Variierende Textüberlieferung der Nibelungenliedhandschriften B und C

Ein Strophenvergleich an ausgewählten Beispielen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

21 Seiten, Note: 1.7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Textualität
2.1 Textualitätsverständnis der Moderne
2.2 Textualitätsverständnis des Mittelalters

3. Vergleich ausgewählter Nibelungenliedstrophen aus den Handschriften B und C
3.1 Strophenvergleiche aus der 6. – 9. Aventiure: Siegfried vs. Hagen von Tronje
3.2 Strophenvergleiche aus der 31.-33. Aventiure: Kriemhilds Schuld am Tod Ortliebs

4. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

1. Einleitung

Nachdem durch neuere testphilologische Überlegungen Möglichkeiten und Angemessenheit der Rekonstruktion ´autornaher´ Texte zunehmend bezweifelt wird und sich die Einsicht durchsetzt, daß Texte und Textreproduktion in der literarischen Praxis des 13. Jahrhunderts ´unfest´ sind [...][1]

Es ist nicht der Regelfall, dass mittelalterliche Literatur in einer festen Überlieferung vorliegt, auch wenn Heldendichtungen in der Rezeptionspraxis für institutionelle Zwecke (z.B. den Deutschunterricht) aufgrund ihrer Komplexität unter einem beschränkten textkritischen Blickwinkel gelesen werden. Ebenso ist mit dem Nibelungenlied das wohl populärste deutsche Heldenepos in mehrfacher Überlieferung verfügbar. Insoweit muss seine wissenschaftliche Betrachtung als geschlossenes und gebildehaftes Werk mit Vorsicht genossen werden. Diese Asymmetrie wirft viele Fragen auf, von denen die meisten bis heute nicht eindeutig geklärt werden konnten: Gibt es mehrere Autoren, die unterschiedliche Texte verfasst haben, oder lassen sich alle Handschriften auf denselben Autor zurückführen? Sind die buchepischen Verschriftlichungen Auslaufformen mündlicher Vorgängerfassungen? Unterscheiden sich die Fassungen in ihren narrativen Strukturen und erzwingen sie damit unterschiedliche hermeneutische Herangehensweisen?

Letztere soll die Leitfrage dieser Arbeit sein, wobei eine Beschränkung auf die Nibelungenliedhandschriften B und C erforderlich ist, um den Rahmen dieser Analyse nicht zu sprengen.[2] In einem vergleichenden Analyseverfahren sollen die divergierenden narrativen Schemata der Fassungen *B und *C an ausgewählten Aventiure- und Strophenbeispielen herausgearbeitet und ferner ihre unterschiedlichen Konzeptionierungen offengelegt werden.

Zunächst bedarf es jedoch der Klärung, welche Voraussetzungen notwendig sind, um mittelalterliche Texte eingehend studieren zu können, damit auf dieser Grundlage erzähltechnische Textdiskrepanzen zum Vorschein gelangen. Dazu sollen im Folgenden signifikante Unterschiede des modernen und mittelalterlichen Textualitätsverständnis gegenübergestellt werden.

2. Textualität

2.1 Textualitätsverständnis der Moderne

Auf den Laien wirkt mittelalterliche Literatur zumeist schwer verständlich: Handlungsstränge versinken in Kohärenzlosigkeit; die Grenzen zwischen Lyrik und Prosa verschwimmen; der Anfang vieler mittelalterlicher Epen verrät bereits das Ende, und raubt dem Rezipienten jede Lesespannung; abstruse Rituale der Figuren wirken unter einem neuzeitlichen Blickwinkel irrational und die Sprache scheint - trotz neuhochdeutscher Übersetzung - wie aus einer anderen Welt. Die historisch bedingte Fremdheit mittelalterlicher Texte evoziert eine Andersartigkeit, die offenbar durch tiefe Diskrepanzen zum modernen Textualitätsverständnis ausgelöst wird. Doch was und vor allem wie versteht der moderne Rezipient einen Text und warum resultieren daraus Verstehensprobleme beim Lesen mittelalterlicher Literatur?

Handelt es sich bei einem Werbeplakat der örtlichen Supermarktkette mit der zentralen Aufschrift „Sonderangebote!“, um einen Text? Oder ist die bei den Olympischen Sommerspielen 2008 im Fernsehen eingeblendete Mannschaftsaufstellung der brasilianischen Fußballnationalmannschaft der Frauen als Text zu klassifizieren? Wo sind die Grenzen zwischen Text und Nicht-Text? Eine Standarddefinition aus der Linguistik lautet: „Der Terminus ´Text´ bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert.“[3] Karlheinz Stierle stimmt dieser Definition weitergehend zu, betont aber, dass der Rezipient die Verknüpfungen der Sätze als Ausdruck eines Textzusammenhangs verstanden haben muss. Erst aus diesem Sinnzusammenhang folgt das Textverstehen.

Der Zusammenhang des Textes als eine Verknüpfung von Satz zu Satz ist die elementare Vorstellung, die dem Begriff des Textes zugrunde liegt. Der Begriff Text leitet sich her vom lateinischen texere, und das bedeutet weben, verflechten. Seinem ursprünglichen Sinn nach ist der Text also zunächst einmal ein Gewebe oder ein Geflecht. Für das Gewebe ist aber wesentlich das Verwirken der einzelnen Fäden und ihre Verknüpfung. Der Knoten vereint, was zuvor getrennt war.[4]

Darüber hinaus ist es möglich einen Sinnzusammenhang des Textes zu konstruieren, ohne dass die einzelnen Sätze unmittelbar miteinander verknüpft sind: Durch das Auffassen des Textes als Handlung[5]. Handlungen tragen aber erst zum Textverstehen bei, wenn sie einer kulturgesellschaftlichen Akzeptanz gehorchen und der Rezipient sie unter ein allgemein gültiges Handlungsschema subsumieren kann. Infolgedessen heißt Verstehen bei Texten und Handlungen „[...] immer das einzelne, das gerade herausgegriffen wird und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, in einen Kontext zu situieren.“[6] Dabei heißt Kontextualisierung immer auch Hierarchisierung und somit Verortung untergeordneter Bedeutungseinheiten zu den übergeordneten Bedeutungseinheiten innerhalb des Textes.

Nichtsdestotrotz herrscht im derzeitigen germanistischen Wissenschaftsbetrieb kein Konsens über den modernen Textbegriff und seine Merkmale, was unter anderem auf die einzelnen Teilfächer (Linguistik, Literaturwissenschaft, Mediävistik) zurückzuführen ist, die wiederum einen spezifischen Textbegriff proklamieren.

Einen wichtigen Beitrag zum modernen Textverständnis liefert die aus dem Strukturalismus und Russischen Formalismus hervorgegangene Erzähltheorie, welche sich als Grundlagendisziplin der Literaturwissenschaft etablieren konnte und ferner in den Lehrplänen der gymnasialen Oberstufe Einzug hält. Aufgrund ihrer Komplexität soll der Blick auf die Elemente der Handlung einer Erzählung beschränkt bleiben. Zunächst muss jedoch der Unterschied zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen erläutert werden, um das Verhältnis zwischen Erzähler, Autor und Text näher zu bestimmen.

Hierbei kommt dem Realitätscharakter dessen, was erzählt wird eine entscheidende Rolle zu. Der Erzähler kann von realen und erfundenen Vorgängen berichten. Andererseits ist die Redesituation von Bedeutung, nämlich ob im Rahmen einer alltäglichen oder dichterischen Rede erzählt wird. Martinez und Scheffel fassen diesen Sachverhalt wie folgt zusammen: „Erzählungen lassen sich demnach mit Hilfe der Merkmalspaare <real vs. fiktiv> und <dichterisch vs. nichtdichterisch> spezifizieren, so daß vier verschiedene Kombinationen denkbar sind.“[7] Damit einher geht allerdings ein Differenzierungsproblem: Eine Fabel kann demnach als fiktive Erzählung und ein Erfahrungsbericht als reale Erzählung klassifiziert werden. Wie verhält es sich aber in Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“[8] ? Dass es sich hierbei um eine dichterische Erzählung handelt, ist zunächst unumstritten und der historische Ort (Hamburg)[9], in dem ein Großteil der Handlung abläuft, ist ein historisches Faktum. Doch hat die Familie wirklich gegen Ende des 19. Jahrhunderts dort gelebt und hat die Firma Buddenbrook zu jener Zeit, so wie sie vom Erzähler beschrieben wird, wirklich existiert? Martinez und Scheffel postulieren deshalb in enger Anlehnung an Janik:

Faktuale Texte sind Teil einer realen Kommunikation, in der das reale Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sätzen besteht, die von einem realen Leser gelesen und als tatsächliche Behauptungen des Autors verstanden werden. Fiktionale Texte sind ebenfalls Teil der realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Fiktionale Texte sind jedoch komplexer als faktuale, weil sie außer der realen auch noch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation angehören. Die fiktionale Erzählung richtet sich sowohl im imaginären als auch im realen Kontext an einen Leser und stellt daher eine <kommunizierte Kommunikation> dar.

Diesen theoretischen Überlegung folgend ist Thomas Mann als Autor nicht für den Wahrheitsgehalt der Aussagen in einem Werk „Buddenbrooks“ verantwortlich, weil er lediglich einen realen, aber inauthentischten Text produziert. Dem fiktiven Erzähler hingegen sind die Sätze auf einer imaginären Basis als authentisch zuzuschreiben, „[...] jedoch nur im Rahmen einer imaginären Kommunikationssituation.“[10]

Die Handlung eines narrativen Textes ist in Anlehnung an die Erzähltheorie gekennzeichnet durch ihre vier handlungsfunktionalen Elemente: Ereignis (Motiv)[11], Geschehen, Geschichte und Handlungsschema. Das Motiv bildet als kleinste elementare Einheit das Fundament der Handlung und ist analog zu (Behauptungs-)Sätzen. Wenn der Held eines Romans nacheinander mehrere Ereignisse durchläuft, bilden diese das Geschehen. Sind die Ereignisse nach Regeln oder Gesetzmäßigkeiten innerhalb eines Geschehens miteinander verbunden, so entsteht eine zusammenhängende Geschichte. Doch erst durch die Integration in ein Handlungsschema erhält die Geschichte eine abgeschlossene (Anfang, Mitte, Ende) und sinnhafte Struktur.[12] Ganz unzweifelhaft hängen die Elemente der narrativen Handlung jedoch für den modernen Rezipienten ohne die erklärende Motivierung in der Luft. Die Motivierung artikuliert sich in den Beweggründen des dargestellten Geschehens, dadurch integriert sie die Ereignisse in einen Erklärungszusammenhang und schafft Textkohärenzen.

Zu unterscheiden sind drei verschiedene Arten narrativer Motivierung. Die Autoren Martinez und Scheffel betonen, dass die kausale Motivierung ein Ereignis erklärt, „indem sie es als Wirkung in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang einbettet, der als empirisch wahrscheinlich oder zumindest möglich gilt.“[13] Während bei der finalen Motivierung[14] der Handlungsverlauf von Beginn an festgelegt ist und alle Texthandlungen von einer latenten Allmacht gesteuert werden, betrifft die kompositorische Motivierung[15] nicht die objektive Ordnung der erzählten Welt. Vielmehr folgt die kompositorische Motivierung künstlerischen Kriterien, indem z.B. jedes Motiv zum Zweck einer ästhetischen Gesamtkomposition verwertet wird.

[...]


[1] Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied. 2., überarb. und erg. Aufl. Berlin 2005 (Klassiker-Lektüren 5), S.47.

[2] Im engeren Sinne ist es mit Hinblick auf ein strenges textkritisches Vorgehen notwendig, die Fassungen *B und *C von den Handschriften B und C zu unterscheiden. In dieser Arbeit wird hier drauf jedoch - zugunsten einer übersichtlichen Argumentation - verzichtet, indem Fassung und Handschrift begrifflich synonym verwendet werden.

[3] Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse: eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 5., durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin 2001, S. 17.

[4] Stierle, Karlheinz: Die Einheit des Textes. In: Funk-Kolleg Literatur Bd. 1, hrsg. von Helmut Brackert und Eberhard Lämmert. Frankfurt 1977, S. 171.

[5] In der mittelalterlichen Literatur haben Handlungsschemata für das Textverständnis eine besondere Bedeutung. So rückt beispielsweise das Brautwerbungsschema regelmäßig in der Heldenepik in den Mittelpunkt des Geschehens und ist als dominierendes Strukturprinzip erkennbar. Unter 2.2 wird dies näher erläutert.

[6] Stierle: Die Einheit des Textes, S. 176.

[7] Martinez, Matias und Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2., durchgesehene Auflage München 2000, S. 17.

[8] Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. 54. Auflage. Frankfurt am Main 2004.

[9] Vgl. ebd. S. 39.

[10] Ebd. S.17.

[11] Der erzähltheoretische Terminus ´Ereignis´ wird in dieser Arbeit als nicht mehr weiter unterteilbare Einheit eines narrativen Textes synonym zum ´Motiv´ verwendet.

[12] Vgl. Martinez und Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. S. 25 und S. 109.

[13] Ebd. S. 111.

[14] Die finale Motivierung ist vor allem in mittelalterlichen Erzähltexten zu finden. Beispielsweise erfährt der Leser bereits in der ersten Aventiure des Nibelungenlieds - durch einen symbolischen Traum Kriemhilds -, dass sie ihren späteren Ehemann Siegfried verlieren wird und daraufhin in tiefe Trauer versinkt.

[15] Die kompositorische Motivierung wird auch als ästhetische Motivierung bezeichnet.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Variierende Textüberlieferung der Nibelungenliedhandschriften B und C
Untertitel
Ein Strophenvergleich an ausgewählten Beispielen
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1.7
Autor
Jahr
2008
Seiten
21
Katalognummer
V126707
ISBN (eBook)
9783640329434
ISBN (Buch)
9783640331284
Dateigröße
513 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Variierende, Textüberlieferung, Nibelungenliedhandschriften, Strophenvergleich, Beispielen
Arbeit zitieren
Daniel Loch (Autor:in), 2008, Variierende Textüberlieferung der Nibelungenliedhandschriften B und C, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126707

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Variierende Textüberlieferung der Nibelungenliedhandschriften B und C



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden