Form- und Farbgebung der Innenraumgestaltung im Jugendstil


Examensarbeit, 2006

80 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Jugendstil in seiner Erscheinungsform
2.1 Zeitliche Einordnung
2.2 Historische Entwicklung
2.3 Entwicklung auf regionaler Ebene
2.3.1 Die Arts and Crafts–Bewegung in England
2.3.2 Japonismus
2.3.3 Art Nouveau in Frankreich
2.3.4 Entwicklung in Deutschland
2.3.4.1 München
2.3.4.2 Berlin
2.3.4.3 Darmstadt
2.4 Kennzeichen und Programmatik

3 Formund Farbgebung der Innenraumgestaltung
3.1 Ornamentik
3.2 Möbel
3.2.1 England
3.2.2 Frankreich
3.2.3 Deutschland
3.3 Das Kunstglas
3.4 Tapeten
3.5 Geschichte des Wandanstrichs
3.5.1 Die Kalkfarbe
3.5.2 Die Leimfarbe
3.5.3 Die Ölfarbe
3.5.4 Die Wasserglas–Farbe
3.6 Farben im Jugendstil

4 Berliner Treppenhäuser im Jugendstil
4.1 Treppenhaus in der Bölschestraße 84 in Berlin–Köpenick
4.2 Treppenhaus in der Ahornallee 32 in Berlin–Köpenick
4.3 Treppenhaus in der Tucholskystraße 38 in Berlin–Mitte
4.4 Treppenhaus in der Greifenhagener Straße 57 in Berlin- Prenzlauer Berg

5 Fazit

6 Glossar

7 Quellenverzeichnis
7.1 Literatur
7.2 Internet

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1 – Zeitleiste

Abbildung 2 – William Morris, Grünes Speisezimmer, 1867

Abbildung 3 – Japanische Seidenstickerei (18. Jahrhundert)

Abbildung 4 – Josef Niedermoser, Damensalon, Paris 1900

Abbildung 5 – Titelblatt der Zeitschrift „Jugend“, 1. Jahrgang, Heft Nr. 12

Abbildung 6 – Josef Maria Olbrich, „Salon einer Yacht“ (1900)

Abbildung 7 – Titelblatt der Zeitschrift PAN (1895/96)

Abbildung 8 – Plafond, Deutsches Maler–Journal 17

Abbildung 9 – Paul Haustein, Wohnecke, Darmstadt – Mathildenhöhe 1907 – 1908

Abbildung 10 – Hans Christiansen, „Aufsteigende Nymphe“ (1898)

Abbildung 11 – Josef Hoffmann, Saal der Kunstgewerbeschule (1900)

Abbildung 12 – Henry van de Velde, Arbeitszimmer (1899)

Abbildung 13 – Wohnzimmer um 1890

Abbildung 14 – Henry van de Velde, Schreibtisch, Brüssel 1899

Abbildung 15 – Hector Guimard, Stuhl, Paris 1900

Abbildung 16 – Bernhard Pankok, Erker

Abbildung 17 – Emile Gallé, Glasvase mit geschnittenem Dekor, 1896

Abbildung 18 – Emile Gallé, Glasvase mit geschnittenem Dekor, 1900

Abbildung 19 – Emile Gallé, Kumme aus Überfangglas, geschliffen, um 1890

Abbildung 20 – Louis C. Tiffany, Vase aus Favrileglas, 1890

Abbildung 21 – Louis C. Tiffany, Vase aus Favrileglas, 1905

Abbildung 22 – Treppenhausfenster mit Ornamentverglasung

Abbildung 23 – Eugène Grasset, Glasfenster: Der Frühling (Ausschnitt), Paris, Musée des Arts Décoratifs, 1894

Abbildung 24 – Karl Georg Huber, Kachel für Wandfriese, 1900

Abbildung 25 – Karl Georg Huber, Keramik–Platte, 1907

Abbildung 26 – William Morris, St. James, 1880

Abbildung 27 – William Morris, Grafton, 1883

Abbildung 28 – William Morris, Wallpaper „Daisy“, 1864

Abbildung 29 – Zeitliche Entwicklung der Wandmalerei und des Wandanstriches

Abbildung 30 – Einteilung und Übersicht wichtiger Pigmente, Ausschnitt

Abbildung 31 – Jugendstilmalerei an Stirnwand, Bölschestraße 84

Abbildung 32 – Jugendstilmalerei an Stirnwand, Ausschnitt, Bölschestraße 84

Abbildung 33 – Ornament an Treppenunterseite, Bölschestraße 84

Abbildung 34 – Jugendstilornamentik an Wänden, Bölschestraße 84

Abbildung 35 – Deckenornamentik an Treppenunterseite, Ahornallee 32

Abbildung 36 – Flächenornamentik an Treppenunterseite, Ahornallee 32

Abbildung 37 – Dekorative Flächengestaltung an Wand, Ahornallee 32

Abbildung 38 – Decke im Vestibül, Tucholskystraße 38

Abbildung 39 – Wandgestaltung, Marmorimitation, Tucholskystraße 38

Abbildung 40 – Dekorband an Treppenunterseite, Tucholskystraße 38

Abbildung 41 – freigelegtes Dekor an Wand, Greifenhagener Straße 57

Abbildung 42 – freigelegtes Dekor an Treppenunterseite, Greifenhagener Straße 57

1 Einleitung

Der Jugendstil wird oft als eine „Stil–Laune“1 bezeichnet. Zum einen war er von kurzer Dauer, zum anderen nahm er teilweise die Gestaltungsprinzipien des vorangegangenen Historismus auf, nämlich die Kombination vergangener Stilepochen, und entwickelte zugleich in Abgrenzung davon ein ästhetisches und methodisches Programm, das auch noch in der folgenden Moderne eine Rolle spielte.

In Kapitel 2 wird zunächst eine zeitliche Einordnung vorgenommen und die historische und regionale Entwicklung dieser Stilrichtung betrachtet. Dabei wird auf die Arts and Crafts–Bewegung in England, die Einflüsse aus Japan (Japonismus), die Entstehung des Art Nouveau in Frankreich sowie die Ausformungen des Jugendstils in den deutschen Jugendstilzentren München, Berlin und Darmstadt eingegangen.

Ein weiterer Teilbereich beschäftigt sich mit den Kennzeichen und der Programmatik des Jugendstils.

Kapitel 3 geht auf die Form– und Farbgebung der Innenraumgestaltung im Jugendstil ein. Wesentliche Bereiche sind hierbei die Ornamentik, die Mö- belfertigung, die technische Entwicklung bei der Glasbearbeitung sowie Neuerungen bei der Wandbekleidung und dem Wandanstrich. Anhand von Bildmaterial werden zwei bedeutende und zum Teil gegensätzliche Gestaltungsprinzipien des Jugendstils verdeutlicht: die Anlehnung an Naturmotive verbunden mit einem abstrakten Linienspiel und die Bevorzugung geometrischer Formen mit klaren Linien und Strukturen.

Die Farbwahl steht im Einklang mit der Formgebung. Bevorzugt werden Grün– und Blautöne, außerdem Erdtöne wie Braun und Beige.

Kapitel 4 befasst sich mit der Gestaltung von Jugendstil–Treppenhäusern in Berlin. An vier ausgewählten Beispielen wird die besondere Farb– und Formgebung dieser Zeit veranschaulicht.

Ziel dieser Arbeit ist es, den Jugendstil als eigenständige und herausragende Stilrichtung zu begreifen, die in vielen Bereichen der Kunst und im Handwerk Neuerungen hervorbrachte.

2 Jugendstil in seiner Erscheinungsform

2.1 Zeitliche Einordnung

Der Übergang vom Historismus zum Jugendstil sowie vom Jugendstil zur Moderne war fließend.2 Die zeitliche Einordnung dieser Stilepoche erfolgt zwischen 1890 und 1910.3

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 – Zeitleiste 4

Der neue Stil bedeutete die Abkehr vom Historismus und damit einer Stilrichtung, die historische Stilrichtungen nachahmte. Er steht für eine geistige Reformbewegung, „die dem Leben mehr Schönheit und Stil verleihen wollte“5.

Die Moderne brachte einen neuen Stil hervor, das so genannte Bauhaus. Die wesentlichen Grundsätze des Bauhauses beruhen auf ästhetischen und methodischen Programmen der Jugendstilzeit.6 Es orientierte sich unter anderem an geometrischen Vorgaben der Arts and Crafts– Bewegung, wies verstärkt jegliche Ornamentik zurück und schuf eine rein funktionale Bauweise ohne Verzierungen. Bauhaus kann als Synonym für die Entwicklung des Funktionalismus gelten.7 Jeder Gegenstand, der produziert werden sollte, wurde zunächst auf seine Funktion hin analysiert und dann auf einfachste technische Weise hergestellt. Es kam zu klaren, sachlichen und kühlen Bauweisen.

„Die Ästhetisierung und Strukturierung eines Raumes im Jugendstil bis ins kleinste Detail wie Türklinken, Vorhänge oder Wasserhähne, die einheitlich, jedoch in unzähligen Varianten gestaltet wurden, ging in der Folgezeit der Moderne verloren – die serielle Massenanfertigung von Bau– und Einrichtungsteilen, das Reihenhaus wurden zur Regel.“8

Während in der Moderne die Funktion eines Raumes und seiner Einrichtung das bestimmende Gestaltungsprinzip darstellte, gelang es dem Jugendstil, Funktionalität und ästhetische Gestaltung miteinander zu verbinden.

Trotz der kurzen Dauer der Jugendstilepoche ist in ihr viel geplant, entworfen und geschrieben worden, was erst heute als gut und richtig erkannt wird. Hervorragende und zeitlos gültige Ideen für den Städtebau, für die Architektur, die Raum– und Möbelgestaltung und eine vielleicht menschlichere und geistvollere Kunstauffassung, als sie in der modernistischen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist, kamen damals nicht zur vollen Auswirkung.9

2.2 Historische Entwicklung

„Im Gegensatz zur Schnelllebigkeit und der einfachen Produktion zur Zeit der Industrialisierung, steht der Jugendstil mit seinem hochwertigen Kunsthandwerk. Im 19.Jahrhundert fand das Kunstgewerbe in ganz Europa großen Anklang. Es wurden Kunsthandwerkschulen sowie Museen gegründet und man erhob das Kunsthandwerk allgemein zur Konkurrenz der Industriefertigung.“10

In Deutschland begannen in den Gründerjahren und mit zunehmender Industrialisierung der westlichen Welt die „Architekten und die Kunstgewerbler nach dem Willen ihrer reich gewordenen Auftraggeber mit protzigen Neuauflagen aller vergangenen Stile“11. Die von der industriellen Revolution erfasste zivilisierte Welt, jede Wohnung der oberen oder mittleren

Klasse war ausgestattet mit Möbeln und Gegenständen, die Formen der Klassik, der Renaissance, des Barocks und des Rokokos nachahmten. In den meisten Fällen handelte es sich um geistlose Kopien, Erzeugnisse einer fortschreitenden Industrialisierung, die für eine neureiche Klasse produzierte, der man damit das Gefühl geben wollte, einen guten Geschmack und wirkliche Kunstwerke zu besitzen. Ihre Wohnhäuser drückten außen und innen diesen Geschmack aus, ebenso wie ihre öffentlichen Gebäude, die Rathäuser, Museen, Bahnhöfe und Bibliotheken, die den

Tempeln der Griechen ähnelten, die an Renaissancepaläste oder gotische Kirchen erinnerten.12

Viele Künstler konnten die nachahmende Kunst und die maschinell hergestellten Produkte nicht mehr vertreten. Sie wollten zum Handwerk, zur Einfachheit und zur Natur zurück. Sie forderten, dass die Erzeugnisse der Kunst auch der Gesellschaft der Gegenwart entsprechen sollten. Der Architekt Otto Wagner schrieb 1895, dass der neue Stil nicht eine Wiedergeburt, sondern eine Geburt wäre. Das gegenwärtige Leben müsste die Grundlage jeder künstlerischen Schöpfung sein. Dieser Anspruch wurde jedoch niemals vollkommen verwirklicht. 13

„Man muss einräumen, dass viele Künstler der Jugendstilbewegung den Blick zurück wandten, doch die meisten der geschaffenen Gegenstände zeigten selbständige Formen und waren ein echtes Zeugnis der Zeit, in der sie entstanden sind.“14 Der Jugendstil ist somit eine eigenständige Kunstepoche mit neuen Ausdrucksformen und Stilmitteln und leitet auch in der Wohnraumgestaltung ein neues Jahrhundert ein.15

2.3 Entwicklung auf regionaler Ebene

Im Folgenden werden die verschiedenen regionalen Entstehungsstufen des Jugendstils erläutert. Hierbei wird auf die Entwicklung dieses Kunststils in England, Frankreich und Deutschland eingegangen. Darüber hinaus werden namhafte Architekten und Künstler genannt und ihr besonderer Einfluss auf diese Stilepoche hervorgehoben.

Während sich in Deutschland der Begriff Jugendstil durchsetzte, spricht man in England von Modern Style. In Frankreich wird diese Kunstrichtung Art nouveau genannt.

Die unterschiedlichen Bezeichnungen für diesen Stil stehen zugleich für verschiedene Richtungen, die sich in der Jugendstilbewegung entwickelt haben: in England der dynamische Stil, in Frankreich der florale Stil und in Deutschland der dynamisch–florale Stil .

2.3.1 Die Arts and Crafts–Bewegung in England

Die folgenden Ausführungen zur Arts and Crafts–Bewegung in England basieren vor allem auf dem Buch „Jugendstil. Ursprünge, Parallelen, Folgen“ von Karl Eschmann.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Großbritannien zu einer der mächtigsten Nationen der Welt. Technisch und wirtschaftlich führte Großbritannien neben den USA den westlichen Kulturkreis ins Maschinenzeitalter. Das Großbürgertum wurde immer wohlhabender.

Das schnelle Wachstum der Industrie führte zu einer Vielzahl an geschmacklosen Produkten, da sie keine ästhetische Tradition besaß und sowohl die Möbelherstellung als auch das Kunstgewerbe mechanisierte. In der industriellen Fertigung wurden Stile nachgeahmt und vervielfältigt.

Diese Entwicklung führte zu einer Protestbewegung, angeführt von John Ruskin und William Morris. Sie verlangten eine Abkehr von den überladenen und unzeitgemäßen Repräsentations–Stilen und sprachen sich für handwerklich solide, dem praktischen Zweck angepasste Bauten und ent-

sprechendes Mobiliar aus.16 Das Dekor sollte allenfalls nur das Funktionelle betonen.

Die Arts and Crafts–Bewegung hatte zum Ziel, im Zeitalter der Massenproduktion minderwertiger Gebrauchsgüter das Kunsthandwerk wieder zu beleben und zu reformieren. Ruskin stellte sich gegen die Nachahmung von historischen Stilen und gegen die „Unehrlichkeit von Material und Form“17 bei den Industrieerzeugnissen. Als Professor der „Schönen Künste“ in Oxford lehrte er unermüdlich das „Evangelium der Schönheit“.

Allmählich kamen in England immer mehr Architekten und Designer zusammen und sprachen sich gegen die künstlerisch minderwertige Massenanfertigung der Kunstfabrikanten aus. Sie erreichten, dass Ende des

19. Jahhunderts ästhetisch und qualitativ bessere Waren hergestellt wurden.

Im Jahre 1857 richtete sich Morris in London eine Atelierwohnung mit zweckmäßigen, stilfreien Möbeln ein. Die Industrie bot noch keine derartigen Möbel an, so stellte er sie selbst her.

Später entwarf Morris das so genannte „Red House“, das Aufsehen erregte, weil hier zum ersten Mal organisch, d. h. von der Funktion der Räume her, von innen nach außen und ohne jeden Schmuck und Stilelemente gebaut wurde: „Diese Architektur wächst vom Innenraum und den Verhältnissen der Räume und Stockwerke zueinander zum Außenbau, an

dem sich die Anordnung der Innenräume und deren absichtlich gesuchte Niveau–Unterschiede abzeichnen.“18

Um 1867 erhielt die Firma Morris den Auftrag zur Ausstattung eines Speisezimmers im South Kensington Museum, dem heutigen Victoria and Albert Museum in London.

Die folgende Abbildung zeigt die mittelalterlich anmutende sowie für den Jugendstil typische Gestaltung des Speisezimmers.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2 – William Morris, Grünes Speisezimmer, 1867 19

Der Raum erscheint wie ein Rittersaal mit hoher Decke, großen, schmalen, mit Butzenscheiben ausgefüllten Fenstern und wenigen Möbeln. Die flächige Dekoration der Wände zeigt feine Naturornamentik, die auf Morris’ Tapetenmuster „Fruit“ zurückzuführen ist. Auch auf der Holzleiste mit eingelassenen Keramikfliesen zeigen sich unterschiedliche Pflanzen– und Früchtemotive. Die Glasfenster enthalten figürliche Motive.

Die typischen Farben des Jugendstils sind hier gut zu erkennen: Verschiedene Grüntöne, Braun, Ocker und Gelb sind die dominierenden Farben.

In England war die einfache, sinnvolle und offen gezeigte Konstruktion charakteristisch für die Formgebung. Diese wurde primär aus Zweck, Material und Herstellungsverfahren abgeleitet und war nicht selten von etwas „trockener Nüchternheit“20. Geometrische Formen wurden bevorzugt, das

Ornament, das vor allem dem Zweck der schönen Ausgestaltung und weniger der Funktion eines Objektes diente, wurde nur selten verwendet.

Die Vertreter des Modern Style blieben bei ihren soliden Möbelformen und naturalistischen Textilmotiven und verhielten sich gegenüber dem im übrigen Europa aufkommenden dynamisch–floralen Stil (vgl. Abb. 6) ziemlich abweisend. „Das dynamisch–bizarre Linienspiel war dem mehr rational– statischen Naturell der Inselbewohner fremd.“21

2.3.2 Japonismus

Auch die Kunst Japans beeinflusste viele Kunstschaffende und Architekten in England sowie in Frankreich und Deutschland und wurde Bestandteil der Jugendstilkunst.

„Das Jugendstilornament übernimmt von der japanischen Kunst die Vorliebe für Naturmotive und ihre Symbolik, die flächige Darstellungsweise, die Dezentralisierung der Motive und ihre asymmetrische Anordnung im Randbereich sowie die Einbeziehung der leeren Fläche als gestaltender Form. Wie in der japanischen Kunst wird im Jugendstil das ornamentale Motiv vereinzelt, separiert und erhält dadurch über den dekorativen Aspekt hinaus einen symbolischen Gehalt.“22

Infolge seiner geschäftlichen und kolonialen Bindung an den Osten gab es in Großbritannien viel Verständnis und Bewunderung für die fernöstliche Kunst. 1854 und 1862 fanden in London große Ausstellungen japanischer Kunst statt. 1858 schloss England ein Handelsabkommen mit Japan; japanische Holzschnitte, Möbel, Keramiken und Lackarbeiten wurden in großer Anzahl nach England importiert. Es wurden Keramikprodukte hergestellt, die sich ganz im japanischem Stil darstellten: asymmetrische Muster aus Tieren, Vögeln, Insekten und Blumen.

Abbildung 3 zeigt eine japanische Seidenstickerei. Sie veranschaulicht die asymmetrische Gestaltungsweise. Darüber hinaus wird an ihr die flächige Klarheit, die elegante Linienführung, die Einfachheit und Natürlichkeit der Motive deutlich. Eine Fläche ohne modellierende Schatten und ohne perspektivische Tiefe erleichtert dem Betrachter, das Verhältnis von Form, Farbe und Motiv schneller zu erfassen. Das Prinzip der Einfachheit wurde als Anregung für die Innenarchitektur im Jugendstil verwendet.23

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3 – Japanische Seidenstickerei (18. Jahrhundert) 24

2.3.3 Art Nouveau in Frankreich

Im Gegensatz zur Arts and Crafts–Bewegung in England, wo Möbel als logisch durchkonstruierte Gefüge gesehen wurden, lag in Frankreich der Akzent auf dem Dekorativen und dem Kunsthandwerklichen.

Französische Möbelkünstler wie Emile Gallé und Hector Guimard entwarfen Möbel, die als „Luxusgebilde“25 gebaut wurden. Bei diesen Möbeln traten strukturelle und funktionelle Erwägungen in den Hintergrund: „Das französische Kunsthandwerk ist im Gegensatz zur schlichten Werktreue eines Morris […] von äußerster Verfeinerung und Virtuosität und brilliert verführerisch in Juwelen, Vitrinenobjekten und komplizierten Boudoirmö- beln.“26

1895 eröffnete der Kunsthändler Salomon Bing in Paris die Galerie L’Art Nouveau. Durch die neue Kunst, die dort ausgestellt wurde, erregte die Galerie großes Aufsehen. Henry van de Velde entwarf eigens für diese konzipierte Innenräume, die sich im neuen Stil darboten. Weitere Künstler stellten hier ihre Jugendstilwerke dekorativer Kunst aus. Die Galerie wurde zum „Brennpunkt des Jugendstils in Paris“27.

Das französische Art Nouveau suchte Inspiration in der Natur. Der Dekor war ein überwiegend pflanzlicher.28 Die Blume wurde so oft wie in keiner anderen Epoche verwendet, die Blume selbst war das Motiv. Am häufigsten wurden Mohn, Rosen, Iris, Orchideen, Alpenveilchen, Fuchsien und vor allem Lilien dargestellt: „Sie wucherten über Gebäudefassaden und wuchsen aus Möbelstücken heraus, zierten Glasgegenstände und Keramik [...].“29

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4 – Josef Niedermoser, Damensalon, Paris 1900 30

Auf der Weltausstellung 1900 erregte der Damensalon Josef Niedermosers wegen seiner beschwingten Formen großes Aufsehen. Alle wesentlichen Merkmale des Jugendstils finden sich hier: Kurven, Wellen und stilisierte Naturmotive. Asymmetrische und abstrakte Muster fließen zu einer Einheit zusammen.31

2.3.4 Entwicklung in Deutschland

Beeinflusst vom englischen Modern Style und dem französischen Art Nouveau sowie der japanischen dekorativen Kunst entwickelte sich auch in Deutschland vor der Jahrhundertwende ein neuer Kunstgedanke.

Erstmals kam die Bezeichnung Jugendstil anlässlich der „Ausstellung für das Grafische Gewerbe“ 1897 in Leipzig auf, wo die Zeitschrift „Jugend“ wegen ihrer neuartigen und schwungvollen Randverzierungen und Vignetten mit Blumenmotiven von Otto Eckmann Aufsehen erregte und zunächst spöttische Kritik auf sich zog. In der Tat waren die ersten Titelblätter durch ihre Motive revolutionär. Sie zeigten z. B. tanzende Mädchen, die den alten kleinen Hofmaler Menzel – als Vertreter der Konservativen – mit fortreißen, was den neuen Geist der Zeitschrift hervorheben sollte (Abb. 5). Der neue Stil wurde von den Fortschrittlichen begrüßt und von den Konservativen zunächst abgelehnt, da er in ihren Augen den traditionellen Verfall bedeutete.32

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5 – Titelblatt der Zeitschrift „Jugend“, 1. Jahrgang, Heft Nr. 12 33

Die „Jugend“, Münchner Illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, herausgegeben von Georg Hirth, erhob den Anspruch, nicht nur der Kunst, sondern auch einer neuen Kultur zu dienen. Der Begriff Jugend wurde wegen seines zutreffenden Sinns rasch populär.34

Die Hauptzentren des Jugendstils lagen in München, Berlin und Darmstadt.35

2.3.4.1 München

Mehr als 100 Künstler, Maler und Bildhauer, schlossen sich zum so genannten „Münchner Kreis“ zusammen und gründeten die „Vereinigten Werkstätten in Kunst und Handwerk“36. Sie alle hatten zum Ziel, eigene künstlerische Ideen zu verwirklichen und die entstandenen Werke auszustellen. Gründungsmitglieder und Künstler waren unter anderem Peter

Behrens, Max Liebermann, Walter Leistikow, Viktor Weishaupt und Josef Maria Olbrich.

München wurde zur Hochburg des dynamisch–floralen Jugendstils, der hier vor allem in der Möbel– und Innenraumgestaltung Anwendung fand. Die Künstler verstanden es, eine Zimmereinrichtung zu einer Einheit verschmelzen zu lassen, die Möbel „unlösbar“37 mit dem Innenraum zu verbinden.

Der Raum, den Josef Maria Olbrich auf der Pariser Weltausstellung prä- sentierte, veranschaulicht die Verschmelzung der Einrichtungsgegenstände als das besondere Gestaltungsprinzip des dynamisch–floralen Jugendstils (Abb. 6). So erscheint das Sofa durch Ausbuchtungen der Wände unlösbar mit dem Raum verbunden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6 – Josef Maria Olbrich, „Salon einer Yacht“ (1900)38

2.3.4.2 Berlin

In Berlin entstand 1898 eine Künstlervereinigung von elf Künstlern, die als Berliner Secession bezeichnet wurde. Zu ihnen gehörten unter anderem die Maler und Graphiker Walter Leistikow und Max Liebermann, der Bildhauer, Maler und Graphiker Max Klinger sowie der Kunsthistoriker und Schriftsteller Julius Meier–Graefe.

Auf Initiative des Schriftstellers Otto Julius Bierbaum und des Schriftstellers, Herausgebers und Unternehmers Julius Meier–Graefe erschien 1895

– 190039 die Zeitschrift Pan, die Impulse für die neue Kunst geben sollte.

Das in Abbildung 7 dargestellt Titelblatt zeigt ein neues dekoratives Grundkonzept dieser Zeit, das der Schrift– und Ornamentkünstler Otto Eckmann in seinem Entwurf der phantastischen Initialen für den Pan aufgreift: „Die Elastizität seiner Graphismen führt ihn folgerichtig zur Abstraktion.“40

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 7 – Titelblatt der Zeitschrift PAN (1895/96)41

[...]


1 Lieb 2000, S. 7.

2 Vgl. Lieb 2000, S. 14.

3 Vgl. Kammerlohr 1977, S. 44.

4 Vgl. Koch 1994, Einband.

5 Betz 1991, S. 3.

6 Vgl. Biundo, Christina / Eckstein, Kerstin / Eisele, Petra / Graf, Carolyn / Grawe, Gabriele Diana / Heitmann, Claudia 1994, S. 7f.

7 Vgl. Biundo, Eckstein, Eisele, Graf, Grawe, Heitmann 1994, S. 15.

8 Lieb 2000, S. 187.

9 Vgl. Lieb 2000, S. 186.

10 http://www.goruma.de/kunst_kultur/baustile/jugendstil.html.

11 Eschmann 1980, S. 13.

12 Vgl. Eschmann 1991, S. 17.

13 Vgl. http://www.g26.ch/kunst_glossar_16.html.

14 http://www.g26.ch/kunst_glossar_16.html.

15 Vgl. http://www.antiques-picaper.de/Stilkunde/Jugendstil/jugendstil.html.

16 Vgl. Eschmann 1980, S. 23.

17 Eschmann 1980, S. 28.

18 Schmutzler 1962, S. 32.

19 Lieb 2000, S. 27.

20 Schmutzler, 1962 S. 152.

21 Vgl. Eschmann, 1991 S. 32.

22 Lieb 2000, S. 47.

23 Vgl. Eschmann 1980, S. 35.

24 Haslam 1990, S. 27.

25 Schmutzler 1962, S. 152.

26 Schmutzler 1962, S. 152.

27 Wallis 1974, S. 49.

28 Vgl. Betz 1991, S. 13.

29 Haslam 1990, S. 7.

30 Eschmann 1982, S. 143.

31 Vgl. Eschmann 1982, S. 143.

32 Vgl. Eschmann 1991, S. 13.

33 Sembach 1990, S. 110.

34 Vgl. Eschmann 1980, S. 13.

35 Vgl. Wallis 1974, S. 72.

36 Sterner 1975, S 126.

37 Sterner 1975, S. 128.

38 Eschmann 1991, S. 88.

39 Cremona 1966, S. 129.

40 Champigneulle 1975, S. 244.

41 http://www.dhm.de/lemo/objekte/pict/pan/index.html.

Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Form- und Farbgebung der Innenraumgestaltung im Jugendstil
Hochschule
Technische Universität Berlin
Veranstaltung
Gestaltungstechnik
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
80
Katalognummer
V121825
ISBN (eBook)
9783640295449
ISBN (Buch)
9783640301416
Dateigröße
5478 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Bei den Innenräumen handelt es sich um Treppenhäuser aus Berlin.
Schlagworte
Form-, Farbgebung, Innenraumgestaltung, Jugendstil, Gestaltungstechnik
Arbeit zitieren
Susanne Petri (Autor:in), 2006, Form- und Farbgebung der Innenraumgestaltung im Jugendstil, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121825

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