Im Tempel zu den späten Glückseligkeiten


Klassiker, 2008

22 Seiten

Elisabeth von Heyking (Autor:in)


Leseprobe


Im Tempel zu den späten Glückseligkeiten

Man kannte sie auf vielen Schiffen. Überall war sie gewesen, hatte die längsten Bahnlinien befahren, die höchsten Berge bestiegen, die fernsten Länder und Meere durchkreuzt. Nirgends verweilte sie lange, obschon sie die Müdigkeit vieler Wanderjahre gleich einer schweren Gewandung nach sich schleifte. Sie gehörte zu denen, die geheime Macht immer von neuem ausscheucht und hinaustreibt in die Welt, zu den Rast- und Ruhelosen, die da ewig etwas zu suchen und nirgends ihr Ziel zu finden scheinen.

So kam sie auch einst im Frühherbst nach Peking. Und bald ritt sie dann aus der grauen, unter schwülem Dunst erstickenden Stadt hinaus zu den nahen Bergen. Dort liegen buddhistische Tempel und Klöster, wo viele europäische Bewohner Pekings die heiße Jahreszeit verbringen. Von einer Freundin geladen, die auch in einem der Tempel lebte, wollte sie diese ein paar Tage besuchen.

Durch die brütend heiße Ebene, über der die Ausdünstungen der großen Sommerregen drückend lagen, führte der Weg zu einem Dorf, das festungsartig von hohen Mauern umgeben war. Alles atmete da Verfall, doch aus dem Verkommenden erwuchs Neues in uralter, gleichtöniger Wiederholung. Aus dem morschen, berstenden Gemäuer drängten sich Buschwerk und blühende Gräser zum Leben hervor ans Licht; in dem Unrat am Boden wühlten kleine schwarze Ferkel, pickten und scharrten Enten und Hühner, Nahrung suchend. Die Reisende ritt durch die morastige Dorfstraße, begegnete buddhistischen Mönchen mit glattrasierten Schädeln und alten Männern, die ihre Lieblingsvögel in kleinen Käfigen mit sich spazieren trugen. Drollige Kindergestalten, auf deren Köpfen die noch kurzen Haare zu mehreren starr abstehenden Zöpfchen geflochten waren, umstanden einen alten, blinden, fahrenden Sänger; mit mageren, gelben Fingern griff er in die Saiten einer Gitarre; schrill zirpende Töne begleiteten sein einförmig klagendes Lied.

»Auch ein Wanderer auf der weiten Welt«, dachte wehmütig die Vielgereiste, die ihr Pferd angehalten und dem seltsamen Sang ein Weilchen gelauscht hatte. Dann warf sie dem Alten eine Münze zu, ritt weiter zum Tore hinaus und schlug den Pfad ein, auf dem der Mafu, der chinesische Reitknecht, schon voraustrabte.

Seitwärts von der Landstraße abbiegend, führte er sie zwischen Feldern hohen Kauliangs den Bergen zu. Die Töne der Gitarre waren verhallt in der Ferne. Es ward still um die Reiterin her. Unter hohen alten Bäumen standen graue Steinstelen am Wegesrand; Reihen kleiner verwitterter Pagoden, von Unkraut überwuchert, bezeichneten die Gräber früherer Mönche. Heiliger Boden war es. Von den Bergen herab kam ein kleiner Quell der Wanderin bewillkommend entgegengerieselt, und wo er in die Erde gesickert, war sie grün geworden von zarten Farren und bunt von zahllosen wilden Blumen.

Nun erblickte die Reisende die unteren Umfriedungsmauern des weiten Tempelgebietes. Dahinter, zwischen dunkeln Baumkronen, funkelten goldgelb, saphirblau und malachitgrün die Kacheldächer der Türme und Hallen, der Tore und Klöster. Höher und höher ansteigend, erhoben sie sich längs des dichtbewaldeten Abhangs, leiteten den Blick hinauf zu des Berges Spitze. Dort thronte, einer Perlenkrone gleich, eine schneeweiße Pagode, schimmernd gegen den türkisfarbenen Himmel.

Eines Zauberers Gaukelspiel dünkte dies Bild die fremde Frau, nach der langen Reise, dem Lärm der Stadt, der Hitze der Ebene.

Wonniglich still war es.

Der Mafu war abgestiegen, hatte die Zügel seines Pferdes um den Hals einer der riesigen Steinschildkröten geschlungen, die unter knorrigen Bäumen zu beiden Seiten des Eingangstores seit Jahrhunderten Wache stehen. Nun half er der Reisenden, die sich aus dem Sattel herabgleiten ließ.

Da kam ihr auch schon die Freundin aus dem Tempelgelände entgegen. »Sei mir willkommen im Tempel zu den späten Glückseligkeiten«, sprach sie mit leiser, süßer Stimme. Und dann schauten die beiden sich einen Augenblick fragend an, wie es Menschen tun, die sich lang nicht gesehen und nun unsicher sind, wie sie sich wiederfinden, und ob sie dieselben geblieben. Doch als ganz die gleiche, die sie vor Jahren gekannt, erschien der Tempelbewohnerin die Vielgereiste mit den düster umschatteten Augen, den starren tragischen Zügen, aus denen ihr Alter schwer zu bestimmen gewesen wäre. Verändert dagegen war die Tempelbewohnerin selbst: Witwenschleier umhüllte sie, wehe Trauer sprach aus ihrem sanften, stillen Antlitz.

Die hohe Treppe zu den oberen Tempelbauten schritten die beiden Frauen nun hinan. Auf der obersten Stufe blieb die Weltenwanderin stehen, lehnte an der bemoosten Steinbrüstung und schaute hinein in das sie umgebende Gewirr von Zweigen. Auf tief grünem Grunde leuchteten die ersten herbstlich gefärbten Blätter gleich Bernstein und Kupfer. Am weitausgeschweiften Kacheldache eines verwitterten Turmes tönten leis im Winde die kleinen Pagodenglöckchen: »tingting, tingting.«

»Märchenluft weht hier«, sagte die Fremde, und von dem Dache her, wo sie zwischen den zerbröckelnden Kacheln unter allerhand Gerank ihre Nester erbaut hatten, antworteten ihr girrend die wilden Tauben: »rukuru, rukuru.«

An einer dunkeln Felsengrotte vorbei leitete sie nun die Gastgeberin. Aus der geheimnisvollen Tiefe tauchten die ungeheuerlichen Umrisse eines Götzenbildes auf: einen feisten, grinsenden Alten stellte es dar, der mit quellendem Bauch auf berstenden Säcken thronte. »Der Gott des Reichtums«, erklärte die Führende.

[...]

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Im Tempel zu den späten Glückseligkeiten
Autor
Jahr
2008
Seiten
22
Katalognummer
V119604
ISBN (eBook)
9783640226443
ISBN (Buch)
9783640227723
Dateigröße
801 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tempel, Glückseligkeiten
Arbeit zitieren
Elisabeth von Heyking (Autor:in), 2008, Im Tempel zu den späten Glückseligkeiten , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119604

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