Barrieren des Lernens und der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika dargestellt an einer Region Brasiliens


Examensarbeit, 2006

86 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 EINLEITUNG

2 BARRIEREN DES LERNENS UND DER TEILHABE – THEORETISCHE GRUNDLAGEN
2.1 BEGRIFFLICHE HERLEITUNGEN UND FESTLEGUNGEN
2.1.1 Inklusion
2.1.2 Der Index für Inklusion
2.1.3 Barrieren des Lernens und der Teilhabe
2.2 RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN FÜR EINE PÄDAGOGIK DER VIELFALT
2.2.1 Internationale Beschlüsse als Aktionsrahmen für inklusives pädagogisches Handeln
2.2.2 Salamanca Erklärung – Pädagogik für besondere Bedürfnisse

3 DAS BILDUNGSWESEN LATEINAMERIKAS
3.1 DAS BILDUNGSSYSTEM LATEINAMERIKAS – ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT
3.1.1 Zur Geschichte der Bildungs- und Erziehungssysteme in Lateinamerika
3.1.2 Gegenwärtiger Stand des Bildungswesens Lateinamerikas
3.1.3 Aspekte der Integration in Lateinamerika
3.2. DAS BILDUNGSSYSTEM BRASILIENS
3.2.1 Aufbau des Bildungssystems
3.2.2 Privater und öffentlicher Bereich
3.2.3 Einschulung – Repetenz – Evasion
3.2.4 Perspektiven im brasilianischen Bildungssystem

4 BARRIEREN DES LERNENS UND DER TEILHABE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN IM NORDOSTEN BRASILIENS
4.1 DER NORDOSTEN BRASILIENS – ALLGEMEINE THEORETISCHE GRUNDLAGEN
4.1.1 Geographische und topographische Angaben
4.1.2 Politische und wirtschaftliche Situation
4.1.3 Die Bevölkerung
4.2 LEBENSBEDINGUNGEN VON KINDERN MARGINALISIERTER BEVÖLKERUNGSGRUPPEN IM NORDOSTEN BRASILIENS
4.2.1 Wirtschaftliche Situation der Familien
4.2.2 Kinderarbeit und ihre Auswirkungen
4.2.3 Wohnverhältnisse
4.2.4 Familienstruktur
4.3 LEBENSBEDINGUNGEN VON „STRAßENKINDERN“ IM NORDOSTEN BRASILIENS
4.3.1 Gründe für das Verlassen der Familien
4.3.2 Soziales und familiäres Umfeld der Straßenkinder

5 EMPIRISCHER TEIL
5.1 DAS PROJEKT LEVANTE
5.1.1 Aufbau und Zielsetzung
5.1.2 Arbeitsbereiche
5.2 GEGENSTAND UND BEGRÜNDUNG DER UNTERSUCHUNG
5.2.1 Empirische Basis
5.2.2 Methodischer Ansatz
5.2.3 Darstellung der Ergebnisse
5.2.4 Zusammenfassung

6 RESÜMEE

LITERATUR

1 Einleitung

Immer wieder stoßen Kinder und Jugendliche auf Hindernisse bei der Entwicklung ihrer vielfältigen Fähigkeiten und ihrer Bedürfnisse. Seien es Menschen, Strukturen, Institutionen, Kulturen oder soziale und ökonomische Bedingungen, welche ihr Leben in verschiedener Weise beeinflussen, so haben diese Faktoren doch immer eines gemeinsam: sie hindern das Individuum daran, ein Leben zu führen, welches seinen besonderen und einzigartigen Bedürfnissen gerecht werden kann. In ganz grundlegender Weise prägen sie die alltäglichen Lebensbedingungen eines Kindes und sind letztendlich für die Entwicklung desselbigen verantwortlich.

In Lateinamerika sind Kinder in einem ganz anderen Maße, als beispielsweise in Deutschland, diesen äußeren Faktoren ausgesetzt. In eine Welt hineingeboren zu werden, in welcher es kaum als selbstverständlich betrachtet werden kann, feste Bezugspersonen sowie ein Zuhause zu besitzen, birgt enorme Risiken und Gefahren. Viele der Kinder Lateinamerikas führen daher ein Leben in Selbstautonomie auf der Straße. Ohne feste Bindungen und Orientierung, allerdings stets auf der Suche nach diesen, sind sie äußerst risikoreichen Bedingungen ausgesetzt, welche sie daran hindern, ein Leben in voller Teilhabe und Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen erleben zu dürfen. Insofern soll diesen Kindern innerhalb dieser Arbeit auch eine ganz besondere Stellung zuteil werden. Denn gerade sie sind es, die auf Barrieren des Lernens und der Teilhabe stoßen und diese in ganz besonderer Weise erfahren.

Innerhalb Lateinamerikas sind Kinder ohne feste Bindungen vor allem in Brasilien anzutreffen. Man schätzt ihre Zahl auf mehr als 12 Millionen. Dabei leben die meisten der sogenannten Straßenkinder im Nordosten Brasiliens, der Region des Landes, in welcher Menschen unter den schwierigsten Lebensbedingungen dieses doch so vielseitigen Landes leben müssen. Dies mag auch der Grund dafür sein, weshalb ich mich innerhalb meiner Ausführungen auf diese Region beziehen möchte. Ein weiterer Grund ist darin zu sehen, dass ich selbst vor einigen Jahren für sechs Monate in einem Projekt für ehemals auf der Straße lebende Kinder im Nordosten Brasiliens (Recife) gearbeitet habe, und insofern auch die örtlichen Gegebenheiten kenne.

Die vorliegende Arbeit fragt nach den Barrieren des Lernens und der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika, ganz speziell im Nordosten Brasiliens.

Sie möchte anhand der verschiedenen Faktoren des Systems Hindernisse aufzeigen, die sich einem Kind in seiner kindgerechten und ihm dienlichen Entwicklung in den Weg stellen. Dabei stellen sich folgende zentrale Fragen: Wo konkret liegen die Barrieren des Lernens und der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika und insbesondere im Nordosten Brasiliens? Wo existieren Ressourcen, um diese Barrieren zu überwinden? Was muss also für eine Verbesserung von Bildung und Erziehung für alle Kinder getan werden?

Zur Beantwortung dieser Fragen sollen in einem ersten Schritt die theoretischen Grundlagen des Begriffs „Barrieren des Lernens und der Teilhabe“ betrachtet werden. Ausgehend von relevanten Begriffserklärungen sollen Charakteristika und Prinzipien einer Inklusiven Pädagogik erläutert werden. Dabei wird ein Zugang zu dem Begriff „Barrieren des Lernens und der Teilhabe“ über dem aus ihm entnommenen Index für Inklusion, einem Leitfaden für inklusives Handeln erfolgen. Die Ausführungen dieses Kapitels können gleichzeitig die Einsicht in die Notwendigkeit einer inklusiven Erziehung schärfen. Dabei bezieht sich der Begriff Inklusion nicht nur auf den schulischen Aspekt, sondern vielmehr soll es um alle Bereiche des Lebens betreffende Faktoren gehen. Im darauf folgenden Kapitel wird dann näher darauf eingegangen werden, welche rechtlichen Rahmenbedingungen gegenwärtig für eine integrative Erziehung existieren. Dabei sollen die internationalen Beschlüsse verdeutlichen, inwiefern theoretisch Handlungsmöglichkeiten für eine Verbesserung von Bildung und Erziehung gegeben sind. Im Vorstellen des Bildungswesens Lateinamerikas mit seiner Geschichte, seinem gegenwärtigen Stand und der Betrachtung seiner integrativen Ansätze, soll sich dem brasilianischen Bildungssystem mit seinen Besonderheiten genähert werden. Im Hauptteil der Arbeit werden die Faktoren, welche Hindernisse des Lernens und der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen im Nordosten Brasiliens sind, vorgestellt und erläutert. Beachtung finden dabei nicht nur die allgemeinen theoretischen Angaben über den Nordosten Brasiliens, wie z.B. die wirtschaftliche und die politische Lage, sondern auch die Lebensbedingungen marginalisierter Bevölkerungsgruppen sowie der aus ihnen hervorgehenden Gruppe der auf der Straße lebenden Kinder. Im letzten Kapitel werden die theoretischen Überlegungen und Betrachtungen dann mit den Erfahrungen aus der Praxis untermauert. Dabei sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass diese Arbeit zwar einen Empirieteil enthält, jedoch aufgrund der unzureichenden Forschungsmaterialien keine empirische Arbeit darstellen kann. Die Angaben der ehemaligen Straßenkinder aus dem Nordosten Brasiliens sind eher dazu gedacht, ein geeignetes Instrumentarium zur teilweisen Beantwortung der Frage zu sein, wie Hindernisse im Lernen und der Teilhabe überwunden werden können.

Dieser Arbeit angehängt wurden die von den ehemaligen Straßenkindern ausgefüllten Fragebögen.

2 Barrieren des Lernens und der Teilhabe – Theoretische Grundlagen

Wenn untersucht werden soll, inwiefern Kinder und Jugendliche auf Hindernisse in ihrem Leben stoßen, ist es unabdingbar, klar zu formulieren, was sich hinter dem Wort „Hindernis“ beziehungsweise in dem dieser Arbeit zugrundeliegendem Begriff „Barrieren des Lernens und der Teilhabe“ verbergen kann. Für diesen Begriff besteht ein enormer Forschungsbedarf, insbesondere dann, wenn er sich auf die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika bezieht. Wie kann der Begriff daher definiert werden? Woher entstammt er? In welche Beziehung kann er zu den konkreten Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen gesetzt werden? In welchem Kontext kann er zu den bereits bestehenden Bildungs- und Erziehungssystemen gesehen und verstanden werden? In dem nachfolgenden Kapitel soll dies nun näher betrachtet werden. Dabei soll insbesondere auf die Entstehung des Begriffs sowie auf die Auswirkungen seiner Existenz innerhalb der Erziehungswissenschaften sowie für das gesamte Erziehungs- und Bildungssystem eingegangen werden.

2.1 Begriffliche Herleitungen und Festlegungen

Der dem Index für Inklusion entnommene Begr]iff „Barrieren des Lernens und der Teilhabe“ ist ein relativ neuer Begriff im Rahmen der Debatte um ein inklusives Handeln bezüglich des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen. Er ersetzt das bekannte Konzept des „sonderpädagogischen Förderbedarfs“, indem er auf die vielseitigen Hindernisse verweist, denen Kinder in ihrem Leben begegnen können. Es geht ihm dabei nicht nur um die Hindernisse als solche, sondern auch um die Hintergründe dieser Schwierigkeiten, denen Kinder in ihrem Leben ausgesetzt sind. Welche konkreten Ursachen gibt es zum Beispiel dafür, dass Kinder nicht in einem ihrer Entwicklung dienlichem Umfeld aufwachsen? Wo ergeben sich insofern z.B. Einschränkungen im Zugang zu einer Förderung in den Bereichen Wahrnehmung, Motorik und Sprache?

In engem Zusammenhang mit den Barrieren des Lernens und der Teilhabe steht auch der Begriff Inklusion. Er leitet sich ab aus dem in dem angelsächsischen Raum geläufigen Begriff der „inclusive education“. Innerhalb der Debatte um eine Weiterentwicklung der „Integrationspädagogik“ geht er der Frage nach, inwiefern sich der Begriff auch für den deutschsprachigen Raum durchsetzen könnte. Inwiefern dies, mit besonderem Blick auf eine Pädagogik der Vielfalt, zutreffen kann, soll in dem nachfolgendem Abschnitt näher beschrieben werden.

2.1.1 Inklusion

Der Begriff Inklusion wird in vielerlei Bereichen verwendet. In Politik, Wirtschaft, Geschichte, Religion und einigen Sozialwissenschaften gewinnt er mehr denn je an Bedeutung. Im Rahmen dieser Arbeit beziehen sich aber die nachfolgenden Aussagen insbesondere auf den Bereich der Bildung und Erziehung.

Betrachtet man Inklusion aus einer systemtheoretischen Sicht, so versteht man unter ihr, in welcher Form Personen in Sozialsystemen Berücksichtigung finden – oder auch nicht (vgl. Merten 2004: 102). Allerdings muss in diesem Zusammenhang darauf geachtet werden, dass dabei nur die Position der gesellschaftlichen Teilhabe in den Blick genommen wurde. Wenn von Inklusion die Rede ist, ist dies wohl nur eine unzulässige Verkürzung. „Inklusion muss man [...] als eine Form begreifen, deren Innenseite (Inklusion) als Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen bezeichnet ist und deren Außenseite unbezeichnet bleibt. Also gibt es nur Inklusion, wenn Exklusion möglich ist.“ (Luhmann 1997: 620f.). Exklusion wiederum bezeichnet dabei, dass „jemand an den teilsystemischen Kommunikationsprozessen nicht teilhat“ (Stichweh 1998: 540).

Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht und insbesondere auf das System Schule bezogen, meint Inklusion eine Einbeziehung aller Gruppierungen/Personen in eine große und gemeinsame Gruppe, in welcher keine Norm mehr existieren muss, da die Individualität des Einzelnen vorrangig zählt. Beginnend bei der Wahrnehmung von Unterschieden zwischen SchülerInnen, baut Inklusion auf diesen Unterschieden auf und kann tiefgreifende Veränderungen dabei bewirken, was im Klassenraum, im Lehrerzimmer, auf dem Schulhof und in der Beziehung zu Eltern geschieht. Eine inklusive Pädagogik nimmt Kinder und Jugendliche daher als ganze Person wahr. Dabei steht die Wahrnehmung, Akzeptanz und Wertschätzung eines jeden im Vordergrund. Wenn Inklusion entwickelt wird, bedeutet dies gleichzeitig, Aussonderungsdruck zu reduzieren (vgl. Index für Inklusion 2003: 11). Aussonderung wird dabei – wie auch Inklusion – in dem weiten Sinne verstanden, dass sie sich auf alle zeitweiligen oder längerfristigen Drucksituationen bezieht, die an der vollen Teilhabe hindern. Schwierigkeiten, die zu Aussonderungsdruck führen, können auf der Beziehungsebene liegen, mit Unterrichtsgegenständen zu tun haben und aus dem Gefühl entstehen, nicht wertgeschätzt zu werden. Anliegen der Inklusion ist es insofern, alle Barrieren in Bildung und Erziehung für alle SchülerInnen auf ein Minimum zu reduzieren (vgl. ebd.: 11).

Der Gedanke der Inklusion schafft aber auch eine neue Qualität bezüglich des Miteinanders, der Pädagogik und der Infrastruktur kultureller und anderer Lebensräume. Es geht nicht mehr um das „Dazuholen“ (integrieren) oder „Teilhabenlassen“ von Menschen mit Beeinträchtigungen, von Menschen anderer ethnischer Herkunft oder von Menschen, die mit anderen Kriterien gesellschaftlicher Minderheiten stigmatisiert werden. Allgemein kennzeichnend ist die Auffassung, dass eine Gesellschaft aus Individuen besteht, die sich voneinander unterscheiden. Um dieser Tatsache gerecht zu werden, muss die Gesellschaft dafür Sorge tragen, dass der Zugang aller BürgerInnen zu Institutionen und Dienstleistungen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Dispositionen ermöglicht wird. Jeder Mensch soll die Unterstützung und Hilfe erhalten, die er für die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben benötigt. „Verschiedenheit ist normal!“ (vgl. Merten 2004: 102).

Im Hinblick auf das System Schule muss diese – inklusiv verstanden – eine Institution sein, die alle Kinder und Jugendlichen willkommen heißt. Konkreter beschrieben bedeutet dies, dass die Steigerung der Teilhabe aller SchülerInnen an Kultur, Unterrichtsgegenständen und Gemeinschaft ihrer Schule einen hohen Stellenwert einnimmt. Inklusion in Erziehung und Bildung bedeutet den Abbau von Barrieren für Lernen und Teilhabe für alle SchülerInnen, nicht nur solcher mit Beeinträchtigungen oder solcher, denen besonderer Förderbedarf zugesprochen wird. Sie möchte aber auch die Sichtweise fördern, dass Unterschiede zwischen den SchülerInnen Chancen für das gemeinsame Lernen sind und nicht etwa Probleme, die überwunden werden müssen. Weiterhin setzt Inklusion auf eine Weiterentwicklung der Kulturen, Strukturen und Praktiken in Schulen, so dass diese besser auf die Vielfalt der SchülerInnen ihres Umfeldes eingehen. Sie setzt des Weiteren auf den Aus- und Aufbau nachhaltiger Beziehungen zwischen Schulen und Gemeinden. Letztendlich fordert Inklusion in Erziehung und Bildung, ein Aspekt von Inklusion in der Gesellschaft zu sein (vgl. Index für Inklusion 2003: 10).

Die inklusive Pädagogik befasst sich nicht mehr nur mit einzelnen Unterschieden von Menschen, wie es z.B. im Zusammenhang mit Koedukation, der Integration von Kindern mit Behinderungen oder der Interkulturellen Erziehung der Fall war, sondern sie rechnet grundsätzlich mit der Komplexität und Heterogenität der Lerngruppen und stellt sich in ihren kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklungs- und Lernangeboten darauf ein. Alle Schulen müssen daher mit der Verschiedenheit ihrer Schülerinnen und Schüler umgehen. In der inklusiven Schule wird diese jedoch vorausgesetzt und es wird ihr mit einer Pädagogik der Vielfalt entsprochen. Kinder und Jugendliche sind verschieden im Hinblick auf Geschlecht, Alter, soziale Herkunft und Bildung, im Hinblick auf Nationalität und Muttersprache, Hautfarbe und Religion sowie auf ihre sozialen Fähigkeiten, Begabungen und besondere Beeinträchtigungen. Daher müssen Konzepte, Planungen und Überlegungen im Hinblick auf die Arbeit mit Kindern (nicht nur in Bezug auf Schule!) sich an diesen Individualitäten ausrichten.

2.1.2 Der Index für Inklusion

Der Index für Inklusion geht auf Vorarbeiten in Australien und den USA zurück. Bereits in den 1980er Jahren hatte man dort versucht, über einen Index die integrative Qualität der Situation eines Kindes zu dokumentieren. Mitte der 1990er Jahre entschloss sich dann allerdings ein Team von WissenschaftlerInnen, SchulleiterInnen, LehrerInnen und Eltern dazu, von der Ebene des einzelnen Kindes auf die Ebene einer ganzen Schule zu wechseln. Mit dem Index für Inklusion erstellten sie eine Sammlung von Materialien, die Schulen im Prozess der inklusiven Schulentwicklung unterstützen sollten. Dabei ist ihnen besonders wichtig, dass es sich um ein flexibel einsetzbares Material handelt, welches entsprechend den jeweils bestehenden lokalen Bedingungen und Fragestellungen modifiziert werden soll, auch wenn ein Gesamtprozess inklusiver Schulentwicklung vorgeschlagen wird (vgl. Boban & Hinz 2003: 43).

Der Index ist so aufgebaut, dass er einen Prozess der Selbstevaluation umschließt, in dessen Rahmen eine Reihe von Schulentwicklungsphasen durchlaufen werden. In der ersten Phase wird der Prozess begonnen und in der zweiten Phase die Schulsituation näher beleuchtet. Dies beinhaltet, dass eine Koordinationsgruppe alle Aspekte der Schule gemeinsam mit den schulischen Gremien, dem Kollegium, SchülerInnen und Eltern untersucht, Hindernisse für das Lernen und die Partizipation benennt, Prioritäten für die Entwicklung setzt und den Prozess reflektiert. Mit Hilfe von Indikatoren und Fragen soll es den Schulen ermöglicht werden, eine tiefe und herausfordernde Auseinandersetzung um ihre derzeitige Position in Bezug auf Integration zu beginnen. In den darauffolgenden Phasen wird ein inklusiver Schulentwicklungsplan entworfen, die Entwicklungen umgesetzt und der Index –Prozess überprüft.

Inhaltlich gesehen bezieht sich der Prozess inklusiver Schulentwicklung auf drei Dimensionen: auf inklusive Kulturen, Strukturen und Praktiken.

„Dimension A: Inklusive Kulturen schaffen“ beinhaltet den Aufbau einer sicheren, akzeptierenden, zusammen arbeitenden und anregenden Gemeinschaft, in der jede(r) geschätzt wird, so dass alle SchülerInnen und MitarbeiterInnen ihre individuell bestmöglichen Leistungen erzielen können (vgl. ebd.: 45). Sie befasst sich mit der Entwicklung inklusiver Werte. Getragen wird eine inklusive Schulkultur von dem Vertrauen in die Entwicklungskräfte aller Beteiligter und dem Wunsch, niemanden zu beschämen.

„Dimension B: Inklusive Strukturen etablieren“ möchte Inklusion als zentralen Aspekt der Schulentwicklung absichern und alle Strukturen so festlegen, dass sie das Lernen und die Teilhabemöglichkeiten aller SchülerInnen erhöhen. Unterstützung besteht in Aktivitäten, die zur Fähigkeit einer Schule beitragen, auf die Vielfalt der SchülerInnen einzugehen (vgl. ebd.: 45). Bedeutend ist die Tatsache, dass alle Arten der Unterstützung von der Perspektive der SchülerInnen und ihrer Entwicklung aus betrachtet werden und nicht von den Verwaltungsstrukturen einer Schule oder eines Schulamtes.

„Dimension C: Inklusive Praktiken entwickeln“ beinhaltet, dass inklusive Kulturen und Strukturen der Schule durch die Schulen in ihren jeweiligen Praktiken wiedergespiegelt werden können. Dies meint konkret, dass Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Klassenraumes die Beteiligung aller SchülerInnen anregt und die Stärken, die Talente, das Wissen und die außerschulischen Erfahrungen des Einzelnen einbezogen werden. Lernprozesse werden so arrangiert, dass Lern- und Partizipationsbarrieren überwunden werden können und so für alle gemeinsames Lernen an gemeinsamen Lerngegenständen ermöglicht wird (vgl. ebd.: 45).

2.1.3 Barrieren des Lernens und der Teilhabe

Der Begriff „Barrieren des Lernens und der Teilhabe“ wurde in Zusammenhang mit dem Index für Inklusion entwickelt. Barrieren des Lernens und der Teilhabe verweisen auf Hindernisse in allen Bereichen des Lebens. Sie stehen für die Schwierigkeiten, die sich einem Menschen bei der bestmöglichen Entwicklung seiner Person in den Weg stellen. Innerhalb des Indexes ersetzt der Begriff das langjährige Konzept des „sonderpädagogischen Förderbedarfs“. Dieses Konzept setzt an den elementaren Entwicklungsbereichen wie Wahrnehmung, Motorik, Denken, Gefühlsleben und Sprache an, um Lernprozesse zu ermöglichen beziehungsweise zu optimieren. Dabei richtet sich die Förderung nicht auf die vorhandenen Schwierigkeiten, sondern geht von bestehenden Fähigkeiten und besonderen Interessen aus. Ein sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen zu vermuten, deren Entwicklungs-, Lern- und Bildungsmöglichkeiten derart beeinträchtigt sind, dass sie über einen längeren Zeitraum spezifische, kontinuierliche und umfassende individuelle Hilfen benötigen (vgl. Wittrock 1996: 42).

Dieser Ansatz, pädagogische Schwierigkeiten darauf zurückzuführen, dass einige Kinder einen „sonderpädagogischen Förderbedarf“ haben, weist jedoch erhebliche Beschränkungen auf. Bestimmten Personen wird somit ein Etikett verliehen, welches die Erwartungen an eine Person negativ beeinflussen kann. Dabei wird gleichzeitig aber auch die Aufmerksamkeit von den bestehenden Schwierigkeiten anderer SchülerInnen ohne dieses Etikett abgewendet. In den Hintergrund geraten auch diese Schwierigkeiten in Beziehungen, Kulturen, Inhalten, Unterricht und Lernzugängen, Schulorganisation und Strukturen. Hinzu kommt, dass der Begriff immer mehr zu einer Aufspaltung der Anstrengung beiträgt, mit denen Schulen ihren SchülerInnen zu entsprechen versuchen, die unter unterschiedlichen Begriffen wie „sonderpädagogischer Förderbedarf“, „Deutsch als Zweitsprache“, „ethnische Minderheit“ oder „hochbegabt“ gefasst werden (vgl. Index für Inklusion 2003: 12).

Auch kann der Ansatz von „Barrieren für Lernen und Teilhabe“ dazu genutzt werden, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was für die Verbesserung von Bildung und Erziehung für alle Kinder getan werden muss. Barrieren und Schritte zur Überwindung derselbigen können in allen Aspekten des Systems gefunden werden: in Schulen, Gemeinden, lokalen, länderspezifischen und landesweiten Strukturen. Diese Barrieren können den Zugang zu einer Schule verhindern und/oder die Partizipation in ihr begrenzen (vgl. ebd.: 12).

Wenngleich das allgemeine Verständnis und die Sprache des „sonderpädagogischen Förderbedarfs“ der Entwicklung inklusiver Praktiken im Wege stehen kann, so bleibt er doch Teil der kulturellen und strukturellen Rahmenbedingungen und beeinflusst auch die Vielzahl aller Praktiken. So wird sie beispielsweise bei der Erstellung von „individuellen Förderplänen“ benutzt. Da beim Wechsel zu einer anderen Betrachtung von Lernschwierigkeiten noch mit der bestehenden Sprache gearbeitet werden muss, sorgt dies derzeit noch für eine große Komplexität. Allerdings sind diejenigen der Meinung, welche das alternative Konzept aufnehmen, dass sie dabei helfen, neue Möglichkeiten zu entwickeln, Schwierigkeiten in der Schule herauszufiltern und diese auch zu überwinden (vgl. ebd. : 12).

2.2 Rechtliche Rahmenbedingungen für eine Pädagogik der Vielfalt

Anhand einiger überzeugender Argumente soll hier aufgezeigt werden, dass eine rechtliche Verankerung unablässig dabei ist, wenn Menschen integrative beziehungsweise inklusive Maßnahmen erfahren sollen. Dabei sollen Begründungsansätze gefunden werden, auf deren Grundlage eine Einbeziehung dieser Menschen als allgemeine Pflicht eines jeden Einzelnen anerkannt werden muss. Ausgangspunkt hierfür soll das Menschenbild darstellen, welches sich sowohl in den Einstellungen innerhalb der Gesellschaft, als auch in der konkreten Akzeptanz des „behinderten“ Lebens ausdrückt. PRENGEL stellt fest, dass erst auf der Basis gleicher Rechte ein nichthierarchisches „Miteinander des Verschiedenen“ möglich ist (vgl. Prengel 1999: 95). Insofern ermöglicht die Pädagogik der Vielfalt auch die Annäherung an das Ziel der Bildung für alle, gerade deshalb, weil sie die partikularen Interessen behinderter und soziokulturell abweichender SchülerInnen nicht mehr ausgrenzt, sondern als Aufgabe der allgemeinen Regelschule ins Spiel bringt (ebd.: 95).

Davon ausgehend kann auch die internationale Gesetzgebung an Bedeutung gewinnen, indem sie dieses Verständnis mehr fördert. Eine verstärkte gesetzliche Berücksichtigung von Menschen, welche im besonderen Maße auf Schwierigkeiten stoßen, muss auf der Basis einer demokratischen Verfassung innerhalb einer hierarchischen Abfolge (Grundgesetz – Sozialgesetzbuch – Schulgesetz) dazu führen, dass in der Gesellschaft ein verändertes Bewusstsein und Menschenbild entsteht (vgl. Bürli 1997: 49). Im allgemeinen gesellschaftlichen Verständnis muss ein Wandel ethischer Grundlagen erfolgen. Es gilt Barrieren abzubauen, so dass Menschen in allen Bereichen des Lebens keine „Behinderung“ mehr erfahren.

Damit stellt die gesetzliche Verankerung der Integration eine ethische Herausforderung dar, die die Akzeptanz zwischen allen Menschen stärkt.

2.2.1 Internationale Beschlüsse als Aktionsrahmen für inklusives pädagogisches Handeln

Inzwischen hat sich ein weltweiter Trend zur Zusammenführung der unterschiedlichen Kulturen und den individuellen Bedürfnissen der Menschen durchgesetzt. Dabei erfahren die Bedürfnisse der Menschen mit dem sogenannten speziellen Förderbedarf zunehmende Berücksichtigung, indem unterschiedliche Erklärungen und Beschlüsse die Weiterentwicklung inklusiver Pädagogik fordern. Stellvertretend hierzu ein Auszug aus den UN-Standardregeln (1993):

„Menschen mit Behinderungen sind Mitglieder der Gesellschaft und haben das Recht, in ihrer Gemeinschaft zu bleiben. (...) Die staatlichen Erziehungsbehörden sind verantwortlich für die Erziehung von Menschen mit Behinderung in einer integrativen Form. Die Erziehung von Menschen mit Behinderung sollte als ein integraler Bestandteil des staatlichen Erziehungswesens in Planung, Lehrplanentwicklung und Schulorganisation berücksichtigt werden (Regel 6)“ (Rosenberger 1998: 29).

Der Auszug macht deutlich, dass es sich jedes Erziehungssystem zur Aufgabe machen sollte, Menschen mit „Behinderungen“ in die Gesellschaft stärker einzubeziehen. Weiterhin kommt zum Ausdruck, dass eine schulische Integration die Grundvoraussetzung für eine gesellschaftliche Integration ist. Diese Feststellung ist in zahlreichen anderen Beschlüssen und Deklarationen in ähnlicher Form zu finden. Repräsentativ für andere Erklärungen soll diese Forderung im Nachfolgenden anhand der weltweit beachteten Salamanca Erklärung präzisiert werden. Dabei soll eine Erläuterung im Hinblick auf integrationsrelevante Aspekte genügen.

2.2.2 Salamanca Erklärung – Pädagogik für besondere Bedürfnisse

Vom 07.-10. Juni 1994 trafen sich über 300 Teilnehmer, darunter hochrangige Repräsentanten von 92 Regierungen und 25 unterschiedlichen Behörden sowie zwischenstaatliche Organisationen, um in Salamanca (Spanien), das Ziel einer „Bildung für Alle“ zu unterstützen. Die Konferenz wurde von der spanischen Regierung in Zusammenarbeit mit der UNESCO initiiert, um politische Abänderungen zu diskutieren, die für eine Förderung der integrativen Pädagogik notwendig sind. Als Grundlage für die Diskussion dienten dabei unterschiedliche Deklarationen der Vereinten Nationen, wie die 1948 erschienene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die UN-Konvention über die Rechte des Kindes (1989), die Weltdeklaration Erziehung für Alle (1990) und die UN-Standardregeln (1993) (vgl. Rosenberger 1998: 28 f). Diese UN-Dokumente belegen eine „[...] internationale Absichtserklärung zugunsten der Verwirklichung einer nichtaussondernden schulischen Förderung [...].“ (vgl. ebd.: 28). Getragen werden diese Erklärungen von der Einsicht, dass jeder Menschen, gleich welcher Abstammung, welcher Herkunft und welcher besonderen Bedürfnisse, integraler Bestandteil des Schulsystems sein muss. Auf der Basis dieser zentralen Erkenntnis wurde in Salamanca ein Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse befürwortet: „Wir glauben und erklären,

- Dass jedes Kind ein grundsätzliches Recht auf Bildung hat und dass ihm die Möglichkeit gegeben werden muss, ein akzeptables Lernniveau zu erreichen und zu erhalten,
- Dass jedes Kind einmalige Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnisse hat, (...)
- Dass jene mit besonderen Bedürfnissen Zugang zu regulären Schulen haben müssen, (...)
- Dass Regelschulen mit dieser integrativen Orientierung das beste Mittel sind, um diskriminierende Haltungen zu bekämpfen, (...) um eine integrierende Gesellschaft aufzubauen und um Bildung für alle zu erreichen; (...).

Wir fordern alle Regierungen dazu auf und legen ihnen nahe:

- (...) Priorität auf die Verbesserung ihrer Schulsysteme dahingehend zu richten, dass diese alle Kinder unabhängig von ihren individuellen Schwierigkeiten einbeziehen können
- Auf Gesetzes- beziehungsweise politischer Ebene das Prinzip integrativer Pädagogik anzuerkennen und alle Kinder in Regelschulen aufzunehmen, außer es gibt zwingende Gründe, dies nicht zu tun,
- dezentrale Strukturen zu entwickeln, (...)
- die Beteiligung von Eltern, Gemeinschaften und Organisationen von Menschen mit Behinderung an Planungs- und Entscheidungsprozessen (...) zu ermöglichen,
- größere Anstrengungen für Früherkennung und -förderung sowie für berufliche Aspekte integrativer Bildung zu unternehmen,
- (...) dass in der LehrerInnenausbildung, sowohl der Aus- als auch der Fortbildung, Inhalte einer Pädagogik für besondere Bedürfnisse in integrativen Schulen angesprochen werden.“ (vgl. Österreichische UNESCO Kommission 1996: 8-13)

Um diese Erklärungen und Forderungen umzusetzen, appellieren die Delegierten zur Weltkonferenz an nationale und internationale Organisationen (UNESCO, UNICEF, UNDP, WHO) und fordern diese dazu auf, den Ansatz in jeglicher Hinsicht zu unterstützen. Dabei ist dieser Aktionsrahmen als allgemeine Richtlinie für Vorhaben im Hinblick auf Prinzipien, Politik und Praxis der Pädagogik besonderer Bedürfnisse gedacht. Bewusst wird auch darauf verwiesen, dass der Aktionsrahmen, entsprechend den jeweiligen Bedingungen im Land durch staatliche, regionale und lokale Handlungspläne ergänzt werden muss, damit eine Bildung für alle erreicht werden kann (vgl. UNESCO: Die Salamanca Erklärung, 07.-10. Juni 1994).

Auch wenn es in Lateinamerika derzeit noch wenige Länder sind, die in wesentlichen internationalen Organisationen vertreten sind, so können sich diese jedoch nicht der internationalen Entwicklung der gemeinsamen Erziehung verschließen. Durch die verstärkte internationale Eingebundenheit geraten die Länder Lateinamerikas zunehmend unter Zugzwang, die Bedingungen für eine gemeinsame beziehungsweise eine generelle Erziehung zu verbessern. Aufgrund der Tatsache, dass in den meisten Ländern Lateinamerikas ein Sonderschulsystem mit dazugehörigen Selektionsmechanismen wie beispielsweise in Deutschland nicht existiert, stehen dort nicht die Aspekte der Integration in einem derartigen zentralen Feld, wie es in vielen Ländern Europas der Fall ist. Eher liegt für diese Länder ein Schwerpunkt bei der Umsetzung der Salamanca-Erklärung darin, den generellen Zugang aller Kinder zu einem Bildungssystem zu schaffen. Erst dann kann auch eine direkte und spezielle Förderung für die besonderen Bedürfnisse eines jeden Kindes erfolgen.

3 Das Bildungswesen Lateinamerikas

Das Bildungswesen Lateinamerikas ist geprägt von einer Vielfältigkeit aufgrund zahlreicher Einflüsse, welche größtenteils auf die langen Bildungstraditionen aus Portugal und Spanien zurückzuführen sind. Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Bildungssysteme auf einem großen Kontinent wie Lateinamerika ist es daher auch schwierig und unbrauchbar, von einem einheitlichen Ganzen zu sprechen. Vielmehr soll es in diesem Abschnitt darum gehen, ausgehend von der Geschichte des Bildungs- und Erziehungssystems die gegenwärtige Situation des Bildungswesens Lateinamerikas zu beleuchten. Dabei soll nicht nur der Aspekt der Integration eine Rolle spielen, sondern vom Großen zum Kleinen hinführend geht es um das Bildungssystem Brasiliens. Dabei soll die Situation eines Erziehungssystems Lateinamerikas insofern betrachtet werden, als dass allgemeine Rahmenbedingungen und Handlungsfelder auf ihre Wirksamkeit und Brauchbarkeit hin untersucht werden.

3.1 Das Bildungssystem Lateinamerikas – zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Eine ganz entscheidende Bedeutung für die Entwicklung einer Gesellschaft muss der Bildung und Erziehung beigemessen werden. Geprüft muss dabei werden, ob und wie Bildung die Entwicklung einer Gesellschaft vorantreibt oder ob sie ihr eher im Wege steht. Eingebettet in die jeweiligen gesellschaftlichen Umstände eines Landes, in spezifische Produktions- und Herrschaftsverhältnisse, war und ist Bildung immer und überall zugleich ein Instrument der Stabilisierung und Veränderung (vgl. Deppe-Wolfinger 1988: 7). Betrachtet man die unterschiedlichen Bildungssysteme Lateinamerikas, so müssen einige grundsätzliche und einflussreiche Faktoren für deren Entwicklung Beachtung finden. Dies fängt dabei an, dass die stärkere Entwicklung der Industrienationen unter anderem auf Kosten der Entwicklungsländer möglich war und immer noch ist. Auch liegt die Rückständigkeit der Entwicklungsländer nicht zuletzt an der kolonialen Abhängigkeit von den Industrienationen.

Lateinamerika unterscheidet sich hinsichtlich der Erziehungssysteme von anderen Entwicklungsregionen dadurch, dass seine Länder in der Phase des industriellen Wachstums mit dem Aufbau nationaler Erziehungssysteme nicht völlig vom Anfang an beginnen mussten. Sie blickten auf eine lange Bildungstradition aus Portugal und Spanien zurück und konnten somit auf etablierte Bildungssysteme vorwiegend aus Europa aufbauen. Lateinamerikanische Länder zeichneten sich oft durch die hohe Aufnahmebereitschaft gegenüber europäischen Bildungseinflüssen und –mustern aus. So wurden die unterschiedlichsten, aber nicht aufeinander abgestimmten Bildungsmodelle importiert, welche zwar Veränderungen in Gang setzten, ohne dabei aber zu einer zusammenhängenden und grundlegenden Transformation zu führen (vgl. Fanger 1983: 443).

Nach dem 2. Weltkrieg und im Zuge der Diskussion um die Rolle der Erziehung und Ausbildung war Lateinamerika zu einem Experimentierfeld der Unterstützung und Beratung durch regionale und internationale Organisationen geworden. Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren erfolgten wesentliche Impulse, bei denen es allerdings in erster Linie um das Primarschulwesen und die Erwachsenen-Alphabetisierung ging. Doch die Überschätzung der Realisierungschancen von Reformansätzen und des Stellenwertes der Bildung im Gesamtentwicklungsprozess allgemein, führten bei der internationalen Förderung der Bildungsentwicklung zu einer allgemeinen Ernüchterung. Einheimische Machtstrukturen blockierten vor allem solche Reformansätze, wie die Dualisierung der Primarstufe und die Berufsorientierung der Sekundarschule. Häufig wurden dann nur noch Teilreformen oder punktuelle Verbesserungsmaßnahmen unterstützt. Fehlen grundlegende Reformansätze, so kann Entwicklungshilfe ungewollt zur Beihilfe bei der Aufrechterhaltung der Unterentwicklung beitragen. Bildung und Bildungshilfe, speziell in Ländern der Dritten Welt, dürfen nicht losgelöst vom gesellschaftlichen und politischen Kontext betrachtet werden (vgl. ebd.: 444 f).

Das Funktionieren der Erziehungssysteme in Lateinamerika kann nur in Abhängigkeit vom Verstehen der Gesamtwirklichkeit gesehen werden. Ebenfalls ist es nur möglich, eine Neustrukturierung dieser Erziehungssysteme in Angriff zu nehmen, wenn dem ein politisches Umdenken vorausgeht. Betrachtet man Lateinamerika und die Beziehung zwischen der sozio-politisch-ökonomischen Struktur und dem Erziehungssystem in den einzelnen Ländern, so ist es schwierig, von Lateinamerika als einem einheitlichen Ganzen zu reden.

3.1.1 Zur Geschichte der Bildungs- und Erziehungssysteme in Lateinamerika

In den spanischen und portugiesischen Kolonien Amerikas verlief die Entwicklung des Bildungssystems nach den jeweiligen Kolonisationskonzepten. Während die Portugiesen versuchten, mittels Sklavenarbeit die Plantagenwirtschaft aufrecht zu erhalten, forderten die spanischen Expansionisten das Konzept einer Siedlungskolonisation mit dem Ziel, spanische Verhältnisse in Südamerika herzustellen. Sie schlossen vor allem in ihre zivilisatorischen Leitideen die eingeborene Bevölkerung mit ein und man befasste sich schon seit den Anfängen des 16. Jahrhunderts mit dem Problem der Bildung der Indianer. So wurde beispielsweise schon in dieser Zeit das dreiteilige Bildungssystem Spaniens eingeführt, während sich in den portugiesischen Kolonien die Primar- und Sekundarbildung erst viel später herausbildete und es nie zur Errichtung von Universitäten kam.

Die spanischen Kolonialisten unternahmen vom Beginn ihrer Mission an große Anstrengungen, um in Amerika ein am europäischen Vorbild ausgerichtetes Bildungssystem zu schaffen, was vor allem auf die rasche Europäisierung der Eingeborenen abzielte. So fragwürdig diese Bestrebungen in Bezug auf die Masse der Indianer auch war, so entstand doch eine indianische Elite, die als Bindeglied zwischen der Masse der Eingeborenen und der sich formierenden Kolonialgesellschaft fungierte. Auch wenn das Bildungswesen im Laufe der Kolonialzeit immer mehr zu einer stark elitären Institution wurde, so boten auch kirchliche Einrichtungen weniger wohlhabenden Bevölkerungsteilen der Eingeborenen, Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen und damit zu sozialem Aufstieg (vgl. Pietschmann 1988: 372). Obgleich schon zu Beginn der Kolonialzeit in den spanischen Kolonien Universitäten entstanden (z.B. wurde 1551 in Lima die erste Universität gegründet – Universidad de San Marcos), so kann aber die tatsächliche Entwicklung der lateinamerikanischen Erziehungssysteme wohl erst ab der Zeit der Bildung der Nationalstaaten Mitte des 19. Jahrhunderts gesehen werden. In diesen Zeiten der Neubildung vieler Staaten, war es das Ziel, diese neuen Staaten innerhalb von Kürze auf das gleiche wirtschaftliche Niveau wie die hochentwickelten Länder zu bringen. Um dieses Ziel zu erreichen, musste man sich der Bildung und Erziehung bedienen. Außerdem schloss man sich wirtschaftlich gesehen den Vorbildern Großbritanniens und Nordamerikas an. So wurde die europäische und nordamerikanische Kultur zum Leitbild für die kulturelle Entwicklung dieser Länder und zum wissenschaftlichen „Werkzeug“ für die Strukturierung der Erziehung. Vor allem versuchte man eine „Erziehung für alle“ (Eingeborene, Einwanderer und von ehemaligen Kolonialisten Abstammende) zu propagieren, was zu einer nie ganz erfüllten Hoffnung wurde. „Das Modell der europäischen Kultur wird so zum Instrument des Kampfes der „Zivilisation“ gegen die Barbarei“ (ebd.: 392). Zivilisation ist dabei Synonym für das neue Nationalbewusstsein, den wirtschaftlichen Fortschritt und die europäisierende Kultur. Barbarei ist dabei ein Synonym für die große Masse, die kulturell und ökonomisch zurückgeblieben ist.“ (ebd.: 393).

Obwohl das bisherige, auch unter Kolonialzeiten dreigeteilte Bildungssystem in relativ angemessener Weise dem Bedürfnis nach exportorientierter Macht entsprach, waren die Ausbildungsstrukturen aber letztlich nur auf die Universität, die nur von wenigen besucht wurde, ausgerichtet. Die Universität sollte den Weg zu politischen Ämtern und wirtschaftlichen Führungspositionen ebnen. Die meisten, die die Sekundaria absolvierten und somit eine Zugangsberechtigung zur Universität hatten, konnten diese Möglichkeit jedoch nicht nutzen. Für die große Mehrheit, die sogar die Primaria nicht absolvierte, waren die beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten noch geringer. Sie bildeten das riesige Heer der billigen Arbeitskräfte. Schließlich gibt es noch eine sehr hohe Zahl von Landarbeitern, die nicht einmal die Möglichkeit hatten beziehungsweise haben, Lesen und Schreiben zu erlernen (vgl. Waldmann 1997: 55).

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zu großen Einwanderströmen nach Lateinamerika, die vor allem zu einem Anwachsen der Mittelklasse (Kleingrundbesitzer, Beamte, Akademiker) führten. Diese Mittelschicht kämpfte besonders für die gleichen Chancen aller beim sozialen Aufstieg. Allerdings waren sie eher an kulturellen Wertevorstellungen und eigenen Interessen orientiert, als dass sie tatsächliche Alternativen zum bestehenden Bildungssystem forderten. Das System Schule bekam insofern einen symbolischen, kulturellen Wert. Dieser Prozess der Demokratisierung des Bildungssystems, zu dem sich die herrschenden Gruppen politisch verpflichtet sahen und den sie aber ihren Interessen anpassten, gestattete wiederum fast nur der Mittelschicht einen Zugang zu den Bildungseinrichtungen. Die breiten Bevölkerungsmassen aus der Unterschicht waren jedoch immer noch ausgeschlossen (vgl. Pietschmann 1988: 393 ff).

Ein erster Industrialisierungsprozess in Lateinamerika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte eine Urbanisierung und Landflucht mit sich, eine neue nationale, industrielle Bourgeoisie wurde geschaffen und das städtische Proletariat wuchs an. Trotz alledem wurde aber das traditionelle Erziehungssystem nicht grundlegend geändert, sondern es wurden einfach einige berufsbildende und technische Schulen an das bestehende Schulsystem angegliedert.

Eine neue Etappe der Industrialisierung, Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, ist auf die Entwicklung der Schwerindustrie ausgerichtet und damit auf ausländische Hilfen angewiesen. Dies bedeutete für die lateinamerikanischen Länder, die Neubestimmung der internationalen Arbeitsteilung und die herrschende Dynamik der Industrieländer zu akzeptieren. Gleichzeitig tauchten Volksbewegungen und Arbeiterorganisationen auf, doch die populistischen Entwicklungspläne führten letztlich zum Scheitern liberal-demokratischer Regierungen und zur Ausbreitung von technokratischen und Militärregierungen in Lateinamerika. Jetzt war es notwendig, die Ausbildung von technischen Spezialisten planvoll in Angriff zu nehmen und verschiedene Reformpläne der Erziehungssysteme, die auf Wissenschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit orientiert waren, in die Realität umzusetzen.

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Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Barrieren des Lernens und der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika dargestellt an einer Region Brasiliens
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Institut für Rehabilitationspädagogik)
Veranstaltung
Internationale Sonderpädagogik
Note
1,5
Autor
Jahr
2006
Seiten
86
Katalognummer
V124854
ISBN (eBook)
9783640299287
Dateigröße
588 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Barrieren, Lernens, Teilhabe, Kindern, Jugendlichen, Lateinamerika, Region, Brasiliens, Internationale, Sonderpädagogik
Arbeit zitieren
Tobias-Jonathan Rottmann (Autor:in), 2006, Barrieren des Lernens und der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika dargestellt an einer Region Brasiliens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124854

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