die revolutionäre Potenz der Kommunikation und Distribution und unterdrückt die Massen, indem sie die Sender monopolisiert und die Massen zu bloßen Empfängern degradiert. Indem jedoch die Massen, die bereits im Besitz der entsprechenden technischen Mittel sind, das Sendemonopol brechen, um von der Isolation zur Kommunikation zu schreiten, besteht die Möglichkeit zum herrschaftsfreien Diskurs (vgl. ISF b: 2). Enzensberger kennzeichnet die Mediensysteme, im Unterschied zu dem mit dem Terminus „Kulturindustrie“ der Kritischen Theorie hervorgehobenen kapitalistisch organisierten Produktions­zusammenhang, als „Bewusstseins-Industrie“ und will die Einseitigkeit der Medienkommunikation aufheben:

„Das offene Geheimnis der elektronischen Medien, das entscheidende politische Moment, das bis heute unterdrückt oder verstümmelt auf seine Stunde wartet, ist ihre mobilisierende Kraft. […] Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozeß möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden. Ein solcher Gebrauch brächte die Kommunikationsmedien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst. In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film nämlich nicht der Kommunikation sondern ihrer Verhinderung. […] Die Entwicklung vom bloßen Distributions- zum Kommunikationsmedium ist kein technisches Problem. Sie wird bewusst verhindert, aus […] politischen Gründen. Die technische Differenzierung von Sender und Empfänger spiegelt die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Produzenten und Konsumenten wider, die in der Bewusstseins-Industrie eine besondere politische Zuspitzung erfährt. Sie beruht letzten Endes auf dem Grundwiderspruch zwischen herrschenden und beherrschten Klassen.“ (ENZENSBERGER: 98-99)

Enzensberger sieht wie Brecht in der richtigen Nutzung der Kommunikationsmedien und im demokratischen Austausch die Möglichkeit, eine Gesellschaft so zu verändern, dass das Medium revolutionäre Veränderungen herbeiführen kann. Die Trennung in Sender und Empfänger sei nicht von der Technik diktiert, sondern spiegele die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Produzenten und Konsumenten wider. Er unterscheidet zwischen repressivem (aktuellem, kapitalistischem) und dem möglichen emanzipatorischem (utopisch-sozialistischem) Mediengebrauch, wie die Tabelle veranschaulicht:

Tabelle 2:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.3 Vilém Flusser

„Will man den Apparaten auf die Schliche kommen, muss man versuchen, ihre sture Absurdität gegen sie selbst auszuspielen, das heißt aus dem allgemeinen Rhythmus auszubrechen – unter der Gefahr, zentrifugal ins Nichts geschleudert zu werden.“

(Vilém Flusser)

Für den Medienphilosophen Vilém Flusser, der wie McLuhan die Medien als zentralen Bestandteil von Kultur bestimmt, macht es keinen Unterschied, wer nun die Macht über die Medien besitzt, ob dies emanzipatorische oder systemerhaltende Kräfte sind. Jede Gesellschaft sei geprägt vom Zusammenspiel zweier Kommunikationsformen. Auf der einen Seite stehen die zentralen Sender, die die Empfänger mit den von ihnen transportierten Informationen manipulieren. Flusser benutzt hier den Ausdruck der „faschistischen Schaltung“, „weil diese Schaltung bündelweise (lat.: fasces: Bündel, Anm. d. Verf.) vor sich geht.“ (FLUSSER: 37) Die andere Kommunikationsform ist Flussers Konstruktion der „telematischen Gesellschaft“, die sog. „Telematik“. Er spricht hier von dialogisch geschalteten Kabeln, die den Kommunkationssubjekten erlauben, zugleich zu empfangen und zu senden. Nur so würde eine direkte Demokratie, ohne gewählte Vertreter möglich werden (vgl.FLUSSER:37f.).

Um sein Leben mit Sinn ausfüllen zu können, muss der Mensch kommunizieren. Sinn und Welterschließung erschließen sich nach Flusser über Kommunikation, die in Codes ver- und entschlüsselt wird. Mit dem aufkommen von „Technobildern“, wie Flusser von Apparaten hergestellte Bilder (Fotos, Filme, Videos, etc.) bezeichnet, habe dieser Code eine neue Qualität erreicht, was das Potential zur Freiheit, aber auch zur totalitären Herrschaft verschärfe (vgl. BIDLO: 139 f.).

2.4 Marshall McLuhan

„My work is designed for the pragmatic purpose of trying to understand our technological environment and its psychic and social consequences.”

(Marshall McLuhan)

Im Gegensatz zu den marxistisch inspirierten Theoretikern steht der amerikanische Herbert Marshall McLuhan für eine sehr affirmative Rezeption der Medien, was ihn von der üblichen kulturkritischen Haltung der fünfziger und sechziger Jahre abhebt. Die schnelle Technisierung weiter Teile des Alltagslebens wertet er durchweg positiv:

„Niemand will ein Auto, bevor es Autos gibt, und niemand interessiert sich für das Fernsehen, bevor es Fernsehprogramme gibt. Diese Macht der Technik, ihre Eigengesetzlichkeit der Nachfrage zu schaffen, ist nicht unabhängig von der Tatsache, daß Techniken zuerst Ausweitungen unserer Körper und Sinne sind. Wenn wir unseres Gesichtssinns beraubt werden, übernehmen die anderen Sinne zu einem gewissen Grad das Sehen. Aber das Bedürfnis, die verfügbaren Sinne zu gebrauchen, ist so stark wie das Atmen – ein Umstand, der für das Verlangen, Radio und Fernsehapparat dauernd eingeschaltet zu haben, eine sinnvolle Erklärung gibt. Der Drang nach dauernder Verwendung ist ganz unabhängig vom ‚Inhalt’ des öffentlichen Programms oder vom persönlichen Sinnesleben, was beweist, daß die Technik ein Teil unseres Körpers ist.“ (MCLUHAN: 79)

McLuhan stellt hier die Technik als Teil bzw. Organ des Menschen dar, die eine Chance zu Erweiterung der sinnlichen Wahrnehmung bietet.

„[D]ie elektrische Geschwindigkeit, die [...] von der westlichen Technik aus bis in die entlegensten Gebiete [...] hinein wirken [...]“ überschwemmen die „Eingeborenen mit einer Flut von Begriffen [...], auf die sie in keiner Weise vorbereitet sind. [...] Aber mit den elektrischen Medien erlebt der westliche Mensch dieselbe Überflutung wie der ferne Eingeborene. Wir sind in unserem alphabetischen Milieu nicht besser auf eine Begegnung mit dem Radio oder Fernsehen vorbereitet, als der Eingeborene von Ghana fähig ist, mit dem Alphabetentum fertig zu werden, das ihn aus der Welt der Stammesgemeinschaft herausreißt und in der Absonderung des Einzelmenschen stranden läßt. Wir sind in unserer neuen elektrischen Welt befangen, wie der Eingeborene in unserer alphabetischen und mechanisierten Welt verstrickt ist.“ (MCLUHAN: 22 f.)

Die Alphabetisierung wird abgelöst durch ganz neue Formen des In-der-Welt-Seins. Dieser Zustand ist für McLuhan von enormer Bedeutung und lässt die Frage, welche Inhalte transportiert werden, in den Hintergrund treten. So kommt es zu seinem viel zitierten und berühmten Satz: „The medium is the message“[ii], mit dem er aussagen will, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was gesendet wird, sondern darauf, dass es gesendet wird. Der Programminhalt der Sendungen ist ihm gleichgültig, die Hauptsache ist, es wird gesendet und rezipiert. Ebenso wie Niklas Luhmann begreift McLuhan das Medium nicht als intervenierende, sondern als eine umfassende, einhüllende Instanz, in der Menschen sich verhalten. Das Medium, als gestalterischer Raum aller menschlichen Lebensmöglichkeiten, dient als Basis, Plattform und Rahmen für etwas, das nur durch selbige möglich wird (SESNIK b: 15).

Dieter Baacke bescheinigt dem Denken McLuhans in vielen Bereichen Progressivität (vgl. BAACKE b: 47 ff.) und fasst die Melange seines Denkens so zusammen:

„Es war ohne Zweifel diese Mischung aus Übertreibungen, vernünftigen Teileinsichten, Kapitalismus beständigem Modernismus und sozialer Gleichheitsverheißung, das McLuhan so wirksam werden ließ. Er wurde bald sein eigenes Medium: die Botschaft war er.“ (BAACKE b: 49)

McLuhan beschreibt als einen Effekt von elektronischen Medien die Konstitution eines „global village“, einer Welt, die wie ein Dorf zusammenwächst. Damit meint er, dass die Art, wie Beziehungen sich über elektrische Medien organisieren, mit jener Art von Beziehungen vergleichbar ist, mit der Menschen in einem Stammesdorf – gekennzeichnet durch Anteilnahme, Engagement und Partizipation – zusammenleben. Individualismus und Nationalismus, Erscheinungen, die McLuhan der Buchdruckkultur zurechnet, verschwänden. Die Anhänger McLuhans sehen seine Prognosen als bestätigt an, denn durch das Internet, das er, da er 1980 starb, nicht mehr miterleben konnte, scheinen zumindest virtuell, Zeit und Raum aufgehoben zu sein, was sich in einem globalen Bewusstseinswandel ausdrücke (vgl. BEHRENS c: 8).

In Deutschland stieß das Werk McLuhans im Gegensatz zum englischsprachigen Raum durch die einflussreichen linken Vertreter der Medientheorie, allen voran Hans Magnus Enzensberger, auf vehemente Kritik. Enzensberger wirft ihm eine Unfähigkeit zu jeder Theoriebildung vor und kritisiert mangelndes politisches Bewusstsein über die Zusammenhänge im Kapitalismus (vgl. KLOOCK/SPAHR: 40). Werner Sesnik bescheinigt McLuhan griffig klingende Aussagen, insgesamt erkennt er in seinem Werk aber eine Unfähigkeit zu einer „präzisen, kritisch-rationalen und möglichst eindeutigen Sprache, zu logisch-diskursivem Denken und der Bereitschaft, wirklichkeitsbezogen [...] zu argumentieren.“ (SESNIK a: 22)

2.5 Paul Virilio und Neil Postman

Einen entgegengesetzten Ansatz in der Theorie findet man bei Neil Postman und Paul Virilio. Diese sehen die Medien nicht per se als positive Entwicklung der Menschheit, sondern beklagen eine „technische Kolonialisierung“. Postmans Verdienst ist es vor allem, die Thesen der Medienwissenschaften durch sein Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“ populär gemacht zu haben. Er schließt sich McLuhans These an, dass es nicht die Inhalte sind, die die Wirkung eines Mediums ausmachen, sondern dass seine Form eine bestimmte Wahrnehmung fordert. Seine Hauptthese besagt, dass die elektronischen Medien langsam immer mehr den von der Gesellschaft geschaffenen Schutzraum zerstören und alle Geheimnisse der Erwachsenenwelt offenbaren, die vorher den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern ausmachten (vgl. BAACKE: 77 f.). Postman hält daher das Buch für ein ideales Medium, da man sich, um die Schrift lesen und verstehen zu können, dafür erst qualifizieren muss und Kinder somit vor Gefährdungen geschützt werden:

„Kinder müssen die Erwachsenheit erwerben, indem sie sich sowohl Lesen als auch Schreiben als auch Manieren aneignen. In einer Informationsumwelt aber, in der die Literalität als Metapher für die menschliche Entwicklung nichts mehr taugt, müssen auch die Anstandsformen an Bedeutung verlieren. Die neuen Medien bewirken, daß die Unterschiede zwischen den verschiedenen Altersgruppen überflüssig erscheinen, und arbeiten insofern der Idee einer differenzierten Sozialordnung entgegen.“ (POSTMAN: 105)

Paul Virilio ist französischer Medienkritiker, Simulations- und Geschwindigkeitskritiker und selbsternannter Dromologe (griech., dromos: Laufen, Wettlaufen). Durch die modernen Kommunikationsmittel sind Bilder für ihn das bestimmende Medium unserer Wirklichkeit.

Die Medien unterstehen generell einer Logik der Geschwindigkeit und sind damit ein Mittel der Macht. Die Fusion von Macht und Geschwindigkeit bezeichnet Virilio als Dromokratie.

Entwicklungsgeschichtlich betrachtet unterscheidet Virilio vier Phasen (vgl. LAGAAY: 152) der Ge­schwindigkeit. Nach der prä­historischen Nutzung von Tier- und Natur­geschwindigkeit, wie z.B. eines Esels oder Segelschiffs, kommt es im 19. und 20. Jahrhundert zur ersten „dromologischen Revolution“ durch die Herstellung von technologischen Geschwindigkeiten. Nach Bahn, Auto und Flugzeug sieht Virilio im Zeitalter der elektronischen Kommunikationsmedien die zweite Revolution gekommen, die sich durch Telefon, Fernsehen und Internet auszeichnet. Mit der Eroberung des menschlichen Körpers durch Maschinen ist Virilio zufolge die dritte und letzte Revolutionsstufe erreicht. Der menschliche Körper und seine Psyche werden in Zukunft zunehmend von technologischen Eingriffen manipuliert. Diese mögliche bioindustrielle Kolonialisierung des Körpers durch mikro-chirurgische Eingriffe lässt Virilio befürchten, das die Möglichkeit von Kritik und Widerstand gegen die Tyrannei der Technologie obsolet wird, was einem Ende der Philosophie gleichkäme (vgl. LAGAAY: 162 f.).

2.6 Jean Baudrillard

In seinem Aufsatz „Requiem für die Medien“ von 1972, der als zentraler Text seiner Medientheorie gilt, stellt Baudrillard zu Beginn fest, dass es keine Medientheorie gebe und insbesondere die marxistischen Theorien hinfällig seien:

„Es gibt keine Medientheorie. Die „Medienrevolution“ ist bislang, sowohl bei McLuhan als auch bei denjenigen, die gegen ihn Partei ergreifen, empiristisch und mystisch geblieben Mit der Brutalität eines texanischen Kanadiers hat McLuhan behauptet, die Theorie Marxens [...] sei schon zu dessen Lebzeiten durch das Auftreten des Telegraphen umgewälzt worden. In der ihm eigenen Einfalt will McLuhan damit zu verstehen geben, Marx habe mit seiner materialistischen Analyse der Produktion gleichsam nur einen beschränkten Bereich von Produktivkräften umschrieben, aus dem die Sprache, die Zeichen und die Kommunikation ausgespart blieben. In Wahrheit gibt es bei Marx nicht einmal eine Theorie der Eisenbahn als „Medium [...]“ (BAUDRILLARD: 83)

Der Pariser Soziologe, der sich von marxistisch inspirierten Medientheorien, wie von Brecht und Enzensberger vorgetragen, abgrenzen möchte, kritisiert zu Recht den oft auf die Arbeiterklasse fixierten Marxismus-Leninismus in seiner Vorstellung der klassischen Trennung von Basis und Überbau und konstatiert einen blinden und „nostalgische[n] Idealismus für alles, was von der Basis kommt“ (BAUDRILLARD: 87). Indem er davon ausgeht, Medien könnten nicht kritisch gewendet werden, bemüht sich Jean Baudrillard um eine eigene Standortbestimmung. Bereits die einseitige, technische Ausrichtung der Medien unterbinde die Kommunikation und diese seien daher unweigerlich ein Instrument der Macht. Etwas veranschaulichender dazu Böckelmann:

„Im Gegensatz zur interpersonalen Kommunikation […], für die ein virtuell ständiger Positionswechsel von Sender und Empfänger charakteristisch ist, fungieren die ‚Partner’ der Massenkommunikation in einer bestimmten Situation entweder ausschließlich als Kommunikatoren oder ausschließlich als Rezipienten. Ein technisch-organisaorischer Apparat als Übermittler sinnhafter Gehalte unterbricht und ersetzt den persönlichen Kontakt.“ (BÖCKELMANN: 35)

Für Baudrillard als einem der prägnantesten Vertreter der postmodernen Theoriebildung geht es in seiner Analyse der Medien nicht um klassische Ideologiekritik, sondern um eine spezifische Form-Analyse. Für ihn sind Medien nicht nur „Vehikel eines Inhalts“; vielmehr ist schon ihre Form und Operation selbst ein gesellschaftliches Verhältnis, „ein System der sozialen Kontrolle und der Macht.“ (BAUDRILLARD: 91)

Die Form der „Hyper-realität“ oder „Neo-realität“ verdrängt das Reale und die wirkliche Welt, die zu einer Scheinwelt, einem „Simulakrum“ geworden ist. Die Simulation eröffnet ein „politisches Universum, in dem alle Hypothesen zugleich umkehrbar und wahr (oder falsch) sind. [...] Das ist wie das Hyperreale: weder schön noch häßlich - sondern das Reale, plus dem Realen, plus dem Bild des Realen, usw.“ (BAUDRILLARD: 45) An die Stelle von konkreter Realität treten in Baudrillards Denken Zeichenwelten oder Simulationen, die über keinen Referenten mehr verfügen, sondern nur noch mit anderen Simulationen interagieren, die den Zugang zur unmittelbaren und sinnlichen Wahrnehmung der Welt verschüttet haben (vgl. BLASK: 23). Diese Sicht auf die Realität hat ihn dazu bewogen, die bekannte Feststellung zu treffen, der Golfkrieg 1991 habe nicht stattgefunden.

Christof Windgätter bezeichnet Baudrillard als „Medien-Fundamentalisten“, denn dieser halte die Erfindung und Verbreitung der Medien für den Grund unserer Realität und deren Theoretisierung als Medienanalyse für eine notwenige Analyse der Realität (vgl. WINDGÄTTTER: 143).

Im Gegensatz zu den Theorien der Emanzipation der Medien durch eine Wandlung von Distributions- in Kommunikationsapparate, geht Baudrillard davon aus, dass im Begriff des Mediums selbst die Unmöglichkeit der Wandlung angelegt sei. Denn:

„[D]ie Medien sind dasjenige, welche die Antwort für immer untersagt, das, was jeden Tauschprozeß verunmöglicht (es sei denn in Form der Simulation eine Antwort, die selbst in den Sendeprozeß integriert ist, was an der Einseitigkeit der Kommunikation nicht ändert) [...] [I]n dieser Abstraktheit gründet das System der sozialen Kontrolle und der Macht.“ (BAUDRILLARD: 91)

Baudrillard resümiert, die Medien könnten nicht emanzipatorisch ent- oder ver-wendet werden und seien daher zu zerstören. Stattdessen müsse der Medienbegriff selbst verschwinden und durch eine Vorstellung radikaler Unmittelbarkeit ersetzt werden (vgl. MARCHART: 52):

„Es ist also eine strategische Illusion, an eine kritische Ver-Wendung der Medien zu glauben. Eine derartige Rede ist heute nur durch Destruktion der Medien als solcher möglich, durch ihre Dekonstruktion als System der Nicht-Kommunikation. Dies schließt nicht Liquidation ein, ebensowenig wie die radikale Kritik des Diskurses die Negation der Sprache als signifikantes Material impliziert. Doch impliziert es gewiß die Liquidierung ihrer aktuellen funktionalen und technischen Struktur[...] die allenthalben ihre gesellschaftliche Form reflektiert.“ (BAUDRILLARD: 101)

In seiner Polemik „Lacancan und Derridada“ rechnet Klaus Laermann mit dem „beliebten Baudrillardismus“ (Diedrich Diederichsen) ab, dessen oft undurchsichtige Schreibweise er als „Frankolatrie“ bezeichnet, in dem er folgendermaßen pointiert ausführt:

[...]


[1] Der Lesbarkeit halber habe ich mich in meiner Arbeit für die Verwendung der männlichen Schreibweise entschlossen, die geschlechtsneutral gemeint ist.

[ii] Der Titel seines Buches „The medium is the massage“ geht auf einen von ihm als passend empfundenen Druckfehler zurück und führte zu verschiedenen Interpretationsversuchen, indem die ursprünglich intendierte „message“, neben „massage“ auch als „mass-age“ oder „mess-age“ gelesen wurde.

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Medientheoretische Grundlagen der Medienkompetenz. Theoretische Perspektiven einer ideologiekritischen Medienbildung
Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
85
Katalognummer
V131136
ISBN (eBook)
9783640368341
ISBN (Buch)
9783640368600
Dateigröße
750 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ideologiekritik, Kritische Theorie, Kulturindustrie, Medienpädagogik, Medienkompetenz, Medienbildung, Bildungstheorie, Web 2.0, Heydorn, Antiamerikanismus, Kritik des Antisemitismus, Frankfurter Schule, Horkheimer, Adorno, Koneffke, Medienerziehung, Medientheorie, Medienkritik
Arbeit zitieren
Janis Just (Autor:in), 2009, Medientheoretische Grundlagen der Medienkompetenz. Theoretische Perspektiven einer ideologiekritischen Medienbildung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/131136

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