„Man wisse von keiner Kunst, von keiner Ordnung in seinem Briefe“

Die Struktur von Wilhelms Brief an Natalie in Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre".


Hausarbeit, 2006

17 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Eine kleine Geschichte des Briefes

3. Gellerts Brieftheorie

4. Wilhelm an Nathalien

5. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der vorliegenden Hausarbeit soll verursacht werden, einen Überblick über die Veränderungen im Briefverkehr zwischen dem achtzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert zu geben. Außerdem soll, soweit es denn möglich ist, eine Beziehung zwischen Gellerts Brieftheorie und Wilhelms Brief an Nathalie in Johann Wolfgang von Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ hergestellt werden. Es stellt sich die Frage, ob Goethe Gellerts Brieftheorie gekannt und bewusst verwendet hat.

Zu diesem Zweck wird im ersten Teil der Hausarbeit die Veränderung im Briefverkehr dargestellt, die zwischen dem Barock und dem Rokoko stattgefunden haben. Als Hauptverantwortlicher für diese Veränderungen wird Christian Fürchtegott Gellert in den Vordergrund gestellt und die Brieftheorien von 1742 und vor allem 1752 von Gellert zusammengefasst.

Im zweiten Teil der Hausarbeit wird der Brief Wilhelms an Nathalie in Hinblick auf die Struktur des Briefes, beziehungsweise in Hinblick auf die Abwesenheit einer Struktur und eines Stils untersucht. Dadurch soll der Brief formal eingeordnet werden, ob es sich beispielsweise um einen Liebesbrief handelt, gesellschaftliche Korrespondenz oder einen Lehrbrief mit didaktischen Absichten. Zur Vertiefung wird eine Stiluntersuchung vorgenommen und eine kurze Interpretation des Briefes selbst.

2. Eine kleine Geschichte des Briefes

Obwohl in der Antike viele Briefe geschrieben wurden und uns zahlreiche erhalten sind, es also eine Briefkultur gab, hat es im Mittelalter auch in dieser Hinsicht einen Rückgang gegeben. Das gilt für Deutschland ebenso wie für den Rest von Europa.

Die Gründe hierfür sind in den schlechten Verbindungswegen zwischen den Briefpartnern zu suchen. Dadurch dauerte der Schriftwechsel so lange, dass sich nicht selten der Anlass eines Briefes sich bereits erledigt hatte, wenn die Antwort eintraf. Zum Beispiel will ein Vater seine Tochter verheiraten. Bis der Brief des potenziellen Bräutigams Monate später, ist die Tochter aber schon an jemanden anderen verheiratet oder sogar bereits gestorben.

Außerdem hat die Zahl der Menschen, die Lesen und Schreiben können, im Mittelalter stark abgenommen. Außer dem Klerus und Teilen des Adels bestand die Bevölkerung Europas praktisch aus Analphabeten – und längst nicht jeder Adlige oder Geistliche konnte schreiben.

„Der Brief als pragmatische Gebrauchsform in Prosa […] wurde in Deutschland wie auch im übrigen Europa bis tief ins 14. Jahrhundert hinein allgemein in lateinischer Sprache abgefaßt.“[1]

Neben den schlechten Verbindungen und der Fähigkeit an sich, gab es also noch ein weiteres Problem. Wer einen Brief schreiben wollte, der musste ihn auf Latein schreiben, denn das war die Sprache, in der ein Briefwechsel stattzufinden hat.

Wenn man das alles bedenkt, die schlechten Verbindungen, die Wenigen, die überhaupt schreiben konnten und die Sprachbarriere, dann wird es einen nicht wundern, warum der Briefverkehr im Mittelalter nur einen geringen Umfang hatte.

Ebenso klein war die Themenauswahl, die in Briefen abgehandelt wurde. Im Mittelalter beschränkte sich der Briefverkehr im Wesentlichen auf Dokumente und Urkunden, auf Korrespondenz zwischen den Fürstenhäusern und auf den Austausch von Gelehrten. Privates oder Persönliches gab es so gut wie gar nicht oder wurde, bis auf wenige Ausnahmen, nicht überliefert.

Die Vermittlung entsprechender briefschreibender Fähigkeiten (für den urkundlichen-amtlichen Schriftstatz oder gelehrten Gedankenaustausch) dienten die Übungen in lateinischer Epistolographie, wie sie in den geistigen Schulen des Mittelalters abgehalten wurden. Wichtiges Unterrichtsmaterial waren dabei die Briefsammlungen, die als verbindliche Muster benutzt wurden.[2]

Die Briefe wurden also nach einem festen Schema geschrieben, das sich aus der Antike herleitete. Die angehenden Briefautoren wurden ausgebildet (vor allem in den Klöstern) sich an die rhetorischen Regeln antiker Vorbilder, etwa Cicero zu halten.

Im Spätmittelalter und am Anfang der Renaissance nahm der Umfang des Briefverkehrs zwar zu, aber nur im Bereich des Handels, in der Form des Kaufmannsbriefes. Die Verbindungen wurden allmählich besser und damit nahm auch der Handel zu. Daran, dass der Briefverkehr im Wesentlichen in den Händen einer kleinen Gruppe blieb, änderte das zunächst wenig. Das sollte noch bis zur Blüte der Renaissance andauern.

Bestimmend für das Bild des sich enorm ausbreitenden Briefverkehrs der Renaissance und des Humanismus waren in erster Linie Kanzleibriefe, Handelsbriefe und gelehrt-philosophische Korrespondenzen. Im Stil regierte unter dem dominierenden Einfluß der höfischen und städtischen Kanzleien, Formelhaftes.[3]

Die Stadt hatte sich seit dem Mittelalter gegenüber Kirche und Adel als dritte treibende Kraft im Kulturleben etabliert. Aus der Stadt heraus sollte sich später das selbstbewusste Bürgertum entwickeln. Zunächst bedeutete es vor allem einen Anstieg im Briefverkehr und dort vor allem im Geschäftsbrief. Dass der Geschäftsbrief formelhaft ist, ist normal. Meistens behandeln Geschäftsbriefe dasselbe oder ähnliche Themen, so dass es natürlich ist, wenn man sich irgendwann auf eine Formulierung einigt und die dann beibehält. Geschäftsbriefe sind heute noch recht eintönig, jede Abweichung von der Norm erscheint unprofessionell.

Trotz der sich relativ vollziehenden Ablösung des Lateinischen durch das Deutsche im Briefwesen blieben Aufbau, Stil und formale Aufmachung der deutsch abgefaßten Schreiben noch auf lange von dem lateinsprachigen kanzlistischen Brieftypus beherrscht.[4]

Die Kanzleibriefe orientieren sich in ihrer Struktur also immer noch stark am antiken Vorbild. Hinzu kommen andere Schreibregeln, die vom zeremoniellen und höfischen Respekt diktiert sind. Der Kanzleibrief wird dominiert von umständlichen Anreden, wie etwa: „Hoch Edelgeborner Hochgelahrter Herr Secretair Verehrungswürdigster Gönner!“ (nach Kaiser, Claudia: „Geschmack“ als Basis der Verständigung. S. 29.) Ähnlich umständlich geht es bei jeder Anrede im Brief selbst zu. Der Brief schließt mit einem genauso umständlichen Gruß: „Hoch Edelgeborener Hochgelahrter Herr Secretair Verehrungswürdigster Gönner, Ew. Hoch Edelgeborenen gehorsamsten Diener Jakob Michael Lenz.“ (ebd. S. 39.)

Was zwischen Anrede und Gruß steht, ist aber nicht frei. Auch der Inhalt des Briefes ist detailliert vorgegeben.

Zahlreiche Abhandlungen mit Musterbriefen sorgen dafür, dass sich ein mehr oder weniger festes Schema ergibt, indem der Briefschreiber kaum noch Raum zu eigenen Formulierungen hat. Benjamin Neukirchs „Anweisung zu teutschen Briefen“ von 1709 ist so eine Abhandlung.

„Die Wirkung der berühmten Briefsammlungen des klassischen Altertums, zugleich deren Briefschreiblehre, hält bis Gellerts praktischer Abhandlung an.“[5]

Gellerts Abhandlungen sind die „Gedanken von einem guten deutschen Briefe an den Herrn F. H. v. W.“, die 1742 in den „Belustigungen des Verstandes und Witzes“ erschien, und „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“ von 1751. Vor allem die letztere ist es, die das Briefeschreiben revolutionieren wird.

Wie die meisten Revolutionen erfolgt auch die des Briefeschreibens nicht ohne dass eine gesellschaftliche Veränderung im Vorfeld stattgefunden hätte. Im Fall des Briefverkehrs ist es die Tatsache, dass sich die Anzahl der Briefschreiber explosionsartig vermehrt hatte. Nickisch schreibt: „...die tieferen Ursachen für den übermächtig werdenden Drang zum Briefeschreiben bei den Angehörigen des deutschen Bürgertums ist wohl in wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Prozessen des 18. Jahrhunderts zu suchen.“[6]

[...]


[1] Nickisch, Reinhard G. M.: Brief. S.30.

[2] ebd. S. 31.

[3] ebd. S. 32.

[4] ebd. S. 35.

[5] Kaiser, Claudia: „Geschmack“ als Basis der Verständigung. S. 37.

[6] Nickisch, Reinhard G. M.: Brief. S. 44.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
„Man wisse von keiner Kunst, von keiner Ordnung in seinem Briefe“
Untertitel
Die Struktur von Wilhelms Brief an Natalie in Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre".
Veranstaltung
Seminar
Note
2
Autor
Jahr
2006
Seiten
17
Katalognummer
V125360
ISBN (eBook)
9783640309047
ISBN (Buch)
9783640307135
Dateigröße
473 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kunst, Ordnung, Briefe“, Seminar
Arbeit zitieren
Jan Henrik Hartlap (Autor:in), 2006, „Man wisse von keiner Kunst, von keiner Ordnung in seinem Briefe“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125360

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