Was haben Literatur und Wissenschaft miteinander gemein?

Am Beispiel von Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“


Seminararbeit, 2008

22 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Realität und Fiktion
1.1.1. Was ist Literatur?
1.1.2. Was haben Wissenschaft und Literatur gemein?

2. Genie und Wahnsinn
2.1. Vom bösen Alchemisten zum Retter der Gesellschaft
2.2. Der besessene Dichter und andere psychopathologische Abweichungen
2.3. Das Bild des Wissenschafters in der „Vermessung der Welt“

3. Welche Opfer verlangt die Wissenschaft und welche die Literatur?

4. Zusammenfassung und Schlussbemerkungen

5. Literatur- und Quellenangaben

1. Einleitung

Für die vorliegende Seminararbeit habe ich mir zur Aufgabe gestellt, die Gemeinsamkeiten von Wissenschaft und Literatur zu untersuchen. Zunächst müssen daher die Begriffe genau abgegrenzt werden, sofern eine exakte Abgrenzung überhaupt möglich ist. Wissenschaftlich, würde man meinen, ist alles, was objektiv messbar ist. Doch was ist objektiv? Und was ist Literatur?[1] Auch Daniel Kehlmann berührt in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ immer wieder Grenzbereiche, daher möge dieses Werk als literarisches Fallbeispiel dienen.

1.1. Realität versus Fiktion

1.1.1. Was ist Literatur?

Um diese Frage behandeln zu können, muss man zunächst einmal festlegen, von

welchem Literaturbegriff ausgegangen werden soll. Wurde in der jüngeren Vergangenheit der Begriff „Literatur“ anhand von Texten erklärt, so möchte ich von der Annahme eines Text-Handlungs-Syndroms ausgehen.

Als kleinste Einheiten werden also solche Handlungen (samt ihren Bedingungen, Folgen und Konsequenzen) angesetzt, die solche Phänomene (meist Texte) fokussieren, die der Handelnde für literarisch hält.[2]

Grundsätzlich gibt es 4 elementare Handlungstypen: die Produktion von Literatur, die Vermittlung, die Rezeption und die Verarbeitung. Die Verbindung dieser Handlungstypen und ihr Zusammenwirken führen zu so genannten Literaturprozessen, wobei unter Literatursystem dann die Gesamtheit der Literaturprozesse einer Gesellschaft, verstanden wird, deren Bestandteile autonom und selbstregulierend sind, sich durch spezifische Konventionen von anderen Handlungssystemen, wie etwa dem der Wissenschaft, abgrenzen und funktional in das Gesamtsystem integrieren lassen.

Das Literatursystem seinerseits ist Bestandteil im System-System Gesellschaft, die ihrerseits eine hierarchisch-holistische Organisation bildet; das heißt das Literatursystem kann nur in systematischem Zusammenhang mit den anderen Handlungssystemen einer Gesellschaft und deren jeweiligem historischem Entwicklungsstand verstanden und erklärt werden.[3]

Schon einige Vorsokratiker erkannten, dass es ein objektives Wissen als „Spiegelung einer an und für sich unabhängigen ontologischen Wirklichkeit“ nicht geben konnte, da sich diese Wirklichkeit dem erlebenden Subjekt eben nur durch das Erlebtwerden erschließt. „Objektive“ Wirklichkeit entsteht in der Regel dadurch, dass unser eigenes Erleben von anderen bestätigt wird.[4]

1.1.2. Was haben Wissenschaft und Literatur gemein?

Literatur und Wissenschaft sind zwei verschiedene Möglichkeiten, sich eine Wirklichkeit zu schaffen, da sie also keine objektive vom Menschen unabhängige Größe ist.

„Humboldt fixierte die untergehende Sonne mit dem Sextanten und maß den Winkel zwischen der Jupiterbahn und jener des vorbeiwandernden Mondes. Jetzt erst, sagte er, existiere der Kanal wirklich. … Dass der Kanal jetzt auf den Karten verzeichnet sei, erklärte Humboldt, werde die Wohlfahrt des gesamten Erdteils befördern. Man könne nun Güter quer über den Kontinent bringen, …“ (S. 135 – 136)

Wirklichkeit ist ebenso nur ein Konstrukt, wie Fiktion eines ist, eine menschliche Schöpfung aufgrund unseres angeborenen neurobiologisch bedingten Erkenntnisvermögens und der kulturell bedingten Interpretationen. Giambattista Vico war im Jahr 1710 vielleicht einer der ersten, die erkannten, dass „unser rationales Wissen von uns selbst konstruiert wird.“[5]

Für Humboldt und Gauß ist Wissenschaft „eine persönliche Form der Lebensbewältigung“ und „Welterschließung“[6], wobei auch immer wieder deutlich wird, dass sie an bestimmte institutionelle und politische Bedingungen geknüpft ist. Wenn man Geschichten erzählt, versucht man ebenfalls die Welt zu erschließen, indem man die verschiedenen Möglichkeiten der Wahrheit auslotet.

…es gibt keine Geschichte, die nicht Wahrheit enthalten würde, und es gibt im Prinzip keine Erfindungen. Die menschliche Fantasie ist begrenzt durch all das, was es gibt. In der Technik nennt man es Naturgesetze; für den Geschichtenerzähler mag ich es nicht benennen.[7], meint Peter Bichsel.

Wirklichkeitsmodelle sind subjektabhängig; vergleichbare subjektabhängige Wirklichkeitsmodelle entstehen durch Sozialisationsprozesse und Konventionen.

Dies mochte möglicherweise auch Kehlmanns Humboldt gedacht haben, als er meinte:

„Nichts sei zuverlässig, sagte er [Anm.: Humboldt] zu dem ihn aufmerksam beobachtenden Hund. Die Tabellen nicht, nicht die Geräte, nicht einmal der Himmel. Man müsse selbst so genau sein, dass einem die Unordnung nichts anhaben könne.“ (S. 129)

Und seinen Gauß lässt er sagen:

„Zu viele Leute hielten ihre Gewohnheiten für Grundregeln der Welt.“

(S. 247)

Literatur und Kunst sind also zwei Pole, zwei von vielen Beschreibungsmöglichkeiten unserer Erfahrungen. Historisch gesehen jedoch sind die beiden Pole eng miteinander verbunden und verknüpft. Am Anfang der menschlichen Kultur war alles abstrakte Wissen in der Sprache der Fabeln, in poetischen Metaphern formuliert. Unerklärliches und Furchterregendes wurde den Göttern zugeschrieben. Solche „metaphorischen“ Erfindungen waren auf Analogien gegründet, die jedoch eine bloße Annahme waren und über den Erfahrungsbereich hinausgingen. Mit der Weitergabe solcher Fabeln von einer Generation an die nächste entstand die Mythologie, deren Ursprung man vergessen hatte und die daher als Wissen aufgefasst wurde.[8]

„Er ließ Wasserstoff aus einem Röhrchen strömen, hielt eine Flamme an die Mündung, und mit einem Jauchzen schoss das Feuer auf. Ein halbes Gramm, sagte er, zwölf Zentimeter hoch die Flamme. Wann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee, sie zu messen.“ (S. 22)

Diesen Satz spricht der Lehrer Marcus Herz, Schüler Immanuel Kants, der die Humboldt-Brüder bezeichnenderweise in Physik und Philosophie unterrichtete. Bis dato muss die Philosophie einspringen, wo die Physik als „exakte“ Naturwissenschaft an ihre Grenzen stößt, nämlich wenn man in der Entwicklungsgeschichte des Weltalls zurückschreitend beim Urknall anlangt, dessen Entstehung mit den Methoden der Physik nicht mehr erklärbar ist. Zur Zeit Humboldts und Gauß wollte man sich doch nicht mehr auf bloße Annahmen stützen. Man hatte nun technische Geräte zur Verfügung, um die Erde zu vermessen und auch das Universum war schon lange kein unbeschriebenes Blatt mehr für die Menschheit.

Die Dinge jedoch, die uns erschrecken, kann der menschliche Verstand unmöglich als solche wahrnehmen, wie sie an sich sind oder sein mögen. Alle Vorstellungen und Begriffe des menschlichen Verstandes sind seine eigenen Geschöpfe; er kann nur die Dinge erkennen, die aus Material sind, nämlich aus dem Material unserer Erfahrung und somit schafft sich – trotz aller technischen Hilfsmittel - der Mensch dennoch seine Welt selbst.

Das rationale Wissen kann mit Worten beschrieben werden, die Erfahrungsgegenstände und von ihnen abstrahierte Relationen bezeichnen. Diese Relationen sind messbar mittels der vom Menschen entwickelten technischen Einheiten und Verfahren. Das poetische Wissen hingegen wird aufgrund von Konventionen durch Metaphern ausgedrückt.

Nach Piaget kann jede Entwicklung in Stadien beschrieben werden und der menschliche Verstand assimiliert das ihm Unbekannte in die Begriffe, die ihm vertraut sind. Und Heisenberger meinte, dass „das immer tiefere Eindringen in die Natur den Naturwissenschaftlern zunehmend klarer mache, dass das, was sie dort sehen, eine Widerspiegelung ihrer eigenen Begriffe“ sei. Und Donald Campbell behauptete, dass „die Begriffe des Raumes, der Zeit und der Kausalität nicht, wie Kant dachte, apriorische Elemente der menschlichen Vernunft sind, sondern vielmehr Ergebnis der Anpassung der Lebewesen an das Universum“, denn: „Das Ding an sich kann immer nur indirekt erkannt werden, immer nur in der Sprache der Voraussetzungen des erkennenden Menschen, …“[9]

[...]


[1] Ferner sei bemerkt, dass der Verfasserin durchaus bewusst ist, dass es auf unserer Welt Männer und Frauen gibt. Es wird im Text daher nur dort auch grammatisch darauf hingewiesen, wo eine Geschlechter unterscheidende Formulierung notwendig erscheint und nicht Verständnis erschwerend wirkt.

[2] Schmidt, Siegfried J.: „Vom Text zum Literatursystem. Skizze einer konstruktivistischen (empirischen) Literaturwissenschaft“, in: „Einführung in den Konstruktivismus“, Bd. 5, Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Gumin, Heinz und Heinrich Meier (Hrsg.), Piper Verlag, München 1997, S. 158.

[3] Schmidt, Siegfried J.: „Vom Text zum Literatursystem. Skizze einer konstruktivistischen (empirischen) Literaturwissenschaft“, in: „Einführung in den Konstruktivismus“, Bd. 5, Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Gumin, Heinz und Heinrich Meier (Hrsg.), Piper Verlag, München 1997, S. 158.

[4] Vgl.: Glasersfeld, Ernst von: „Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität“, in: „Einführung in den Konstruktivismus“, Bd. 5, Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Gumin, Heinz und Heinrich Meier (Hrsg.), Piper Verlag, München 1997, S. 9 – 39.

[5] Glasersfeld, Ernst von: „Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme“, übersetzt von Köck, Wolfram K., Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997, S. 76.

[6] Vgl.: Goeth, Dorothea: Rezension zu „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann, SE Arbeit an der Univ. des Saarlandes Saarbrücken, SS 2006.

[7] Bichsel, Peter: „Der Leser. Das Erzählen“, Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Sammlung Luchterhand, Bd. 438, Luchterhand Verlag, Darmstadt 1982, S. 11 – 12.

[8] Vgl.: Glasersfeld, Ernst von: „Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme“, übersetzt von Köck, Wolfram K., Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997, S. 76 - 77.

[9] Vgl.: Glasersfeld, Ernst von: „Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme“, übersetzt von Köck, Wolfram K., Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1997, S. 86.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Was haben Literatur und Wissenschaft miteinander gemein?
Untertitel
Am Beispiel von Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“
Hochschule
Universität Wien  (Wissenschaftsforschung )
Veranstaltung
SE Wissenschaft und Literatur
Note
gut
Autor
Jahr
2008
Seiten
22
Katalognummer
V120828
ISBN (eBook)
9783640243464
ISBN (Buch)
9783640246595
Dateigröße
624 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Literatur, Wissenschaft, Kehlmann, Mathematik, Naturwissenschaft, Gauß, Humboldt, Vermessung, Welt
Arbeit zitieren
Dr. phil. Daria Hagemeister (Autor:in), 2008, Was haben Literatur und Wissenschaft miteinander gemein?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120828

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