Hans Castorps Seelenzauber

Die Musik im 'Zauberberg' im Kontext der Distinktionstheorie Bourdieus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Pierre Bourdieus Theorie vom sozialen Raum
2.1. Theoretische Erläuterungen der Theorie vom sozialen Raum
2.2. Praktischer Erläuterung Bourdieus Distinktionstheorie in Bezug auf Musik

3. Der Zauberberg und Hans Castorp
3.1. Inhalt und Struktur des Zauberbergs
3.2. Die Position Hans Castorps im Zauberberg

4. Die Musik als Distinktionsmerkmal im Zauberberg
4.1. Die Musik im Feld Zauberberg
4.1. Die Positionierung Hans Castorps durch die Musik
4.3. Hans Castorps Position als Ausdruck der Entstehungszeit von Zauberberg

5. Kritik an Bourdieus Distinktionstheorie

6. Zusammenfassung und Ausblick

7. Bibliografie

1. Einleitung

Thomas Mann beginnt den Zauberberg 1913 und schließt ihn (erst) 11 Jahre später ab. In diese Zeit hat der Autor neben äußeren Umständen wie einen Weltkrieg, eine Revolution und einer Verfassungsänderung auch private Veränderungen erlebt. Daher kann man nicht bestimmt davon ausgehen, dass Mann in der Schaffenszeit des Werkes seine Kunstvorstellung nicht geändert hat. Dagegen spricht die These, dass „der Autor sich als Gralshüter des Werksgedanken sieht“ und „allen äußeren Einflüssen zum Trotz, an der Bewertung der Dinge festhält“ (Sprecher/Bernini 1996, 233). Weysling kommt durch die Analyse der Figuren und der Beziehungen zu Hans Castorp zu dem Schluss, dass bei dem Zauberberg werkimmanente und –externe Interpretationsmodelle herangezogen werden sollten (Sprecher/Bernini 1996, 246 f.). Im Gegensatz zur Vorankündigung im Buch „Man ändert hier seine Begriffe“ (ZB, 16), sagt Weysling außerdem, dass es zu keinen endgültigen Veränderungen in den Vorstellungen und Werten des Buchs kommt, und „[d]ie alten Grundhaltungen [sich] am Schluss zu bewähren [scheinen]“ (Sprecher/Bernini 1996, 246 f.). Weyslings Zusammenfassung begründet somit (unbeabsichtigt) die Anwendung Bourdieus Theorie. Denn auch Bourdieus literatursoziologische Theorie vom sozialen Raum erhebt den Anspruch eine Mischung aus werkinterner und –externer Deutung zu sein. Und auch er sagt, dass sich die Grundhaltungen, welches an dieser Stelle mit der Position im sozialen Raum oder Feld verglichen werden kann, bewahren.

Somit ist die Anwendung Bourdieus Distinktionstheorie am Zauberberg begründet und logisch nachvollziehbar. Als Grundlage, also als Distinktionsmerkmal, wird in dieser Arbeit die Musik herangezogen. Auch hier scheint Der Zauberberg besonders gut für geeignet zu sein, da sich Mann in dem Kapitel Fülle des Wohllauts (ZB, 874 ff.)[1] „als der musikbesessenste Autor der Weltliteratur zu erkennen gab“ (Vaget 2006, 9). Vaget (ebd.) bezeichnet dieses Kapitel außerdem als „Gelenkstelle“ im Gesamtwerk Manns, welches dem nach bedeutet, dass eine gelungene Analyse des Kapitels Aufschlüsse über die Bedeutung der Musik in anderen Werken liefert. Diese weiterführende Analyse liegt jedoch außerhalb des Rahmens der vorliegenden Arbeit. Auch das Kapitel Politisch verdächtig! (ZB, 154 ff.) widmet sich der Musik und endet in einer Diskussion über ihre Funktion. Bereits der durch das Ausrufezeichen hervorgehobene Titel deutet darauf hin, dass die Musik im Zauberberg nicht per Zufall in das Geschehen der Geschichte auftaucht, sondern dass durch das Zutun von Musik auch Ansichten dargestellt werden. Somit kann man vorab davon ausgehen, dass die Wahl der Musik als Distinktionsmerkmal ausreichend Material liefern wird, um Bourdieus Theorie anzuwenden.

Diese Arbeit wird zuerst Bourdieus Theorie vom sozialen Raum[2] und die von ihm verwendeten Begriffe Feld, Habitus und Kapital erläutern. Daran anknüpfend werden exemplarischen Erläuterungen in Bezug auf Musik gegeben, um die Funktionsweise von Musik als Distinktionsmerkmal zu unterstreichen. An einen inhaltliche und strukturelle Abriss des Zauberberg knüpft die Darstellung der Position Hans Castorps im sozialen Raum durch seinen sozialen Hintergrund an. Zentrales Anliegen dieser Arbeit ist es, diese ermittelte Position Hans Castorps im Feld Zauberberg durch das Distinktionsmerkmal Musik zu unterstreichen.

2. Pierre Bourdieus Theorie vom sozialen Raum

2.1. Theoretische Erläuterungen der Theorie vom sozialen Raum

Der Franzose Pierre Bourdieu (1930 – 2002) entwickelte in Anlehnung an seine ethnologischen Studien eine Theorie vom sozialen Raum, die er auch auf die Interpretation von literarischen Werken anwandte. Bourdieus soziologische Forschungen waren vorwiegend empirisch, und er versuchte subjektive Faktoren mit objektiven Gegebenheiten zu verbinden. Seine Theorie lehnt die Konkurrenz zwischen der „literarischen doxa“ und der externen Analyse ab (Bourdieu 1999, 295 ff.). Bourdieu liefert eine Beweisführung, in der die Mängel beider Literaturtheorien aufgezeigt werden. Nach ihm vernachlässige die „literarische doxa“, bei der der Autor als Grundlage zur Erklärung seines Werkes herangezogen wird, Faktoren des Produktionsfeldes und des sozialen Werdegangs (ebd.). Die externe Analyse sieht ein Werk als Widerspiegelung oder „symbolischen Ausdruck“ der sozialen Welt (Bourdieu 1999, 323). Somit wird hier das literarische Werk mit den „gesellschaftlichen Merkmalen ihrer Urheber oder der Gruppe in Verbindung gebracht“ (ebd.). Bourdieu kritisiert jedoch, dass dieses bedeuten müsste, dass man ein Werk nur verstehen kann, wenn man die Weltanschauung einer bestimmten sozialen Gruppe versteht, und das diese Gruppe nicht eindeutig zu definieren sei, durch die Differenz von Herkunfts- und Adressatengruppe (Bourdieu 199, 324).

Durch diese Gegenüberstellung der beiden Theorien kommt er zu dem Schluss, dass es zu einem „Durchbruch“ von Theorien kommen soll, „die sich weniger von der rein theoretischen Rivalität mit anderen Theorien nähren, als von der Konfrontation“ (Bourdieu 199, 285). Diesen Durchbruch sieht er in der Anwendung der Theorie vom sozialen Raum und der Verwendung der Begriffe Habitus, Kapital und Feld.

Der abstrakte Begriff Habitus bezeichnet bei Bourdieu das, was eine Person ausmacht (Fuchs-Heinritz/König 2005, 113 ff.). Der Habitus ist das Innenleben, ein einverleibtes inkorporiertes „System von Anlagen zu einem bestimmten Verhalten“ (ebd.). Greifbarere Beispiele für Habitus sind Vorlieben und Abneigungen von Menschen, Benehmen, Geschmack und Auftreten. Somit bestimmt der Habitus eines Menschen welche Musik er gerne hört, was er gerne isst, anzieht und wo er wohnt. Der Habitus ist durch Erfahrungen erworben und somit auch gesellschaftlich bedingt und klassenspezifisch (ebd.). Daher kann man einen Habitus auch einem bestimmten Feld zuordnen.

Kapital ist nach Bourdieu (1992, 49 zit. nach Koob 2007, 207) „akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter’ Form. Der Soziologe unterscheidet weiterhin zwischen drei Formen von Kapital: ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital und soziales Kapital. Das ökonomische Kapital sind alle Formen des materiellen Besitzes die meist über Erwerbsarbeit entstehen wie Geld, Eigentum oder Immobilien (Koob 2007, 207).

Das kulturelle Kapital setzt sich wiederum aus drei Formen zusammen: inkorporiertes, objektives und institutionalisiertes Kapital. Das inkorporierte (verinnerlichte) Kapital stellt die Verbindung zum Habitus dar, da es das ausmacht, was „zu einem festen Bestandteil der ‚Person’, zum Habitus, geworden ist; Aus ‚Haben’ ist ‚Sein’ geworden“ (Bourdieu 1992, 56 zit. nach Koob 2007, 207 f.). Es umfasst kulturelle Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Produkte von Sozialisationsprozessen sind und zu dem Charakter einer Person zählen. Objektives Kulturkapital hingegen ist in ökonomisches Kapital übertragbar, da es sich hierbei um kulturelle Güter wie Gemälde, Bücher und technische Instrumente handelt (Koob 2007, 208). Es wird in der Regel ökonomisches Kapital benötigt, um objektives Kapital zu besitzen, und inkorporiertes Kulturkapital um dieses zu verstehen, anzuwenden und wertzuschätzen (ebd.). Institutionalisiertes Kulturkapital sind statusindizierende Titel wie Abschlusszeugnisse, Bildungstitel oder Zertifikate (ebd.). Diese Titel schaffen nach Bourdieu den „Unterschied zwischen dem kulturellen Kapital des Autodidakten […], und dem kulturellen Kapital, das durch Titel schulisch sanktioniert und rechtlich garantiert ist (Bourdieu 1992, 61 zit. nach Koob 2007, 208).

Bei der dritten Form, dem sozialen Kapital, handelt es sich nach Bourdieu (1992, 63 zit. nach Koob 2007, 208) um „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“. Es handelt sich daher um Beziehungen, das „Kennen und Anerkennen“ (ebd.), zwischen natürlichen Personen, wie beispielsweise Freundschaften und Geschäftsverbindungen. Soziales Kapital kann selbstständig aufgebaut, vererbt oder als soziale Rolle zugeschrieben werden (Koob 2007, 211). Es wirkt selektiv, was bedeutet, dass es gesellschaftliche Positionen mitbestimmt (Koob 2007, 213).

Alle drei Formen des Kapitals treten als symbolisches Kapital in Erscheinung, wenn sie einer Bewertung durch die Gemeinschaft unterliegen (Koob 2007, 208). Symbolisches Kapital ist daher keine eigene Größe, sondern „die Form, die jede Kapitalsorte annimmt, wenn sie über Wahrnehmungskategorien wahrgenommen wird“ (ebd.). Es handelt sich hierbei also um die Anerkennung und Bewertung durch die Gesellschaft des Besitzes der drei Kapitalformen.

Bourdieu bringt nun das kulturelle und das ökonomische Kapital in seinem Modell des sozialen Raums zusammen.[3]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der soziale Raum ist ein Rahmen in dem gesellschaftliche Positionen von Individuen und deren Lebensstile verortet werden. Der soziale Raum wiederum lässt sich in Felder unterteilen. Bourdieu unterscheidet beispielsweise zwischen einem politischen, ökonomischen und künstlerischem Feld. Jede Position eines Feldes wird einem bestimmten Akteur zugeordnet. Für jedes Feld existiert ein bestimmtes Regelsystem welches erlaubte und verbotene Verhaltensweisen festlegt (Schwingel 2005, 83). Die Regel eines Feldes sind nicht explizit festgelegt sondern werden durch die Feldteilnehmer und ihrem Ermessen befolgt. So kann das Nichteinhalten der unausgesprochenen Regeln zu einer Modifizierung des Feldes und der Positionen der Feldteilnehmer führen. Durch derartige Veränderungen ist das Feld einer ständigen Dynamik ausgesetzt. Außerdem wirkt die sich ständig wandelnde Verteilung des Kapitals der einzelnen Teilnehmer sich zusätzlich auf die Machtverhältnisse im Feld aus (Schwingel 2005, 96f.).

Bereits diese enorm verkürzte Erläuterung zeigt, dass Bourdieus Distinktionstheorie von großer Dynamik gekennzeichnet ist, und keine starren Regeln befolgt werden. Diese Theorie übertrug er in Die Regeln der Kunst (Bourdieu 1999) auf die Literatur, und stellt den Anspruch, dass seine Theorie einer angemessenen, dynamischen Interpretation von Werken gerecht wird. Für seine Vorgehensweise definiert er keine Regeln, sondern zeigt exemplarisch wie die Theorie des Feldes auf die Literatur angewendet werden kann. Er geht dabei so vor, als wenn es sich um reale Figuren handeln würde: durch das Kapital und den Habitus einer Person wird ihr eine bestimmte Position in einem Feld zugewiesen. Die einzelnen Positionen der Figuren stehen in Beziehung und Wechselwirkung zueinander. Außerdem wird das objektive Kulturkapital, in diesem Fall das Buch Der Zauberberg, eine Position im literarischen Feld zugewiesen. Dieses beinhaltet auch, dass Thomas Mann eine bestimmte Feldposition zugeteilt wird. Diese Vielzahl von Faktoren führt nun zu einer dynamischen Analyse des Werkes und der fiktiven Figuren. Bourdieu versucht durch diese Theorie Lesarten die sich nur auf den Autor oder nur auf die internen Gegebenheiten eines literarischen Werkes beschränken zu vereinigen.

Bourdieu (1999, 328) kommt zu dem Schluss, dass der Begriff des Feldes es ermöglicht „über den Gegensatz zwischen interner und externer Analyse hinauszugelangen, ohne irgendetwas von den Erkenntnissen und Anforderungen dieser traditionell unvereinbar geltenden Methoden aufzugeben“. Für Bourdieu (1999, 309) stellt das Feld einen „Ort der Koexistenz aller Standpunkte“ dar, „von dem aus sich […] unterschiedliche und miteinander konkurrierende Perspektiven bieten“ .

[...]


[1] Der Zauberberg (Mann 2007) wird zugunsten des Textflusses beim Zitieren im folgenden Teil der Arbeit mit „ZB“ abgekürzt.

[2] Theorie vom Feld und Distinktionstheorie werden synonym verwendet

[3] Quelle: http://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/theorien/modernisierung/unterpunkte/raum.htm

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Hans Castorps Seelenzauber
Untertitel
Die Musik im 'Zauberberg' im Kontext der Distinktionstheorie Bourdieus
Hochschule
Universität Rostock  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
„Der gute und der schlechte Russentisch“ Kultursoziologische Systematik am Beispiel Thomas Manns Zauberberg und des literarischen Feldes der frühen Moderne (1890-1930)
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
23
Katalognummer
V124510
ISBN (eBook)
9783640297436
ISBN (Buch)
9783640302826
Dateigröße
588 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zauberberg, Thomas Mann, Pierre Bourdieu, Castorp
Arbeit zitieren
Katharina Teichert (Autor:in), 2008, Hans Castorps Seelenzauber, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124510

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