Victor Turners Ritualtheorie als literaturwissenschaftliches Werkzeug am Beispiel des Faustbuches von 1587


Seminararbeit, 2004

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Aufbau und Methodik

3. Faustus als liminales Wesen
3.1. Das soziale Drama des Faustus
3.2. Faustus in der Liminalität
3.3. Faustus in Struktur und Anti-Struktur

4. Die Studenten um Faustus: Communitas

5. Darstellungen von Ritualen im Faustbuch
5.1. Die Ehe
5.2. Die Buße
5.3. Die Teufelsbeschwörungen
5.4. Der Teufelspakt

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Das erste Erscheinen der Historia von D. Johann Fausten liegt mittlerweile mehr als 400 Jahre zurück und „ist mit der Buchmesse in Frankfurt am Main vom Herbst 1587 datierbar.“[1] Zu diesem Zeitpunkt war es noch keineswegs absehbar, dass dies die „Geburtsstunde eines der bedeutendsten Themen der Weltliteratur war.“[2] Zwar gibt es „zuverlässige Auskünfte über den Drucker und Verleger Johann Spies“,[3] jedoch weiß man nicht, „wer (…) das Faustbuch niederschrieb.“[4]

Dieses höchst einflussreiche aber auch rätselhafte Werk ist und war natürlichermaßen Gegenstand zahlreicher literaturwissenschaftlichen Betrachtungen. In der vorliegenden Arbeit soll es noch einmal in den Mittelpunkt gerückt werden, um an ihm ein zunächst andersartig anmutendes Analysekonzept zu erproben: Es wird versucht werden ursprünglich aus der Ethnologie stammende Modelle als literaturwissenschaftliche Werkzeuge anzuwenden. Namentlich die Ritualtheorie des angelsächsischen Wissenschaftlers Victor Turner soll zur Untersuchung des Faustbuches dienen. Was ergibt sich aus solch einer Analyse? Ist es überhaupt möglich sozialwissenschaftliche Modelle auf die Geisteswissenschaften anzuwenden? Der Anthropologe Clifford Geertz hat hierfür einen Begriff geprägt, er nennt es

„,blurred genres’ - the destabilizing of traditional boundaries between the social sciences and the humanities.“[5] Demzufolge wird ein gestiegenes Interesse vermerkt, Literatur in einen größeren sozialen Diskurs zu stellen.[6] Aufgrund dessen kann es also als legitim erachtet werden, an dieser Stelle einmal den Versuch zu wagen, sozialwissenschaftliche Konzepte in die Reihe der Handwerkszeuge des Literaturwissenschaftlers einzugliedern.

2. Aufbau und Methodik

Im Folgenden werden aus Turners Ritualtheorie stammende Konzepte auf die Handlungen des Faustbuches angewendet. Es werden zunächst die verschiedenen Begriffe im Sinne ihrer Bedeutung für die Analyse erläutert. Damit verknüpft wird jeweils die im Faustbuch entdeckte Entsprechung. Die Analyse wird im Wesentlichen darin bestehen, die Handlung des Faustbuches in den Zusammenhang von Turners Konzepten, die der theoretischen Einbettung dienen, zu bringen.

In einem von Kathleen M. Ashley herausgegebenen Band wird einigen Aufsätzen Platz eingeräumt, in denen tatsächlich Turners Theorien zu Mitteln literarischer Studien gemacht werden. Angewandt werden sie auf so unterschiedliche Werke wie die der Postmoderne, auf Klassiker der amerikanischen Literatur oder aber auch auf antike Texte und sogar auf spätmittelalterliche biblische Schauspiele, dort findet zum Beispiel auch das Künzelsauer Fronleichnamspiel Erwähnung.[7]

Dieser Band konnte für diese vorliegende Arbeit als Anschauungsobjekt dienen, wie solche, durch Turners Modelle gestützte, Analysen aussehen könnten. Ich habe mich für diese hier vorliegende Arbeit dazu entschlossen, im Folgenden die Figur des Doktor Faustus und die sich im Faustbuch abspielenden Szenen in den Kontext der turnerschen sozialwissenschaftlichen Theorien zu stellen. Damit werden Anknüpfungspunkte und allenfalls Möglichkeiten für Interpretationsansätze, die durch eine solche Verbindung entstehen und literaturwissenschaftlichen Analysen dienlich sein können, hergestellt und veranschaulicht werden. Dies geschieht, indem der Charakter des Doktor Faustus herausgegriffen wird und sein Zustand innerhalb des Geschehens in der Historia in den Zusammenhang von Turners Konzepten vom Sozialen Drama, von Liminalität, Struktur und Anti-Struktur gebracht wird. Daran schließt sich eine Untersuchung der Gemeinschaft der Studenten um Faustus, indem ihre Art der Sozialbeziehung mit Turners Modell der Communitas verknüpft wird. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Ritualen, die explizit im Faustbuch vorkommen und deren Bedeutung für die Historia.

Um dem beschränkten Umfang dieser Arbeit Rechnung zu tragen, wird die Kenntnis des Faustbuches und der Ritualtheorien von Turner zum Verständnis vorausgesetzt.

3. Doktor Faustus als liminales Wesen

3.1. Das soziale Drama des Doktor Faustus

Victor Turner entwickelte seine Ritualtheorien zunächst auf der Grundlage von Feldforschungen, die er zwischen Dezember 1950 und Juni 1954 auf dem Gebiet des heutigen Sambia, einem Staat in Zentralafrika, durchführte. In seinem, mittlerweile als Standardwerk der Ethnologie zu betrachtenden, Buch, „The Ritual Process. Structure and Anti-Structure“ von 1969,[8] sind die auch auf dieser Zeit basierenden Analysen festgehalten. Das Werk ist in zwei Teile zu gliedern. Im ersten beschreibt und analysiert Turner konkret die Rituale, die er im Leben der Ndembu, so der Name des afrikanischen Stammes, mit und bei dem der Ethnologe lebte, beobachtete. Im zweiten Teil abstrahiert Turner diese Ergebnisse und über- trägt seine ritualtheoretischen Konzepte auf andere Lebenswelten, um deren Allgemeingültig- keit zu untermauern. Seine Beispiele reichen hierbei von der sozialen Umwelt der Hippies bis zu der gesellschaftlichen Struktur eines Franziskanerklosters.

Turner begann seine Forschungsarbeiten im damaligen Nordrhodesien im Auftrag des Rhodes-Livingston Institute for Sociological Research. Zur „anfänglichen Zielsetzung des Instituts“, so schreibt es Turner, gehöre es, „‚das Problem der Herstellung dauerhafter und befriedigender Beziehungen zwischen Einheimischen und Nichteinheimischen zu untersuchen’“ und „‚Situationsanalysen, die den Politikern eine bessere Einschätzung der Kräfte, mit denen sie es zu tun hatten’“ zu ermöglichen.[9]

Bereits zu Beginn seines Aufenthaltes bei den Ndembu wird Turner allerdings die Wichtigkeit der verschiedenen Rituale, die oft mehrmals am Tag ablaufen, bewusst. Schon bald macht er die Entdeckung, „dass die Entscheidung, ein Ritual auszuführen, sehr oft mit Krisen im Sozialleben der Dorfbewohner zusammenhing.“ Bevor er diese Gedanken in „Das Ritual“ niederlegte, entwickelte er sie bereits ausführlich in seiner 1955 erschienen Dissertation.[10] Dort stellt er auch seine Analysen der Prozesse, die sich ständig vor seinen Augen vollzogen, vor und nennt sie „soziale Dramen“.[11] Nach Victor Turners Analysen dieses „sozialen Dramas“, folgt es einem immer gleichen Ablauf: Auf den Bruch des Hauptakteurs des Dramas mit dem Rest der Gesellschaft folgt eine eskalierende Krise, die wiederum einen Anpassungsprozess zur Folge hat, an dessen Ende entweder die Reintegration in die Gemeinschaft steht oder aber auch die endgültige Anerkennung einer unwiderruflichen Trennung. Turners Forschungsschwerpunkt lag nun auf dem Anpassungsprozess, der nicht nur politischen (in Form von zum Beispiel Rebellion oder Krieg), legalen oder rechtlichen (zum Beispiel als Gerichtsverfahren) Charakter haben könne, sondern eben gerade auch (und dort lag Turners Hauptaugenmerk) in der Form eines rituellen Prozesses von Statten gehen.[12] Es wird nun veranschaulicht, dass sich auch die Figur des Doktor Faustus in Turners Modell des Sozialen Dramas einordnen lässt. Im weiteren Verlauf wird gezeigt, dass sie sich während der Handlung der Historia inmitten eines Anpassungsprozesses, wie er Teil von Turners Sozialem Drama ist, befindet. Wie es nun zu diesem Sozialen Drama kommt, warum Faustus mit dem Rest der Gesellschaft bricht, ist zunächst schwer in der Historia auszumachen. Am Anfang gestaltet sich Faustus` Lebenslauf noch sehr viel versprechend: Als Spross Gottselige(r) und Christliche(r) Leut, Bauwern (…) zu Rod bey Weinmar, wird er von seinem Vetter / der zu Wittenberg sesshaft / ein Burger / vnd wol vermogens gewest / (…)aufferzogen.[13] Dieser Vetter nun lässt ihn gar in die Schul gehen und Theologiam studieren.[14]

Unscharf bleibt vorerst, was genau Faustus dazu bewegt, sich vom christlichen Glauben abzuwenden, nachdem er bereits Doctor Theologiae ist, ein Weltmensch zu werden und der Zauberey zu verfallen.[15] Zur Beschreibung, wie es zum Bruch kommt, findet hier die Erklärung Erwähnung, dass Faustus zur bosen Gesellschaft gerahten ist, in der er Bücher findet, in denen Namen der Beschwerung vnd Zauberey mogen genennet werden.[16] Diese Bücher gefallen ihm anscheinend so sehr, dass er speculiert vnd studiert Nacht vnd Tag darinnen.[17] Warum Doktor Faustus sich so sehr von unchristlichen Lehren, schwarzer Magie, Beschwerung vnd Zauberey angezogen fühlt,[18] bleibt in der Historia vage: Zum einen hat er zwar einen gantz gelernigen vnd geschwinden, doch daneben (…) auch einen thummen, vnsinnigen vnnd hoffertigen Kopff.[19] Zum anderen begründet die Historia das stete Streben des Doktors mit einem Sprichwort: Was zum Teuffel will, das laßt sich nicht auffhalten, noch jm wehren.[20] Ein weiterer Hinweis findet sich allerdings noch einmal in seiner mit eigenem Blute verfassten Teufelsverschreibung:

Nach dem ich mir furgenommen die Elementa zu speculieren / vnd aber auß den Gaaben / so mir von oben herab bescheret / vnd gnedig mitgetheilt worden / solche Geschickligkeit in meinem Kopf nicht befinde / vnnd solches von den Menschen nicht erlehrnen mag / So hab ich gegenwertigen gesandtem Geist (…) mich vntergeben (…) mich solches zuberichten vnd zu lehren. ( S.104, Faustbuch)

Der Bruch mit der Gesellschaft ergibt sich für Faustus demnach aus dem Forscherdrang, so viel wie möglich über die Welt zu erfahren. Um dies zu erreichen sieht er seine menschlichen Mittel als zu beschränkt an und sucht die Weisheit im Übernatürlichen. Doch, wie es im weiteren Verlauf der Historia nur allzu deutlich wird, genau an der falschen Stelle. Denn fast jegliche Frage nach der Beschaffenheit der Welt, der Erde, des Himmels, der Hölle und ihrer Wesen, beantwortet sein Geist zynischerweise wie es in der Bibel geschrieben steht.[21] Hier findet sich bereits ein Indiz dafür, dass die Historia der reformatorischen Bewegung zuzuordnen ist. Schließlich lautet ein Grundsatz der lutherischen Lehren: Sola scriptura, jegliche Wahrheit über die Welt findet sich allein in der Heiligen Schrift.[22]

3.2. Faustus in der Liminalität

Wichtiger ist der Historia jedoch, ebenso wie es auch im Fokus von Turners Forschungen stand, die Darstellung des rituellen Prozesses, der schließlich zur irreparablen Trennung von der Gesellschaft führt, als die Frage, wie es überhaupt zu dem Bruch und der daraus resultierenden Notwendigkeit eines Anpassungs- oder aber auch Ausschlussprozesses kommt. In der Darstellung eines rituellen Prozesses folgt Turner dem Modell des belgischen Anthro- pologen Arnold van Gennep, der das Ritual in drei Phasen aufteilt: In einen Separationsritus, also die Trennung von der alltäglichen Umgebung, die Phase der Isolierung (Seklusion) und zuletzt die Phase der Wiedereinführung in die Gesellschaft.[23][24]

Wenn wir die Handlung des Faustbuches in dieses Konzept der drei Phasen einordnen, so kann festgestellt werden, dass die Schilderung eines Separationsritus ausgespart wird. Faustus unterzieht sich keiner bewussten oder deutlichen Trennung von menschlicher Gemeinschaft. Er scheint vielmehr bereits zu Beginn der Historia, ab dem Zeitpunkt, als er sich von der Theologie abwendet und sich fortan der schwarzen Magie widmet, fast wie selbstverständlich, als Einzelgänger abseits vom Rest der (christlichen) Gesellschaft zu stehen. Ein Separationsritus oder ein damit vergleichbarer Prozess scheint also bereits vorangegangen zu sein, denn Doktor Faustus ist zu diesem Zeitpunkt schon eine Art abseitsstehender Hexenmeister, jemand, der sich bereits vom Rest der Menschen abgesondert hat, um allein der Beschwerung und Zauberey zu frönen.[25]

[...]


[1] : Kreutzer, Hans Joachim: Nachwort. In: Füssel, Stephan; Kreutzer, Hans Joachim (Hrsg.): Historia von D. Johann Fausten. Kritische Ausgabe. Stuttgart 1999. [Diese Ausgabe dient im Folgenden als Primärtext und wird mit Faustbuch abgekürzt].

[2] Ebd.

[3] Auernheimer, Richard; Baron, Frank: Vorwort. In: Auernheimer, Richard; Baron, Frank (Hrsg.): Das Faustbuch von 1587. Provokation und Wirkung. München/Wien 1991.

[4] Ebd.

[5] Ashley, Kathleen M.: Introduction. In: Ashley, Kathleen M. (Hrsg): Victor Turner and the Construction of Cultural Criticism. Indiana 1990.

[6] Vgl.: Ebd. S. 11.

[7] Vgl.: Ashley, Kathleen M. (Hrsg): Victor Turner and the Construction of Cultural Criticism. Indiana 1990.

[8] Deutsch: Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt am Main 1989. [Im Folgenden: Turner, Victor: Das Ritual.].

[9] Turner, Victor: Das Ritual.

[10] Turner, Victor: Schism and Continuity in an African Society: A Study of Ndembu Village Life. Manchester 1957.

[11] Ebd.: S. 91-94.

[12] Vgl.: Turner, Victor: Das Ritual.

[13] Faustbuch. S. 13.

[14] Faustbuch. S. 13.

[15] Ebd. S. 14 ff.

[16] Ebd. S. 14 ff.

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19] Ebd.

[20] Ebd.

[21] Vgl. zum Beispiel : Ebd. : S. 32 ff.

[22] Vgl.: Elze, Reinhard; Repgen, Konrad (Hrsg.): Studienbuch Geschichte. Eine europäische Weltgeschichte. Band 2: Frühe Neuzeit 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1974. S. 68 ff.

[23] Vgl.: Turner, Victor: Das Ritual. S. 96.

[24] Gennep, Arnold van: Les rites de passage. Paris 1909. Deutsch: Übergangsriten. Frankfurt am Main 1986.

[25] Faustbuch: S. 14 ff.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Victor Turners Ritualtheorie als literaturwissenschaftliches Werkzeug am Beispiel des Faustbuches von 1587
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Germanistisches Seminar)
Veranstaltung
Proseminar C2, Teufelsliteratur
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V119746
ISBN (eBook)
9783640226825
ISBN (Buch)
9783640227976
Dateigröße
525 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Victor, Turners, Ritualtheorie, Werkzeug, Beispiel, Faustbuches, Proseminar, Teufelsliteratur
Arbeit zitieren
Magister Artium Julian Philipp Schlüter (Autor:in), 2004, Victor Turners Ritualtheorie als literaturwissenschaftliches Werkzeug am Beispiel des Faustbuches von 1587 , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119746

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