Gawan und Orgeluse - Zur Gawan-Orgeluse-Episode in Wolfram von Eschenbachs "Parzival"


Seminararbeit, 2005

16 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Gawan
2.1 Gawan als Arzt
2.2 Gawan als Liebender

3. Orgeluse
3.1 Orgeluse als Herzogin und Minneherrin

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Wolfram experimentiert in seinem „Parzival“ mit verschiedenen Konzepten von Weiblichkeit und Männlichkeit und setzt sich dabei mit Denk- und Argumentationsschemata der unmittelbaren literarischen Tradition (Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Chrètien de Troyes) auseinander.

In den Büchern X-XIV des „Parzival“ steht die Beziehung zwischen den Figuren Gawan und Orgeluse im Vordergrund.

Die Entwicklung und Ausgestaltung der Figur Gawan entwickelt Wolfram bereits seit dem VI. Buch. Im Gegensatz zu dieser lang angelegten Entwicklung skizziert er mit erstaunlich wenigen Federstrichen Orgeluse, die bei Chrètien noch ein namenloses französisches Straßenmädchen war. Die Ereignisse um Orgeluse sind geschickt auf vielfältige Weise in die komplexe Handlungsstruktur des Romans eingebunden und verleihen der Figur Tiefe, von der bei Chrètien nicht die Rede sein kann.

Zusätzlich stellt Wolfram mit der Beziehung zwischen Orgeluse und Gawan eine vollständige Geschlechterbeziehung dar, vom ersten Kennenlernen bis hin zur Hochzeit. Innerhalb dieser Darstellung entfaltet der Autor seine Vorstellungen von Minne und Rittertum. Orgeluse ist die letzte große Frauengestalt im Parzival und mit Sicherheit die komplizierteste.

Diese Komplexität und Vielschichtigkeit verleihen der Gawan-Orgeluse-Episode eine besondere Bedeutung innerhalb des Parzivalromans, dies wird auch daran deutlich, dass sich die Forschung vielfach mit der Interpretation dieser Episode und den darin behandelten Figuren und Ereignissen befasst hat.[1]

Im Folgenden möchte ich die Entwicklung der Figuren Gawan und Orgeluse näher betrachten. Die Figur Gawan entwickelt sich über längere Zeit hinweg vom Aventiuren- zum Minneritter, während sich Orgeluse in kurzer Zeit von einer starken und unabhängigen Landesherrin hin zu einer blassen und folgsamen Ehefrau entwickelt. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Beweggründen des Autors, die Figuren in dieser Art und Weise zu entwickeln.

2. Gawan

Wolfram bezeichnet Gawan als der tavelrunde hôster prîs (301,7), als einen gebildeten Ritter mit Verstand und Urteilsfähigkeit und schreibt ihm die, für einen Ritter, außergewöhnlichen Fähigkeiten des Lesens und Schreibens zu (644,27ff.).[2] Bei Gawan sind somit die beiden großen Tugenden, Tapferkeit und Klugheit, in einer einzigen Person vereinigt. Ergänzend hinzu treten sein Taktgefühl und seine Höflichkeit. Gawan und Parzival sind von Wolfram als sich ergänzende Figuren konstruiert worden, so spricht Parzival von sich: ich bin niht wîse (178,29) und Gawan ich bin sô wis (323,24). Gawan ist ein Individuum mit einem eigenen Profil und eigenen Vorstellungen, aber auch mit Eigenheiten und Schwächen versehen. Er erweitert in seiner Beziehung zu Orgeluse die Werte der Artusgesellschaft für sich und schafft damit eine Basis für seine neue Lebensform als Minneritter und Ehepartner.[3] Nur diese Umorientierung ermöglicht es Gawan, zum Erlöser von Schastel Marveile zu werden.[4] Vor diesem Hintergrund diskutiert Wolfram das höfisch-literarische Geschlechterverhältnis. Im Folgenden sollen die verschiedenen Rollen und Funktionen betrachtet werden, die Wolfram seinem Helden zugeeignet hat: Gawan als Ritter, Liebender, Arzt, Erlöser und Ehemann.

2.1 Gawan als Arzt

Gawans Fähigkeiten als Arzt treten zum ersten Mal im X. Buch in Erscheinung, als er im Wald auf einer Wiese eine Dame trifft, die einen verwundeten Ritter auf dem Schoß liegen hat (505,14). Auf die Bitte der Frau hilft er dem Verletzten, indem er die Rinde eines Lindenzweiges als Rohr benutzt, um nach innen in den Körper fließendes und sich dort stauendes Blut abzulassen. Auf seinem weiteren Weg nach Logroys, von dem ihm der verwundete Ritter abgeraten hatte, trifft er auf Orgeluse und bietet der Unbekannten sofort seine Ritterdienste an, erntet aber nur Spott und Hohn. Interessant an dieser Stelle ist, dass Gawan sie als die Schönste empfindet, Wolfram sie aber nur als die Zweitschönste bezeichnet (508,22-23).

Die zweite Szene, in der Gawan seine medizinischen Kenntnisse anwendet, findet statt, als er auf einer Heide ein heilendes Kraut wachsen sieht und dieses pflückt, um dem verwundeten Ritter zu helfen. Wiederum erntet er von Orgeluse für seine Tat nur Spott und muss hinnehmen, dass ihm Gewinnsucht unterstellt wird: „kan der gesell mîn / arzet unde rîter sin, / er mac sich hart wol bejagn, / gelernt er bühsen veile tragn“ (516,28-517,2). Der Spott wird auf die Spitze getrieben, als der undankbare Patient Gawans Pferd stiehlt und sich Gawan der Bezeichnung garzûn ausgesetzt sieht. Dadurch, dass Gawan von Wolfram jedoch die Rolle des gebildeten Wundarztes zugewiesen bekommt, sind die Vorwürfe, die Orgeluse ihm macht, besonders nach der Heilung von Urjans, fehl am Platz und machen dafür umso deutlicher, dass Orgeluse mit allen Mitteln nach einer Angriffsfläche sucht.

Gawan als Arzt aufzutreten zu lassen und ihn damit zum einen funktional aufzuwerten und zugleich mehrdeutig zu machen, und zum anderen Mehrdeutigkeit zuzuweisen, ist eine Besonderheit Wolframs. Die Ungewöhnlichkeit der Szenen liegt darin, dass ein Ritter sich normalerweise nicht persönlich um einen Verletzten kümmert, geschweige denn auch weiß, wie dieser zu behandeln wäre.[5] Dies ist zwar Haferlach zufolge in der Literatur nicht ungewöhnlich, allerdings wird in seinen Beispielen nur das Wundverbinden aufgezeigt, und kein chirurgischer Eingriff, wie ihn Gawan vornimmt.[6] Möglich wäre es, Gawans medizinische und übrige Fähigkeiten auf den Besuch einer Klosterschule zurückzuführen.[7] Auch dadurch unterscheidet er sich von einem konventionellen Ritter. Die Aufgaben, die Gawan erfüllen muss, dienen nicht seiner eigenen Weiterentwicklung, sondern sind Hilfeleistungen für andere und unterstützen das Wiederherstellen einer gestörten Ordnung. Blamires hat dies präzise formuliert: Gawan “has no problems of his own to solve: his task is to solve those of other people“.[8] Im Gesamtkontext werden den erfolglosen Versuchen, Anfortas auf Munsalvaesche zu heilen, Gawans praktische Fähigkeiten als Arzt gegenübergestellt. Nicht zuletzt kann man das Arztmotiv in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Heilung in den Büchern X-XIV in Zusammenhang bringen, auch dies ist ein Beweis für die Bedeutung des Arztmotivs.[9]

Der aktive Einsatz für andere ist für Gawan ein Grundbedürfnis. Wolfram versucht eine neue Ritterethik zu entwerfen, die auf einer ethischen Grundlage basiert, d.h. ein Rittertum im Dienst anderer Menschen, auch ohne prîs und êre.[10] Ritterlicher Dienst wird nicht als Tauschprinzip, sondern als ethische Grundeinstellung verstanden, der Ritter als selbstloser Beschützer und Helfer.

Gawan heilt im Laufe der Geschichte auch Orgeluse von ihrem Trauma. Bei ihrer ersten Begegnung reagiert sie kalt und unnahbar. Beeinflusst von der Mahnung Wolframs, Orgeluse nicht von vorneherein zu verurteilen (516,8), wartet der Hörer gespannt auf die Dinge, die noch kommen sollen. Tatsächlich erweist sich ihre Arroganz als Reaktion auf den Verlust ihres Ehemannes Cidegast, die Entführung durch Gramoflanz, die Verwundung des Anfortas in ihren Diensten und die Ablehnung durch Parzival. Diese Vorfälle verursachten ihre Rachegelüste gegen Gramoflanz. Minne suchte Orgeluse offensichtlich zunächst nicht, sondern nur ein willfähriges Werkzeug ihrer Rache.

Ihre Heilung durch Gawan ist ein „komplexer und psychologisch ausgefeilter Interaktionsprozess“.[11] Gawan benutzt dabei eine Art Gesprächstherapie, bei der er auf die jeweilige Stimmung von Orgeluse eingeht.[12] Dies betont Wolfram, wie Zimmermann feststellt, durch den Umfang der Dialoge, denn die Dialoge von Gawan und Orgeluse umfassen insgesamt 688 Verse, und stellen damit eine Besonderheit dar, da in keinem der sonstigen Geschlechterverhältnisse derartig viel geredet wird.[13] Nur die Gespräche zwischen Parzival und Trevizent nehmen mehr Raum ein, aber diese stehen in einem anderen Kontext.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass Gawan sowohl als Wund- wie auch als Seelenarzt auftritt. Die Behandlungen in den beiden Fällen Urjans und Orgeluse führen zum gewünschten Erfolg. Die funktionelle Aufwertung Gawans ist aber nicht allein auf sein Fachwissen zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass Wolfram durch die Fähigkeit Gawans, Leid zu lindern, auf die Erlösung der Gesellschaft in Schastel Marveile durch menschlichen Einsatz hindeutet.[14]

Durch die Isolation und die Abgeschlossenheit von Schastel Marveile wird deutlich, dass das höfische Gesellschaftsleben nur funktionieren kann, wenn die Geschlechter miteinander Kontakt haben. Das Erlösungswerk Gawans gibt dem Zuhörer die Möglichkeit, „die wichtigsten Konstituenten des höfischen Zusammenlebens Schritt für Schritt nachzuvollziehen und sie auf einer höheren Ebene der Abstraktion zu einem Gesellschaftskonzept zu verbinden.“[15] Dabei geht Gawan in drei Stufen vor: Zuerst wird es den Geschlechtern durch die Sitzordnung ermöglicht, Blickkontakt zueinander aufzunehmen (683, 25f.). In einem zweiten Schritt die erste körperliche Annäherung: der gemischte Tanz (639,17-19). Der dritte und entscheidende Schritt dann die Interaktion durch Kommunikation. Nach dem Tanz setzen sich Damen und Ritter gemischt auf die Plätze, um miteinander reden zu können (641,2-4). Das Ziel und der Endpunkt der Erlösung sind auf dem Hoffest bei Joflanze erreicht, als die Bewohner von Schastel Marveile in die Artusgesellschaft integriert werden. Gawan hat somit seine große Aufgabe vollendet.

[...]


[1] Vgl.: Zimmermann, Gisela: Untersuchungen zur Orgeluseepisode in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Euphorion 66 (1972), S. 128-150; Baisch, Martin: Orgeluse – Aspekte ihrer Konzeption in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Haas, Alois M.; Kasten, Ingrid (Hrsg.): Schwierige Frauen - schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters, Bern 1999, S. 15-33; Emmerling, Sonja: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des „Parzival“. Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell. Tübingen 2003; Jones, Martin: The Significance of the Gawan story in Parzival. In: Hasty, Will (Ed.): A Companion to Wolfram’s Parzival, Camden House 1999.

[2] Wolfram von Eschenbach: Parzival, Berlin, New York 22003. Die folgenden Stellenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

[3] Vgl. Dimpel, Friedrich Michael: Dilemmata: Die Orgeluse-Gawan-Handlung im Parzival, ZfdPh, 120, 2001, S. 39-59, S. 43.

[4] Vgl. Emmerling; Bindschedler, Maria: Der Ritter Gawan als Arzt oder Medizin und Höflichkeit in Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft, Kultur 64, 1984, S. 729-743.

[5] Vgl. Bindschedler: S. 743.

[6] Haferlach, Torsten: Die Darstellung von Verletzungen und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen Aspekten, Heidelberg 1991, S. 188-190. Als Beispiele nennt er Gurnemanz, der Parzival versorgt, Erec und Guivreiz, die sich gegenseitig verbinden, Riwalin und den Ritter Wate.

[7] Bindschedler: S. 734.

[8] Blamires, David: Characterization and Individuality in Wolfram's Parzival. Cambridge 1966, S. 436.

[9] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, Stuttgart Weimar 82004, S. 95.

[10] Vgl. Emmerling: S. 99f.

[11] Ebda., S. 104.

[12] Ausführlich ebda.: S. 105ff.

[13] Zimmermann: S. 135

[14] Emmerling: S. 110.

[15] Bumke, Geschlechterbeziehungen: S. 106.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Gawan und Orgeluse - Zur Gawan-Orgeluse-Episode in Wolfram von Eschenbachs "Parzival"
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Proseminar Parzival von Wolfram von Eschenbach
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
16
Katalognummer
V56522
ISBN (eBook)
9783638511803
ISBN (Buch)
9783640330461
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gawan, Orgeluse, Proseminar, Parzival, Wolfram, Eschenbach
Arbeit zitieren
Thilo Patzke (Autor:in), 2005, Gawan und Orgeluse - Zur Gawan-Orgeluse-Episode in Wolfram von Eschenbachs "Parzival", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56522

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