Im Spannungsfeld zwischen poetischem Realismus und gespenstischen Phantasmen. Theodor Storms Novelle "Der Schimmelreiter"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

29 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Poetischer Realismus
2.1 Gruselgeschichten im Realismus
2.2 Storms Affinität zum Gruseligen
2.3 Fiktionalisierte Realität

3. Die Entwicklung der Schauerelemente in „Der Schimmelreiter”

4. Demaskierung des Aberglaubens durch Relativierungssignale

5. Gattungspoetologische Selbstreflexion

6. Schluss

7. Literatur

1. Einleitung

Die Zeit, in der Theodor Storm lebte (vgl. Rothmann, 176-180), war gekennzeichnet durch den immensen wirtschaftlich-industriellen Aufschwung, den die expansive Industrialisierung Europas mit sich brachte.

Der wissenschaftliche Bewusstseinshorizont dieser Zeit erstreckte sich in Feuerbachs nachidealistischer Philosophie und dem philosophischem Materialismus Marx’. Comtes Positivismus stand für die Ablehnung metaphysischer Spekulationen gegenüber den positiv gegebenen Tatsachen und Taine ergänzte diese Gedanken mit seiner Milieutheorie. In den Bereichen Physik, Psychologie und der entwicklungsgeschichtlichen Biologie konnten darüber hinaus neue naturwissenschaftliche Erkenntnisformen gewonnen werden. Die technische Auswertung der Naturwissenschaften begünstigte die angelaufene industrielle Revolution und damit den Aufschwung der bürgerlichen Großindustrie und des Kapitalismus. Allmählich setzte sich ein Wirklichkeitsverständnis für die Errungenschaften der Aufklärung ein und das bürgerliche Weltbild entstand.

Auch politisch-gesellschaftliche Aktivitäten prägten diese Zeit des Wandels: Mit der Reichsgründung 1871 ging der Traum von der politischen Einheit Deutschlands in Erfüllung. In die Flaute der Ereignislosigkeit der Restaurationsphase nach der gescheiterten 48er-Revolution kam damit Aufbruchsstimmung. Das dynamische Lebensgefühl der sich anschließenden Gründerphase weckte gestalterische Kräfte und entfesselte starke Handlungsimpulse in den Bereichen in Politik, Wirtschaft und Kunst. Trotz der möglichen Konsequenz des Scheiterns war man nunmehr zur entschlossenen Auseinandersetzung mit der Umwelt bereit. Auch Theodor Storm stellt sich mit seinem literarischen Schaffen dieser Herausforderung: „Wie kaum bei einem anderen [...] spiegelt sich im Schaffen Storms parallel zu den geschichtlichen Ereignissen der Umbruch von einer mehr restaurativ-resignierenden Lebensstimmung zu einer handlungsorientierten, auf die Entwicklung der ungeteilten personalen Identität ausgerichteten, Einstellung“ (Freund, 10-11). Inwiefern sich diese neuen Strömungen in „Der Schimmelreiter“ manifestieren, wird zu zeigen sein.

Das, was unser heutiges Fortschrittsdenken und Technikvertrauen ausmacht, hat seine Wurzeln demnach in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Obwohl die heutige Welt scheinbar keine Rätsel mehr birgt, erfreuen sich Geschichten, die irrationale und übernatürliche Phänomene thematisieren, großer Beliebtheit. Die Tatsache, dass solche Geschichten heute weniger in traditionellen oralen Erzählsituationen denn mittels Kino oder Hörbuch weitergegeben werden, scheint dem Verlangen nach Spuk keinen Abbruch zu tun. Der Wunsch, Gruselgeschichten zu hören, war auch vielen der Zeitgenossen Theodor Storms eigen. Betrachtet man den Zeitgeist des Realismus, der diese Menschen umgetrieben haben muss, mag dies seltsam anmuten, befand man sich doch in einer rasanten Um- und Aufbruchsepoche in Richtung Zukunft.

Doch ausgerechnet Storms Alterswerk „Der Schimmelreiter“, das erst 1888 fertiggestellt wurde, weist genug phantastische Spukelemente auf, um die Frage nach einem anachronistischen Widerspruch zu stellen.

Wie gezeigt werden wird, entkräftigt Storm einen solchen Vorwurf mit „Der Schimmelreiter“, indem er sich mit Hilfe diverser erzählstrategischer Mittel bezüglich der Spukelemente ins Reich der Ambiguitäten rettet.

Ein grober zeitgeschichtlicher Abriss soll zunächst aufzeigen, welche Strömungen Storms literarisches Schaffen geprägt haben und inwiefern realistische Elemente in den Text miteingewoben worden sind. Im Folgenden wird mit Blick auf Storms Ambitionen dem Irrationalen gegenüber die Entwicklung der Spukelemente in seiner Novelle aufgezeigt werden. Zur Beantwortung der Frage nach der Bedeutung jener Elemente soll schließlich das Hauptaugenmerk auf Storms Wahl einer Rahmenerzählung als komplexe Erzähltechnik in „Der Schimmelreiter“ geleitet werden.

2. Poetischer Realismus

Der Begriff „Realismus“ weist zurück auf die Wirklichkeitssicht des 19. Jahrhunderts. Realität und Natur wurden für beherrschbar angesehen, das aufgeklärte Subjekt eignete sich im wachsen]den Maße Autonomie an: „Der Ausgangspunkt der Aufklärung ist bekanntlich ein grenzenloser Optimismus in Bezug auf die Erkennbarkeit und rationale Beherrschbarkeit der Realität. Die erkenntnistheoretische und erkenntniskritische Orientierung der Philosophie zielt auf ein methodologisches Organon für eine systematische Weltaneignung, und die empirischen und pragmatischen Wissenschaften, die einen ungeheuren Aufschwung nehmen, verwandeln Natur und Gesellschaft in ein Feld menschlicher Praxis“ (Müller, 15).

Der poetische Realismus verlangte dementsprechend die Reflexion aktueller sozialer, ökonomischer, politischer und ideologischer Zeiterscheinungen; also jener genannten gesellschaftlichen Veränderungen, die das 19. Jahrhundert geprägt haben. Dazu gehören etwa Themen wie Hinwendung zur Diesseitigkeit und Fortschrittsglaube, aber auch aus den Neuerungen erwachsende Konflikte, wie jener zwischen Individuum und Gesellschaft oder das komplementär zu Aufschwung und Fortschritt erwachsende Ohnmachtsgefühl von Selbstentfremdung und Verdinglichung. Die Darstellung der Kausalzusammenhänge zwischen individueller und gesellschaftlicher Daseinform gehört sogar zu den häufiger bearbeiteten Themen, denn „die Epoche des Realismus [konzentriert sich] im Streben nach unparteiischer Darstellung einer diesseitigen, bürgerlichen und sinnlich erfaßbaren Wirklichkeit [...] auf den Menschen in seinen seelischen und gesellschaftlichen Bezügen im Alltagsleben“ (Wilpert, 303).

Trotz des Anspruchs, die fassbare Welt objektiv beobachten zu wollen und romantische Wirklichkeitsferne aussparen zu wollen, leistet die realistische Literatur dennoch „Interpretation von Wirklichkeit, nicht deren Kopie oder Substituierung“ (Müller, 20). Denn selbst die konkreteste und unmittelbarste literarische Darstellung von Wirklichkeit kann im Grunde nur fingiert sein. Welchen Nutzen könnte die Abbildung von Wirklichkeit durch das realistische Schreiben im Maßstab eins zu eins auch haben? Daher kann festgehalten werden, dass realistische Kunst Wirklichkeit nicht einfach nur abbilden, sondern ihr zur Erkenntnis verhelfen will. Sie kann nicht nur das Wesentliche in der Erscheinungswelt sichtbar machen, sondern auch Verborgenes offenbaren.

Auch wenn die Darstellung von Wirklichkeit ihren Kunstcharakter und ihr Gemachtsein im Realismus gern verleugnet, kann sie nur als Kunst den intendierten Anspruch auf Wahrheit und Erkenntnis einlösen, weil Kunst die Auflösung der Realität ins Allgemeine gewährleistet (vgl. Müller, 16-17).

Der Schriftsteller Otto Ludwig prägte den Begriff des „poetischen Realismus“. Über die realistisch schaffende Phantasie äußerte er sich wie folgt: „[S]ie schafft die Welt noch einmal, keine sogenannte phantastische Welt, d.h. keine zusammenhanglose, im Gegenteil, eine, in der der Zusammenhang sichtbarer ist als in der wirklichen [...]. Eine Welt, die in der Mitte steht zwischen der objektiven Wahrheit in den Dingen und dem Gesetze, das unser Geist hineinzulegen gedrungen ist, eine Welt, aus dem, was wir von der wirklichen Welt erkennen, durch das in uns wohnende Gesetz wiedergeboren“ (zitiert nach Rothmann, 179).

Roman und Novelle gelten heute als das eigentliche Gebiet der realistischen Dichtung. Stilistisch zeichnen sich diese Werke durch mimetische Detailtreue aus. Großen Wert legte man auf Exaktheit in der Darstellung von zeitlichen und räumlichen Details, sowie auf psychologische Differenzierung der dargestellten Personen. Ganz im Gegensatz zur idealistisch-romantischen Kunstpraxis galt der Wahrscheinlichkeitsgrundsatz als eine der obersten Normen der Poetik. Eindeutige Fiktionssignale wie gespenstische Phantasmen scheinen aus einem derartigen Programm kategorisch ausgeschlossen zu sein. Dennoch bediente sich Storm gerade in „Der Schimmelreiter“ dieser Mittel. Nach Winfried Freund habe Storm bewusst nicht auf fiktionale Elemente verzichten wollen in dem Wissen, dass „Fiktion ohne Realitätsbezug narkotisiert, Stagnation aber [...] die unweigerliche Folge einer Praxis [ist], die glaubt, auf den fiktionalen Impuls verzichten zu können“ (Freund, 44). In der Vermittlung von imaginierter und wirklicher Welt soll der Leser vor die Erkenntnisaufgabe gestellt werden. Damit erfüllt sich bei Storm „[r]ealistische Struktur [...] als Gestaltung der potentiellen Veränderbarkeit von Realität, als konstruktive Verflechtung der fiktionalen mit der realen Ebene“ (Freund, 43).

2.1 Gruselgeschichten im Realismus

Die Wesensmerkmale der literarischen Erzeugnisse des Realismus stehen Schauer- und Gruselelementen also scheinbar diametral entgegen. Wenn die Welt von einer objektiven Warte aus zu betrachten und naturwissenschaftlich erklärbar ist, wenn eine gesicherte bürgerliche Ordnung eine Diesseitigkeit frei von Illusionen und Irrationalem repräsentiert, dann scheinen Gespenstergeschichten zwangsläufig aus dem kulturellen Leben ausgeklammert zu sein. Tatsächlich spricht Wilpert von einer „Einengung der dichterischen Schöpferkraft auf die engen Grenzen der erfahrbaren Wirklichkeit“ (Wilpert, 314), die eine regelrechte Tabuisierung des Wunderbaren zur Folge hatte. Exemplarisch für ein solches Denken wird oft der „Mentor und Zuchtmeister der realistischen Generation“ (Wilpert, 306), Julian Schmidt, genannt. Er verfocht eine radikale Ablehnung alles Spuk- und Geisterhaften in der Literatur und verunglimpfte es als Eskapismus. Geistergeschichten in moderner Literatur waren für den Spötter nichts anderes als das fragwürdige „Treiben der Somnambulen und Magnetiseurs in der wirklichen Gesellschaft“ (zit. nach Wilpert, 306).

Trotz der erklärten realistischen Ziele setzten sich immer wieder auch Wissenschaftler mit der Thematik des Gespenstischen auseinander. So beschäftigte sich Schopenhauer mit der Physiologie des Geistersehens und Karl Rosenkranz erforschte die Ästhetik des Gespenstischen unter dem Aspekt eines ethischen oder moralischen Niveaus bzw. Anliegens. Carus Sterne erklärte sogenannte Phänomene naturwissenschaftlich als Sinnestäuschungen und Georg Friedrich Daumer rief die Bevölkerung zu mehr Skepsis gegenüber dem Volksaberglauben auf (vgl. Wilpert, 304-305). Im gleichen Maße wie Spukerscheinungen für die Wissenschaft von Interesse waren, fanden sie auch Eingang in die Literatur, wenn sie auch hauptsächlich außerhalb des Bereichs der Belletristik thematisiert wurden. Neben Storm verfassten etwa auch seine Zeitgenossen Friedrich Hebbel, Wilhelm Raabe, Gottfried Keller und Theodor Fontane Geschichten, in denen es sich in unterschiedlich starkem Maße um gespenstische Daseinsformen und andere Irrationalismen dreht.

Im Grunde gab es nach Wilpert letztlich drei Möglichkeiten, gespenstische Motive in der realistischen Literatur überhaupt einzusetzen. Entweder „als reine Spielform [...], die als solche in ihrer Unwirklichkeit kenntlich gemacht und humoristisch zweckentfremdet wird“ oder als „vorübergehende, bald aufgelöste Illusion eines verwirrten „falschen Bewusstseins“, das [...] in der unvermeidlichen Desillusionierung die Erklärung nachgeliefert bekommt“ oder schließlich als „Beispiel früheren, meist überwundenen Aberglaubens, der als solcher realistisch, weil vorhanden, war und teilweise in einfacheren Volksschichten noch weiterlebte, der dann aber bestenfalls vom Erzählerstandpunkt aus hinterfragt werden kann, jedoch nicht muß“ (Wilpert, 306). Die aus dem Verfassen von Gespenstergeschichten zu Storms Lebzeiten resultierende Problematik beschreibt Wilpert wie folgt: „Entweder gibt es Gespenster, dann ist die Sache nicht realistisch, oder sie ist realistisch, aber dann gibt es keine Gespenster. Ganz so einfach liegen die Dinge zwar nicht, aber zwischen Ja und Nein gibt es für den Realisten nur wenige Zwischenstufen und Übergänge, und um ein Vielleicht akzeptabel zu machen, bedarf es großer Kunst“ (Wilpert 1994, 303). Wie diese Kunst in Storms „Der Schimmelreiter“ beschaffen ist, wird bei der Analyse der narrativen Struktur der Novelle zu klären sein.

2.2 Storm und seine Affinität zum Gruseligen

Theodor Storm beschäftigte sich lange Zeit intensiv mit der Frage nach dem Übernatürlichen und entwickelte ein lebhaftes Interesse an Gespenstergeschichten. Wilpert spricht gar von einem „für die Zeit so fragwürdigen Drang zum Übernatürlichen, daß sie schon einer Ausnahmegenehmigung bedurft hätten“ (Wilpert, 314). Storms literarische Arbeit an und mit Gespenstergeschichten gründet auf tatsächlichen Überlieferungen und beginnt beim Nacherzählen: „Am Beginn von Storms Gespenstergeschichten steht sein ‘Neues Gespensterbuch. Beiträge zur Geschichte des Spucks [sic]’, das Storm etwa 1845 druckfertig redigierte. [...] Hier geht es [...] um eine Spuk- und Gespenstergeschichtensammlung. [...] Sie bilde[t] den Fundus, aus dem Storms mündliche Gespenstererzählungen schöpften“ (Wilpert, 313).

Storm war ein ebenso begabter wie begeisterter Erzähler von Spukgeschichten, was unter anderem Theodor Fontane, der Storm als Erzähler erleben durfte, bezeugt: „Denselben Abend [...] erzählte er auch Spukgeschichten, was er ganz vorzüglich verstand, weil es immer klang, als würde das, was er vortrug, aus der Ferne von einer leisen Violine begleitet. Die Geschichten an und für sich waren meist unbedeutend und unfertig, und wenn wir ihm das sagten, so wurde sein Gesicht nur noch spitzer, und mit schlauem Lächeln erwiderte er: ‘Ja, das ist das Wahre; daran können Sie die Echtheit erkennen; solche Geschichte muß immer ganz wenig sein und unbefriedigt lassen; aus dem Unbefriedigtsein ergibt sich zuletzt die höchste künstlerische Befriedigung’” (Fontane, 205).

Storms langanhaltende Faszination für Übernatürliches mündete letztlich in eine „Omnipräsenz von Gespenstermotiven in Storms Novellistik“ (Wilpert, 322). Von dem Spuk, den er auf Papier bannte, handelt es sich allerdings lediglich bei „Am Kamin“ und „Der Schimmelreiter“ um Gespenstergeschichten im engeren Sinn -ansonsten sind Gespenster in Storms Oevre eher Nebenmotive. Storms Vorliebe für das Gespenst dokumentiert sich über die Novellen hinaus in einigen Gedichten wie „Meeresstrand“ (1853) oder „Gartenspuk“ (1859). Darauf, dass Storm nicht nur „ein wahres Verlangen, Spukgeschichten nicht nur zu erzählen, sondern auch zu erleben“ (zit. nach Wilpert, 311-12) hatte, wiesen seine Zeitgenossen Ferdinand Tönnies und Hermione von Preuschen hin.

[...]

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Details

Titel
Im Spannungsfeld zwischen poetischem Realismus und gespenstischen Phantasmen. Theodor Storms Novelle "Der Schimmelreiter"
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
29
Katalognummer
V126597
ISBN (eBook)
9783640324712
ISBN (Buch)
9783640326372
Dateigröße
517 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Theodor Storm, Storm, Schimmelreiter, Realismus, Gespenstergeschichte, Novelle
Arbeit zitieren
Sarah Till (Autor:in), 2007, Im Spannungsfeld zwischen poetischem Realismus und gespenstischen Phantasmen. Theodor Storms Novelle "Der Schimmelreiter", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126597

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