"Schaulust" bei Verkehrsunfällen

Erlebens-, Umgangs- und Verarbeitungsformen von gesehenen Unfällen bei Passanten im Hinblick auf den Phänomenbereich der sogenannten Schaulust bei Verkehrsunfällen


Diplomarbeit, 1987

245 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung
1. Zur Entwicklung der Fragestellung

II. Theoretische Ansätze zum Thema
1. übersieht über die Literatur zur Schaulust bei Verkehrsunfällen
2. Grundlegende Ansätze zur Strukturierung der Schaulust und des Schauens
3. Psychoanalytische Auffassungen zur Scha ul ust
4. Sozialpsychologische Ansätze zur Schaulustpro blematik
4.1. Das Schaulustphänomen aus der Sicht der Konzepte zum altruistischem- sowie prosozialem Verhalten
4.2. Ansätze der Theorie der Verantwoi— tungsattributions
4.3. Arbeiten zum Problembereich "Vei— halten am' Unfallort"
5. Das Konzept des 'sensations-seeking'
6. Weitere Thematisierungen der Schaulust­problematik in diversen Literaturtiteln

III. Eingrenzung der Fragestellung
1. Die Fragestellung
2. Die Verwendung des Begriffs SCHAULUST in dieser Arbeit

IV. Methode
1. Das Untersuchungsmaterial und die Haupterhebungsformen
2. Wahl der Verfahren
2.1. Methodische Überlegungen
2.1.1. Die Interviewsituation als Interaktionsprozeß
2.1.2. Fehlerquellen im Interview
3. Das Tiefeninterview 50 EXKURS: Entstehungszusammenhang des Tiefenviews
3.1. Charakter und Gegenstand des Tiefeninterviews
EXKURS: Einige ergänzende theoretische Gesichts­punkte zum Tiefeninterview nach BERGER, BL IERSBA CH, DELLEN
3.2. Zur Auswertung der Tiefeninterviews
4. Beschreibung der Stichproben
4.1, Die Stichprobe der Voruntersuchung suchung
4.2. Die Hauptstichprobe
4.2.1 Biographische Daten
4.2.2. Angegebene Erfahrungen der Ver­suchspersonen mit (Verkehrs-) Unfällen in der Vergangenheit
5. Durchführung der Untersuchung
5.1. Durchführung der Untersuchung bei Mitarbeitern der Rettungsdienste
5.2. Durchführung der Untersuchung bei den Versuchspersonen der Haupt Stichprobe

V. Ergebnisse
1. Ergebnisse aus den Befragungen von Mitarbeitern der Rettungsdienste
1.1. Gemeinsamkeiten bei allen Befragten
1.2. Von den Befragten aiigegebene Vor- und Nachteile durch die Schaulust
2. Ergebnisse aus der Hauptstichprobe
2.1. Fhasenmodell des Unfallerlebens inner- der Schaulust und ihre Umgangskategoi
2.1.1. Vorphase: Die psychische Situa­tion der Versuchspersonen vor der Begegnung mit dem beschrie­benen Unfall
2.1.2. Erste Phase: Die erste Berührung mit der Unfallsituation
2.1.3. Zweite Phase: Die Beobachtung der Unfallsituation - Ka tego- rien der Umgangsformen der Schaulust
2.1.3.1. überblicken, Ordnungen setzen
2.1.3.2 Auf-Bi 1 der-bringen
2.1.3. 3. Extremisieren (MiIde- rungen und Steigerungen
2,1.3. 4. Leugnung/Ungeschehen- machen
2.1.3. 5. Schaffung von Erklärungen
2.1.3.5.1. Schaffung von Erklärungen über Kausa1itäten
2.1.3. 5. 2. Schaffung von Erklärungen über Schicksa1s-Mä chte
2. 1. 3. 5. 3. Schaffung von Erklärungen über Schuldfragen und Schuldzuschreibungen sowie Moralisieren
2.1.3. 6. Bestätigung der Velt- auffassung
2.1.3. 7. Helfensproblematik
2.1.3. 8. Mutprobe
2.1.3. 9. Ästhetisieren
2. 1. 3.10. Identifikation mit dem Opfer
2.1.3. 11 . Vorsätze
2.1.3. 12Paradoxe Erfahrungen
2.1.3. 13 'Phi1osophieren'
2.1.4. Dritte Phase: Die Beendigung des Beobachtens
2.1.5. Vierte Phase: Nachwirkungen der Beobachtung einer Unfallsituation als Kategorien
EXKURS: Gliederungsaspekte
2. 1.5.1. Unmittelbare Nach-
wi rkungsfarmen
2. 1. 5. 1. 1. Rededrang/Mi t- Teilen
* Teilhabe am 'Tollen'/' Sensationshaften
2. 1.5. 1.2. Erklärungen wälzen
Berichterstattungen verfolgen
Erkundigungen
2. 1. 5. 2. 1. Mi tgenommensein und leiden unter starker Betroffenheit
2. 1.5. 2. 2. "Dankbarkeit und Freude"
* Bekenntnisse zum Leben
2.1,5. 2. 3, Bestätigung eigener

VI. Erörterung der Ergebnisse
1. Probleme und Reichweite der vorliegenden Arbeit
2. Diskussion der theoretischen Bestände zur Schaulustproblematik bei Unfällen
3. Erörterung bestimmter Aspekte der Schaulust
3.1. Das Problem der Beendigung des Schauens
3.2. Zur Frage einer "Zwangsläufigkeit" des Schauens
4. Vorschläge zu Vereinheitlichungen der Umgangs­formen der Schaulust bei Verkehrsunfällen
4.1. Der Zusammenhang der Schaulust unter dem Aspekt ALLTAG-UNFALL
4.2. Der Zusammenhang der Schaulust unter den Aspekten von Genuß, Schuld und Regression
4.3. Der Zusammenhang der Schaulust unter dem Aspekt des kulturellen "Al Imachts- strebens
4.4. Der Zusammenhang der Schaulust unter dem Aspekt der Rotation
5. Empfehlungen zum Umgang mit der Schaulust­problematik

VII. Ausblick

VIII. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Tabellen- und Abkürzungsverzeichnis
Danksagung

ANHANG

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

I. EINLEITUNG

1. Zur Entwicklung der Fragestellung

Alltägliche Lebenszusammenhänge von Beruf, Haushalt oder Straßenverkehr führen vor Augen, daß eine moderne, hochtechni­sierte Kultur ohne Unfälle nicht mehr denkbar ist. Sie sind ein "Faktor" des individuellen Lebens, des Staates und der Kultur überhaupt geworden. So heißt es z.B. in einer Meldung des SPIEGEL:

Gefährdung durch Unfall” - ” Unfallverletzungen sind das schwerwiegendste Gesundheitsproblem Amerikas”” (DER SPIEGEL 35/1985, S. 173, s. Anhang)

Insbesondere stellen Verkehrsunfälle das hochgehaltene Ideal allgemeiner Beweglichkeit und die Möglichkeit des glatten Verlaufs unseres Verkehrs-Wesens immer wieder in Frage. Denn- noch gehören sie zum Inventar unserer alltäglichen Lebenser­fahrung.

Einerseits treffen distancierte "Begegnungen" mit Unfällen auf das Muster, wonach "gewöhnlich" auf Unfallmeldungen eher teilnahmslos reagiert wird bzw. schnell das beruhigende Gegen­mittel hervorgekramt wird, daß es meistens doch "den ändern trifft" oder getroffen hat - "wir" gehen schnell in die All­tagsroutine über.

Andererseits stört es auf, wenn die Konfrontation mit einem Unfall in der persönlichen Nähe stattfindet. Dies beeindruckt und irritiert oder stürzt bisweilen geradezu in Entsetzen und Unfaßbarkeit.

Es gelingt dann bisweilen nur schwer, den Unfall als ein Stück "angestammtes Möbel unserer Kultur" restlos in den All­tag unterbringen zu können. An einem Unfall wird das Beun­ruhigende und Unfaßbare, was die Kultivierungsformen nicht im Griff haben, erfahren. Das Phänomen Unfall steht daher in einer direkten Notwendigkeit, ihn 'irgendwie' bearbeiten zu müssen.

"Anders wird die Lage erst, wenn eine sehr enge T uchf üh 1 ung mit dem Unfall (oder Krankheit oder einem sonstigen Unglück) stattgefunden hat.

Dann gehen von der Anschauung der Realität fast zwingende Direktiven für das eigene Verhalten aus” (UNDEUTSCH, 1975, S. 78, Kursiv im Original ist durch Unterstreichen wiedergegeben).

Wissenschaft und Gesellschaft treiben daher einen immensen Aufwand, indem sie eine aufwendige "Maschinerie" der Unfallbe­wältigung in Gang halten, um diesem Phänomen Herr zu werden und den Unfall "auszumerzen" bzw. auf ein "erträgliches Maß" zu reduzieren (s. Unfallforschung, Rettungswesen, Unfallver­sicherungen, Unfallmedizin, Verkehrsaufklärung, Verkehrser­ziehung etc. ).

Neben den zahlreichen Bedingungen eines Unfallphänomens, wie Physik und Psychologie des Unfallhergangs, den damit verbunde­nen Rechtsfragen, verkehrsbaulichen und technischen Bedin­gungen eines Unfallereignisses etc., zeigt sich in breitem Maße, ein durchaus alltäglicher und dennoch besonderer Faktor, der den unmittelbaren Umgang mit Verkehrsunfällen bedingt, nämlich der der sogenannten SCHAULUST.

Sie betrifft Jeden. Jeder kann zu einem schauenden Passanten werden (oder war es vielleicht in der Vergangenheit). Für den Leser, der in solchem Sinne über keine Erfahrungen verfügen sollte, seien verschiedene Unfallphotos zur Betrachtung sowie der Artikel von Carl CONINX (1969) zur Lektüre empfohlen (s, Anhang). Sie demonstrieren den Gegenstand der Untersuchung eindringlich und belegen die "unheimliche Attraktivität einer Unfallszenerie zum Beschauen". AlIgemein bekannt dürften die zahlreichen Radiomeldungen sein, die auf das Phänomen Schaulust hinweisen: "Stau” oder ”Stockender Verkehr wegen Schaulustiger”, "Stau auf der Strek- ke verursacht durch Schaulustige. Die Polizei bittet die Autofahrer zügig an der Unfallstelle vorbeizufahren”*.

In den Verkehrsnachrichten bestimmter Sendeanstalten, wie etwa dem Südwest funk III, sind nicht selten die gleichen Vei— kehrsmeldungen in einer zugespitzten Form zu hören. Dabei werden Schaulustige drastisch als "Gaffer” bezeichnet, in der Hoffnung auf diese Weise einen "mora1isehen Druck” (mündliche Mitteilung eines Verkehrsnachrichtenredakteurs des SWF III, 8. 1. 1987) ausüben zu können.

Das Schaulustphänomen ohne eine deutliche Bewertung zu behan­deln, scheint im alltäglichen Bereich nicht möglich zu sein. Die Bewertungsvielfalt zeigt sich u.a. schon in der Art, ob sich an Schaulustigen hei Unfällen ostentativ gerieben wird (SWF III) oder diese, in umgekehrter Weise, sichtlich moderat behandelt werden (s. WDR II).

In der allgemeinen Rede erscheint die schnelle Verknüpfung ’on Schaulust bei Verkehrsunfällen mit 'Sensationsgier' oder hemmungsloser Neugierde' selbstverständlich, der dann morali- •r schrift:

””Unglaubliche Sensationsgier”: Schaulustige versperrten Helfern den Weg zum sterbenden Kind"

(NYARY, 1987, S. 6, s. Anhang).

Das Phänomen Schaulust über den Lauf der Geschichte betrach­tet, war in vielen Bereichen der menschlichen Historie als integraler Besandtei1 mitbestimmend: Zu denken ist an öffent­liche Hinrichtungen, den römischen circensischen Spielen etc. , bei der auf die Schaulust gezielt als politisches Machtmittel spekuliert und gesetzt wurde.

Daß der Schaulust auch heute noch ein hoher Stellenwert im politischen Leben (s. Auftreten von 'Prominenz') wie auch in anderen sozialen Bereichen eingeräumt wird, braucht nicht eigens herausgehoben zu werden.

Erwähnenswert, aus einem anderen Bere ich, ist aber das Phänomen der sogenannten Unfalltouristen, welche Stätten schwerer Unfallereignisse wie moderne Wallfahrtsorte bereisen X. Als anderes Beispiel, das eines kommerziellen Verwertungszusammenhangs der Schaulust, sei die Beobachtung mitgeteilt, daß ein findiger Kölner Autolackierbetrieb einen demolierten Fkw. am Rand einer stark befahrenen Straße auf- baute, mit dem werbenden Hinweis, daß besagter Betrieb Un­fallschäden bestens zu meistern wisse.

In einer anderen Richtung benutzt die britische Militärpoli­zei, an gut sichtbaren verkehr1ichen Positionen, ramponierte Autos, um für höhere Achtsamkeit im Verkehr zu werben**.

Daß das Schaulustphänomen nicht nur ein, bei vielen Unfäl­len*** auftretendes nebensächliches Geschehen ist, zeigt die Tatsache, daß durch sie selber neue Störungen (mitunter erhebliche) geschaffen werden. Die "Störung" Unfall vermag sich mittels des Schaulustphänomens zu potenzieren. Natüi— lieh haben daher sowohl Öffentlichkeit als auch konkret am Unfall Beteiligte (Polizei, Hilfsdienste, betroffene Opfer etc.) mit diesem Phänomen zu "kämpfen' (nicht zuletzt ergeben sich z.B. längere Eintreff Zeiten zum Unfallort, Spuren für die Beweisaufnahme werden verwischt etc.).

Im Hinblick auf die Rettungsmöglichkeiten bei Unfällen kommt der Schaulustproblematik eine emminente Bedeut ung zu. Unfall­passanten befinden sich meistens bereits vor dem Eintreffen des professionellen Rettungspersonals am Unfallort und stellen das erste Glied der Rettungskette dar. Hierzu stellt SCHEPERS fest:

”Die Qualität der am Notfallort und auf dem Transport durchgeführten Maßnahmen wird im wesentlichen durch die Reaktionsfähigkeit der Augenzeugen, die Ausbildung und Erfahrung des Rettungspersonals und die materielle Ausstattung “ des Rettungsdienstes bestimmt” (SCHEPERS, 1986, S. 59, Hervorhebung vom Verfasser).

Die so oft beschworene Notwendigkeit sofortiger Hilfeleistung am Unfallart interferiert in erheblichem Maße mit der Schaulust und bleibt daher, dem Anschein nach, nur zu oft aus. Trotz eindeutiger gesetzlicher Bestimmung, die die "Untei— lassung zumutbarer Hilfeleistung unter Strafe stellt ((§ 323 c Strafgestzbuch) ” (GAIL, KÜHNER, 1987, S. 133)), behält statt des Helfens, die Verfassung des erregten Schauens meistens die Oberhand.

Schaulustige stehen aber, in der gemeinen Rede (und durchaus auch im juristischen Sinne), in dem Ruf Menschen zu sein, denen eine autonome und unbefangene Se 1 bst bestimmbarkeit nach allen Seiten offenstünde. Sie verhielten sich lediglich "falsch", weil sie sich falsch entschjeden hätten und unvei— nünftig seien. In einem: Es wird den schauenden Unfallpassan­ten im Prinzip eine völlige freie Verfügbarkeit über ihre Absicht zu schauen (oder dieses zu unterlassen) unterstellt.

Nur andeutungsweise soll hier auf das Problem hingewiesen werden, die die Schaulust, möglicherweise, als die einzige, (vielleicht vordringlichste) Bearbeitungs- und Entlastungsform für den "Laien" erscheinen lassen und die keineswegs auf soviel entscheidungsmäßige Verfügbarkeit schließen läßt. Ihr tagtägliches Auftreten weist in diese Richtung.

In Abgrenzung zu der Problematik Helfen oder Nichthelfen sind weiterhin für die schaulust Umstände zu konstatieren, bei denen überhaupt nicht (oder nur sehr eingeschränkt) die Mög­lichkeit gegeben ist, sich dem Anblick der Unfallsituation zu entziehen, z.B. wenn eine Wagenkolonne auf der Autobahn an einer Unfallstelle "im Schneckentempo" vorbeigelotst werden muß (oder wenn schon ausreichend Hilfe geleistet wird/wurde).

Es legt sich der Eindruck nahe, daß die Schaulust nicht nur "böse Absicht und Unvernunft" der anwesenden Zuschauer sein kann (wenn überhaupt), sondern Ausdruck einer bestimmten psychischen Gesamt läge bei der Konfrontation mit einem Unfall ist.

Unter dieser hypothetischen Einschätzung kann die Schaulust bei Verkehrsunfällen, als indviduelle oder soziale "Fehl­leistung"* vielleicht angemessener betrachtet werden. Dies wird im Weiteren noch darzustellen sein.

Erstaunlicherweise ergibt sich, wenn dem Phänomen der Schaulust in der verkehrspsychologischen Literatur zum Unfall­phänomen nachgegangen wird. kaum ein Anhaltspunkt, der die Schaulust als expliziten Teilbereich des Unfallphänomens aufgreift bzw. als Teil seiner Folgen und deren Bewälti­gungsbedingungen auffaßt.

Schaulust, als häufig gegebener Bestandteil der Unfallsitua- tion, bleibt in der Unfallforschung weitestgehend (wie auch als Kostenfaktor des Versicherungswesens) ausgespart.

METREVELI plädiert für die geschärftere Betrachtung dieses breiteren Zusammenhangs des UnfalIphänomens und stellt hierzu fest:

””Der in der Literatur benutzte Unfallbegriff kon­zipierte einen (Verkehrs-)Unfall als ein diskretes Ereignis (Zusammenstoß, Anprall, etc.) mit einem kausalen Hintergrund und nicht als einen zeitlichen Prozeß, der nach dem "kritischen Ereignis” (Verkehrs­unfall) noch einen weiteren Verlauf bis zu den endgültigen Konsequenzen hat” (METREVEL1, 1979, S. 15):

In gleicher Weise ist bei GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER nachzulesen:

””1) Die Bedeutung der Beteiligung von Laien an der Not fall Versorgung ist im allgemeinen unbestrit­ten und wird von unterschiedlichsten Fachkreisen betont. Die vorhandenen Untersuchungen werden ihr weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht gerecht.

Für selten wird das Thema umfassend erforscht. Es dominieren Abhandlungen, in denen es mehr oder weniger um Detailaspekte geht.

2) Eine Vielzahl von Veröffentlichungen ist zudem gewissermaßen durch einen ”verengten” Blick charak­terisiert: sie beziehen sich allein auf die Not- falIproblematik und auf Arbeiten, die diesem Themenbereich entstammen. Der Beitrag anderer Dis­ziplinen sowie Erkenntnisse aus der Grundlagen­forschung werden oft außer acht gelassen””

(GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER, 1986, S. 65)

Diese Forschungslücke gilt es aufzugreifen, insbesondere im Hinblick auf die unscharf umrissene Größe der Schaulust bei Verkehrsunfällen, zu der es - im Rahmen seiner wissenschaft- lichen Bearbeitung - notwendig und sinnvoll erscheint, die Perspektiven zu erweitern.

II. Theoretische Ansätze zum Thema

1. Übersicht über die Literatur zur Schaulust bei 7ej— kehrsunfällen

Das Thema "Schaulust bei Verkehrsunfällen" ist, als expli­ziter Untersuchungsgegenstand, nicht in einem einzigen Lite­raturtitel nachzuweisen %. Dies ist um so bemerkenswerter, da der nichtwissenschaftliche Alltagsbereich, z.B. Berichtei— stattungen der Tageszeitungen etc., durchaus ein Verständnis für dieses Phänomen entwickelt hat. Hier konnten einige Mate­rialien (Artikel, Meldungen etc.) gefunden werden.

"Schaulust' als wissenschaftlicher Begriff taucht explizit lediglich in der psychoanalytischen Literatur auf Den Kontext bildet dabei die psychosexuelle Libidoentwicklung sowie deren Fehlentwicklungen, wie etwa im Zusammenhang von Voyeurismus und Exhibitionismus. Anwendung auf den Problembe­reich des Schauens bei Verkehrsunfällen hat er jedoch nicht gefunden.

Ein, das Phänomen der Schaulust in beschreibender und "kon- struiernder' Weise behandelnder Beitrag von C. GEHRKE (1985), thematisiert sowohl den Begriff als auch den Zusammenhang der Schaulust als System/Verfassung (ohne Bezug auf Unfälle).

Dagegen ließen sich verschiedene Literaturtitel ermitteln, die das Schaulustphänomen (in Teilaspekten) zwar nicht dem Begriff nach, jedoch dem Inhalt nach behandeln, . so z.B. die Arbeit von S. KETREVELLI (1979). Diese wird unten ausführlicher darge­stellt werden, da sie die grundsätzliche Problematik der wis­senschaftlichen Behandlung der "Schaulust' prototypisch ver­körpert und auf das zweite "relativ" ergiebige Feld der so­zialpsychologischen Strukturierung des Phänomens Schaulust, in enger gefaßten Fragestellungen, verweist.

Weiter werden unterschiedliche psychologische Konzepte referiert werden, die zwar nicht begrifflich, jedoch wesent­liche inhaltliche sowie psychodynamische Strukturierungen entwickelt haben und die eine "gewisse" Analogie zur Psy- chodynamik der Schaulust bei Unfällen erkennen lassen, so etwa SALBER (1960), PAUL & OSWALD (1982).

Letztlich werden die im Rahmen der Literaturrecherchen "ge­fundenen' Bemerkungen, "Anspielungen" oder sonstwie die Schaulustthematik tangierenden Äußerungen der wissenschaft­lichen Literatur berichtet werden.

Der Erleichterung halber wird folgend Schaulust mit "SL" abge­kürzt.

2. Grundlegende Ansätze zur Strukturierung der Schaulust und des Schauens

Die 1985 erschienene Arbeit von C. GEHRKE unter dem Titel ""Pornographie und Schaulust. über die "Kommerzialisierung" des weiblichen Körpers”” stellt das Phänomen der Schaulust in den Zusammenhang von Sexualität, Pornographie und Prosti­tution. Explizite Angaben zur Methode werden nicht gemacht. Die Darstellung (im Stil eines Feuilletons) läßt jedoch auf ein phänomenologisch-hermeneutisches Vorgehen schließen.

GEHRKE verzichtet ausdrücklich auf eine eindimensionale Ana­lyse und stellt die SL in ein Gefüge von Sehen und Gesehen­werden als untrennbarem Zusammenhang.

Begriffe wie "sehen", "schauen", "bl icken" werden von ihr synonym verwandt.

Als erste beschreibende Einkreisung stellt GEHRKE fest:

"Schaulust. Der Blick in einen Intimbereich von Bildern und Bedeutungen. Der Blick selbst ei— regt, auch die Neugierde auf die Sache natürlich: Pornographie und Prostitution. Eine gewisse Faszi­nation der Bilder, eine unreflektierte Lust, es eben doch zu tun: sich zu verkaufen. Dabei immer die Distanz des Blickes, eines Blickes, der zwar mitten drin ist, aber dennoch außerhalb steht, distan­ziert ist. Was hat nun Distanz mit Lust zu tun?

Jeder Blick ist mit Distanz verknüpft, und Distanz ist das.. was Erkenntnis schafft. Wie kann sich aber Lust mit Erkenntnis verbinden? Der Akt des Sehens wird dem Männlichen zugeordnet, denn das Sehen ist die distanzierteste Wahrnehmungsart. Der Blick zer­legt. die Welt in Bilder; das Zerlegen ist der Anfang des Analysierens, . ... ” (a.a.O., S. 348)

Im weiteren Gang wird über eine Dichotomisierung des Schauens auf eine ”männliche Schaulust” (a.a.O., S. 352) und einer "weiblichen Lust am Angeschautwerden” (ebd.), die sich wechselseitig konstituierende Beziehung der Schaulust zu ihrem Objekt entwickelt. Im Zusammenhang der Pornographie erhalte das Angeschaute seinen Sinn erst durch das Beschautsein, jedoch fehle dem Angeschauten der wesentliche Zug der SL, nämlich ”die Distanz, diese Aktivität von Wunsch, Begehren, Sehnsucht" (ebd. ). Und weiter:

"Obwohl das Sehen meistens als der distanzierteste Sinn beschrieben wird, ist es ein verbindender Sinn. Ohne besondere Vorrichtung können wir niemand sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Ohne weiteres kann man jedoch hören, ohne gehört zu werden. Beim Sehen läßt sich diese Wechselseitigkeit nur absichtlich aufhe­ben: ” (a.a.O., S. 354).

Das führe zu einer untrennbaren Verbindung von oder "Mischung aus Zeige- und Schaulust” (a.a.O., S. 355). Diese Lust des "Objekts, angeschaut zu werden, sich selber anzuschauen und dabei zu schauen, wie geschaut wird es gibt einen Moment der Erregung, die körperlich ist, eine Verbindung von Blick und Berührung. " (ebd. ). Es ist offensichtlich, daß hier, wegen des bestimmten Schauob— jekts (Pornographie), eine Lustseite des Schauens besonders betont wird. Festzuhalten bleibt:

SL habe mit einer Lust der Verknüpfung zu ihrem Objekt, mit Distanz und doch "Berührung” (ebd.), mit Aktivität, Wünschen, Blick in einen Intimbereich, in einen Bereich von Bildern und Bedeutungen zu tun. Weiterhin mit Erregung, Faszination, Draußen- und Drinnensein, Zerlegen und Erkenntnis, schauend sich zu zeigen.

Hier wird eine grundlegende zweidimensionale Konstruktion des Schauens, anhand der männlichen SL und der weiblichen Lust am Angeschautwerden, entwickelt. D.h. der männlichen Seite sei es aufgegeben sich stärker des Schauens zu bedienen, um (an­thropologisch abgeleitet) den Erhalt der Familie oder Sippe zu sichern, einen aktiven, über unmittelbare Notwendigkeiten hinausgehenden Blick zu entwickeln. Insofern sei es auch — umgekehrt - notwendig, daß die weibliche Seite den Blick 'nach innen', d.h. auf die Sicherung und Versorgung des Fami — 1 ienverbandes wende.

Daß eben Schauen und sein Objekt nicht getrennt seien, führt die Autorin weiter aus, indem sie postuliert, daß das Ange— schaute seinerseits nicht machtlos sei. Dies zeige sich z.B. in Peep-shows:

""Sie (die Männer) wollen verhindern, daß die Ange­ schauten sehen, wie sie schauen; sie befürchten, ei— tappt zu werden; sie, die Männer, fürchten überhaupt, angeschaut zu werden. Der, der schaut, gibt etwas von sich, ist "gefesselt”, das Angeschaute hat seine Macht. Warum sonst muß der Schauende sich so schützen, damit sein Blick nichts verrät und der andere Blick nicht trifft? Er schützt sich vor etwas, das sehr stark und nahezu übermächtig imaginert wird”

(a.a.O., S. 357; Einfügung vom Verfasser).

Die Historie der SL, woraus sie ihre Formung und strukturelJe Eigenart empfangen habe und daher als zubereitete anzusehen sei, zeigt die folgende Darstellung:

""Bevor nämlich der Blick als zerlegender in der Wissenschaft, bei Kalkül und Kontrolle mächtig und dem Manne zugeordnet wurde, galt der Blick überhaupt als mächtig. Oft wurde sogar den Frauen eine besondere Blick-Macht zugeschrieben (Hexen).

Mit dem Blick konnte man im Märchen Felsen sprengen; die Angst vor dem "bösen Blick” war groß. Noch heute gibt es ein Kinderspiel der Blick-Macht: Wer kann dem anderen länger in die Augen schauen. In voi— bürgerlicher Zeit gab es vor allem den Blick von oben nach unten, den Herrscherblick, und den Blick von unten nach oben: und der konnte nur neidisch, begehrlich, also böse sein und Unheil bringen. Wer im Dorf herumblickt, kann nur voller Neid sein und etwas ”weggucken” wollen. Warum sollte er sonst blicken, er kennt ja alles und jeden. Mittelalterlicher Zauber gegen den Blick erhält sich lange in den Dörfern"" (ebd.) Und:

" doch die Angst vor dem anderen Blick, dem zurückblickenden Blick ist nicht verloren. Er sollte nicht nur niedergeschlagen, sondern gelenkt, abgelenkt werden: etwa vom Spinnen zum Stricken

- die Blicksegmente werden immer kleiner, eine Art Implosion des Blickes Durch die Zerlegung der Dinge in Details können sie immer genauer betrachtet werden, was auch eine Intensivierung des Blickes bedeutet: Er wird lustvoller. Was sich einerseits als "BiIdfalter” beschreiben läßt, ist andererseits Lustgewinn " (a.a.O., S. 359),

Die Entwicklung des Schauens sei demnach vom magisch—macht— voll gebündeltem, das Angst eingeflößt habe, zu immer weiterer Segmentierung verlaufen, die ihre Richtung gewechselt und sich daher intensiviert habe, schmerz- und lustvoller zugleich geworden sei, weil eben, als bannender Gegenzauber gegen die Angst vor dem Blick, verschoben,

Nach ihrer Auffassung sei das Schauen zusehends in den Herr­schaftsbereich der Kultur oder des Logos gelangt.

Damit sei dem Schauen sein besonderer Reiz als etwas Magi­sches, Unheimliches, bisweilen Verbotenes genommen worden durch eine moralische Bestimmung. Das habe zu einem 'Widerwil­len' gegen das Sehen geführt hätte, das Sehen aber dennoch hätte befriedigt werden wollen,

"es gibt nicht eine einzige Art von Widerwillen, in der ich nicht eine Affinität zum Verlangen kenne" (BATAILLE, zit. n. GEHRKE, 1985, S. 366).

Vor allem anhand der Industrielle Massenproduktion, die die Bilder beliebig oft reproduzieren könne und unzählige Wiedei— holungen des Beschauens an nur gleichem, variiertem Material ermöglichte, sei die Umarbeitung der Angst vor dem Blick zu verdeutlichen.

Anhand des Betrachtens von pornographischem Material werden weitere Züge der "Zubereitung' des Schauens herausgestellt:

”Ohne die Bewegung des Vergessens, Übersehens, wäre die voyeuristische Bewegung nicht möglich”

(a. a. O. , S. 364) .

Das Beschauen pornographischer Vorlagen lege die Grundzüge der SL offen:

"Und dennoch gibt es diese einzigartige Erregung, die - in all ihren Konsequenzen von Wahn-Sinn,

Gewalt und Schönheit gerade im Nicht-Glatten, Nicht- Reibungslosen - heute mehr denn je unbewußt verboten ist. Auch hier verdeckt das Argument der Langeweile die eigentliche Angst" (a.a.O., S. 364).

Die SL 'reduziere' sich auf demnach auf eine fundamentale Angst, die über eine Art Umkehrung wieder erträglich gemacht worden sei, indem das ursprünglich Ge fürchte nun umso drän­gender auf gesucht würde.

Die Zeige-/Schaulust wäre also am Schlußpunkt der Umkehrungen ein gerichteter Blick, der

"ganz ungeniert auch auf diese und auf andere intime Details (sich richte) sowie auch eine theoretische Bewegung, die weniger mit Interpretation und Kritik zu tun hat als mit übergenauem Sehen, Vergessen und Inaktivität (bedeute)" (a.a.O., S. 364/365, Ein­fügungen vom Verfasser).

Die Erfüllung der Sehnsucht des Sehens erzeugte aber auch zugleich ihre Enttäuschungen.

"Jedes einzelne Objekt (der Betrachtung) erfüllt nichts und erfüllt doch” (a.a.O., S. 366, Einfügung vom Verfasser).

Wesenzüge des Schauens/Blickens (Sehens), in Rahmen einer psy­chologischen Konstruktion, verdeutlicht der Aufsatz von W. SALBER: ”Der Blick", I960.

Grundlegend beziehe sich das Blicken auf Anderes und stehe mit diesem in einem Wechselspiel.

Im Aberglauben sei dem Blick ein magischer, ”substantieller Charakter zugeschrieben’’ worden (a.a.O., S. 577),

"der Blick ist ein Lichtstrahl, der aus dem Auge bricht. Er vermag die Umgebung zu erleuchten, sogar Feuer entzünden" (ebd. ).

Die "Zauberkraft des Blicks” (ebd.) befähige zum Anblick der in der Natur wirkenden Geister.

Im ””Bösen Blick”" (ebd.) würde die Zauberkraft "wie ein vergifteter Pfeil” (ebd.) in seiner gewalthaften Mächtigkeit besonders offenbar, der Tod und Vernichtung- verursachen könne. Das habe zur Schaffung von Mitteln gegen diese Blickmacht gef ührt :

”Metalle, obszöne Gesten, magische Figuren und schließlich der eigene Blick” (ebd.), d.h. durch ein dem bösen Blick zuvorkommender eigener Blick, könne dessen Macht gebrochen werden.

Eine andere magische Machtrichtung des Blickes verhülfe dazu, sich selbst durch den Blick bezaubern zu können (Blick in den Spiegel; Blick zum Doppelgänger; Bedecken des Auges, um Scha­den von sich abzuwenden, oder die Verdeckung des Blicks beim Hinzurichtenden, dem die Augen verbunden wurden).

”Der Blick setzt anderes Geschehen in Bewegung, er betreibt gleichsam etwas, worauf geantwortet wird.

Der Blick vermag zu wandeln” (ebd. ).

SARTRE greife diese archaischen Sinnbestimmungen des Blickens auf und vertiefe die Bestimmung dieses Zusammenhangs:

'"'Das Urverhältnis, in dem der ”Andere” entdeckt wird, ist nicht die Objektheit: die Grundbeziehung zum Anderen liegt vielmehr beschlossen in der Möglichkeit, ständig vom anderen gesehen zu werden. Das ist ein irreduzibles Faktum. Durch die ”beunruhigende Bestimmt— heit des Seins hindurch, das ich für ihn bin”, enthü11t sich mir die Freiheit des (Subj ekt)-Anderen”” (a.a.O., S. 573; Zitat im Zitat ist vom Verfasser durch Untez— streichen gekennzeichnet, dies gilt auch für die weiteren Zitate, bei denen Unterstreichungen gesetzt worden sind).

Durch den Anderen erführen wir, daß wir diesen nicht be­herrschen könnten. .

””Venn der Andere auf uns blickt, erfassen wir uns als ”unbekanntes Objekt unerkennbarer (Wert-)Be­zieh ungen””. Wir antworten darauf in Scham, Furcht,

Stolz; sie erscheinen als Sinn unserer Reaktionen unter dem Blick des anderen”” (ebd.).

Der Andere, als Bedingung meiner Gegenständlichkeit, würde in seiner Freiheit die eigenen ('meine') Möglichkeiten begrenzen, was als Unbehagen erfahren würde:

””als ein ”erlebtes Losgerissensein von der eks tat i sch en Einhei t des Füi—sich”” (ebd.).

Als Verteidigungsmittel gegen den Blick des anderen entstünde das ihn Anblicken als Vergegenständlichung.

””Der andere ist für mich gleichsam ein "mit Sprengstoff geladenes Instrument”” (ebd.).

Durch diese Vergegenständlichung des anderen mittels meines Blickes als Verteidigung, würde dieser "in die Ganzheit mei­ner Welt eingefügt" (ebd. ). Doch dabei bliebe es nicht. Die Verteidigung werde zunichte gemacht

”wenn ich durch den Blick des Anderen dessen Gestaltwandel vom Objekt-anderen zum Subjekt-

Anderen erfahre” (ebd.).

Als eine immerwährende kreisförmige Beziehung zum anderen, entstünde eine dauernde "Bewegung aus dem Scheitern" (a.a.O., S. 579), wobei wir

"das unmögliche Ideal einer gleichzeitigen Erfassung seiner Freiheit und seiner Gegenständ- lichkeit" (ebd.) verfolgten.

Der Blick sei ein seelisches Ganzes sui generis,

"er organisiert seelische Erlebnisse in einer Struktur, die spezifische Relationen umgreift" (ebd. ).

Aus diesem Grunde könne aber der Blick des anderen "meine Welt dezentieren” (ebd. ). Der Blick träte stets "an irgendwelchen Wendepunkten auf, sein Aufkommen setzt etwas in Gang oder kann einen Umschlag bedingen” (a.a.O., S. 580).

Er gelte als ein ””Grenzphänomen, eine "extreme Form" seelischen Erlebens"" (ebd.), das sich bis zum Rauschgefühl steigern könne.

Doch neben den quasi 'unbewußten" Formen des Blickens stünden die Züge der Wachheit und ””theoretischer” Verarbeitung” (a.a.O., S. 581). Bei GOETHE bedeute dies, ””daß jedes Ansehen in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen übergeht, "und so kann man sagen, daß wir bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren”" (GOETHE, zit. n. Sa Iber, 1960, S. 581), was "ein Erkennen als affektiven Vorgang" (SALBER, 1960, S. 581) meine. Ein-Blick gewinnen hieße ""In diesem Entdecken, Aufbrechen, Beziehen schießt der Blick aus der rhytmischen Bewegtheit des Erlebens heraus, er faßt und "hält” (RILKE) etwas”” (ebd.).

Das Sehen, als Form des Blickens würde zur "Aktion" (a.a.O., S. 582), die sich in Transformationen äußerte wie z.B. ”Foi— men des Dabeiseins, des Daranhaftens, des Sich-darauf-Zubewe- gens, Dranbleibens" (ebd.). Der Blick entlade nun Seelisches. Solche 'Auszeugungsvarianten" des Blickens könnten sein:

””verheimlichte Beobachtung, gebremste Zuwendung, feindliche Reserve, pathische Bereitschaft, demonstrative Selbstüberhebung, Berührungsscheu”” (LERSCH, zit. n. SALBER, 1960, S. 582).

Nach STREHLE verbänden sich mit dem Blicken:

””Interessiertheit, Anerkennung, Offenheit, Vertrauen. Sicherheit, Zudringlichkeit, Hinterhältigkeit, Huldigung, Beleidigung, Gleichgültigkeit, heimliche Verständigung, Gequältheit”” (STREHLE, zit. n. SALBER, 1960, S. 582)

Beendet würde dieser Vorgang, '"'oft ln einem konzentrierten, zusammengerafften, akzentuierten "letzten” Blick"” (ebd.).

Dem Menschen sei aber der Blick nicht immer frei gewährt bzw. oft verwehrt, z.B. der Anblick Gottes. Neben diesem würden Sitte, Gesetz oder Tradition "den erfassenden und wachen Blick" (ebd.) nicht zulassen.

"Anblick und Erblickender stehen damit in einem bestimmten Verhältnis des Entsprechens bzw. des Nichtentsprechens" (ebd.).

Dies zeige, daß nicht die "Dinge, sondern ihr Bild" (a.a.O.,

S. 583) von ihnen uns ansprächen. Der Blick entzünde sich an "bedeutsamen", "gefühlsbesetzten Bildern” (ebd.).

"Der Blick wird durch diese Bilder angezogen und er ergreift sie, weil sie ihm innewohnenden Entwürfen entsprechen oder bestimmte Tendenzen zu neuen Entwürfen zu führen versprechen” (ebd. ).

In den Bildern, die der Mensch suche oder vermeide, erkenne er vorbewußt, wie er selbst sei. Bei diesen würde etwa erfahrbar, daß unsere Welt völlig verwandelbar sei unter dem Blick des anderen, oder daß "unser Blick als zentrierendes Geschehen” (ebd. ) eine ganze Welt entwerfen könne. Der Blick habe die Eigenschaft erdeuten zu können und damit in einer konzentriei— ten Form den Zusammenhang der Dinge bewältigen zu können: ""es ist eine realitätsumspannende Phantasie "im" Blick”” (ebd.). Daher habe der Blick zugleich echten Kontakt zur Wirklichkeit und ist doch "phantastisch", er ordnet, macht "ganz”, stellt fest und tut das alles doch befruchtet von Gefühl und Bild, von der ' nie ruhenden "Bewegung” des Seelischen”” (ebd. ) .

Der Blick sei, so leitet SALBER grundlegend ab, eine

'"'Entwicklungsform, in der keimhaft eine Fülle von ”Gestalttendenzen" enthalten ist. In ihm liegt phantastisch beschlossen, was die Vorgänge, die er einleitet, des Längeren und Breiteren entdecken werden'"' (ebd. ) .

Seine Richtung sei die des Selegierens und "erstellt produktiv erahnend bereits eine bestimmte Gestalt der Dinge und ihre sinnhafte Bewertung” (ebd.). In seinem Charakter, als aktiver Vorgang organsiere der "Blick unser Sehen" (ebd. ) als ein Suchen oder, nach BENN, "als den Stil zu sehen” (BENN, zit. n. SALBER, 1960, S. 584). Das Angeschaute (im Beispiel des Bösen Blickes) könne die Welt wandeln, ""erschlägt bestehende Sicherheit und entwirft eine andere ”phantastischere" Ordnung"" (a.a.O., S. 584).

Als ein weiterer Zug des Blickens gelte:

"Der Blick ist ein einsetzbares Bild, das Einzel­züge des Erlebens konturiert und auf sich bezieht.

Er wird xrerfügbar als erledigende Gebärde, die uns direktes Handeln erspart” (ebd., Hervorhebung vom Verfasser), indem für das Handeln ein Vorentwurf geschaffen werde. Das habe bisweilen mehr mit Zeichen als mit Sprache zu tun,

"denn der Blick ist eine Sprache, die die Welt da faßt, wo die Sprache sie nicht mehr zu fassen vermag. Oder auch, wo die Sprache zu sehr eine Festlegung bedeutete” (ebd.).

Zugespitzt bedeute dies:

"”Als ”Phantasma" ist der Blick gleichsam eine Sublimierung der Aktion, ein "Fangen" in der "Luft”, eine "Zerstörung" oder ein "Haben" im Entwurf, etwas das greift, ohne selbst endgültig greifbar zu sein” (ebd. ) .

So kämen dem Blick etwas "Strahlendes, Substantielles und Energetisches" (ebd.) zu. Doch sei dies wiederum nur als ein Bild zu sehen, genauso wie die Bilder der Dinge der Welt. In diesem Sinne gelte es auch die psychoanalytischen Auffassungen zum Bösen Blick zu verstehen.

Wenn FLÜGEL den Blick als phal1isches Symbol sehe, daß mit Zeugung zu tun hätte, oder der Böse Blick die Gefährdung der Potenz des anderen bedeutete, sei dies bildhaft gemeint (FLÜ­GEL, zit. n. SALBER, 1960, S. 584). Das Bild des Blickes zeige ihn ”als mächtige, wertgerichtete, ausgreifende und ein-dring­liche Form des seelischen Geschehens" (ebd.). ffur dem Menschen komme die Form des Sehens, als explizit seelische Form, zu.

In einer letzten Wendung stellt SALBER heraus, welchen psychologischen Sinn es habe. sich mit dem Blick zu beschäftigen.

Mittels der Untersuchung des Blickes werde es möglich zu zeigen, daß die globale Bestimmung des Sehens als "Wahrnehmnung" (ebd. ) unzureichend sei und bestimmte Formen des Sehens zu differnzieren seien.

""Darüberhinaus erweist sich von diesen Formen aus, welche Bedeutung das "Phantastische" auch dann als regulierendes Prinzip hat, wenn man vom "Zuhandenen" ausgeht”" (ebd. ).

Der Blick sei endlich eine

"ausgezeichnete Form des seelischen Lebens und ein beziehungsreicher Ansatz für psycholo­gisches Erkennen” (ebd.).

3. Psychoanalytische Auffassungen zur Schaulust

Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß die psychoanaly­tische Theorie seelischer Zusammenhänge den Begriff SL in den Rang eines wissenschaft1ichen Terminus erhoben hat.

Im folgenden werden diverse psychoanalytische Schriften zum Thema SL referiert. Die Originaliteratur verwendet den Begriff "Schaulust', 'Schautrieb", "Schaugelüste", "Schaubegierde', "Schaul ibido" und "Wißtrieb" synonym.

Die psychoanalytische Auffassung der SL läßt deutlich erken­nen, daß ihre Verbegrif f 1 ichung keinesfalls eine Substant ial i- sierung meint. Vielmehr hat sie ein dynamisches, gefügehaftes Verständnis von ihr entwickelt, daß als solches variierte Ent­wicklungsstufen (innerhalb der Theorieentwicklung) sowie ' Schicksal formen" (im Libidohaushalt) ausgebildet hat.

Wenn die SL wiederholt im Zusammenhang mit Perversionen behandelt wird, zeigt das nur die "alte" Vorliebe psychoanaly­tischer Systementwicklung, die, anhand der Abweichungsformen, Normalseelisches zu studieren sucht. Nun trifft dies ganz besonders für die Analyse der SL zu.

Einen ersten grundlegenden überblick über die Begriffs­entwicklung der SL gibt H. NAGARA (1976): ”Psychoanalytische Grundbegriffe”.

SL wird dabei umfassend definitorisch bestimmt als: Der ”Schautrieb ist einer der vielen Partialtriebe, die, wenn sie unter dem Primat der Genitalzone integriert sind, den Sexualtrieb der reifen erwachsenen Sexualität konstituieren. Er ist ein Trieb, mit einem aktiven Sexualziel - dem zu schauen. Er tritt stets zusammen mit dem Exhibitionismus auf und geht diesem voraus; d.h. die aktive Komponente des Schauens geht der passiven des Angeschautwerdens immer voraus. ”

(FREUD, 1905, zit. n. NAGARA, 1976, S. 199: Kursiv im Original ist vom Verfasser durch Fettdruck wiedei— gegeben; dies gilt auch für alle weiteren Zitierungen).

SL sei demnach ein Element des normalen Sexuallebens. Sie kennzeichne die normale Libidoentwicklung. Unter bestimmten Umständen sei sie auch für die Konstitution von Perversionen (Voyeurismus, Fetischismus, Homosexualität) grundlegend, Fei— ner spiele die SL eine bedeutsame Rolle bei der AusbiIdung von Zwangsneurosen.

Ihren ersten begrifflichen Niederschlag, innerhalb der psy­choanalytischen Systementwicklung, habe die SL, , 1905 ge­funden.

Nach FREUD (1905) sei die SL ”die normale Lust am Schauen”, (FREUD, zit. nach NAGARA, 1976, S. 199) die zu einer Perver­sion werde, "wenn sie sich ausschließlich auf die Genitalien einschränke” (ebd. ) und in Verbindung mit einer Überwindung des Ekels das normale Sexualziel verdränge, anstatt es voi— zubereiten.

SL trete jeweils mit ihren Gegenpart auf:

"Jede "aktive" Perversion wird also hier von ihrem Widerpart begleitet; wer im Unbewußten Exhibitionist ist, der ist auch gleichzeitig Voyeur” (FREUD, 1905, S. 66, zit. n. NAGARA, 1976, S. 199/200).

Einer aktiven Seite entspräche immerzu auch eine passive.

""Die Schaulibido "ist bei jedermann in zweifacher Art, aktiv und passiv, männlich und weiblich vorhanden, und bildet sich je nach dem überwiegen des Geschlechtscharakters nach der einen oder anderen Richtung überwiegend aus"” (FREUD, 1905, S. 107, zit. n. WÄGARA, 1976, S. 210)

"Die vorzeitige Verdrängung des sexuellen Schau- und Wißtriebes" (FREUD, 1909, S. 459-462, zit. n.

NAGARA, 1976, ' ebd. ) . lege den Grundstein zur Ausbildung einer Neurose.

Der ursprünglich auf die Genitalien gerichtete Schautrieb, der "seinem Objekt von unten nahe kommen wollte" (FREUD, 1905, S. 54 Anm. , zit. n. NAGARA, 1976, S. 204) erführe, durch Vei— drängung, das Schicksal einer exzessiven Selbstquälerei und entsprechendem Grübelzwang. Dies stelle einen Ausdruck einer "übermäßigen Sexualisierung von Akten (dar), die sich sonst als Vorbereitung in den Weg zur normalen Sexualbefriedung einfügen, vom Sehen-, Berührenwollen und Forschen" (FREUD, 1916/17, S. 320, zit. n. NAGARA, 1976, S. 205, Einfügung vom Verfasser).

Die SL unterliege also einem notwendigen psychischen Bearbei­tungsprozeß der Verdräng- bzw. Verschiebbarkeit.

SL bi 1 de das

"wichtigste Element der kindlichen Sexualneugier, das oft die Qualität eines instinkthaften Dranges hat. Sie kann zu einem echten Interesse an Forschung sublimiert werden; ihre Verdrängung kann jedes intellektuelle Interesse hemmen, je nachdem. welche Erfahrungen mit dieser triebhaften Neugier verbunden sind" (FREUD, 1907, S. 19-27, zit. n. NAGARA 1976, ebd. ) .

Der SL und Exhibitionslust entspreche das Auge als einer erogenen Zone. Daher könnten psychogene Sehstörungen als Fol­gen verdrängter SL auftreten.

Die grundlegende Auffassung zur SL habe nun in der System­entwicklung eine Erweiterung erfahren:

" die Augen nehmen nicht nur die für die Lebenserhaltung wichtige Veränderungen der Außen­welt wahr, sondern auch die Eigenschaften der Objekte, durch welche diese zu Objekten der Liebes- wahl erhoben werden, ihre "Reize"’’ (FREUD, 1910, S. 99, zit. n. NAGARA, 1976, S. 200/201).

Wenn der Schautrieb, als sexueller Partialtrieb, zu stark würde (oder sich auf verbotene Objekte richtete), indem er sich des Schauens bediente, begründe das im Triebleben einen schwerwiegenden Konflikt.

Die übergroßen Ansprüche der SL zögen dann die Gegenwehr der Ichtriebe auf sich, was sich als konflikthafte Grundsituation niederschlage.

" so daß die Vorstellungen, in denen sich sein Streben (das der SL) Streben ausdrückt, der Verdrängung verfallen und vom Bewußtwerden abge­halten werden, so ist damit die Beziehung des Auges und des Sehens zum Ich und zum Bewußtsein über­haupt gestört. Das Ich hat seine Herrschaft über das Organ verloren, welches sich nun ganz dem verdrängten sexuellen Trieb zur Verfügung stellt. ” (FREUD, 1910, S. 99, zit. n. NAGARA,

1976, S. 201, Einfügung vom Verfasser).

FREUD bezöge die ” Talionstraf e” (ebd.) hierauf:

"Weil du dein Sehorgan zu böser Sinneslust miß­brauchen wolltest, geschiet es dir ganz recht, wenn du überhaupt nicht mehr siehst" (FREUD,

1910, S. 100, zit. n. NAGARA, 1976, S. 201).

In den "Drei Abhandlungen " (1905) habe FREUD angenommen, daß bestimmte Partial triebe (wie die der SL, des Exhibitio­nismus und der Grausamkeit) in gewissem Sinn unabhängig von den erogenen Zonen aufträten und erst später eine innige Beziehung zum Genitalleben eingingen. D.h. die SL, Exhibitio­nismus und Grausamkeit könnten zunächst von der erogenen Sex­ualtätigkeit unabhängige und selbständige Strebungen bilden, damit unabhängig von Objekten.

Dieses Konzept sei aber nach der Einführung des ”Narzißmus” (1914) modifiziert worden:

"Der Schautrieb ist nämlich zu Anfang seiner Betätigung autoerotisch, er hat wohl ein Objekt, aber er findet es am eigenen .Körper. Erst späterhin wird er dazu geleitet (auf dem Wege der Vergleichung), dies Objekt mit einem analogen des fremden Körpers zu vertauschen" (FREUD, 1915, S. 222, zit. n. NAGARA,

1976, S. 201).

In der Abhandlung "Triebe und Triebschicksale” (1915) vertrete FREUD die Auffassung, daß alle Triebe durch "eine Quelle, einen Drang, ein Ziel und ein Objekt" (NAGARA, 1976, S. 201) gekennzeichnet seien. Der Trieb könne verschiedene Aus­formungen (Schicksale) erfahren.

-t Verkehrung ins Gegenteil:

"Das aktive Ziel - beschauen - wird durch das passive Ziel - beschaut werden - ersetzt. Eine inhaltliche Verkehrung findet nur bei der Verwandlung von Liebe in Haß statt” (NAGARA, 1976,

S. 202). t Wendung gegen die eigene Person: Nach der autoerotischen Phase des Kindes werde später das "Schauen als Aktivität gegen ein fremdes Objekt, gerichtet" (FREUD, 1915, S.

222, zit. n, NAGARA, 1976, S. 202). Dieses würde dann aufgegeben und der Schautrieb richte sich auf einen Teil des eigenen Körpers. Dadurch würde ein neues passives Ziel aufgerichtet, nämlich als Subjekt be­schaut zu werden: "dem man sich zeigt, um von ihm be­schaut zu werden" (FREUD, 1915, S. 222, zit. n. NAGARA 1976, ebd.).

Trotz des Wechsels des Objekts bliebe beim Exhibitio­nisten das Triebziel erhalten. Die Wendung gegen die eigene Person und die von der Aktivität zur Passivität fielen zusammen.

* Verdrängung: Sie könne zur Symptombildung führen. Der spontan auftretende Schautrieb als Sexualäußerung richte sich auf die eigene masturbatorische Tätigkeit oder dem Zuschauen bei der Harn- und Kotentleerung. Nach einer Verdrängung bliebe die Neugierde zum Beschauen fremder oder eigener Genitalien als quälender Drang bestehen, zeige sich dann aber nur noch in Symptombildungen.

% Sublimierung: Sehen sei für FREUD vom Tasten abgeleitet. "Der optische Eindruck bleibt der Weg, auf dem die libidinöse Errgeung am häufigsten geweckt wird, und auf dessen Gangbarkeit die Zuchtwahl rechnet, indem sie das Sexualobjekt sich zur Schönheit entwickeln läßt. Die mit der Kultur fortschreitende Verhüllung des Körpers hält die sexuelle Neugierde wach, welche danach strebt, sich das Sexual obj ekt durch Enthüllung der verborgenen Teile zu ergänzen, die aber ins Künstlerische angelenkt ('sublimiert') werden kann” (FREUD, 1905, S. 55f, zit. n. NAGARA, 1976, S. 203).

Die vielfältige Ausformbarkeit der SL läßt verständlich wei den, wieso dieser Aspekt besondere Aufmerksamkeit erfahren hat. So z.B. durch K. ABRAHAM (1914): "über Einschränkungen und Umwandlungen der Schaulust bei Psychoneurotikern nebst Bemerkungen über analoge Erscheinungen in der Völkerpsycholo­gie" (veröff. 1982 als 'Gesammelte Schriften').

ABRAHAM gebraucht die Begriffe 'Schaulust', 'Schautrieb' und 'Schaugelüste' synonym.

In einem Kurzüberblick referiert ABRAHAM die bisherigen Auffassungen zur Schaulust.

Eine sexuelle Betätigung sei schon im frühen Kindesalter gege­ben, die freilich dem Kinde nicht als solche bewußt werde.

Die SL stehe mit "der sexuellen Wißbegierde in engem Zusam­menhang. Die Sublimierung dieser Triebe erzeugt das Schamge­fühl" (a.a.O., S. 7 1). Das Beschauen des Sexualobjekts bilde "unter normalen Verhältnissen nur eine Quelle der Vorlust" (a.a.O. , S. 12 I).

Der sexuelle Schautrieb, als prägenitale Entwicklungsstufe der Libido, sei normalerweise auf den Gesamte indruck durch den des nackten Körpers anderer Menschen, d.h auch auf die primä­ren und sekundären Geschlechtscharaktere gerichtet.

Besonders Interesse fände für das Kind das Beschauen der Geschlechtsunterschiede sowie der Zeugungsakt.

Die Partialtriebe seien zunächst noch nicht

"zu einem festen Verbände organisiert, sondern sie gehen selbständig auf Lustgewinn aus. Erst später ordnen sich die erogenen Zonen und die Pai— tialtriebe dem Primat der Genitalzone unter”

(a.a.O., S. 5 II, Hervorhebnung vom Verfasser).

Im Rahmen der Libidoentwicklung gehe diese vom Mund, als autoerotische Lustquelle, zur Obj ektliebe über.

Die Partialtriebe würden von denen, der heterosexuellen, prädominiert:

"Die den anderen Partialtrieben entstammenden Energien werden der sexuellen Verwendung ent­zogen und auf wichtige soziale Ziele gelenkt; dies ist der Prozeß der Sublimierung"

(a.a.O., S. 133 I) .

Die SL sei demnach zu 'sozialen Gefühlen" umgeformt. Wie der Titel des Aufsatzes von ABRAHAM ankündigt, wird beachtenswert, welche vielfältigen (Abweichungs-) Formen die SL annehmen könne.

"Es bewahrheitet sich nun, daß es für niemand leicht wird, zweien Herren zugleich zu dienen. In je inniger Beziehung ein Organ (Augen) mit solch doppel­seitiger Funktion zu dem einen der großen Triebe tritt, desto mehr verweigert es sich dem anderen"

(FREUD, 1910, ziV, n. ABRAHAM, 1982, S. 226 II,

Einfügung vom Verfasser).

Wenn der Schautrieb einer weitgehenden Verdrängung verfalle, so sei dies durch ein "Motiv" zu erklären, daß Freud "Talion” nennt: " - d.h. Selbst bestrafung für genossene Schaulust am verbotenen Objekt - ” (alle drei Zitate ABRA.HAM, 1982, S. 227 II) .

Ihre Manifestationsformen könnten sein: hysterische Blindheit, also

”teils Transformationen der Schaulust in eine spezi­fische Angst vor der Betätigung dieses Triebes, teils um Störungen der Sehfunktion, teils um neurotische Symtpome, welche sich am Sehorgan abspielen, ohne den Gesichtssinn direkt zu betreffen” (a.a.O., S. 228 II).

Andere Störungeformen könnten sich als neurotische Lichtscheu oder Schauverbote äußern. Die SL könne verschiedene Intensi­täten annehmen und z.B. zu einem Schauzwang werden. Alle neurotischen Ausformungen gingen auf Verschiebungen der "Schaugelüste” zurück (a.a.O., S. 236 II).

Z.B. bedeute, innerhalb der neurotischen 'Verzerrungen", das Auge ein Organ, "das nur in der Einzahl vorhanden ist” (a.a.O., S. 238 II). Die Genitalsensation sei dann eine "nach oben verlegte" SL (a.a.O., S. 250 II) und drücke die Scheu vor Anblick des väterlichen Penis aus, wobei dies wiederum eine Kastrationsangst manifestiere.

Umgekehrt, d.h. wenn der Wunsch nach dem Anblick des weib­lichen Genitals bestehe, stünde dies unter der Angst vom Vater entdeckt werden. All dies kanalisiere sich in eine zwangartige Neugierde, einem Hang zum Grübeln oder einer übei— triebenen Neigung zum Rätselhaften.

Fixierungsmöglichkeiten der SL könnten sich durch Sehen des elterlichen Geschlechtsverkehrs ergeben.

Mitunter führe die Talion dann zu neurotischer Blindheit oder Einschränkungen des Sehens, bis hin zu Phobien.

Umgekehrte Abwehrformen seien etwa:

"Diese stetige Spannung der optischen Aufmerk­samkeit, dieses Notiznehmen von Dingen, welche von anderen Menschen als belanglos mit Recht keiner besonderen Beachtung gewürdigt werden, täuscht eine rege Schaulust vor”

(a.a.O., S. 248 II, Hervorhebung vom Verfasser).

Oder:

”Dasjenige, was den Schautrieb am stärksten zu reizen vermag, wird gleichsam als etwas Verbotenes gemieden: das Interesse verschiebt sich auf das unbedingt erlaubte Indifferente”

Eine weitere Spielart der verdrängten SL zeige sich als ”Hy- permnesie” (a.a.O., S. 249 II):

"Die sexuel le Neugier verfiel der Verdrängung; an ihre Stelle trat das übertriebene Achtgeben auf indifferente Einzelheiten im täglichen Leben”

(a. a. O. , S. 249 II).

Andere "verbotene Schaugelüste" (a.a.O., S. 250 II) zeigten sich als "zwangsartiges Zucken der Augenlider” (a.a.O., S. 250 II) oder als eigentümlicher Schauzwang "die Rückseite jedes Gegenstandes seinen Augen zugänglich zu machen" (a.a.O., S. 251 II, Hervorhebung vom Verfasser).

Eine Al Imacht des Blickes (als Erregung durch Angeschaut werden) wie auch eine Allmacht der Gedanken könnten spätere Ausformungen werden. Bei Fällen, bei denen es darum ginge, eine Starre durch den Blick zu schaffen, sei die Beziehung zu der mythischen Gestalt der Gorgo auffällig. Hier sei "Das Auge in diesen Fällen sozusagen ein Instrument des Sadismus" (a.a.O., S. 253 II, Hervorhebung vom Verfasser). Das Auge könne also die Bedeutung des Phal1ischen (Fenis) annehmen. Ebengenannter Zusammenhang sei vor allem bei Frau­en anzutreffen.

In einem letzten Formenkreis könne die Verdrängung der SL eine Neigung zu allem Dunkeln ausbiIden: zu Geheimnisvollem, zu übersinnlichem oder zu Mytischem.

Der Zusammenhang von SL, Wißbegierde, Zweifeln, Grübeln begründe sich durch die primitive sexuelle Neugierde, die

”sich im Kindesalter zuerst auf den Körper und speziell auf die Genitalien der Eltern, sodann auf den Zeugungsvorgang und auf die Ge­burt” richte (a.a.O., S. 260 II).

Außerdem sei sie besonders der Mutter zugewandt, da sie ja die Kinder gebäre.

"Die primitive kindliche Neugier will diese Organe oder Vorgänge sehen; das Verlangen, von ihnen zu wissen, läßt bereits auf eine Eindämmung der SL schließen"

(a.a.O., S. 260 II, Hervorhebung vom Verfasser).

Dies bilde "Prozesse der Transformation und Produktion” (a.a.O., S. 260 II) der SL aus.

"Wir nehmen mit Freud an, daß die sexuelle Schaulust des gesunden Menschen im Kindesalter in einem erheblichen Umfang der Verdrängung und Sublimierung verfällt."

(a.a.O., S. 260 II, Hervorhebung vom Verfasser).

Daraus folgten Wißbegierde, Forschungsdrang, Interesse an Naturbeobachtung, Reiselust, Trieb zur künstlerischen Vei— Wertung des vom Auge Wahrgenommenen.

"Bei Neurotikern müssen wir in vielen Fällen sicherlich eine konstitutionelle Verstärkung

" doch kann auch durch Einschränkung der sexuellen Aktivität der Schaulust (ihr) eine vergrößerte Bedeutung zufallen"

(a.a.O. , S. 260 II, Einfügung vom Verfasser).

Nicht zuletzt sei eine besondere Form der SL-Verdrängung zu würdigen:

” ein verstärkter Drang zum tatenlosen

Schauen aus der Ferne" (a.a.O., S. 260 II, Hei— vorhebung vom Verfasser).

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß eine Norm der Ent­wicklung der SL angenommen wird. D.h. sie bleibe "in der gesunden Entwicklung" begrenzt und unterwerfe sich dem Primat der genitalen Organisation.

Könne der normativ vorgezeichnete Entwicklungsweg nicht einge­halten werden, komme es zu Verdrängungen der SL, die sich in Abweichungen neurotischer und psychotischer Art mani­festierten, die wiederum von quantitativen Verhältnissen der SL-Triebstärke abhingen.

Für j egl iche Entwicklungsformung der SL sei es wichtig, wie sich die SL zu ändern Partialtrieben und dem Ödipuskomplex verhielte.

Letztlich werde für die weitere Gestaltung der SL bedeutsam, welche Entwicklungsmechanismen greifen würden: Umkehrung, Vei— Schiebung, Verdichtung, Fixierung, Verdrängung und Subli­mierung. Diese hingen wiederum von der Struktur der entwickel­ten Ichorgansiation ab.

Bei Neurosen könnten sich demnach drei verschiedene Formen der SL ausbilden:

Die neurotische SL könne (1.) die ursprüngliche Gestalt der SL beibehalten, (2.) zu einem anderen Teil würde sie durch Subli­mierung umgewandelt, und (3.) ein dritter Teil würde zur neurotischen Symptombildung umgewandelt.

"Je lebhafter der Trieb, desto intensiverer Sublimierungsarbeit bedarf es, um den Ausbruch neurotischer Störungen zu verhüten" (a.a.O.,

S. 260/1 II).

Es könne ein Interesse für konkretes Wissen und Forschen entstehen. Durch Sublimierung gelange dieser Typ " .in nahe Fühlung mit den Phänomenen der Außenwelt" (a.a.O., S. 261 II) .

Ein unproduktiver Wissensdrang, als neurotische Grübelei, etwa bei Philosophen, könne sich ebenso ausbiIden. Dabei ginge es darum, seine eigenen Gedanken zu schauen, in bezug auf das, was doch nicht sehbar wäre.

"Gleichzeitig hat sie sich auf das Ich in einer Form zurückgewandt, die wir nur als eine Regression in die Bahnen des kindlichen Narzißmus verstehen können (v. Winterstein)"

(a.a.O. S. 262 II):

Die verdrängte inzestuöse SL, als Grübe 1 frage nach der Herkunft der Gedanken bliebe, letztlich immer ungelöst als geheimer Sinn. Konf1ikt, Grübelsucht stünden immer in der Nähe van sexuellem Nichtwissen. Z.B. bedeute in der Bibel Wissen ein Erkennen, und dies wiederum Begattung. '"'Ein Mann "ei— kennt” sein Weib”” (a.a.O. , S. 265 II). Daher gelte das Verbot die "Scham zu entblößen” (ebd. ).

Das Phänomen des Zweifeins bei der Zangsneurose bedeute das Bedürfnis nach Unsicherheit. D.h. es gelte alles unsicher zu halten, wie es bei der ersten Wahrnehmung der eigenen Zwiespältigkeit seitens des Kindes gewesen sei. Dies meine Zweifel an Zuverlässigkeit seiner Gefühle und zeige sich als Zweifelsucht.

Andere Autoren greifen die SL u.a. als 'Schaubegierde' oder "Scoptophilie” (DUCA, 1962, S. 90/91) auf.

Bemerkenswert bleibt dabei, daß SL überwiegend in direkter Nähe zu 'Krankhaftem, Verdrehtem, Neurotischen' oder sonstwie Abweichendem verhandelt wird.

Nach WYSS (1972) sei die SL neben dem Exhibitionismus, Sa­dismus und Masochismus eine "Fixierung des vorläufigen Sexu­alziels" (a.a.O., S. 52).

Scham, Ekel, Moralität stünden der Perversion entgegen, bzw. gegen diese könnten sich die Perversion enthemmen. Bei der Neurose sei dagegen vieles 'unterdrückt'.

Der Sadismus setze sich aus der SL, Aggression und Libido zusammen. Dieser Annahme von Partialtrieben der Libido liege zugrunde, daß der Trieb ein somatisch bedingter Reiz sei. Partialtriebe stünden in Verbindung mit bestimmten erogenen Zonen des Körpers, von denen die Partialtriebe ihren Urpsrung nähmen.

JONES (1984) sieht in der SL ein Beispiel für eine 'normale' Entwicklung der Libido wie auch für Abweichungsform derselben:

""Viele der erst noch zerstreuten frühen Partial­triebe werden im Leben des Erwachsenen dazu vei— wendet, das zu beschaffen, was Freud "Vorlust” nennt, im Gegensatz zur "Endlust”, die die ab­schließende, vollkommene Befriedigung gewährt"

(a.a.O., S. 344, Hervorhebung vom Verfasser).

Die andere Entwicklungsrichtung sei gekennzeichnet durch einen Prozeß, wobei

"...bestimmte Komponenten des Sexualtriebes, die normalerweise nur Begleitmomente sind und zum Endziel des Sexualaktes führen, als Ersatz dafür herausgegriffen (werden). Es besteht die Tendenz, auf einem Vorbereitungsstadium des ganzen Vorganges zu verweilen und ihm so viel Gewicht zu verleihen, daß es zum Akt selber wird.” (a.a.O., S. 341/342, Einfügung und Hei— vorhebung vom Verfasser).

4. Sozialpsychologische Ansätze zur Schaulustprohlematik

Forschungsrichtungen sozialwissenschaftlicher Provenienz Ist eine, in Teilbereichen, eingehendere Behandlung des Problembe­reichs Schaulust zu verdanken.

Einschränkend ist jedoch hinzuzufügen, daß in keinem Falle Schaulust als expliziter Forschungsgegenstand betrachtet wurde.

Alle diesbezüglichen Ansätze werden unter anderen Forschungsoberthemen (allgemeine Bedingungen des Helfens, präklinische Versorgungsmöglichkeiten durch Laien, Attribu- tionstheorien etc.) gehandelt.

Operat ionalisierbare Fragestellungen stehtn im Vordergrund.

4.1. Das Schaulustphänomen aus der Sicht der Konzepte zum altruistischem- sowie prosozialem Verhalten

GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER (1986) betonen, daß die For­schungsrichtung des Altruismus und des prosozialen Verhaltens auf eine "ansehnliche” (a.a.O., S. 8) Tradition zurückblicken könne, Bedingungen des Helfens bilden also den Schwerpunkt.

"Auslöser' sei ein Vorfall aus den 60er Jahren in einem New Yorker Stadtteil gewesen, bei dem ein junges Mädchen von einem Mann überfallen wurde der wiederholt auf sie eingestochen hatte. Die eindringlichen Hilfeschreie des Mädchens seien aber - bestürzenderweise - bei den vierzig Personen, die den ganzen Vorfall durchgängig beobachtet hätten, nicht auf Erwiderung gestoßen. Das Mädchen sei Opfer eines Mordes geworden, ohne das jemand der Zuschauer helfend eingeschritten wäre.

Besagter Vorfall induzierte eine Flut von wissenschaftlichen Untersuchungen zur Helfensproblematik.

Hier sollen die grundlegenden Arbeiten mitgeteilt werden. Die Darstellung folgt der Literaturübersicht von GARMS-HOMOLO- VA & SCHAEFFER (1986).

Allen Untersuchungen liege die Annahme einer "Norm der sozia­len Verantwortung” (a.a.O. , S. 9) zugrunde, nach der erwartet werde, "das Menschen ihren Mitmenschen in Gefahrens- situationen und im Falle von Hilflosigkeit zu Hilfe eilen und das sie dabei eigene Belange zurückstellen. Die Befolgung dieser Norm gilt als einer der höchsten gesellschaft­lichen Werte" (ebd. ).

Als einige - die Helfensleistung wesentlich unterstüzende oder umgekehrt behindernde - Faktoren hätten ermittelt werden können:

"- Anwesenheit von Dritten (DARLEY & LATANE, 1968; LATANE & RODIN, 1969; PILIAVIN & RODIN & PILIAVIN, 1969; LATANE & DARLEY, 1970)
- Selbsteinschätzung und Schuldgefühle / Soziale Angst (So­cial anxiety) (SCHWARTZ, 1968 a, b; MCGOVERN, 1976)
- Beziehung zum Opfer und soziale Kontrolle (MILGRAM, 1965) bzw. Abhängigkeit von einer anderen Person (SCHOPER & MA- THEWS, 1965; HOROWITZ, 1968)
- Geschlecht, Erscheinungsbild evtl. auch Status des Hilfe­bedürftigen (BRYAN & TEST, 1967)
- Gegenseitigkeit und Selbstbetroffenheit (GORANSON & BER- KOWITZ, 1966; GREENGLASS, 1969; THOMAS & BATSON, 1981)"
(ebd. )

Als ein Ordnungsgesichtspunkt für die diesbezüglichen Befunde gelte die soziale Situation.

Dabei zeige sich als wesentliche Determinante für das Hilfs­verhalten, nach DARLEY & LATANE (1968), daß die potentiellen Helfer sich als "auf sich gestel1t” erlebten (DARLEY & LA­TANE, 1968, zit. n. GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER, 1986, S. 10).

D. h. bei Anwesenheit anderer Unfallzeugen neige ein Beobachter dazu "anderen Personen die Verantwortung zu überlassen" (ebd. ), was "ein gewisses Maß an Vermeidungsverhalten ini­tiiert" (ebd. ).

Die Hilfsbereitschaft sei deutlich höher, wenn etwa die "Zielperson” (ebd. ) mit dem potentiellen Helfer in einem freundschaftlichen Verhältnis stünde. Das Moment der Fremdheit steigere die Delegation der Verantwortung an andere.

Daß die Anwesenheit Dritter aber nicht nur Verschiebung der Verantwortung an andere meine und damit das Helfen behindere, werde an dem Phänomen einer "kol1ektiven Falsch interpretation der Wotfallsituation" deutlich (ebd. ).

Vereinfacht ließe sagen, daß ein Beobachter sich jeweils der Mehrheitsmeinung anschlösse, wenn diese eine Situation mit Desinteresse behandele. Es entstehe dann ein Zustand ""plura­listischer Unwissenheit”” (PILIAVIN et al. , 1969, zit. n. GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER, 1986, S. 10). Anwesende ”” Vorbil­der”” (ebd.), die sich hilfswillig zeigten, provozierten auch bei ändern Zuschaueren erhöhte Hi lfsbereitschaf.

In einer anderen Ordnungsrichtung der Helfensproblematik würde die Frage nach den persönlichen Eigenschaften gestellt, ”die die individuelle Hilfsbereitschaft dauerhaft begünstigen" (GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER, 1986, S. 10).

Ein wichtiger Befund sei darin zu sehen, daß Personen sich eher dem Helfen zugänglich fühlten, wenn ihnen eine Helfens- verweigerung ""hohe ”psychische Kosten” (Schuldgefühle und Beeinträchtigung der Selbsteinschätzung) verursachen würden”” (a.a.O., S. 10/11). Dies hinge nicht zuletzt davon ab, ob eine Personen eine Situation derart definiere, daß "der Betreffende sich selbst die Verantwortung für die Situation und ihren Ausgang zuschreibt" (ebd.). Hilfsbereitschaft schwanke gene­rell zwischen einem ""sozial erwünschten Verhalten”” (ebd.) und dem ”sozialen Risiko”” (ebd.). Letzteres meine den Fall, beim Helfen nicht positiv beurteilt zu werden oder gar zu versagen. Faktoren wie "überwiegend negative Selbstein­schätzung" (ebd.) und ein hohes Maß an "”sozialer Angst" (social Anxiety = Furcht)"” (ebd.) würden eine Vermeidung des genannten sozialen Risikos begünstigen.

Die ""Beziehung zum Opfer”" (ebd.) könne als weitere Determi­nante des Hilfsverhaltens angesehen werden.

Anhand des sogenannten ""Milgram-Experiments"" (MILGRAM, 1965, zit. n. GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER, 1986, S. 12) sei auf gewie­sen worden, daß das Hilfsverhalten zugenommen habe in dem Maß, in dem das Opfer in engem Kontakt, bzw. direkt beobachtbar, gewesen sei. Die Nähe zum Opfer meine nicht nur eine physi­sche, sondern vor allem eine "ideelle" (GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER, 1986, S. 12). Im Hinblick auf die dominierende Rolle des Versuchsleiters bei diesem Experiment könne der Schluß gezogen werden, daß

"eine hilfsbereite Haltung ein bewußtes Verhalten - bewußte Verantwortungsübernahme - darstellt. In dem Ausmaß, wie jemand erkennt, daß das Wohlergehen seines Gegen­übers allein von ihm anhängig ist,, wird er sich zu seinen Gunsten bemühen (GORANSON & BERKO- WITZ 1966). In dem Maße jedoch, wie sich Menschen für den Ausgang- der Notfallsituation nicht verantwortlich fühlen, sind sie auch nicht für Hilfeleistungen zu gewinnen" (GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER, 1986, S. 12).

Die beiden Autorinnen sehen die wichtige Schlußfolgerung für die Helfensproblematik in der Annahme, "daß die Hilfsbereitschaft unter Laien ver­stärkt werden kann, wenn das Verhältnis zwischen Laienhelfern und Professionellen des Rettungssystems nicht als ein hierarchi­sches begriffen bzw. dargestellt würde, sondern als ein gleichberechtigtes. Dement­sprechend sollte die professionelle Not­fall 1 Versorgung nicht als etwas Höherwertiges vermittelt werden. Vielmehr müßten sich alle Anstrengungen darauf richten, die Eigenständigkeit der Aufgaben beider Gruppen - der Laien und der Professionellen zu ver­deutlichen." (a.a.O., S. 13).

Weitere Faktoren, die die Helfensproblematik grundlegend be­dingten, seien Geschlecht, Erscheinungsbild und der Status des Hilfsbedürftigen.

Insgesamt ließe sich feststellen, daß Frauen weniger Bereit­schaft zum Helfen zeigten als Männer und Frauen eher geholfen würde als Männern. Aussehen und ”repäsentierte soziale Stellung" (ebd.)- des Opfers ((wie auch des ""Mithelfers"" (a.a.O., S. 14)) ergäben günstige Dispositionen für das Hel­fen .

Unter dem abschließend zu nennenden Ordnungspunkt zur Helfens­problematik sei die ””Gegenseitigkeit und Selbstbetroffen­heit”" (ebd.) bedeutsam.

Hierunter fielen etwa Erfahrungen, daß einem selber bereits Helfensleistungen durch andere zuteil geworden seien, die eine Hilfsbereitschaft, seitens des potentiellen Helfers, erheblich fördern würden (GORANSON & BERKOWITZ, 1966; GREENGLASS, 1969; zit. n. GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER, 1986, S. 14).

Die sozial psycho logische Annahme der ""Norm der sozialen Gerechtigkeit”” (ebd.) bedeute, daß ein altruistisches Verhalten vom dem Bestreben stimuliert würde "die soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen” (ebd.). Im Gegensatz hierzu stünden Auffassungen, die eine Begründung für das Helfen hauptsächlich in dem Motiv sähen, "um des persönlichen positiven Ansehens und des guten (auch imaginären) Leumundes wegen geholfen" (ebd. ) zu haben. Das führe mithin zu der Konsequenz, daß, seitens der potentiellen Helfer, versucht würde, Situationen aus dem Wege zu gehen, die eine Helfens- leistung erforderten.

In diesem Zusammenhang erinnern GARMS-HOMOLOVA & SCHAEFFER an die Möglichkeit, daß "der außerordentlich wichtige Ausbau des professionellen Rettungssystems das Poten­tial an helfendem Verhalten in der breiten Öffentlichkeit u.U. hintertreibt’’ (a. a.O. , S. 15) .

4.2, Ansätze der Theorie der Verantwortungsattribution Die Arbeit von G. FAUL & N. OSWALD (1982): "Verantwortungs­attribution bei Verkehrsunfällen: Infozoationsverarbei- tungstheorie versus Attributionstheorie" ( = VA, IV) stellt die zwei Konzepte von Boarbeitungsformen eines Unfallerle­bens einander gegenüber (s. Titel), Die Theorie der "defensiven Attribution" von WALSTEE (1966) (WALSTER, 1966, zit. n. FAUL & OSWALD, 1982, S. 237; alle weiteren Autoren sind ebenso nach PAUL & OSWALD, 1982 zitiert) sieht die Höhe der VA bei Unfällen von der Höhe des entstande­nen Schadens bestimmt.

In Bezug auf ein 1966 von WALSTER durchgeführtes Experiment, bei dem der Einfluß motivationaler Faktoren auf den Attri­but ionsprozeß bei Verkehrsunfällen untersucht werden sollte, sei festgestellt worden, daß "der Beobachter einer Unfallsituation die für ihn bedrohliche Einsicht ab (-wehrt), daß Unfälle zufällig auftreten und daher jeden treffen können” (ebd.; Einfügung vom Verfasser) .

Statt dessen verschiebe der Beobachter die Unfallursache auf die spezifischen Eigenschaften der am Unfall beteiligten Personen und schreibe ihnen die Verantwortung für den Unfall zu. Je bedrohlicher die Situation für den Beobachter sei, desto größer sei seine Tendenz, Verantwortung Personen zuzuschreiben.

Die Höhe der VA wachse mit der Höhe der beobachteten Unfallschwere. Bei kleineren Unfällen sei es dem Beobachter noch möglich eine Unfall Verwicklung ohne Schuldzuweisung an den Betroffenen zu konzedieren. Bei schweren sei dies ”ungleich schwerer zu verkraften” (a.a.O., S. 238). Der Beo­bachter suche nun verstärkt nach einem Verantwortlichen und setze zur Wiederherstellung seines kognitiven Gleichgewichts einen 'schuldhaften Verursacher' ein, von dem er dann sagen könne, "daß die Ferson in der Lage gewesen wäre, den Unfall zu verhindern, wenn sie beispiels­weise aufmerksamer gewesen wäre” (ebd.).

PHARES & WILSON (1972) hätten einschränkend (experimentell) zeigen können, daß eine defensive Attribution bei Unfällen nur dann ausgeübt würde, wenn sowohl Unfallhergang als auch die Unfallursachen für den Beobachter klar erkenntlich wären. Nach SHAVER (1970) komme es nur dann zur defensiven Attribution, wenn der Beobachter zwischen sich und der beo­bachteten Person Ähnlichkeiten erkennen könnte und zudem die Situation für den Zuschauer emotional bedeutsam sei.

SCHROEDER & LINDNER (1976) hätten darauf hingewiesen, daß Unfälle immer dann emotional bedeutsam wären, "wenn der Unfall stärker durch die Handlung der betreffenden Person als durch externe Bedingungen verursacht wird" (ebd.).

Hieraus sei dann von den letztgenannten Autoren eine alterna­tive These der defensiven Attribution abgeleitet worden: Eine beobachtete Unfallsituation löse beim Beobachter die Furcht aus, selber in eine ähnl iche Unfallsituation verwickelt zu werden.

[...]


* Beispielhafte Verkehrsnachrichtenmeldung des Westdeut­ schen Rundfunks (WDR II) am 2.2.1987, 15.06 Uhr. Neuerdings wird statt von Schaulustigen, von Neugierigen gesprochen.

** Beobachtung an einem Sützpunkt der Wildenrath, im Sommer 1986 Ein ähnliches Beispiel gibt STADT-ANZEIGERS vom 22. 5.

*** Zahlen 1iegen keine vor.

* Herrn Dr. WELZEL habe ich für diesen Hinweis zu danken.

* Neben anderen wurden zwei ausgedehnte Suchläufe in den Datenbanken für psychologische Literatur: PSYNDEX und PSYC- INFO unternommen; des weiteren wurde wiederholt brieflich bei verschiedenen, vorwiegend im verkehrspsychologischen und -wissenschaftlichen Bereich arbeitenden Experten mit der Bitte um Literaturhinweise nachgefragt.

- Ohne Ergebnisse.

** Teilweise wird der Begriff der Schaulust auch als Terminus innerhalb der INDIVIDUALPSYCHOLOGIE nach Alfred ADLER vei— wandt; er scheint sich jedoch in seiner Grundbedeutung wei­testgehend mit der der psychoanalytischen Auffasung nach FREUD zu decken. Daher wird auf eine weitere Darstellung des Individualpsychologischen Ansatzes verzichtet.

Ende der Leseprobe aus 245 Seiten

Details

Titel
"Schaulust" bei Verkehrsunfällen
Untertitel
Erlebens-, Umgangs- und Verarbeitungsformen von gesehenen Unfällen bei Passanten im Hinblick auf den Phänomenbereich der sogenannten Schaulust bei Verkehrsunfällen
Hochschule
Universität zu Köln  (Psychologisches Institut I)
Veranstaltung
Diplomarbeit zur Verkehrspsychologie
Note
1,0
Autor
Jahr
1987
Seiten
245
Katalognummer
V123988
ISBN (eBook)
9783640291380
Dateigröße
21617 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Arbeit ist ein Scan der Originalarbeit (Schreibmaschine)
Schlagworte
Schaulust, Verkehrsunfällen, Diplomarbeit, Verkehrspsychologie
Arbeit zitieren
Dipl.-Psych. Peter Daniel (Autor:in), 1987, "Schaulust" bei Verkehrsunfällen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123988

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