"Liebe Dorothea..." - Ein Versuch, die Erkenntnislehre Buddhas einem in westlichem Denken verankerten Menschen nahe zu bringen


Fachbuch, 2009

68 Seiten


Leseprobe


Der Begründer der Lehre, Siddhârta Gautama Buddha

Daniel Aufschläger, der bekannte Tibetkenner, schreibt in der Publikation zum vierzigjährigen Jubiläum des Klösterlichen Tibet-Institutes in Rikon „Buddhismus und westliche Welt im Gespräch“:

„Schon in jungen Jahren übernahm Peter Grieder von seinem früh verstorbenen Vater die Verantwortung für das Modehaus Grieder & Co. In Zürich. Mit der tibetischen Kultur kam er in Kontakt, als er vom Roten Kreuz angefragt wurde, ob er einen tibetischen Jungen, den heutigen Künstler Kesang Lamdark, mit dem Leben in der Schweiz vertraut machen könne. Später stiess noch Loten Dahortsang zur unterdessen achtköpfigen Familie.

Wie es der Zufall wollte, wurde mit dem Rücktritt Peter Grieders von der Leitung des Modehauses im Jahre 1980 auch die Position des Kurators im Tibet-Institut frei. Er erhielt die Stelle und bildete sich autodidaktisch in Sachen Tibet weiter, unter anderem durch die Betreuung von Studentenarbeiten. Zu jungen Leuten fand er einen besonders guten Draht, denn er vermittelte den Buddhismus in einfachen Worten und in unserer Sprache; im Laufe der Jahre führte er Hunderte von Klassen durch das Tibet-Institut. Peter Grieder war ein begnadeter Kulturvermittler.

Eine Schlüsselrolle bei seiner Tätigkeit nahm die Unterstützung einer Arbeit über das Tibetische Totenbuch ein. Dieses Thema begründete einen weiteren Schritt in seiner Laufbahn, nämlich als Referent im C.-G.-Jung-Institut. Seine Vortragstätigkeit über den Buddhismus führten in bald über die Landesgrenzen hinaus. Er fand auch Zeit, sich Buchprojekten zu widmen, davon zwei veritable Bestseller: „Buddhismus – eine atheistische Religion?“ und „Tibet – Land zwischen Himmel und Erde“. Peter Grieder wurde zu einem der bedeutetsten Vermittler des tibetischen Buddhismus in der Schweiz. Seine Kollegen im Stiftungsrat konnte er davon überzeugen, 1985 die erste Kalachakra-Initiation in Europa in Rikon zu organisieren, die ein voller Erfolg wurde.

Obwohl selber kein Buddhist, hat er eine grosse Affinität zu dieser Religion, die eigentlich keine ist. Unter anderem fasziniert ihn, dass der Buddhismus nicht auf Glauben baut, sondern auf Logik und Erkenntnis: „Der Buddhismus ist einsichtig wie unsere Wissenschaft. So gibt es eine einfache Brücke zu unserer Geisteswelt. Das westliche Denken ist mit dem Buddhismus kompatibel.“

Im Alter von 77 Jahren trat Peter Grieder 2004 von seiner Funktion im Tibet-Institut zurück. Er setzt sich aber weiterhin aktiv mit philosophischen Fragen auseinander, unter anderem als Förderer des „World Spirit Forum Arosa“, das als spirituelles Gegenstück zum World Economic Forum Davos konzipiert wurde.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Den Jahreswechsel 1999/2000

habe ich mit Freunden in einem

Vietnamesischem Kloster in Bodhgaya,

verbracht, dem Ort der Erleuchtung Buddhas.

Eine ältere Reiseteilnehmerin, Dorothea,

war erstmals in Indien. Sie war durch das

Erlebte gleichermassen begeistert und verwirrt:

ihr fest gefügtes abendländisches Weltbild begann zu

wanken. So entwickelte sich zwischen ihr und mir während

zweier Jahre eine Art „Meister-Schüler-Briefwechsel“, von dem

ich nachfolgend selbstredend nur meine Antworten wiedergebe

für den, der sich dafür interessiert...

Zumikon, den 4. Februar 2000

Liebe Dorothea,

hab Dank für deine Briefe, die mittlerweile beide angekommen sind. Leider war auch der zweite etwas verspätet, weil die Postleitzahl, die Lèonard angegeben hat, nicht richtig ist. Sie lautet CH-8126 Zumikon. Dass unsere Post nicht sehr findig ist, hängt damit zusammen, dass du deine Adresse auf der Rückseite angegeben hast. Der Absender soll sich selber bemühen. Erst wenn der Absender fehlt und auch das Öffnen des Briefes keinen Hinweis ergibt, wird das 'postalische Kriminalamt' aktiv.

Deine ausführlichen und einfühlsamen Zeilen und deine 'éloges' aus Abu Dhabi haben mich gefreut - und sie sind ja schliesslich angekommen, besser spät als nie!

Damit es nicht vergessen geht gleich zu Anfang: Ich war selber überrascht vom Verlag zu hören, dass mein Buch vergriffen sei. Ich habe sofort Kontakt aufgenommen, um eine Neuauflage zu veranlassen. Falls der Walter -Verlag nicht einverstanden ist, geben wir es in unserem eigenen Verlag in Rikon heraus (Opuscula Tibetana). Nur haben wir keine Organisation, um das Buch in die Buchläden zu bringen. Wir haben jedoch noch einige Exemplare auf Lager und ich habe bereits in Auftrag gegeben, dass man dir eins zustellt.

Was dein Selbstgespräch in deinem zweiten Brief anbelangt, so sind deine Vermutungen nur bedingt richtig. Tatsache ist, dass mich mein Rückenproblem mit nachfolgendem operativen Eingriff und im vergangenen Sommer noch eine Darmoperation mit nachfolgender Bestrahlung, schon tüchtig aus dem Kurs geworfen haben. 1998 hatte ich, so steht es im Jahresbericht des Tibet-Institutes, noch 76 Vorträge, Führungen und Seminare gehalten bzw. durchgeführt. Und das war so das Mittel der vergangenen Jahre. Damit war's natürlich vergangenes Jahr aus!

Aber schreiben, das kann ich immer noch und tue es auch täglich. Nicht zum Zeitvertrieb - wer würde dann die Zeit 'vertreiben' wollen? Sondern um Menschen, meist Jugendlichen, auf dem Weg in die Erwachsenenwelt zu helfen. Im Moment begleite ich vier ehemalige Strassenkinder in Nepal und drei junge Mönche in div. Klöstern in Indien, einen Jungen im Libanon, und zwei in der Schweiz. Viele meiner ehemaligen Schützlinge sind heute schon erwachsen (der Älteste ist heute Mitte dreissig und Konzertmeister bei den Berliner Symphonikern!), alle aber gehören zu meinen besten und vor allem verlässlichsten Freunden.

Photographieren: Mit 20 habe ich meine ersten Preise an einer (lokalen!) Photoausstellung geholt (ein Knabengesicht und eine Strassenszene in Paris). Ich habe dann ein Leben lang in der Familie und auf meinen Reisen Bilder gemacht, mit denen ich Stimmungen einzufangen versuchte - ich denke so etwa wie du beim Zeichnen. Ich habe dich bewundert, wie du das trotz aller Hektik hingekriegt hast. Nie aber habe ich 'Tante-Emma-vor-dem-Kölner-Dom'-Aufnahmen gemacht. Deshalb hatte ich auch jetzt in Indien keine Kamera bei mir.

Meine Ausrüstung wiegt volle acht Kilo!, ja, und seitdem ich auf 'drei Beinen' gehe liegt das offensichtlich nicht mehr drin. Und dann deine Bemerkung zum 'begabten Liebhaber': Was anders als Liebe könnte mich für meine Arbeit mit den jungen Menschen motivieren? Ich versuche damit, 'Liebe ohne Bedingung' zu lernen (wie es Tenzing formulierte). Und dort, wo es gelingt, kommt diese Liebe in überirdisch schöner Form zurück (- aber nur, wenn sie nicht erhofft oder gar erwartet wurde) Das Leben ist doch nichts anderes als ein Lernprozess. Siehst du das anders?

Und die 'Nähe', die du ansprichst. Ist es nicht eine Lebenserfahrung, dass Menschen, die auf derselben Stufe wach sind, eine Nähe zueinander spüren? Mir jedenfalls ist es bei der Begegnung mir dir so ergangen.

Dorothea, genug des Philosophierens, sonst kommt dieser Brief auch verspätet an. Ich danke dir nochmals für deine Zuwendung und Unterstützung auf unserer Reise und verbleibe ebenfalls

mit herzlichen Grüssen

P.S.

Ich bin tatsächlich froh, wenn die Briefe maschinen geschrieben ankommen. Mit meinen Knaben in Katmandu korrespondieren wir sogar über das Internet (E-Mail). Ich habe ihnen meinen alten Computer geschenkt, und die Jungen lernen die Bedienung im Handumdrehen (ich selbst tue mich eher schwer mit diesen neuen Techniken - ich bin schliesslich Jahrgang 28 - , aber wenn man mit der Jugend 'am Ball' bleiben will, bleibt einem nichts anderes übrig!)

Zumikon, den 25. Februar 2000

Liebe Dorothea,

herzlichen Dank für deine beiden Briefe. Zuerst zum Technischen: Bei uns werden 9 von 10 Zahlungen über die Post getätigt, deshalb heisst in unserem Jargon: 84-59795-5 gleich Postcheckkonto mit dieser Nummer, lautend auf Tibet-Institut Rikon. Sorry! Das Sekretariat hätte einen entsprechenden Einzahlungsschein beilegen sollen. Ich bin jedoch gerne einverstanden, wenn du mir den Betrag in bar überweisest. Für das zusätzliche Exemplar meines Buches bräuchte ich noch die Adresse Deiner Schwester in Basel.

Und nun zu deinen 'eloges' über meinen Bildband:

Ich hatte eigentlich nie die Absicht, ein Buch zu schreiben. Ich schien mir als Laie dazu nicht berufen. Aber ein Verlag für Schulbücher für Mittel- und Hochschulen in Belgien ermunterte mich dazu, nachdem der Verleger die vor fast 20 Jahren verfasste kleine Schrift 'Buddhismus, eine atheistische Religion?' in die Hände bekommen hatte. Ihnen imponierte offensichtlich die einfache Sprache, mit welcher ich scheinbar schwierige Zusammenhänge dargelegt hatte. Wie du aus dem beigelegten Exemplar ersehen kannst, ist hier die Essenz des dritten Kapitels des Bildbandes bereits formuliert.

Die ersten beiden Kapitel ergeben sich aus der inneren Folge meines Bildmateriales, das lange vor dem Erscheinen des Buches schon existierte und das ich immer wieder in anderer Zusammensetzung verwendete und verwende. Da ich Autor und Bildautor zugleich bin, war das für mich ein Leichtes. Und meine 'einfache Sprache' ist einerseits Ausdruck für die Tatsache, dass ich eben nicht 'von der Fakultät', also Laie bin, und resultiert andererseits aus der Situation, dass ich an meinen Vorträgen, Führungen und Seminarien, sehr oft Schüler und Jugendliche vor mir habe. Auch ist dir vielleicht aufgefallen, dass ich kaum je eine Autorität als Beweisführung zitiere, weil ich grundsätzlich nur das weitergeben möchte, das ich selbst verstanden habe. Und da kommt mir der Buddhismus sehr entgegen, da er ja kein Glaubensbekenntnis ist, sondern eine Erkenntnislehre ist. Und wer könnte sich wahrer Erkenntnis verschliessen?

An Weiterbildungsseminarien für Führungskräfte kommt oft noch etwas anderes zum tragen. Da heisst es gelegentlich: "Der müsste einmal im harten Alltag stehen, dann würde er sehr bald seine Schöngeistigkeit verlieren". Nun, ich war als junger Mann in der 'Chefetage', war Hauptmann in der Armee, war Handelsrichter, hatte einen Pilotenflugschein und bin Familienvater von sechs Kindern. Alles Dinge, die in der Aussenwelt so grosses Ansehen haben! Und noch spricht er so? Geistigkeit muss praktisch sein, sonst ist sie nur heisse Luft...

Dorothea, ich freue mich natürlich, dass du mich so gut verstehst und verbleibe

mit herzlichen Grüssen

Zumikon, den 12, März 2000

Liebe Dorothea,

lass' mich zuerst kurz auf die offenen Fragen eingehen:

- Vielen Dank für das zugestellte Geld. Ich habe es in Rikon gleich in die Kasse gegeben.
- gerne bin ich damit einverstanden, dass du (neue Schreibweise, du klein, Sie gross!) mir das Buch von Christiane kaufst. Wir tauschen dann die Bücher wenn du in der Schweiz bist.
- Wenn du mir deine Tagebuchnotizen über Indien anvertrauen willst, so würde mich das sehr freuen.

So, und nun herzlichen Dank für deine Zeilen und für die Fotos deiner Kinder. Wie ich dich um deine Enkel beneide! Trotz meiner sechs plus eins Kinder (der Siebte ist Mönch und lebt im Zölibat) muss ich mir die 'Enkel' immer noch 'einmieten', wie Sonam beispielsweise. Ob es unsere Erziehung ist, die unsere Kinder so wählerisch gemacht hat? Nur die älteste Tochter Daniela ist (glücklich!) verheiratet, hat jedoch Schwierigkeiten mit dem Kinder bekommen - zu ihrem grossen Leidwesen.

Stichwort Cembalo! Meine Frau Marina war vor unserer Heirat Cembalistin und Organistin - wir hatten in unserem 'Konzertsaal' .auf dem Bauernhof, wo wir 20 Jahre lang wohnten und wo auch unsere Kinder aufwuchsen, drei Cembali und eine veritable Hausorgel mit sechs Registern. Als unsere Kinder ausgeflogen waren übergaben wir den Hof (1989) in jüngere Hände. Vorgängig habe ich aus dem 'Triemenhof' jedoch eine gemeinnützige Stiftung gemacht, damit sicher gestellt ist, dass künftig auch andere Kinder so schön und harmonisch aufwachsen dürfen.

Vielleicht interessiert es dich auch zu erfahren, was die Eltern unternahmen, nach dem Exodus aus dem Triemenhof: Nun, von mir weisst du es. Meine Frau hingegen hat ein Theologiestudium aufgenommen und ist seit sieben Jahren Pfarrerin im norddeutschen Bremen. So sehen wir uns nur periodisch, einmal hier und einmal in Bremen. Gerade heute wird sie in etwa einer Stunde am Flugplatz eintreffen, so muss ich denn diesen Brief schliessen, um die Ankunft nicht zu verpassen.

Ich freue mich immer von dir zu hören und verbleibe in der Zwischenzeit

mit herzlichen Grüssen

Zumikon, den 22. März 2000

Liebe Dorothea,

Soeben bin ich von ein paar Ferientagen aus dem sonnigen Engadin zurückgekehrt. Meine Frau Marina hat sich auf die Skier getraut - sie war früher eine sehr gute Skiläuferin - und ich habe mich, so gut es mein Rücken und meine Beine zuliessen. auf die Wanderwege begeben. Ich weiss nicht, ob du das Engadin kennst, für mich ist es einer der schönsten Flecken auf Erden.

Als Lektüre habe ich deinen Indienbericht mitgenommen. Vorerst muss ich dir ein Kompliment machen über deinen lebendigen Schreibstil - ein echtes Lesevergnügen! Ich bin Indien vor über 40 Jahren zum ersten Mal begegnet - für dich war es eine Premiere. Aber manches hat mich schon damals genauso berührt wie dich jetzt im Januar. Mit Indien kann man sich ein Leben lang auseinandersetzten, und noch kommt man an kein Ende. Bewunderung, Faszination und Abscheu liegen so nah beieinander...

Am Sonntag fahre ich für zwei Wochen zur Kur ins 'Bernbiet' (Schwefelberg-Bad). Da werde ich zwischen Therapien, Massagen und Bädern Zeit haben, mich mit dem Buch von Christiane zu befassen. Ich freue mich darauf.

Chapf: Das Dorf Zumikon wurde in alten Dokumenten 'Dorf am Chapf' genannt. Genau kann ich das vom Mittelhochdeutschen nicht ableiten, aber Chapf ist ein Hügel, eine Kuppe vielleicht. Im Englischen gibt es das Wort 'bluff', das genau dasselbe bedeutet (im eigentlichen und im übertragenen Sinn). Ich kenne einen Ort, der heisst Hickory-bluff'. Es spricht sich übrigens als raues 'Ch' aus, und nicht - wie viele Deutsche vermuten - als 'Tsch' (Tschapf).

So, jetzt werde ich schliessen. Ich möchte den Abend gemütlich mit meiner Frau verbringen, dazu haben wir nicht allzu oft Gelegenheit.

Mit herzlichen Grüssen verbleibe ich

Schwefelberg-Bad, 6. April 2000

Liebe Dorothea,

wie du dem Absender entnehmen kannst, bin ich im Moment nicht zuhause, sondern im 'Bernbiet' zu einem Kuraufenthalt. Mehrmals täglich kümmert man sich liebevoll um meinen lädierten Rücken mit Massagen, Fangopackungen, Akupunktur, Elektrostimmulation der Muskeln, Diätvorschriften und anderem mehr. Einerseits bin ich mit dem Erfolg recht zufrieden, was die Linderung der Beschwerden anbelangt. Andererseits musste ich zur Kenntnis nehmen, dass meine Beinnerven unwiderruflich geschädigt sind und ich künftig damit leben muss, mit teilweise gelähmten Oberschenkeln durch die Welt zu gehen. Gegenüber denjenigen, die im Rollstuhl sitzen, ist das geradezu ein Segen! So kann ich mir auf 'drei Beinen' einen grossen Teil meiner Unabhängigkeit bewahren.

Dieser Kuraufenthalt gab mir auch die Möglichkeit, manches zu lesen, was sonst immer durch 'Wichtigeres' verdrängt wurde: So auch Christiane Singers 'Rastenberg'. Seit manchen Jahren habe ich mir die Zeit nicht mehr genommen, um Romane, Biographien oder auch Biographische Romane zu lesen. Sehr zu unrecht, wie sich beim Lesen von Christianes Rastenberg herausstellt: Getragen von brennender Liebe berührt sie immer wieder den Himmel! Es ist wirklich ein reifes Werk, das "auf jeder Seite Zeugnis ablegt von der Weisheit und Heiterkeit der Autorin", wie Jean Contrucci in der Zeitschrift Elle schreibt.

Ich werde dein Exemplar mit der persönlichen Widmung meinem Bildband über Tibet beilegen und deiner Schwester in Basel zustellen. Du würdest mir, wie versprochen, eine neues Exemplar beschaffen und später, wenn du in Basel sein wirst, es mir zukommen lassen.

Mit den besten Wünschen und herzlichen Grüssen verbleibe ich

Zumikon, den 19. April 2000

Liebe Dorothea,

ich habe meinen vorletzten Brief noch einmal zur Hand genommen und kann nur staunen, was du da 'zwischen den Zeilen' zu lesen meinst... Glaubst du wirklich, ich wäre so feige, eine so entscheidende Botschaft 'zwischen' und nicht 'auf' die Zeilen zu schreiben? Ehrlich gesagt, ich glaub es dir auch nicht ganz; du hast, vermute ich, einfach auf ein entschiedenes Dementi gehofft. Stimmt's oder hab' ich recht?

'Heiligkeit': Mit so Formulierungen wie: "Heiligkeit ist das bestürzende Anderssein Gottes" kann ich wirklich nichts anfangen. Anders als was? Das ist doch reines bombastisches bla-bla, Ausdruck absoluter Hilflosigkeit.

Heil kommt doch von ganz, von ungetrennt, von Einssein. Einsein (oder die Nicht-Zweiheit, wie es die Hindus nennen), das ist Heiligkeit. Wir aber leben in der Zweiheit, im Zwiespalt, im Zweifel, im Zwist. Und verzweifeln dabei. Die geschöpfte Welt ist polar und deshalb immer unperfekt. Die hinter der Schöpfung liegende Urkraft nennen wir Gott, die Buddhisten dagegen scheuen sich, diesem göttlichen Urgrund allen Seins einen Namen zu geben, weil Benanntes schon wieder Form hat und das 'Gute' dem 'Bösen' gegenübersteht (und damit schon polar ist).

Als Beispiel kann das von dir zitierte OM MANI PADME HUM gelten (ich habe versucht, auf Seite 136 in meinem Buch eine Entschlüsselung dieses Mantrams zu geben).

OM und HUM sind wie Amen und können nicht wörtlich übersetzt werden.

MANI = JUWEL = MÄNNLICH = HEILSWEG = BARMEHRZIGE LIEBE

(COMPASSION)

PADME = LOTOS = WEIBLICH = HEILSZIEL = HÖCHSTE WEISHEIT ("GOTT")

Der Weg ist LIEBE, das Ziel ist 'GOTT'. Weg und Ziel zusammen sind die ganze Wahrheit - und verschwinden somit im nicht polaren, eben heiligen Urgrund allen Seins.

Nur: Das zu wissen ist nur der Anfang. Wirklichkeit jedoch wird es nur, wenn wir es versuchen zu leben. Im Alltag. In jedem Moment. Dann befinden wir uns vielleicht auf dem Weg, 'heilig' oder ganz zu werden. Dann erst sind wir geworden, was wir in Wirklichkeit sind (heute schon sind, nur wissen wir es nicht!)

'Wer bin ich?', diese Frage führt uns auf den Weg. ICH BIN nicht Mann oder Frau, Dorothea oder Peter, ich habe sechs oder sieben Kinder, ich stamme von der und der Familie ab, ich habe zwar im Moment einen jungen oder alten Körper, aber das bin ich alles nicht. Alles was vergänglich ist, bin ich in Wirklichkeit nicht. Ich bin das Leben in mir, ich bin das, was mich von einer Leiche unterscheidet. Ich bin ICH, mein eigenes unendliches ewiges Selbst. Dahin führt uns die Übung 'Autoluage', wenn wir sie lange genug und konsequent verfolgen. Ich bin in Wirklichkeit nicht, was ich äusserlich glaube zu sein. Ich bin ein Teil des zeitlosen raumlosen Ganzen, Teil der göttlichen Unendlichkeit. Und wie wir uns aus der Schule erinnern, ist ein Bruchteil von Unendlich immer noch unendlich!

Als Abschluss meines Buches habe ich eine Sentenz eines grossen tibetischen Meisters zitiert: lies es einmal nach.

"...wirst du erkennen, dass du nichts bist, und nichts seiend bist du alles."

Ich grüsse dich herzlich und wünsche dir schöne Ostertage!

Zumikon, den 2. Mai 2000

Liebe Dorothea,

zu erst zu deinem zweiten Schreiben Léonard betreffend, das mir der Postbote heute Früh überreicht hat. Deine etwas kargen Worte über ihn wären vermutlich nicht besonders aufgefallen, wenn sie sich nicht mit deinen 'eloges' über Marie kontrastiert hätten. Du hast ihn wahrscheinlich in seinem Stolz als ehemaliger Mönch verletzt. Aber vor allem deine Bemerkung, dass du ihn und Marie als Einheit siehst, mag ihn sehr getröstet haben. Beiden, Léonard und Marie, scheint dies sehr wichtig zu sein.

"Wieso zum Kuckuck ist die Schöpfung polar?" Weil Polarität das Wesen der Schöpfung ist. Unsere Heiligen Schriften berichten ja über den paradiesischen Zustand der Einheit, in dem wir uns befunden haben. Durch die Erkenntnis sind wir dann in die polare Welt gestürzt - und die Erkenntnis hilft uns, den Weg zurück wieder zu finden. Vergiss nicht: denken kann man nur in polaren Kategorien. Deshalb lässt sich über das ICH nicht nachdenken weil es keinen Gegenpol dazu gibt. Man kann das ICH nur SEIN. Man kann über die Vergangenheit und die Zukunft nachdenken, nicht aber über die Gegenwart: man kann nur gegenwärtig sein. Dabei ist ja die Gegenwart die einzige Realität, Vergangenheit und Zukunft sind nur Spiegelungen, die wir in der Gegenwart vornehmen.

Und eine gute Hilfe: Wenn immer wir glauben, ein Problem zu sehen oder zu haben, können wir uns fragen: Wer hat, wer sieht dieses Problem? Wir haben in uns eine beobachtende Instanz, das sind wir, das ist unser wahres ICH. "Ich habe Kopfschmerzen", sagen wir. Das ICH hat keine Kopfschmerzen! Das ICH beobachtet lediglich, dass das, was als 'mein Kopf' gilt, nicht in Ordnung ist. Das ICH stellt fest, dass ich ein scheinbar unlösbares Problem habe, aber das ICH selbst hat keine Probleme, es beobachtet nur.

Vielleicht ist das die 'Erleuchtung': Die kontinuierliche Identifikation mit unserem wahren ICH. Und bezogen auf 'die gute und die schlechte Nachricht' (diese kluge Definition hat mich sehr amüsiert!) wäre die dritte Antwort: Was immer wir tun, führt zur Erleuchtung, auch scheinbar 'falsches' Tun. Falsches Tun ist wahrscheinlich ein Umweg, der für uns aber als Erfahrung unabdingbar ist. Jedes fühlende Wesen trägt das in sich, was die Buddhisten 'Buddhanatur' nennen, das Versprechen, eines Tages die Erleuchtung zu erlangen (so wie die Knospe ein Versprechen in sich trägt, eines Tages zu erblühen).

Was nun meine ersten Eindrücke - vor über fünfzig Jahren! - von Indien waren, so kannst du aus der beiliegenden Sondernummer zur Ehrung meines geliebten und hoch verehrten Meisters Selvarajan Yesudian ersehen, dass ich mit der Geistigkeit Indiens etwa zehn Jahre vor meiner ersten Reise dorthin vertraut wurde. So kam es mir vor, als kehrte ich meine Heimat zurück (wie ich heute weiss, habe ich viele Leben dort verbracht). So war für mich meine erste Reise - sie

dauerte drei Monate - ein berührendes Wiedersehen mit Altbekanntem. Wenn du meinen Nachruf auf meinen Meister in der Zeitschrift liest, erfährst du, wie ich in diesem Leben 'zufällig' an meine eigenen Traditionen herangeführt wurde.

Der Briefbogen ist zu Ende. Mit herzlichen Grüssen

Zumikon, den 21. Mai 2000

Liebe Dorothea,

soeben bin ich von New York zurückgekehrt, wo ich an der Vernissage der Kunstausstellung meines Tibeter-Sohnes teilgenommen hatte. Ich denke, es war ein sehr schöner Erfolg.

Nun also zu deinen beiden Briefen und der Postkarte, die ja von Fragen geradezu übersprudeln! So nimm's denn hin, wenn ich stichwortartig antworte:

Zu deinem 'verbesserten' Gedicht von Fernando Pessoa:

"Nein Hirte, er gehört weder dir noch mir", schreibt der Autor, und fährt fort: "Er ist nur und fällt auf uns wie die Sonne". Mit diesem Verb 'sein' lässt er durchblicken, dass man Frieden nicht 'haben' kann, man kann nur friedlich sein. Deshalb gefällt mir des Dichters Version besser. Selvarajan Yesudian war 12 Jahre älter als ich, also etwa 32, als ich ihn im Alter von 20 kennen lernte.

Ponte Tresa liegt am Luganersee und ist Grenzort nach Italien.

Elisabeth Haich ist vor einigen Jahren im Alter von 96 Jahren in die geistige Welt eingetreten. Yesudian betrachtete sie als seine Meisterin, jedenfalls 'entdeckte' sie den jungen Inder, als er in Ungarn weilte, und gründete mit ihm zusammen die erste Yogaschule in Budapest. Sie war Malerin, Bildhauerin, Schriftstellerin und gewiss eine der bedeutendsten Mystikerinnen unseres Jahrhunderts. Auf dem Gebiet der Esoterik war sie meine Lehrerin.

Ja, ich habe seit meiner Jugend Yoga praktiziert und Esoterik studiert. Mit 49 Jahren habe ich dann meinen Beruf gewechselt - ich denke, ich habe in einem früheren Schreiben darüber berichtet - und bin 'Dozent' (C.G.Jung-Institut, Volkshochschulen im In- und Ausland) für 'Weisheitslehren des Ostens' geworden, ferner Leiter des Klösterlichen Tibet-Institutes und Buchautor, wie du ja weisst. . Daneben war ich Erzieher, Freund und Berater vieler junger Menschen auf unserem grossen Bauernhof im Zürcher Oberland (ich habe eine gemeinnützige Stiftung daraus gemacht, mit dem Auftrag, "Kinder und Jugendliche, ohne Ansehen der Rasse, der Herkunft oder des Glaubens, mit einer gesunden Urproduktion vertraut zu machen, um sie so geistig, seelisch und körperlich zu fördern und harmonisch heranwachsen zu lassen"). Als meine Frau vor 12 Jahren ein Theologiestudium aufnahm, und unsere eigenen Kinder flügge waren, haben wir andere Menschen beauftragt, diesen Stiftungszweck zu erfüllen.

Und zu deiner letzten Frage, weshalb ich die Wiedergeburt als 'tröstlichen Gedanken' bezeichne? Ist es nicht tröstlich, dass es ein 'Morgen' gibt, um zu verwirklichen, wozu heute die Zeit nicht reichte? Das nächste Leben ist nichts anderes als der neue Tag im grossen Zyklus. Erst wenn wir den Zustand der Erleuchtung erreicht haben, gibt es kein 'Morgen' mehr, dann steht die Zeit still im unendlichen ewigen HIER UND JETZT.

So, ich hoffe, dein Wissensdurst sei jetzt gestillt!

Ein indischer Meister hat einmal gesagt, ein Meister gibt es nur aus der Sicht des Schülers. Und er verglich den Meister mit einem Fenster, dessen Funktion es ist, ein Stück des Himmels sichtbar zu machen. Je näher der Schüler dem Fenster kommt, desto grösser wird der Ausschnitt des Himmels, den er sehen kann. Wenn dann der Schüler ganz am Fenster steht, ist der Himmel vollkommen offen - und der Meister ist verschwunden! Keinesfalls jedoch soll sich der Schüler auf den Fensterrahmen fixieren, der dient nur dazu das Glas zu halten. So gesehen ist die Biographie eines Lehrers eigentlich ganz unwichtig.

Dorothea, deine Briefe sind so lebendig und voll von Begeisterung, dass man denken könnte, sie würden von einem ganz jungen Menschen stammen. Das ist schön! ¨Es gibt allzu viele Menschen, die Geistigkeit mit Sauertöpfigkeit verwechseln! Es scheint mir, es gehe dir ähnlich wie mir im Laufe der Jahre: Immer wenn ich eine Belehrung bekam, hatte ich das Gefühl, ich hätte das eigentlich schon immer gewusst, es war jeweils mehr eine Art 'entdecken', und nicht einfach dazulernen. Wir haben ja alle auch einen inneren Meister, der alles weiss und auch preisgibt, im Moment, wo wir dazu bereit sind.

Das soll für heute genügen. Sei herzlich gegrüsst von deinem

Zumikon, 15. Juni 2000

Liebe Dorothea,

deinen Brief vom 7. Juni in Händen haltend, realisiere ich, dass schon wieder 3 Wochen in die Lande gegangen sind. Ich war mit der Vorbereitung und Durchführung eines Konfirmanden-Pfingstlagers vollauf beschäftigt. 56 Jugendliche während dreier Tage mit Buddhismus zu beschäftigen, war schon ein Unterfangen. Wir haben unter Anderem ein zwei Mal zwei Meter grosses Sandmandala kreiert - ich denke, für Konfirmanden eine Weltpremiere!

Wie ich deinen Zeilen immer wieder entnehme, bis du heilfroh, vom Trubel der Kinder und Jugendlichen wenigstens Zeitweise befreit zu sein. Ich muss dir gestehen, dass die Kinder um mich das Einzige ist, das ich in meinen 'älteren' Tagen vermisse! Ich war immer - und bin es bis heute geblieben - ein totaler Kindernarr. Ich habe aus der nicht archivierten Kiste mit überzähligen Fotos drei herausgegriffen: Peter beim Skilaufen, Peter beim Schwimmen im Meer, Peter in Tibet - immer hat Peter an jedem Finger ein Kind! Beim Skilaufen war's am dramatischsten: bis man abends alle zehn Flöhe wieder in der Kiste hatte!

Mein Freundeskreis heute besteht fast ausschliesslich aus Mensche, die ich in ihrem Kindesalter ins Herz geschlossen hatte. Das gibt unverbrüchliche Seilschaften im Leben. Zwei kleine Musiker von damals stehen mir besonders nah: Der Eine (Wunderkind mit Violine) ist heute Konzertmeister bei den Berliner Symphonikern, der Andere (hervorragender Oboist) ist heute Dirigent eines Festspielorchesters. 1989, dem letzten Jahr meines Wirkens auf unserem Bauernhof im Zürcher Oberland, hatten wir - so der Jahresbericht - über zweitausend Übernachtungen von Kindern und Jugendlichen, die nicht zur Familie gehörten! Ich kann mir das selber kaum mehr vorstellen...

Zurück zur Philosophie: Wenn wir uns mit dem Körper identifizieren, fürchten wir den Tod. So auch fürchten wir den Untergang von SEMBA, weil das Denken, vor allem bei uns westlichen Menschen, so absolut zentral ist.

Hab Dank für die Skizzen aus Weitra. Vor allem der Brunnen mit den Wasserschalen fasziniert mich, er erinnert mich an ein berühmtes Gedicht von Goethe - 'gebend und nehmend'.

So, jetzt muss ich mich noch einem jungen Pianisten (13) aus der Ukraine annehmen, dem ich die Teilnahme an einem Musik-Wettbewerb in Rimini ermöglichen will.

Lass' wieder von dir hören, und sei bis dahin herzlich gegrüsst

[...]

Ende der Leseprobe aus 68 Seiten

Details

Titel
"Liebe Dorothea..." - Ein Versuch, die Erkenntnislehre Buddhas einem in westlichem Denken verankerten Menschen nahe zu bringen
Autor
Jahr
2009
Seiten
68
Katalognummer
V121181
ISBN (eBook)
9783640255702
ISBN (Buch)
9783640256495
Dateigröße
696 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Liebe, Dorothea, Versuch, Erkenntnislehre, Buddhas, Denken, Menschen
Arbeit zitieren
Peter Grieder (Autor:in), 2009, "Liebe Dorothea..." - Ein Versuch, die Erkenntnislehre Buddhas einem in westlichem Denken verankerten Menschen nahe zu bringen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121181

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