Ababa von Palindromien - Leben und Ansichten einer berühmten Zahl, in Wort und Bild aufgezeichnet von einem ihrer Verehrer.

Bd. V: Die Carpeteria von Palindromien


Fachbuch, 2008

58 Seiten, Note: "-"


Leseprobe


Inhalt

1. Der Rundgang

2. Die Galerie

3. D as Kabinett der Verborgenen Similaritäten

4. Das Sierpinski-Zimmer

5. Auf dem Flur

6. Ababa von Palindromien

1. Der Rundgang

Die Finger kreisten. In sanften Kurven glitten sie zart und geschmeidig den Rücken hinab, deuteten Spiralen an, liefen von links nach rechts und wieder zurück, verweilten hier und da und gaben sich mit leichtem Druck zu erkennen, gelegentlich auch eine Melodie vortäuschend. Sie erspähten die leiseste Unebenheit auf seiner Haut, umgingen oder glätteten sie, spielten auf den dünnen Härchen wie auf den tönenden Saiten einer Geige.

„Noch eine Minute“, pflegte er zu bitten, wenn sie inne hielten und Anna ihn zum Aufstehen mahnte. Von allen Minuten dieses Tages war diese eine stets die längste. Heute aber duldete die frühe Stunde keinen Aufschub der Gefühle wegen. Eine Reisegruppe war angesagt.

Mit Besuchern hatten sie schon hinlänglich Erfahrung. In den seltensten Fällen kam jemand in diese abgelegene Gegend in Palindromien mit dem Vorsatz, einen der kostbaren Teppiche aus der reichen Auswahl, die ihre Manufaktur zu bieten hatte, käuflich zu erwerben. Der Verkauf ihrer textilen Kunstwerke – anders konnte man die aus Seide oder Wolle gefertigten Stücke nicht bezeichnen - vollzog sich in der Regel über andere Kanäle, über Groß- und Zwischenhändler zumeist ausländischer Herkunft. Besonders begehrt waren Auftragsarbeiten, darunter solche mit enormen Abmessungen. Kaiserpaläste, königliche Höfe und weltweit bekannte und geachtete Firmennamen gehörten zu den Auftraggebern. Ging auch einmal ein gut bezahltes Einzelstück per Zufall weg, so war dies ein willkommener Anlass zum Feiern, verhalf der Umsatzkurve insgesamt jedoch keineswegs zu einem steilen Anstieg.

Nichtsdestotrotz musste jede Gelegenheit genutzt werden, die Schätze einem breiten Publikum zu präsentieren, immer mit der Absicht und in der Hoffnung, so viele wie möglich von ihnen und so günstig wie möglich zu verkaufen.

Die Leitung der Manufaktur unterhielt deshalb intensive Beziehungen zu in- und ausländischen Reiseunternehmen. Es kam mit diesen zu Absprachen darüber, dass bei Fahrten durch das Land ganze Gruppen in der Carpeteria – so nannte man die Teppichmanufaktur, die zugleich eine Verkaufseinrichtung war - Station machen sollten. Der Chef der Manufaktur, Dr, Agard,* empfing die Gäste dann gewöhnlich in einem Vorraum, gab hier einen kurzen Abriss der Geschichte des Unternehmens, informierte über Sinn und Zweck ihres Wirkens und erläuterte Struktur und Abfolge der von ihnen geleisteten Arbeitsgänge. Dann folgte der Rundgang. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten ihre Plätze eingenommen und gaben ihr Bestes, um den Gästen viele „Ah“s und „Oh“s zu entlocken. Bei Anna verweilten sie in der Regel besonders lange.

Die Finger kamen zur Ruhe. Nur der Daumen drückte sich noch einmal unter das Schulterblatt und schlug sieben mal an.

Ede, es ist Zeit. Für acht Uhr ist die erste Gruppe angesagt.“.

Eduard Raude war der Designer der Carpeteria. Er entwarf die Muster, nach denen „die Damen“, wie die Teppichknüpferinnen vom Management genannt wurden, die kunstvollen Gebilde mittels ihrer flinken und feingliedrigen Hände herstellten.

„Wieder so ein Tag“, brummte er. „Wieder nur reden und schwatzen. Wenn sie in ihren Bus zurück steigen, haben sie ohnehin schon alles wieder vergessen. Und kaufen wollen sie meistens auch nichts.“

Er liebte die Tage, an denen die Minute vor dem Aufstehen sich hinzog, bis er sie selbst für abgelaufen erklärte. An solchen Tagen hatte er keine Eile, sein Arbeitszimmer aufzusuchen. Niemand interessierte sich dafür, wann er dort erschien. Nur Sir Simon, der Computer, stimmte ein frohes Summen an, weil er jetzt wieder zeigen konnte, was an Rechenkapazität in ihm steckte.

Heute aber war wieder einmal Reden angesagt. Das hieß, dass beide die morgendliche Toilette im Eiltempo zu absolvieren hatten. Während er sich als erster in das kleine, bescheiden ausgestattete Badezimmer begab, hörte Anna – noch im Bett – die Sieben-Uhr-Nachrichten aus Palindromien und dem Rest der Welt, wartete noch den Wetterbericht ab und wäre fast noch einmal eingeschlafen, wenn Ede nach einer halben Stunde nicht lärmend an ihrem Bett erschienen wäre und ihr die Decke weggezogen hätte. Kreischend flog sie auf, verschwand ihrerseits im Bad und ward erst nach einer weiteren halben Stunde wieder zu sehen, frisch gebadet, stilvoll geschminkt und mit tadelloser Frisur.

Für ein beschauliches Frühstück war kaum mehr Zeit. Die Reisebusse fuhren meistens pünktlich vor. Und selbst, wenn man bedachte, dass der Chef für den Empfang der Gäste und für seinen einleitenden Vortrag eine gute Viertelstunde benötigte, hieß es, sich zu sputen, um rechtzeitig am Arbeitsplatz zu sein, wenn die Tür sich öffnete und die Gäste neugierig herein strömten.

Dr. Agard beschränkte sich in seiner Begrüßung gewöhnlich auf einen kurzen Abriss der Geschichte der Teppichknüpferei und die geschäftlichen Daten seiner Manufaktur (Zahl der Mitarbeiter, Umsatz, Spezialisierung, Ausbildung von Fachkräften usw.).

„Der Teppich“, so begann er seine Rede zumeist, „dient dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Komfort. Eines der wichtigsten Möbelstücke früher Nomadenstämme war die Eingangstür zur Jurte. Sie bestand aus einem soliden Teppich, der das Innere der Behausung nicht nur vor neugierigen oder gar feindlichen Blicken verbarg, sondern im Winter und in frostigen Nächten auch die Kälte abhielt. Dieses Möbelstück ließ sich zudem auf ganz praktische Weise bei ihren Wanderungen transportieren. Man brauchte ihn nur einzurollen, auf ein Kamel, oder was sonst als Transportmittel in Frage kam, zu packen, und am neuen Standort wurde er einfach wieder ausgerollt und aufgehängt. Oder ausgelegt, denn Teppiche waren auch als Isolation des Fußbodens gegen kalte Wüstennächte gefragt. Das Bedecken von Wänden und Böden ist bis heute die wichtigste Funktion von Teppichen geblieben.

Im Verlaufe einer über Jahrtausende währenden Entwicklung der Teppichknüpferei wurde diese indes zunehmend auch zu einem Feld der individuellen, künstlerischen Gestaltung. Der Entwurf von Mustern und die Farbgebung gewannen historisch immer mehr an Gewicht und Bedeutung. Zu der ursprünglichen Funktion von Teppichen kommen im Laufe der Zeit neue hinzu, die durch neue Arten von Teppichen wahrgenommen werden: Läufer, Brücken, Gebetsteppiche oder auch bloße Schmuckstücke.“

Der Vortrag dauerte eine knappe Viertelstunde; dann begann der Rundgang durch die Manufaktur.

Bevor die Reisegesellschaft in den Raum geführt wurde, in dem Anna mit drei weiteren Damen vor ihren Webrahmen Knoten für Knoten knüpften, übergab Dr. Agard seine Gäste an Ilona Manoli , eine gebürtige Spanierin, deren Eltern aus welchen Gründen auch immer kürzlich nach Palindromien ausgewandert waren. Sie beaufsichtigte das Seidenkabinett. So nannten die Mitarbeiter der Manufaktur jenen kleinen Raum, in dem Kokons von Seidenraupen in einer wässrigen Lösung so bearbeitet wurden, dass sich die Seidenfäden von ihnen einzeln ablösen und aufspulen ließen. Das erste mehrstimmige „Oh!“ ertönte, als Ilona einen Kokon aufbrach und dem staunenden Publikum die darin enthaltene, allerdings dem Verfall preisgegebene Larve präsentierte.

Die drei Damen, die mit Anna deren Arbeitsraum teilten, befanden sich noch in der Ausbildung. Mit der Knüpftechnik waren sie bereits vertraut, aber noch weit von jener Meisterschaft entfernt, mit der Anna die Knoten zu formen und einen an den anderen zu fügen verstand.

Die Teppichknüpferei war in dieser Gegend Palindromiens ein hoch angesehenes Gewerbe. Die Bewohner Carpetoniens, wie die Region hieß, betrieben es nicht nur zum bloßen Broterwerb, dafür war die gesellschaftliche Verfassung Palindromiens in vorbildlicher Weise sozial orientiert. Jedermann hatte ein ausreichendes Einkommen, nannte eine gut eingerichtete Wohnung sein eigen und ging einer produktiven und kreativen Arbeit nach. Das Teppichknüpfen nahm in der Liste der bevorzugten Berufe einen der ersten Plätze ein. Waren es in anderen Ländern die höheren Lehranstalten, in die sich vor allem die Abkömmlinge der finanziell besser gestellten gesellschaftlichen Oberschichten drängten, so konnte man in den Teppich- manufakturen Carpetoniens häufig Töchter aus adligen und selbst königlichen Kreisen antreffen.

Die eine der drei Zöglinge Annas war die Baronesse Nora B ., deren Großvater noch am Hofe von König Pal I. von Palindromien als Schatzmeister gedient hatte. Auch die zweite der drei Damen, Gilda mit Namen, gehörte dem Adel an, wenngleich, wie auch die Baronesse, dem niederen. Im Unterschied zu dieser legte sie jedoch großen Wert darauf, dass ihre adlige Abstammung in der Manufaktur von allen respektiert wurde; so nannten alle sie nur die adlige Gilda. Lediglich Regine kam aus einfachen Verhältnissen. Schon ihre Eltern hatten viele Jahre lang in der Carpeteria schwer arbeiten müssen, um den Unterhalt für sich und ihre Tochter zu verdienen.

Während die Baronesse und die adlige Gilda ihre Webkünste mehr als Zeitvertreib betrachteten, kam es für Regine darauf an, soviel wie nur möglich Knoten an einem Tag zu schaffen, denn in der Carpeteria wurde nach Akkordlohn gearbeitet.

Die drei waren schon bei der Arbeit, als Anna schnellen Schrittes und schwer atmend in den Raum hastete, gerade noch rechtzeitig, um von Ilona Manoli begrüßt zu werden und die Reisegruppe übergeben zu bekommen. Sie stellte sich und ihre Damen den Gästen vor und begann zu erklären, was sich in diesem Raum abspielt.

„Sie sehen“, wandte sie sich den Gästen zu und führte sie zu dem Webrahmen, vor dem Regine mit ausgestreckten Füßen saß, „wie der Holzrahmen mit einer Kette von parallel und dicht beieinander von oben nach unten verlaufenden Fäden bespannt ist. Je nach der Art des Teppichs, der gefertigt werden soll, bestehen die Fäden aus Baum- oder Schurwolle, aus Ziegen- oder anderen Haaren, oder aus Seide. In unserer Manufaktur“, fügte sie nicht ohne Stolz an, „arbeiten wir – von wenigen Ausnahmen abgesehen - nur mit Seide. Auch sind wir voll auf die Knüpftechnik spezialisiert. Bei dieser entsteht das Produkt, indem in die Kette über die gesamte Breite des Teppichs Flormaschen Knoten um Knoten eingeknüpft werden.“

Noras flinke Finger glitten so schnell und geschickt durch die Kettenfäden, dass die Blicke der Gäste ihnen kaum folgen konnten. Sie schloss gerade eine Knotenreihe ab, ergriff ein kammähnliches Instrument, das bei ihren Füßen lag, fuhr damit in die Kette und klopfte mit starken Schlägen die Knotenreihe fest. Den noch unregelmäßig hervor stehenden Flor egalisierte sie schließlich mit einer Handschere.

„Wie viele Knoten benötigt man für eine Reihe?“, wollte einer der Gäste wissen.

„Das hängt von den Maßen und der gewünschten Feinheit des Teppichs ab“, gab Anna ihm Auskunft. „Wir messen die Feinheit nach der Anzahl der Knoten pro Quadratzentimeter. Die reinen Seidenteppiche, die wir in unserer Manufaktur knüpfen, haben 10x10 bis 15x15 Knoten pro Quadratzentimeter, das sind 1 bis 2,25 Millionen Knoten pro Quadratmeter“.

Ein Raunen ging durch die Gruppe.

„Mein Gott“, stöhnte eine etwas beleibte Dame mit Blick auf Regine, „wie lange muss denn so ein Kind arbeiten, bis es einen 2,5x2,5 großen Teppich, wie einer in meinem Wohnzimmer zu Hause liegt, geschafft hat?“

Die so Angesprochene gab sich als immerhin sechzehnjährig zu erkennen. Sie sei sehr froh, erklärte sie, in dieser Manufaktur von einer so erfahrenen Meisterin ihres Fachs wie Anna im Teppichknüpfen ausgebildet zu werden.

„Das Knüpfen ist durchaus keine leichte Arbeit“, sagte sie. „Doch meine Finger haben schon viel gelernt und werden von Tag zu Tag und von Woche zu Woche beweglicher und geschickter. Vor einem Jahr, als ich meine Lehre begann, brachte ich es nur auf knapp hundert Knoten pro Tag; heute liegt mein persönlicher Rekord immerhin schon bei knapp tausend..“

„Und wie viel sind maximal zu schaffen?“, begehrte ein junger Mann in Shorthosen zu erfahren.

„Eine gut ausgebildete und erfahrene Knüpferin kann es bis zu 3000 Knoten pro Tag bringen“, erklärte Anna. „Diese Leistung erbringt sie jedoch nicht konstant; sie hängt einmal von der Tagesform ab ...“ - hier hielt sie kurz inne, weil sie sich fragte, ob Ede wohl allein mit der Kaffeemaschine zu Rande gekommen ist - „und kann zum anderen nur wenige Jahre auf diesem Niveau gehalten werden.“

„Regine, webe weniger!“,* ermahnte Anna das Mädchen. „Gehe sparsam mit Deinen Kräften um, Du wirst sie noch viele Jahr benötigen.“

Dann kam die für jede Reisegruppe unvermeidliche Frage:

„In diesem Raum, in dem im eigentlichen Sinne kreative und produktive Arbeit geleistet wird, sind nur Frauen tätig. Können eigentlich auch Männer Teppiche knüpfen?“.

„Eigentlich schon“, zögerte Anna mit der Antwort.

„Aber?“, kam eine männliche Stimme aus der hinteren Reihe der Gruppe.

„Es ist so“, versuchte sie ihre Antwort kurz zu fassen, „dass Frauen in der Regel feinere und geschmeidigere Finger haben als Männer, die mit schwerer körperlicher Arbeit belastet sind. Und achten Sie bitte auf zwei weitere Details: Auf die sitzende Haltung der Frauen und auf die Vorlage des Musters, das geknüpft werden soll und sich in Augenhöhe vor der Frau befindet.“

„Sie meinen, Frauen sitzen gerne, während Männer lieber laufen?“, meldete sich die gleiche Stimme noch einmal.

„Nein, keineswegs. Das stundenlange Sitzen mit gekreuzten oder auch ausgestreckten Beinen ist äußerst anstrengend. Ich habe noch keinen Mann getroffen, der diese Stellung so lange auszuhalten imstande ist wie eine Frau. Es bedarf dazu nicht nur beträchtlicher körperlicher Anspannung, sondern vor allem auch starker Willenskraft und unsäglicher Geduld.“

„Geduld zum Sitzen?“, gab der Frager keine Ruhe.

„Nicht nur zum Sitzen“, blieb Anna höflich und ruhig. „Die Arbeit, welche die Frauen hier verrichten, ist sowohl kreativ als auch eintönig. Mit jeder Knotenreihe wächst ein Produkt heran, das, wenn es vollendet ist, einem Kunstwerk gleicht.

Zugleich ist der Ablauf der Bewegungen, welche die Hände und die Finger auszuüben haben, immer der gleiche. Jeder Knoten entsteht auf immer eine und die gleiche Weise. Immer die gleichen Bewegungen ...“.

Sie stockte für einen Moment und setzte dann mit einem verschmitzten Lächeln hinzu:

„Denken Sie doch nur an Ihre eigene Frau, falls sie eine haben. Wie viel Geduld muss die wohl bei Ihnen aufbringen? Immer die gleichen Bewegungen ... Wer von Ihnen beiden hat wohl mehr Geduld?“

Die Frau neben dem Frager gab durch heftiges Kopfnicken zu erkennen, dass sie voll auf Annas Seite stand und griff nun ihrerseits den Faden auf:

„Außerdem sind es nicht nur leichte Fingerübungen, die von den Frauen verrichtet werden. Schauen Sie doch mal, Herrschaften, wie viel körperliche Kräfte das Festklopfen jeder Knotenreihe erfordert. Auch hier immer die gleiche Bewegung der Arme und Hände, nur dass sie im Unterschied zum Knüpfen physisch um vieles schwerer ist. Und unterschätzen Sie auch nicht das Egalisieren des Flors mit dieser schweren Handschere. Ich bin in einem Schreibbüro tätig und weiß darüber zu berichten, wie schnell man sich durch zu häufiges Tippen auf der Tastatur eines Computers oder gar einer alten mechanischen Schreibmaschine eine schmerzhafte Sehnenscheidenentzündung zuziehen kann. Doch was ist schon Tippen im Vergleich zu diesem kraftvollen Klopfen hier?“

„Und achten Sie bitte auch auf die Mustervorlage“, lenkte Anna die Blicke der Gäste auf einen breiten Streifen Millimeterpapier, der oben am Kettenrahmen angebracht und auf dem das zu knüpfende Muster aufgezeichnet war.

„Jeder Punkt auf dem Papier entspricht einem Knoten. Da muss ganz genau hingesehen werden, damit sich keine Fehler einschleichen. Das strengt die Augen sehr an und ermüdet relativ schnell.“

Die Gäste rückten näher an den Rahmen heran, um das Muster zu betrachten (Abb. 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1

„Ein merkwürdiges Motiv für einen Teppich“, bemerkte ein Herr über seine mit einer goldenen Fassung veredelten Brille hinweg. „Ich bevorzuge florale Musterungen: Blüten, Blätter, Ranken. Das hier ist wohl abstrakte Kunst? Sie gehört eher in ein Kunstmuseum als in eine Teppichfabrik.“

„Abstrakte Kunst, mein Herr, haben wir auch zu bieten. In unserer Galerie, die Sie noch besuchen werden, können Sie eines unserer größten Schmuckstücke bewundern, einen Miro, ja, ein Gemälde von Miro, geknüpft in gleicher Größe wie das Original als Wandteppich. Was Sie hier sehen“, und sie wies auf die Vorlage an Gildas Rahmen, „stammt allerdings von einem Computer. Warum und wieso, das wird Ihnen sogleich unser Chefdesigner, Herr Eduard Raude, erklären.“

Die adlige Gilda krönte diese Demonstration, indem sie sich über das Muster beugte, mit scharfem Blick die Koordinaten eines Punktes ins Augen fasste, einen Faden mit passender Farbe auswählte, ihn flugs durch die Kettenfäden wand und ihn exakt an die Stelle platzierte, wo er gemäß der Vorlage hin gehörte.

Anna bat die Gäste nun in den nächsten Raum.

„Hoffentlich hat er wenigstens etwas aufgeräumt“, ging es ihr durch den Kopf. Ede hatte nämlich die unangenehme Angewohnheit, jedwedes Ding dort liegen zu lassen, wo er es zuletzt in den Händen hatte. In seinem Arbeitszimmer befanden sich drei Computer mit entsprechendem Zubehör, Drucker, Scannner usw. In der Mitte stand ein großer Tisch, der mit diversen Stapeln von ausgedruckten Mustern bedeckt war.

„Raude, Eduard“, stellte er sich den Gästen vor. „Ich bin der Designer in diesem Unternehmen. Meine Aufgabe ist es, Muster zu entwerfen bzw. zu finden, die für die Teppichherstellung geeignet sind..“

Er wies auf die beiden Tische.

„Hier sehen Sie einige meiner Vorschläge. Nicht alle finden natürlich die Billigung unseres Managements, aber alle sind es wert, von Ihnen, liebe Gäste, angesehen und begutachtet zu werden. Bitte bedienen Sie sich.“

Und er verteilte Entwurf um Entwurf an die interessierten Gäste. Die staunten nicht schlecht, als sie an Stelle der erwarteten barocken und floralen Ornamentik merkwürdige geometrische Muster erblickten.

Ein älterer Herr, der aus einer einsamen Bergregion stammte und entgegen seiner gepflogenen Weltabgeschiedenheit die Reise nach Palindromien gewagt hatte, hielt in seinen zittrigen Händen ein Blatt, auf dem weiße und schwarze Linien sich kreuzten und in der Mitte ein undefinierbares Muster den Teppich in zwei, zueinander symmetrische Hälften teilte (Abb. 2).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2

Tim, Eremit, so hänselten ihn die jugendlichen Reiseteilnehmer, versuchte sich vorzustellen, wie ein Stück dieser Art in seine karge Berghütte passen würde und schüttelte nur traurig den Kopf. Nein, er brauchte etwas Einfacheres, am besten Einfarbenes, nicht zu hell und nicht zu dunkel.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3

Frau Elisa Wasile , selbst Chefin eines gut gehenden Juweliergeschäftes in der Hauptstadt Palindromiens, fand, dass Blatt Nr. 3 eine ganz passable Vorlage für einen Läufer in einem ihrer Verkaufsräume abgeben könnte. Das Muster auf Blatt Nr. 4 hingegen konnte sie sich beim besten Willen weder an einer Wand noch auf dem Fußboden eines ihrer Geschäftsräume vorstellen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4

Drei jugendliche Teilnehmer mokierten sich am zweiten Tisch über das Muster auf Blatt 5.

„Passt nicht einmal für eine Litfaßsäule, geschweige denn für meine Bude“, meinte der eine und strich sich durch seinen Irokesenhaarschnitt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5

Frau Emma Behr, Hebamme ihres Zeichens, betrachtete gedankenverloren Blatt Nr.

6. Ihr gefiel die Einfachheit der Linienführung in diesem Muster, die zugleich durch die leicht geschwungene Form der Streifen keine Langeweile aufkommen ließ; auch die Farben waren warm und weich.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6

Die meiste Zustimmung fand aber Blatt Nr. 7. Es lag wohl daran, dass hier ein rautenförmiges Muster vorlag, das noch am ehesten an die gewohnte Ornamentik erinnert.

Ede war die Irritation mancher seiner Gäste nicht entgangen. Im Grunde hatte er sie schon erwartet, denn mit jeder Reisegruppe wiederholte sich diese Szene: Staunen, betretenes Schweigen, fragende Blicke, sobald sie seiner Kreationen ansichtig wurden.

So trat er auch diesmal vor einen der Tische und bat um Gehör.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 7

„Unsere Carpeteria ist keine Teppichmanufaktur im gewöhnlichen Sinne. Sie haben bereits erfahren, dass wir vorwiegend reine Seidenteppiche herstellen. Diese unsere Spezifik betrifft das Material, mit dem wir arbeiten. Doch auch in Bezug auf die Musterung unserer Stücke sind wir einzigartig und beschreiten neue Wege. Diese Wege sind keineswegs willkürlich gewählt, sondern werden durch die Besonderheiten der Zeit, in der wir leben, geebnet. Teppichmuster sind ja keineswegs zeitlos.

Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen bringen auch veränderte Bedürfnisse und neuartige Ansprüche der Menschen hervor. Teppiche aus dem Zeitalter des Barock zeigen in der Regel wülstige orientalische Muster. Der Jugendstil hingegen besticht durch Blüten, Blätter und Ranken. Ein Kinderzimmer braucht einen anderen Teppich als das Sprechzimmer eines Arztes, ein Künstleratelier einen anderen als eine Polizeiwache. Heute, im Computerzeitalter, ist es uns möglich, mittels mathematischer Verfahren Strukturen zu erzeugen, die nach Form und Farbe einzigartig sind und geometrische Strenge mit faszinierender Schönheit verbinden.

Als Designer entwerfe ich neue Muster nicht zuerst in meinem Kopf, sondern im Computer.“

„Wo bleibt denn da die Kreativität des Designers?“, wollte ein junges Fräulein, Helene Leh, wissen.

„Mein kreativer Anteil an diesem Prozess ist die Vorgabe einer bestimmten Regel, nach welcher der Computer bestimmte Operationen mit Zahlen ausführt, die, als farbige Pixel verkleidet, sodann in bestimmter Weise angeordnet werden und so die Muster hervorbringen, auf die es uns ankommt.“

„Was ist das für eine Regel, wenn es kein Geheimnis ist?“, interessierte sich Fräulein Leh weiter.

„Das Verfahren, mit dem wir unsere Muster erzeugen, nennen wir ´Strukturbildung durch Palindromisierung´. Es ist gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hier in Palindromien entwickelt worden, als Zahlen und Menschen noch gemeinsam unser Land bevölkerten und die Zahlen die wundersame Fähigkeit besaßen, sich umzukehren, d. h. sich zu palindromisieren, und als Ausgangs- und Umkehrzahl sich miteinander durch Addition oder Subtraktion zu verbinden, um auf diese Weise Nachkommen zu erzeugen. Dabei stellte sich bald heraus, dass diese Nachkommen keineswegs nur ein chaotisches Gewimmel bilden mussten, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, sondern durchaus in der Lage waren, sich zu Gruppen zu ordnen, etwa im Gleichschritt wie eine Kompanie Soldaten daher zu kommen, oder andere Formationen zu bilden, eben solche, die wir als Mustervorlagen für unsere Teppiche nutzen.“

„Kann denn jede Zahl palindromisiert werden, oder präferieren Sie ganz bestimmte, ganze oder rationale, reelle oder imaginäre“, drängte sich ein intellektueller Typ aus der hinteren Reihe nach vorn.

„Wir haben bisher nur mit ganzen Zahlen gearbeitet“, bekannte Ede, „weil bisher niemand sagen kann, wie man rationale Zahlen oder gar irrationale sinnvoll palindromisieren könnte. Ziemlich sicher bin ich mir aber, dass imaginäre bzw. komplexe Zahlen überhaupt nicht palindromisiert werden können. Dafür verstehen wir es jedoch, uns in Zahlensystemen zu bewegen, die ganz verschiedene Basen haben. Sie wissen, dass das Zehnersystem, in dem wir gewöhnlich rechnen, die Basis 10 hat. Computer arbeiten gewöhnlich – zumindest die heutigen – mit einem Binärsystem, d. h. mit Zahlen zur Basis 2; in ihm gibt es nur die Zahlen 0 und 1.“

„Ich meinte eigentlich“, unterbrach ihn der junge Mann, „wenn wir z. B. das Zehnersystem nehmen, kann man in ihm jede ganze positive Zahl palindromisieren?“

„Im Prinzip ja“, antwortete Ede. „Doch wir bevorzugen eine ganz bestimmte Zahl, mit der wir jeden Palindromisierungsprozess beginnen lassen.“

„Und welche ist das? Und warum bevorzugen Sie ausgerechnet diese?“

„Unsere generelle Startzahl ist a(a – 1)(b – a – 1)b - a), wobei b die Basis des Zahlensystems ist, in dem wir uns jeweils bewegen, und a eine Zahl, die kleiner ist als b. Wählen wir für a die 1, so wäre das im Zehnersystem die 1089, wenn Sie bitte nachrechnen wollen.“

„Aber warum ist das ihre generelle Startzahl?“, ließ der Frager nicht locker. Ja, warum? Die Frage hing hartnäckig im Raum.

Ede war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass er sich diese Frage selbst nie gestellt hatte. Es war in Palindromien seit jeher gang und gäbe, jeden Palindromisierungs- prozess mit dieser vierstelligen Zahl zu starten. Er selbst arbeitete schon einige Jahre mit ihr und war dabei stets gut gefahren. Doch irgend etwas musste er schon antworten, wenn er sich nicht blamieren wollte.

„Vielleicht“, setzte er denn zur Entgegnung an, „weil diese Zahl eine sehr interessante Struktur hat. Schauen Sie, wenn a = 1 ist und b = 10, dann beginnt sie mit 1 und 0, den beiden einzigen Zahlen, die in jedem Zahlensystem, zu welcher Basis auch immer, vorkommen, und zwar als die beiden ersten. Und sie endet auf 8 und 9, den beiden letzten Ziffern des Zehnersystems. Sie repräsentiert so gewissermaßen das gesamte betreffende Zahlensystem.“

„Ah ja“, lenkte der junge Intellektuelle ein. „Verstehe.“

„Es gäbe natürlich noch viel mehr zu diesem Thema zu sagen“, beendete Ede den Dialog, „aber das würde jetzt zu weit führen.“

Insgeheim aber beschloss er, in den nächsten Tagen dieser Frage weiter nachzugehen. Irgendwer musste doch als erster begonnen haben, diese Zahl als Startzahl zu nehmen. Wer? Wann? Warum? Vielleicht wusste Anna mehr darüber? Er würde sie noch heute Abend daraufhin ansprechen.

„Und nun, liebe Gäste“, wandte er sich der Gruppe zu, „darf ich Sie in unseren Ausstellungsraum bitten.“

Von seinem Arbeitszimmer führte ein langer Gang zu dem großen, kreisrunden Ausstellungssaal der Carpeteria. Rechts und links von dem Korridor gingen Räume ab, deren Bedeutung sich den Gästen erst später erschließen sollte.

[...]


*Palindromisch strukturierte Namen oder Sentenzen, die bei ihrer ersten Nennung in Kursiv stehen, sind dem „Pendelbuch für Rechts- und Linksleser“ - „Annasusanna“ - von Hansgeorg Stengel entnommen (List Verlag München – Leipzig 1995).

* Palindromisch strukturierte und bei erster Nennung unterstrichene Namen und Sentenzen sind nicht dem „Pendelbuch für Rechts- und Linksleser“ von Hansgeorg Stengel entnommen.

Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Ababa von Palindromien - Leben und Ansichten einer berühmten Zahl, in Wort und Bild aufgezeichnet von einem ihrer Verehrer.
Untertitel
Bd. V: Die Carpeteria von Palindromien
Note
"-"
Autor
Jahr
2008
Seiten
58
Katalognummer
V119244
ISBN (eBook)
9783640224531
ISBN (Buch)
9783640224838
Dateigröße
1244 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ababa, Palindromien, Leben, Ansichten, Zahl, Wort, Bild, Verehrer
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Günter Kröber (Autor:in), 2008, Ababa von Palindromien - Leben und Ansichten einer berühmten Zahl, in Wort und Bild aufgezeichnet von einem ihrer Verehrer., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119244

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